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Die Flucht

 

Meine Umwelt

Mit dem Gefühl einer unerklärlichen nervösen Unruhe sah ich vom Motorboot auf das sich uns nähernde Medgora. Wohl gab es logischerweise keine Ursache, sich zu beunruhigen; doch ist in dem gegenwärtigen Rußland im allgemeinen und im Zwangsarbeitslager im besonderen das Empfinden der Sicherheit ein rarer und flüchtiger Traum, den die erste Lebensregung in alle Winde verstreut.

Aber in Medgora war alles unbehelligt: meine Spartakiade, meine Sportler und die Hauptsache – Georg. Ich nistete mich in der Baracke 15 wieder ein, und sie schien mir – nach der Besprisornikolonie, nach der Abteilung Wodorasdel, nach den verbannten Bauersfrauen am Powenez – beinahe wie das Vaterhaus, in das ich, der verlorene Sohn, nach dem Umherziehen in der Fremde heimkehre.

Es blieben noch sechzehn Tage bis zur Flucht. Georg war fröhlich und schicksalsgläubig gestimmt. Mir dagegen war nicht sehr fröhlich und schon gar nicht schicksalsgläubig zumute: Schicksalsglauben besitze ich überhaupt nicht für eine Kopeke. Unser Schicksal hing nicht davon ab, ob wir Glück haben werden oder nicht, sondern davon, was wir verschwitzen und was wir nicht verschwitzen. Von unseren eigenen Anstrengungen hängt es ab, den Anteil des Fatums bei unserer Flucht bis zu irgendeiner quantité négligeable so weit zu verringern, daß es praktisch unberücksichtigt bleiben könnte. Im Augenblick bestand die Grundgefahr darin, daß die dritte Abteilung unsere böswilligen Bestrebungen erraten konnte: die üppigen Gärten des Sozialismus zu verlassen und in die fruchtlosen Wüsten des Bürgertums zu entfliehen. Hat sie ähnliche Verdächtigungen, dann verfolgt uns hier in der Baracke irgendwo neben uns das wachsame Auge eines Geheimagenten.

Die wachsamen Augen dieses Publikums zeichnen sich niemals durch eine besondere Klugheit aus – und wenn ich diese Augen errate, dann werde ich schon für den entsprechenden Sand sorgen. Deshalb widmeten wir unsere letzten Lagertage hauptsächlich einer sehr aufmerksamen Beobachtung all dessen, was in der Baracke vor sich ging.

Nun möchte ich zum Schluß über das Leben in unserer Baracke erzählen. Es war eine der am meisten begünstigten Baracken des Lagers. Das Leben in ihr war nicht schlechter als in der bevorzugten Komsomolgemeinschaftswohnung auf dem Stalingrader Traktorenwerk und bedeutend besser als in der Gemeinschaftswohnung der Moskauer Studenten und schon unvergleichlich besser als die Arbeiterbaracken und Erdhütten irgendwo auf den Neubauten oder auf den Torfstichen – zum Teil auch im Donbecken.

Unsere Baracke stand in einer Mulde zwischen dem Verwaltungsstädtchen und dem Seeufer, von nie austrocknenden Pfützen und kleinen Sümpfen umgeben. Sie war mäßig durchlöchert, dafür aber unermeßlich mit Wanzen bevölkert.

In der Baracke war nur ein Übergangspublikum vertreten. Die Menschen wurden ab- und zukommandiert, kamen an und gingen fort: die Baracke war ein gleicher Durchgangshof wie jede Anstalt, jedes Gemeinschaftsquartier oder Unternehmen in der Sowjetunion – Fluidität der Kader. Ein mehr oder minder stabiles Element stellte die Administration der Baracke dar: der Barackenälteste, »der Statistiker«, zwei Barackenwärter und einige aus den Reihen des »Aktivs« – allerhand »Troikas« – Troika für kulturerzieherische Arbeit, Troika für den sozialistischen Wettbewerb und Sturmarbeit, Troika zur Bekämpfung der Fluchtversuche, und andere mehr. Zum stabilen Element gehörten auch Georg und ich, doch nahmen wir in der Baracke eine ganz besondere Stellung ein. Wir kamen und gingen, wann wir wollten, übernachteten mal in Witschka, mal in der Baracke – kurzum, wir hatten die Administration der Baracke an unsere, sozusagen Exterritorialität allmählich gewöhnt. Aber auch diese Exterritorialität rettete uns nicht von allen Schönheiten des sowjetistischen »Gemeinschaftslebens«.

Der offizielle Arbeitstag begann um neun Uhr morgens und endete um elf Uhr nachts mit einer dreistündigen Mittagspause. Um die Talons für Mittagessen und für die Brotration zu bekommen, dann auf Grund dieser Talons beides zu empfangen, dann zu Mittag zu essen und das Eßgeschirr zu waschen, waren diese drei Stunden voll erforderlich. Nach elf Uhr abends bekam der bevorzugte Stand der Lagerinsassen noch ein Abendessen, der nicht bevorzugte bekam – kein Abendessen. Für die hochwohllöbliche »Gemeinschaftsarbeit« des Aktivs und der übrigen Lagerbewohner begann der »Arbeitstag« um zwölf Uhr nachts, und zwar fast jeden Tag. Um zwölf oder halb eins rief der Vorsitzende der Kulturtroika laut aus:

»Genossen, gleich hören Sie den Vortrag des Genossen Solonewitsch über die Arbeit des Moskauer Autowerkes!«

Die Aktivisten stürzten sich an die Stellagen, um die eingeschlafenen Bewohner der Baracke zu wecken. Genosse Solonewitsch steigt von der Stellage herunter und, sein Schicksal, Vorträge, Kulturarbeit und die Aktivisten verwünschend, bemüht er sich ehrlich, in eine Zeitspanne von zehn bis fünfzehn Minuten all das, was über das Moskauer Autowerk zu sagen verlangt wird, einzuzwängen. Selbstverständlich denkt niemand daran, dem Genossen Solonewitsch zuzuhören – es sei denn der Aktiv. Schläfrige Gesichter schimmern über die Stellagen, die nackten Beine hängen herab. Der Vortrag ist beendet. »Hat jemand Fragen?« – Was gibt's da noch für Fragen? Die Menschen haben nur einen einzigen Wunsch, so schnell wie möglich schlafen zu können. Aber die Kulturtroika will Aktivität zeigen. – »Sagen Sie mal, Genosse Vortragender, wie steht es auf dem Werk mit den Arbeitererfindungen?« Uff, noch drei Minuten. Geantwortet. »Sagen Sie noch, Genosse Vortragender …«

Doch beabsichtigt Genosse Solonewitsch nicht, ein politisches Kapital zu verdienen, und die »Verkürzung der Strafzeit« interessiert ihn in keiner Weise. Deshalb antwortet Genosse Solonewitsch auf die dritte Frage: »Das weiß ich nicht; alles, was ich wußte, habe ich erzählt.« Ein Vortragender, ein ehemaliger Komsomolez oder Kommunist, wird dagegen irgendein Thema, etwa »Revolutionäre Begeisterung unter den Völkern des Orients«, zwei – drei Stunden lang auseinandersabbern. »Revolutionäre Begeisterung im Orient!« Das ist gerade das, was den Lagerinsassen noch fehlte, besonders nachts.

Alle diese kulturerzieherischen Maßnahmen leitete in unserer Baracke ein älterer Buchhalter aus Petersburg mit dem süßen Namen Marmeladoff – ein Tolstoianhänger, Vegetarier und einfältiger Mensch. Seine Person rief in mir zwei Vermutungen hervor: zunächst, daß er genau so wirkt wie die Mehrheit des Lageraktivs, in der unsinnigen Hoffnung auf die Ehrlichkeit der Macht und darauf, daß diese Macht ihre Versprechungen einhält. Er wird fünf Jahre lang aus der Haut kriechen, sich überanstrengen, schlaflose Nächte verbringen, um die für niemand brauchbare Wandzeitung zu schreiben, Pläne und Rapporte über die Kulturarbeit zu verfertigen und so weiter und so weiter – und für all das, hofft er, wird man ihm seine Strafzeit von sieben Jahren um zwei Jahre verkürzen. Diese Hoffnung oder Vorausberechnung ist keineswegs richtig. Im Gegenteil, er riskiert in diesen fünf Jahren, zu seiner Grundstrafzeit eine Zugabe zu bekommen – für irgendeine ihm unterlaufene ideologische »Überbiegung« oder »Unterbiegung«. In diesen fünf Jahren – wenn er dauernd aus der Haut kriecht – wird er zu einem endgültigen Invaliden – und dann, nur dann gibt ihm die Macht die Freiheit, sein Sterbeplätzchen nach Belieben auszusuchen. Und endlich, man erreicht die Verkürzung der Strafzeit gar nicht durch die ehrliche »sozialistische Arbeit«, sondern ausschließlich durch einen größeren oder kleineren Vorrat an Gewandtheit und Auffassungsfähigkeit. Doch lagen diese Eigenschaften dem Aktivisten Marmeladoff völlig fern. Sein Spiel wird ganz und gar umsonst sein. Deshalb hatte ich eine zweite Vermutung: man hat Marmeladoff in unsere Baracke abkommandiert, um auf Georg und mich aufzupassen – weder Georg noch mich ließ er mit seiner Kulturarbeit in Frieden. Lange Zeit und mit großer Unruhe beobachtete ich Marmeladoff, bis es sich bei den »Samstagnachmittagen« (im Lager nennt man diese Nachmittage »Udarniki«) mit fast endgültiger Gewißheit herausstellte: Einfalt und Eitelkeit treiben Marmeladoff an – Hauptmerkmale eines jeden Aktivisten – ohne eitle Geschäftigkeit kommt man nicht unter die Aktivisten, und bei Vorhandensein wenigstens einiger Gescheitheit hat man dort nichts zu suchen.

Der Arbeitsplan Marmeladoffs enthielt unter anderem auch diesen Punkt: Blumenbeete an unserer Baracke anzulegen – wahrhaftig, nur die Blumen fehlten noch zur Vervollständigung unseres schönen Lebens! Hätte er wenigstens vorgeschlagen, Kartoffeln zu pflanzen!

»Samstagnachmittag« oder »Udarnik« ist die Arbeit, die man im Rahmen der Gemeinschaftsbelastung in der Freizeit erfüllen muß. Im Lager hat man diese Freizeit nur an Ausgehtagen. Drei Ausgehtage lang stocherten siebzig Mann unserer Baracke an fünf Beeten für künftige Blumen herum: hier hatte ich Gelegenheit, die sozialistische Arbeit in dem äußersten Ausdruck ihrer ganzen Pracht zu beobachten. Ein Mann hätte hier ein bis anderthalb Tage Arbeit. Aber bei der völligen Sinnlosigkeit dieses ganzen Unterfangens arbeiteten die Menschen wie Herbstfliegen … Die Schaufeln reichten nicht aus, es war keine Ordnung da, und als man in zweihundertzehn Arbeitstagen fünf Beete angelegt hatte, stellte sich heraus, daß die Blumensamen überhaupt nicht da waren und auch nicht beschafft werden konnten. Die Zeit für die Anpflanzung von Kartoffeln war aber bereits vorüber. Damals sagte ich Marmeladoff, daß ich ihn jetzt in der »Umschmiedung« für »unwirtschaftliche Vergeudung von zweihundertzehn Arbeitstagen« hochnehmen werde. Marmeladoff war zu Tode erschrocken, und das beruhigte mich: wäre er ein Geheimagent gewesen, dann brauchte er weder die »Umschmiedung« noch die »Unwirtschaftlichkeit« zu fürchten.

Übrigens, trotz seiner Aktivität, oder gerade deshalb, geriet Marmeladoff alsbald in den Strafisolator: er ging außerhalb der Lagergrenzen spazieren und stieß mit einem Aktivisten der WOCHR zusammen. Marmeladoff kam in die gleiche Kammer mit der Gruppe von Ingenieuren aus Tuloma, die noch im Winter den Fluchtversuch nach Finnland unternahmen und bereits etwa ein halbes Jahr auf ihre Erschießung warteten. Auch ihre Frauen waren in Petersburg und Moskau verhaftet. Es wurde die Untersuchung eingeleitet, ob sie ihren Männern in der Sache der Fluchtvorbereitung keine Beihilfe geleistet hätten. Es waren sechs oder sieben Ingenieure, höchstwahrscheinlich keine dummen Menschen. – Ihr Schicksal stand vor uns wie eine furchtbare Warnung.

Ich entsinne mich, wie ich damals – es war ein sonniger Sommertag – in der fast leeren Baracke saß, als Georg auf mich zutrat und mir eine Nummer der »Prawda« reichte:

»Interessiert dich vielleicht das?« Ein Anflug von Spott lag in seiner Stimme. Er zeigte mir eine von jemand mit Rotstift fett angestrichene Stelle. – »Verordnung des Sowjets der Volkskommissare der UdSSR.« Darunter stand: »Für den Fluchtversuch ins Ausland – Außergesetzstellung und unbedingte Erschießung; für Militärangehörige – ebenfalls Erschießung und außerdem für deren Angehörige – Verbannung in die entlegensten Gebiete der Union.«

Wir blickten uns an.

»Die bilden sich wohl ein, uns bange machen zu können!« sagte Georg.

»Das ändert nichts an der Lage«, entgegnete ich.

»Das denke ich auch«, zuckte Georg verächtlich die Achseln.

Ein Meinungsaustausch über diese Verordnung fand zwischen Georg und mir nicht mehr statt. An unseren Plänen konnte sie in der Tat nichts ändern, doch später dachte ich oft daran, was für ein Armutszeugnis die Sowjetmacht sich selbst, ihrem Regime und ihrer Armee damit ausgestellt hatte.

Stellen Sie sich eine beliebige Regierung vor, die in einer Friedenszeit urbi et orbi erklärt hätte: »Um die Vaterlandsliebe des Offizierkorps unserer Armee auf der gebührenden Höhe zu halten, werden wir jene Offiziere, die das von uns regierte Land zu verlassen versuchen, erschießen und deren Familien in die entlegensten Orte (das heißt in den sicheren Tod) verschicken.« Was würde man über die Vaterlandsliebe der französischen Armee sagen, wenn die französische Regierung eine so schändliche Drohung erlassen hätte?

Hier aber war diese Drohung ganz ernst gemeint. Die Bolschewisten nehmen ihre Versprechungen nicht besonders ernst; aber ihre Drohungen werden weitgehendst erfüllt und übererfüllt … Diese Drohung änderte in keiner Weise unsere Absichten und Pläne, sie konnte aber auf irgendeine große Flucht hindeuten – höchstwahrscheinlich »auf der Militärlinie« und folglich auf die Verstärkung der Fahndung und der Grenzüberwachung … Wieder tauchte das »wachsame Auge« auf, wieder begann ich, in allen mich umgebenden Menschen Geheimagenten zu vermuten.

In diesen Tagen erschien in unserer Baracke ein neuer Wärter – sein Name ist mir heute entfallen. Er brachte zwei seiner Kinder mit: ein Mädchen von etwa zehn Jahren und einen Knaben von etwa sieben Jahren. Georg, ein großer »Spezialist« im Spielen und Toben mit Kindern, knüpfte auch mit diesen beiden dickste Freundschaft an. Die ganze Baracke fütterte diese Kinder: ihnen stand keine Ration zu. Ich aber fing von Zeit zu Zeit einen auf mich gerichteten Blick des Wärters auf – finster und durchdringend, als ob er mit diesem Blick den Grund meines Wesens, meine verborgensten Gedanken enträtseln wollte. Ein Unbehagen bemächtigte sich meiner. Ich ließ sämtliche Worte, den Tonfall und die Gesten von Podmokly, Gollmann und Uspenski an meinem Gedächtnis vorüberziehen: nein, nichts Verdächtiges. Doch wird dieses Publikum bei seiner Qualifikation nicht mit einer Geste den eventuellen Verdacht erregen. Und dieses biedere Bäuerlein ist zu meiner Beobachtung angestellt, er tut es ungeschickt, doch ist es eine Beobachtung: wie ein Dieb sieht er sofort zur Seite, sobald ich seinen forschenden Blick auffange. Ja, die Bespitzelung ist da. Was macht man nun?

Eine sofortige Flucht würde bedeuten: Boris im Stich zu lassen. Ihm schreiben? Wenn wir aber beschattet werden, wird kein Brief Boris erreichen. Man mußte irgendeine scharfe, von keinem erwartete Wendung unserer Pläne ausdenken – einen plötzlichen Sprung in eine von niemand vorausgeahnte Richtung … Doch in welche Richtung? In aller Eile, in groben Umrissen dachten wir einen Plan aus. – Georg sollte in den Wald zu unserem Lebensmittelmagazin gehen. Ich sollte mit Dynamomenschen eine Spazierfahrt auf dem Motorboot über den See unternehmen – gewöhnlich fuhren auf diesem Boot zwei Beamte der dritten Abteilung zum Fischfang aus. Ich sollte sie ans Ufer, in die Nähe unseres Magazins locken, beide liquidieren und im Magazin bei Georg in dem Augenblick erscheinen, den die dritte Abteilung nicht voraussehen konnte, außerdem die den erledigten Tschekisten abgenommenen Waffen mitbringen. Danach wollten wir das Motorboot besteigen und weiter südlich, kurz vor der Mündung des Flusses Suna am Ufer anlegen, so wären wir in der uns dank meinen Aufklärungen bereits bekannten Gegend. Dieser ganze Plan hing an einem Fädchen. Doch einstweilen gab es keinen anderen. Wir begannen auch andere Pläne zu entwerfen, als wir in diesem Vorhaben durch zwei Dinge unterbrochen wurden.

Das erste – war ein Brief von Boris. Aus dem Swirlager traf ein gewisser Jemand ein, suchte mich in der Baracke auf, begann über dies und jenes zu sprechen, ließ mich über den Sinn und die Ziele seiner abgerissenen Fragen in bangem Staunen, sprang von einem Thema auf das andere über und hatte ein unruhiges Flackern in den Augen. Dann traten wir aus der Baracke ins Freie, der gewisse Jemand heftete seinen Blick auf mich und seufzte erleichtert: »Na, Gott sei Dank, jetzt sehe ich auch ohne Ausweise, daß Sie der Bruder von Boris Lukjanowitsch sind.« (Wir sind einander sehr ähnlich, und fremde Menschen verwechseln uns oft.) Der Mann holte aus dem Doppeldeckel einer Tabatiere aus Birkenholz ein kleines Zettelchen hervor:

»Lesen Sie mal, und ich setze mich inzwischen dort zur Seite.«

Der Zettel war lakonisch und optimistisch. In ihm, hinter dem gewöhnlichen Brief verbarg sich unsere alterprobte, nicht besonders schlaue und scharfsinnige Chiffre, der die Tschekisten trotzdem nicht ein einziges Mal auf die Spur kamen. Aus dem chiffrierten Teil des Zettels ging hervor: der Tag der Flucht bleibt der gleiche, nicht früher und nicht später. Bis zu diesem Datum blieben noch acht Tage. Es zu ändern, war für Boris technisch unmöglich, es sei denn irgendein sehr unglücklicher Zufall … Durch Befragen des Mannes erfuhr ich, daß Boris als Chef der Sanitätsabteilung arbeite. Das ist ein Amt, bei dem ein Mensch weder Tag noch Nacht Ruhe hat; man verlangt nach ihm von allen Seiten, und seine Flucht wird schon nach mehreren Stunden entdeckt; deshalb wies Boris so beharrlich auf die genaueste Einhaltung der Zeit hin: zwölf Uhr mittags, am 28. Juli. Im übrigen war bei Boris alles in Ordnung: satt, gut trainiert, empfängt Lebensmittelpakete, die Stimmung optimistisch und energiegeladen.

Erst später, hier in Helsingfors habe ich erfahren, wie und warum Boris aus Podporog nach Lodenfeld kam. Aus seiner Sanitätssiedlung für die Entkräfteten, Rekonvaleszenten und Invaliden wurde nichts: diese Siedlung hat man überhaupt aufgehört zu verpflegen, Tausende von Menschen starben, die übrigen wurden irgendwo auseinandergebracht, und Boris versetzte man nach Lodenfeld – der Hauptstadt des Swirlagers der GPU. Ich bekam Angst um ihn – die Flucht aus Lodenfeld war bedeutend schwieriger als aus Podporog: Boris wird aus einem bedeutenden Lagerzentrum die Flucht antreten müssen, irgendwie den Swir überqueren, durch eine dichtbevölkerte Gegend gehen müssen und recht wenig von der Verfolgung freie Stunden haben. Das bedeutet im besonderen, daß er irgendeinen Plan bis in die kleinsten Details bereits ausgearbeitet hatte, und jede Änderung der Zeit würde seine sämtlichen Pläne und alle Vorbereitungen über den Haufen werfen. Was macht man nun?

Meine quälenden Grübeleien wurden von dem Barackenwärter unterbrochen.

Eines Tages kam ich in unsere Baracke. Sie war völlig leer. Nur an der Tür saß in seiner kopfhängerischen Pose unser Barackenwärter und sah mich mit einem schon ganz durchdringenden Blick an. Ich erschauerte sogar etwas: so ein Hundesohn …

Ich wollte Tee trinken, doch gab es kein Kochwasser. Ich ging wieder an die Barackentür und fragte den Wärter, wann es Kochwasser gebe.

»Ich laufe schnell in die Kantine und hole etwas.«

»Wozu denn, ich kann's auch selbst holen.«

»Nein, gestatten Sie mir schon; denn ich habe auch eine Bitte an Sie.«

»Was für eine Bitte?«

»Erst hole ich das Kochwasser, und dann sage ich's.«

Der Wärter brachte das Kochwasser. Ich holte aus unserer »eisernen Ration« zwei Stück Zucker. Wir setzten uns an den Tisch und gossen den Tee ein.

Plötzlich stand er auf, ging zu seiner Stellage, kramte dort etwas und brachte mir dann einen zerknüllten, verschmierten Brief in einem Umschlag aus schlechtem Packpapier.

»Das is von meiner Frau. Selbst kann ich ja nich lesen. Habe es niemand gezeigt, schäme mich. Doch in der Zensur haben sie wahrscheinlich gelesen. Komme aber zu Ihnen wie zum Popen, lesen Sie, was hier geschrieben steht.«

»Warum schämen Sie sich denn, wenn Sie nicht wissen, was drin steht?

»Wissen tu ich's nicht, doch ich kann mir schon denken. Lesen Sie nur wie bei der Beichte – niemand soll's erfahren.«

Der Brief war schwer zu lesen. Ich glaube nicht, daß in der Zensur jemand die Geduld hatte, diesen merkwürdigen, verschmierten und mit verschwommenen Krähenfüßen auf dem porösen Papier geschriebenen Brief ganz durchzulesen. Seinen Stil wiederzugeben, ist unmöglich. Es ist so traurig, sich an das merkwürdige Geflecht der ländlichen Höflichkeit zu erinnern, an die Details des Kolchoslebens, Bruchstücke der persönlichen Tragödie der Briefschreiberin, der Sorge um die Kinder, die bei ihr blieben, und um die Kinder, die, um nicht Hungers zu sterben, bei dem Mann im Zwangsarbeitslager waren, und noch vieles andere. Die Lage der Dinge gipfelte im folgenden:

Der Kolchosvorsitzende stellte lange und beharrlich der Frau meines Wärters nach. Der Wärter überraschte ihn in der Scheune beim Versuch einer Vergewaltigung – und der Kolchosvorsitzende bekam Dresche. Für diesen Terrorakt dem Machtvertreter gegenüber verbannte man den Wärter auf zehn Jahre ins Zwangsarbeitslager. Vier Jahre hatte er hier bereits abgesessen. Der Frau sandte er getrocknetes Brot, hob seine Zuckerrationen auf, verkaufte seine Machorkarationen, und trotzdem starben zwei von den sechs in der Freiheit gebliebenen Kindern. Irgendein barmherziger Vorgesetzter erwirkte für ihn das Recht, mit der Familie zusammenzuleben, worauf er zwei seiner Kinder nachkommen ließ: im Lager fütterte man sie wenigstens. Zwei blieben zu Hause. Der Sinn des Briefes bestand aber in folgendem: an die Frau des Wärters pirscht sich jetzt der neue Kolchosvorsitzende heran, »und noch grüßt Sie, unser teurer Gatte, Tante Marie, die ganz im Sterben liegt, und unser Mitja liegt mit geschwollenen Beinchen und Bäuchlein aufgeblasen, aber Vorsitzender gibt keine Leistungsbescheinigung … Bei dem Allmächtigen bitte ich Euch, mein teurer Gatte, segnen Sie mich zum Nachgeben, ohne Euren Willen muß ich sonst sterben, doch schade um die Kinder, der Vorsitzende tut zwar kneifen, vermerkt aber keine Arbeitstage …«

Der Wärter saß starren Blicks am Tisch. Ich wußte nicht, was ich zu sagen hatte, was kann man hier auch sagen?

»So ist die Sache«, sagte der Wärter leise, »zu wem soll ich auch gehen mit so einem Brief – sagte mir doch das Herz, is ein böses Schicksal …«

Einen Augenblick tauchte der Gedanke bei mir auf: Uspenski aufzusuchen, ihm den Brief zu zeigen, ihn bei seiner männlichen Eigenliebe zu packen oder irgend etwas anderes … Vielleicht wäre es möglich, irgendwie dem entsprechenden Bezirks-Exekutivkomitee beizukommen … Aber ich stellte mir die konkrete Bande der »Strohhalme« auf dem Lande vor. Wanjka im Kolchos, Petjka – in der Miliz und so weiter und so weiter. Wer von dem Bezirkskomitee wird hingehen, um die Frauenrechte irgendeiner unbekannten Bauersfrau zu vertreten, wer und was wird bei diesem »Ringverein« entdeckt werden können? Die Frau wird ohne weiteres samt ihren Kindern von dieser Meute sofort überfallen und zu Tode gehetzt.

»Hm, so, schreiben Sie zurück«, sagte der Wärter dumpf, »schreiben Sie, soll … nachgeben …« Dicke Tränen rollten ihm den Bart herunter.

In unserem verwickelten Menschenleben sind die Dinge ganz eigenartig eingerichtet: soeben zog an mir eine schwere, aussichtslose und wahre Menschentragödie vorüber. Selbstverständlich regte sich ein Mitgefühl an dem Schicksal dieses Rjasanbauern Stadt und Provinz Rußlands – südöstlich von Moskau. – ein um so schärferes Mitgefühl, als sein Schicksal zugleich das Schicksal von Millionen war, und trotzdem empfand ich auch eine große Erleichterung – der Alpdruck des »wachsamen Auges« verflog, keinerlei Verdachtsmomente einer Bespitzelung von irgendeiner Seite waren zu sehen. Nach dem Diktat des Wärters sandte ich Grüße an verschiedene Gevattern und Gevatterinnen; im Rahmen dieser Grüße und wirtschaftlichen Ratschläge wurde die Einwilligung des Gatten zum »Nachgeben« mit eingesetzt. Der Wärter saß mit versteinertem Gesicht da, und über seine Runzeln rollten still dicke Tränen herunter – und doch wurde es mir leichter ums Herz als vor einer halben Stunde. Ein Vers von Majakowski kam mir in den Sinn: »Für die Fröhlichkeit ist unser Planet schlecht eingerichtet«. Ja, in der Tat schlecht. Aber nicht so sehr der Planet als der Mensch selbst: aus allen seinen Kräften bemüht er sich, sich und anderen das Leben schwerzumachen … Ich glaube, daß der Schöpfer, der am sechsten Tage den Menschen erschaffen hat – durch die vorangegangenen fünf Tage etwas ermüdet war.

 

Auf der Suche nach Waffen

Alles war für die Flucht vorbereitet – bis auf eins: wir hatten keine Waffen. Bei den beiden ersten Versuchen, in den Jahren 1932 und 1933, waren wir bis an die Zähne bewaffnet. Ich hatte eine schwere automatische Schrotflinte, Kaliber 12, Georg eine Doppelflinte gleichen Kalibers. Die Patronen waren mit verstärkten Pulvermengen und einer Kartätsche eigener Erfindung, mit Stearin übergossen, geladen. Nach unseren ungefähren Berechnungen und Einschießungen hätte eine solche Ladung auf die Entfernung bis etwa vierzig Meter einen Bären umlegen können. Boris hatte ein gut eingeschossenes kleinkalibriges Gewehr. So ausgerüstet, brauchten wir kaum eine Begegnung mit den tschekistischen Kordons oder mit den Grenzschutzpatrouillen zu fürchten. In dem wenig wahrscheinlichen Falle der Begegnung mit ihnen oder in dem noch weniger wahrscheinlichen Falle, daß diese Tschekisten riskierten, sich auf ein Feuergefecht mit gut bewaffneten Menschen einzulassen, wären wir mit unseren Kartätschen in dem Dickicht des karelischen Waldes den Militärgewehren der Tschekisten gegenüber ganz erheblich im Vorteil.

Jetzt besaßen wir keine Waffen. Jeder von uns hatte ein Messer – doch war es nicht als Waffe anzusehen. Die Pläne der Waffenbeschaffung reichten noch in die Zeiten von Pogra zurück; unter den Bedingungen des Lagerlebens gingen sie aber alle auf Mord und Totschlag aus. Diese Pläne wurden auf Vorrat geschmiedet oder, wie man in Rußland sagt, eingesalzen: die Waffen sollte und mußte man erst zwei, drei Wochen vor der Flucht beschaffen; denn im Falle einer beliebigen Versetzung wäre das Risiko eines Mordes und das Risiko der Waffenaufbewahrung umsonst gewesen. Als Georg und ich nach Medgora versetzt wurden und ich die Gewißheit erlangte, daß wir bis zu unserer Flucht nicht mehr versetzt werden – war ich körperlich noch zu schwach, um das Risiko eines Kampfes mit einem Paar WOCHR-Männer zu wagen – die WOCHR-Männer gehen immer paarweise, wie auch die übrigen Waffenträger des Lagers vorziehen, nicht einzeln zu laufen. Dann kamen die weißen Nächte. Die auf den leeren und fast taghellen Straßen pendelnden WOCHR-Patrouillen waren für einen Überfall unerreichbar. Unsere Aufmerksamkeit richtete sich schließlich auf den Schießstand der Dynamo.

In der kleinen Stube neben dem Schießstand wohnten der Instruktor des Schießsportes Lewin und das drollige sibirische Bäuerlein Tschumin, das zugleich als Schießstandwärter und eine Art Leibjäger Uspenskis diente. Tschumin war ein halbtauber, des Lesens und Schreibens nicht kundiger Taigabauer, der sich in der Wald-, Tier-, Wasser- und Fischwelt besser als in der menschlichen Gesellschaft auskannte. Von Zeit zu Zeit kam Tschumin zu mir und fragte: »Was steht nun in den Zeitungen – gibt es bald Krieg?« Nach dem entsprechenden Bericht meinerseits pflegte er enttäuscht zu seufzen: »Ach, du lieber Gott – immer noch keine Befreiung …« Übrigens hat Tschumin die Befreiung für sich doch gefunden: er räumte den Dynamoschießstand ratzekahl aus, verschwand in einem Nachen irgendwo nach der Taiga und blieb unauffindbar.

Lewin war ein langer, hagerer, ungeschickter Bursche, Mitte zwanzig. Seine ganze ungereimte Figur und die träumerischen semitischen Augen standen im krassen Widerspruch zu einer so kriegerischen Leidenschaft, wie es der Schießsport ist. Abend für Abend beschlauchte er sich regelmäßig mit seinen Dynamokumpanen bis zur völligen Bewußtlosigkeit und beklagte sich morgens bei mir darüber, daß seine Schießerrungenschaften immer mehr und mehr schwänden.

»Dann lassen Sie doch das Saufen!«

Lewin seufzte schwer:

»Leicht zu sagen. Versuchen Sie selbst, bei so einem Leben nicht zu saufen. Man wird doch sowieso ersaufen müssen, dann schon besser in Wodka als im See.«

In seinem Zimmer hatte Lewin eine ganze Kollektion von Waffen, die teils ihm, teils zum Schießstand gehörten. Hier waren ein paar Gewehre, eine Doppelflinte, ein Mauser, ein Parabellum, zwei oder drei Militärnagans und Munitionslager für den Schießstand. Die Fenster des Schießstandes und des Zimmers von Lewin waren mit starken Eisengittern versehen, am Eingang zum Schießstand stand immer ein bewaffneter Posten. Tagsüber weilte Lewin entweder auf dem Schießstand oder in seiner Stube; abends verschloß er auch seine Stube, und vor ihrem Eingang stellte man noch einen Posten auf. Gegen Morgen kam Lewin entweder selbst angetorkelt oder von Tschumin getragen. Auf dem Schießstand machten ihren Pflichtschießkursus alle Tschekisten von Medgora durch. Die Stube Lewins war der einzige Ort, wo wir die Waffen beschaffen konnten. Keinerlei andere Möglichkeiten gab es sonst.

Der Plan wurde nach allen Regeln eines mustergültigen Detektivromans ausgearbeitet. – Ich komme zu Lewin, lösche ihn durch einen Faustschlag aus oder wende etwas Ähnliches unerwartet und unhörbar an, dann entzünde ich den Primus Petroleumkocher., pumpe ihn stark mit Luft auf, gieße über Tisch und Fußboden ein halbes Liter Brennspiritus und mehrere Liter Petroleum, die gleich nebenan stehen, nehme Mauser und Parabellum mit, verscharre sie am Ende des Schießstandes in den Sand, und, nur mit einer Turnhose bekleidet, wie ich ankam, passiere ich die Wache.

In fünf bis zehn Minuten wird der Primus explodieren, gleichzeitig mit ihm explodieren die Blechdosen mit dem Schwarzpulver, danach die Munition. Die Stube wird sich in wenigen Augenblicken in eine Fackel verwandeln.

Eine gewohnte Geschichte: Explosion eines Primus. Sowjetistische Produktion. Die verbreitetste Art von Unglücksfällen in den Sowjetstädten. Niemand wird etwas anderes vermuten.

Die Frage meines moralischen Rechtes auf einen Mord entschied sich für mich ganz klar und einfach. Lewin lehrt die Henker meines Landes auf die Menschen dieses Landes zu schießen, im Sonderfall auf Boris, Georg und mich. Die Tatsache, daß er, wie auch manche andere »enge Spezialisten«, sich darüber nicht im klaren ist – ob seine Spezialität etwas objektiv Bösem oder objektiv Gutem dient – hat unter den gegebenen Umständen gar keine Bedeutung. Lewin ist ein Schräubchen der gigantischen Fleischhackmaschine. Mit der Beseitigung Lewins schwäche ich diese Maschine. Ist das nicht einfach?

Also waren die theoretische und auch die technische Seite dieses Unternehmens ganz klar oder, genauer gesagt, schienen mir völlig klar zu sein. Doch brachte die Praxis in diese Klarheit eine sehr wesentliche Korrektur. Fünfmal war ich schon bei Lewin, gab mir vorher das Ehrenwort, daß ich dies heute erledigen werde, und jedesmal wurde nichts daraus: die Hand wollte sich nicht heben. Und das nicht in dem übertragenen, sondern im direktesten Sinne des Wortes: sie hob sich nicht. Ich verwünschte mich und meinen Kleinmut, ich versuchte, mir zu beweisen, daß unter den gegebenen Umständen auf einer Waagschale das Leben eines Tschekisten und auf der anderen Georgs und mein Leben lagen (eigentlich war es klar auch ohne Beweise); aber es gibt offensichtlich solche und solche Morde.

In unseren harten Jahren gibt es wenig Männer, die durch das Leben gingen, ohne in der Vergangenheit keine Morde im Kriege, während der Revolution oder überhaupt in ihrem verwickelten Lebenslauf begangen zu haben. Aber hier, ein vorsätzlicher Mord an einem Menschen, der, objektiv betrachtet, ein Lump ist, und subjektiv – mich mit Tee bewirtet und mir seine Kollektion von Schießspielzeug zeigt … Es wurde nichts daraus. Die Frage Raskolnikoffs über Napoleon und über »die zitternde Kreatur« ist von mir ungelöst geblieben. Der quälende Kampf mit sich selbst wurde mit einem Trinkabend in der Dynamokantine beendet, und dann kehrte ich zu diesen Detektivprojekten nicht mehr zurück. Es wurde mir viel leichter.

Einmal bot sich sogar eine scheinbar günstige Gelegenheit. Ich saß am Witschka-Ufer, etwa fünf Kilometer weiter nördlich von Medgora, und angelte. Das Angeln wollte mir nicht recht von der Hand gehen, und ich klagte über mein Schicksal und mich selbst: es gibt doch Menschen, die es eigentlich nicht brauchen und doch, wie es sich gehört, angeln. Ich brauche es, brauche es für die Ernährung auf der Flucht, und es gelingt rein gar nicht. Meine trüben Grübeleien unterbrach eine Stimme:

»Gestatten Sie, Bürger, Ihren Ausweis!«

Ich drehe mich um – ein WOCHR-Mann steht dicht vor mir. Sonst sehe ich niemand. Der WOCHR-Mann fragte nach dem Ausweis offensichtlich nur so, zur Beruhigung des Gewissens: ein intelligent aussehender Mann, mit Brille, dazu noch mit der friedlichen Beschäftigung des Angelns, konnte doch keinen besonderen Verdacht erregen. Deshalb verhielt sich der WOCHR-Mann etwas nachlässig: er nahm das Gewehr unter den Arm und streckte die Hand nach dem Ausweis.

Blitzartig flammte mit allen Einzelheiten der Plan auf: mit der linken Hand das Seitengewehr zur Seite schieben, mit der rechten – ein Schlag gegen die Magengrube, dann den WOCHR-Mann in die Witschka hinunter, na und so weiter. Ich spannte mich schon zu dem Schlag, als plötzlich im Gebüsch ein dürrer Ast knackte, ich sah in die Richtung und erblickte den zweiten WOCHR-Mann mit dem Gewehr im Anschlag. Mein Atem stockte. Hätte ich dieses Knacken eine Sekunde später gehört, wäre der erste WOCHR-Mann erledigt, und der zweite – hätte mich erledigt … Nach der Prüfung meines Ausweises zog sich die Patrouille in den Wald zurück. Ich versuchte, wieder zu angeln, doch zitterten meine Hände etwas …

So endeten meine Versuche der Waffenbeschaffung.

 

Technische Voraussetzungen

Das Datum unserer Flucht – der Mittag des 28. Juli 1934 – näherte sich, ich möchte sagen mit einer kosmischen Unabwendbarkeit. Blieb bei unseren ersten Fluchtversuchen noch ein gewisses Empfinden der »Willensfreiheit«, eine Möglichkeit, »im Falle, daß« – wie es seinerzeit mit der Erkrankung Georgs war – sofort den Rückzug zu blasen, die Flucht zu verschieben, irgendwie sich durchzuwinden, umzustellen – so gab es jetzt eine solche Möglichkeit überhaupt nicht. Am 28. Juli, Punkt zwölf Uhr mittags, geht Boris aus seinem Lodenfeld in den Wald, nach der Grenze zu. Am gleichen Mittag müssen auch wir gehen. Verspäten wir uns – sind wir verloren. – Lodenfeld gibt ein Telegramm nach Medgora auf: »Unser Solonewitsch geflüchtet, aufpassen auf die beiden anderen.« Und dann – aus. Oder wenn ein Ereignis eintritt, das Georg und mich einen Tag vor Boris zur Flucht zwingen wird, dann gibt Medgora ein gleiches Telegramm nach Lodenfeld, mit den gleichen Folgen, auf.

Praktisch erschwerte es unsere Flucht nicht. Aber psychisch lastete die Härte des Datums immer auf der Seele: es könnte sich doch etwas Unvorhergesehenes ereignen, eine plötzliche Erkrankung – und was dann?

Aber es ereignete sich nichts. Die technischen Voraussetzungen reimten sich – oder wurden vorbereitet – fast ideal. Wir waren gut genährt, gut trainiert. In dem Geheimversteck im Walde lagen an die zwei Zentner Lebensmittel, auch die Kompasse waren da und eine Bewegungsfreiheit, die nicht mal die unglückliche »freie Bevölkerung« Kareliens genoß. Vom Ansehen kannten mich bereits all diese WOCHR-Männer, Operateure, Tschekisten und das übrige Lumpenpack – sie könnten nach den Ausweisen fragen, doch auf keinen Fall wagen, uns zu schikanieren oder zu nörgeln. Aber immerhin, es war sehr beunruhigend … Noch wollte man es nicht glauben: war das alles nicht eine Illusion?

Ich erinnerte mich, wie bei der Leningrader GPU mein Untersuchungsrichter, Genosse Dobrotin, mir gewichtig und etwas spöttisch sagte: »Unsere Grenzen bewachen wir stark, mit der eisernen Hand … Sie hatten Glück, daß man Sie unterwegs verhaftete … Wenn nicht wir, dann hätten Sie andere sowieso verhaftet; aber dann der Grenzschutz – und der, müssen Sie wissen, macht kein langes Federlesen …«

Darauf – mit verächtlichem Lächeln:

»Sie sind kein dummer Mensch, Iwan Lukjanowitsch, wie konnten Sie nur denken, daß man so ohne weiteres die Sowjetunion verlassen kann: einfach auf und davon. Ich kann Ihnen wohl versichern, daß diese Sache gar nicht so einfach ist … Einem von tausend gelingt es vielleicht.«

Genosse Podmokly sagte seinerzeit ungefähr dasselbe. Einmal, stark angeheitert, erzählte er mir die Fluchtgeschichte einer Gruppe von Ingenieuren aus Tuloma, dabei verzog er verächtlich seine bläulichen, von Wodka triefenden Lippen:

»Komische Menschen sind das, wollen gebildet sein … Bei uns sitzt doch ein Geheimer auf dem anderen … Wunderliche Menschen … Lebensmittel speicherten sie im Walde auf … Und weil wir es wußten, ließen wir sie gewähren: sollen nur weiter zusammentragen …«

Auch wir haben unseren Proviant in den Wald getragen: allzu neu war das System also nicht. Kann sein, daß Genosse Podmokly, indem er mit mir anstieß und laut sagte: »Na, dann wollen wir zum vorletzten Mal«, in sich hineinlächelte und dachte: »Na, jetzt fliehst du das letztemal – schleppe man ruhig deinen Proviant in den Wald!«

Am Vorabend der Flucht wurde mir eine tragische Geschichte von drei Priestern erzählt, die aus Powenez nach Finnland entkommen wollten: zwei von ihnen verhungerten im Walde, der dritte, halb wahnsinnig von Entbehrungen, kam in ein Dorf und »ergab« sich – er wurde sogar ohne Untersuchung erschossen.

*

In meinem Gedächtnis tauchten auch die Erzählungen eines Usbeken auf, mit dem wir noch im Winter das Eis auf dem See sägten. Es war ein Mann wie aus Bronze gegossen, mit von Säbelhieben entstelltem Gesicht und mit einem unstillbaren Haß gegen die Bolschewiken. Vor drei Jahren versuchte er zu fliehen – zu der Zeit behandelte man Ausreißer noch nachsichtig. Er verirrte sich in dem Labyrinth von Seen, Sümpfen und Durchflüssen und wurde von den Tschekisten seinen Worten nach schon jenseits der Grenze gepackt.

All das, was viele Tschekisten und Aktivisten über die Fluchtversuche nach dem Westen, der finnischen Grenze zu, erzählten, ergab ein fast hoffnungsloses Bild. Ich brachte aber in dieses Bild eine sehr wesentliche Korrektur: all dieses Publikum spricht von den mißlungenen Versuchen – von den gelungenen spricht es nicht und weiß es auch nichts. Erst später, bereits im Ausland, erfuhr ich, wie wenig gelungene Fluchtversuche es gab. – Im Jahre 1934 hat niemand außer uns die Grenze überschritten. Nur im Frühjahr 1935 hat man auf der finnischen Seite die halbverweste Leiche eines Mannes gefunden, der die Grenze überschritt, dann aber offensichtlich entkräftet zusammenbrach. Und wieviel solcher Leichen mögen in der karelischen Taiga liegen?

Ich glaubte, daß meine Fluchtpläne genauestens ausgearbeitet waren. Vor dem ersten Fluchtversuch habe ich auch zahlreiche Erkundungen vorgenommen: an der persischen Grenze – beiderseits vom Kaspischen Meer, an der polnischen Grenze bei Minsk, an der lettischen Grenze bei Pleskau und an der sinnischen Grenze – in Karelien. Man dürfte wohl sagen, daß alles auf die sicherste Weise vorbereitet war, und doch waren wir beide Male reingefallen. Jetzt scheint mir, daß alles ideal vorbereitet ist, daß die kleinsten Details beachtet sind, daß jeder Zufälligkeit ein vorher ausgedachter entsprechender Trick gegenübersteht. Kurzum: vom Standpunkt der Logik aus – alles in Ordnung. Was aber, wenn sich meine Logik schwächer als die der GPU erweist? Was nun, wenn all unsere Streiche einfach ein Kinderspiel unter dem Blick des »wachsamen Auges« sind? … Was geschieht, wenn die GPU durch irgendwelche mir unbekannten technischen Methoden bereits alles weiß: unseren Schriftwechsel mit Boris, unser Geheimversteck im Walde und den Diebstahl der Kompasse von Georg im Technikum und den vergeblichen Versuch, Lewin auszulöschen, um an die Waffen zu kommen? … Tempi passati in jenen Tagen aber hätte für mich das Mißlingen der Flucht, wenn auch nichts Schlimmeres, dann bestimmt etwas Kränkenderes als den Tod bedeutet. Jeder Mensch hat seinen kleinen Ehrgeiz. Wenn sich erwiesen hätte, daß die GPU über unsere Vorbereitungen laufend im Bilde war, dann hätte es bedeutet, daß ich ein kompletter Dummkopf bin, daß man mich wie einen Idioten umstellt und genasführt hat, um dann uns alle in einem Keller der dritten Abteilung des BBK GPU lässig zu liquidieren. Allein bei dem Gedanken daran packte mich eine ohnmächtige Wut. Ich tröstete mich damit, daß wir beide, Georg und ich, jetzt gut trainiert sind, und daß man uns bis in den »Keller« auf keinen Fall bringen wird. Aber im vergangenen Jahr war es genau so verabredet, und doch packte man uns im Schlaf – unbewaffnet und betäubt. Wohl stürzte sich Babenko im vergangenen Jahr in unsere Pläne als ein deus ex machina. Wohl ging von Babenko eine reale Drohung aus, der vorzubeugen bereits zu spät war … Babenko war offensichtlich ein äußerst qualifizierter Geheimer: in Saltykowka haben wir ihn einmal bis zur Bewußtlosigkeit vollgepumpt und haben sowohl ihn als auch seine Sachen durchsucht. Nichts war da, was unseren Verdacht bestätigen konnte, doch gab es verschiedene Verdachtsmomente. Jetzt sind keine Verdachtsmomente da. Dafür aber ein aufdringliches Empfinden – gebranntes Kind scheut das Feuer –, daß all unsere Pläne angesichts der allmächtigen Technik der GPU ein Kinderspiel seien.

Diese Technik kenne ich Gott sei Dank zu gut: achtzehn Jahre lang wand ich mich durch diese Technik – und beurteilt danach, daß ich heute nicht im Jenseits, sondern in Finnland bin – tat ich es nicht schlecht. Diese Technik halte ich nicht für allzu schlau – mehr auf die Maulaffen berechnet. Oder, was noch kränkender ist – für eine Technik, die auf unsere Geheimbündler rechnet: befaßt sich mit dieser Arbeit ein russischer Offizier, ein tollkühner Mensch, bereit, jede Folterung zu ertragen – dann trinkt er einen und verplappert sich … Und – aus.

Wie gesagt, ist die Arbeitstechnik der GPU keine schlaue Technik. Verwegene Burschen auf der einen Seite – und Schafe auf der anderen. Der Umstand, daß wir uns als Schafe erwiesen, macht weder uns noch der GPU besondere Ehre. Viele Liter Wodka habe ich mit allerhand Tschekisten getrunken, um diese Technik zu erlernen – sie alle prahlten und weinten. Prahlten mit der Allmächtigkeit der GPU und weinten darüber, daß sie eben durch diese Allmächtigkeit kein Leben hätten. Man muß auch dem Feind gegenüber gerecht bleiben: das Leben eines mittleren Mitarbeiters der GPU ist eine furchtbare Sache; es ist das Leben von Pan Twardowski, der seine Seele dem Teufel verschrieb. Aber der Teufel hat Twardowski zu seinen Lebzeiten immerhin etwas bezahlt. Die GPU zahlt zu Lebzeiten eigentlich gar nichts, hält aber das Dokument über den Verkauf der Seele ständig vor die Nase. Ich verstehe, daß es etwas phantastisch und wenig glaubwürdig klingt; aber in meinem Leben gelang es mir, in zwei Fällen zwei Kommunisten von der Arbeit in der GPU zu befreien, der eine hat dort zehn Jahre gearbeitet … Nein, die Arbeitstechnik der GPU kannte ich zu gut … Trotzdem wurde in den letzten Tagen vor der Flucht all mein Wissen durch eine unlogische, unsinnige und unterbewußte Unruhe zurückgedrängt.

Soweit ich mich entsinnen kann, habe ich in diesen Tagen an nichts anderes, als immer und nur an die Flucht gedacht. Wahrscheinlich tat es auch Georg. Doch weder er noch ich sprachen ein Wort davon. Wir wälzten uns im Gras am Ufer, ließen uns von der Sonne wärmen und lasen Woodworth. Georg war in der Stimmung eines Wildwest-Abenteurers und versuchte, auf Umwegen mir klarzumachen, wie prachtvoll es sein wird, wenn wir endlich im Walde seien. In diesen letzten Lagermonaten schwamm Georg im Überfluß, schloß dicke Freundschaft mit einer ganzen Bande von Witschkajungen, spielte mit ihnen Schach und Handball, trainierte im Schwimmen, beabsichtigte, einen neuen russischen Rekord auf hundert Meter aufzustellen, aß wie drei und schlief auf den nackten Brettern unserer Stellage wie ein Toter. Seine Jugend, die Sonne und das übrige, was im menschlichen Leben sich nicht wiederholt, veranlaßten ihn sogar zu einer Bemerkung:

»Weißt du, Wa, es ist eigentlich gar nicht so schlimm im Lager …«

Wir lagen im Gras hinter dem Flüßchen Kumsa nach einem Bade, nach einer kleinen freundschaftlichen Rauferei unter strahlendem Julihimmel. Von meinem Buch weg sah ich Georg an. Zu meinem Erstaunen errötete er nicht einmal, eine übermütige Kraft sprudelte nur so aus ihm. Ich fragte ihn, wer denn im Lager so lebt wie wir beide. Georg gab zu, daß niemand so lebt, nicht mal Uspenski. Uspenski arbeitet wie ein Pferd, und wir machen gar nichts.

»Ich sage nicht, Wa, daß wir nicht fliehen, wir müssen fliehen. Doch ist es hier auch nicht so schlimm …«

»Denke nur an die RVA von Podporog und an Professor Awdejeff!«

Georg gab klein bei, doch brachte mir seine unvermittelte Äußerung mehrere sehr qualvolle Stunden einer großen Verführung.

In der Tat – wozu denn zum Teufel fliehen? Im Lager werde ich entsprechend meinen persönlichen Lebensansprüchen leben, und diese Ansprüche sind ziemlich einfach. Ich führe die Spartakiade durch, bekomme noch das Jägerkommando unter meine Leitung (es gab ein Jägerkommando aus den bevorzugten Lagerinsassen, das für das Wildbret der Tschekakantine sorgte), Georg bringe ich in Moskau unter, statt seinen Wuschelkopf zum Ziel eines tschekistischen Nagans zu machen. Die Flucht Boris' könnte man noch bremsen … Uspenski wird ihn schon herüberlotsen können. Zusammen mit Boris werde ich auf die Jagd gehen … Lohnte es sich denn überhaupt, unsere Köpfe hinzuhalten? Kurzum – es waren Stunden eines großen Tiefstandes und des Kleinmuts. Sie gingen aber bald vorüber … Die Vorbereitung hörte nicht auf, fortzuschreiten.

Diese Vorbereitung bestand in folgendem:

Alles, was man auf dem Weg brauchte, hatten wir bereits besorgt – Lebensmittel, Kleidung, Schuhzeug, Kompasse, Medikamente und dergleichen. All das erhielten wir durch legale Schiebungen bis auf die Kompasse, die Georg aus dem Technikum »einfach mitgehen« hieß. Auf Waffen verzichteten wir. Ich tröstete mich damit, daß eine Begegnung mit jemand in der Taiga Kareliens eine äußerst unwahrscheinliche Sache sei – später stießen wir doch auf diese »äußerst unwahrscheinliche Sache«. Das Lager zu verlassen war ganz einfach. Etwas schwieriger war es schon zu zweit – besonders in südlicher Richtung. Noch schwieriger wäre es, zu zweit und mit Sachen, die wir noch in der Baracke hatten, das Lager zu verlassen. Endlich als Rückversicherung auf alle Fälle müßte es so eingerichtet sein, daß man Georg und mich nicht allzu schnell vermißte.

All das zusammengenommen war technisch ziemlich kompliziert. Doch im Ergebnis einiger Maßnahmen verschaffte ich mir ein Kommandoschreiben nach Norden, bis Murmansk, für die Dauer von zwei Wochen, und für Georg – ein Kommandoschreiben nach Powenez auf die Dauer von fünf Tagen (»zur Organisation des Schwimmunterrichtes«); außerdem besorgte ich für mich noch ein zweites Kommandoschreiben in das Unterlager 5, das heißt nach Süden, mit dreitägiger Gültigkeitsdauer und endlich für Georg – einen Passierschein zum Fischfang, ebenfalls nach dem Süden. Unser Geheimversteck lag südlich von Medgora.

Ich war überzeugt: meine Nerven werden vor diesem Tage – dem Tage der Flucht – wie es vor den früheren Fluchtversuchen war, eine kaum ertragbare Spannung erreichen, wieder stellte sich Schlaflosigkeit ein, wieder bekomme ich das nicht eine Sekunde aufhörende Empfinden, daß ich etwas verpaßt, etwas übersehen, etwas unterschätzt habe, und daß man für den kleinsten Fehler mit dem Leben und nicht nur mit meinem, sondern auch mit dem Georgs wird bezahlen müssen. Aber es stellte sich nichts ein: weder Nervosität noch Schlaflosigkeit … Nur als ich die verzwickten Kommandoschreiben »besorgte«, glaubte ich im Gesicht des Leiters der administrativen Abteilung ein tückisches Lächeln zu erblicken. Doch waren diese Kommandoschreiben unentbehrlich: wenn wir mit unseren Plänen tatsächlich nicht in Verdacht kommen, dann werden uns diese Kommandoschreiben mindestens fünf Tage Vorsprung sichern, frei von Suche und Verfolgung, auch Boris sichern sie die gleiche Zeit für den Fall, daß bei ihm etwas nicht klappen sollte. Fünf bis sieben Tage wird uns niemand suchen. Nach fünf Tagen aber werden wir schon ziemlich weit sein.

Ich hatte allen Grund, zu vermuten, daß Uspenski – wenn er von unserer Flucht erfährt und davon, daß die ganze, bereits fast fertige Chalture mit der Spartakiade, mit den vielversprechenden Artikeln nach Moskau, nach TASS, an die »brüderlichen kommunistischen Parteien« und die Bestellung der Filmoperateure nach Medgora zu allen Teufeln gegangen und daß er, der »Napoleon von Solowetz«, in eine sehr idiotische Lage geraten ist – die Wände hochgeht und nach uns ganz anders fahnden läßt als nach gewöhnlichen Flüchtlingen … Sündiger Mensch, der ich bin – ich würde den bedeutendsten Teil meines Honorars abgeben, um das Gesicht Uspenskis in dem Augenblick sehen zu können, wo ihm gemeldet wird, daß von den Solonewitschs keine Spur geblieben ist.

Die Nacht vor der Flucht schlief ich wie ein Toter. Wahrscheinlich dank dem Empfinden einer völligen Unabwendbarkeit der Flucht, jetzt blieb auch keine andere Wahl mehr … Frühmorgens – ich schlummerte noch – weckte mich Georg. Er hatte bereits den Rucksack mit einigen Sachen aufgeschnallt, die er, der Szenerie entsprechend, aus dem Lager heraustragen und unterwegs fortwerfen sollte. Einige Mitbewohner der Baracke tummelten sich bereits in der Nähe.

»Also, Wa, ich fahre …«

Offiziell mußte Georg mit dem Autobus nach Powenez fahren. Ich steckte meinen Kopf unter der Decke hervor:

»Na, dann gute Reise! Vergiß nicht, in Powenez Beljajev aufzusuchen – bei ihm sind alle Schwimmer registriert. Und im übrigen – halte dich nicht allzu lange dort auf …«

»Ich bleibe nicht lange. Sollte etwas Wichtiges sein, dann rufe ich dich bei der KEA an.«

»Ich verreise doch auch. Kannst direkt Uspenski anrufen …«

»Schön. Dann Selam aleikum!«

»Aleikum selam!«

Die lange Gestalt Georgs verschwand hinter der Barackentür … Mein Herz zog sich zusammen … War doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß ich ihn zum letzten Male sah.

 

Auszug aus dem Lager

Nach unserem Plan sollte Georg die Baracke kurz vor neun Uhr verlassen – um neun Uhr fuhr der Autobus nach Powenez ab –, irgendwo seine dekorativen Sachen ablegen, dann an einem anderen Ort die versteckten Angeln mitnehmen und weiter nach Süden, zu unserem Geheimversteck gehen. Ich sollte die Baracke kurz vor zwölf verlassen – Abfahrt des Zuges in südlicher Richtung – die in der Baracke noch verbliebenen Sachen und Lebensmittel mitnehmen und mich dann nach dem gleichen Versteck auf den Weg machen. Aber was nun, wenn an diesem Geheimversteck die GPU bereits im Hinterhalt liegt? Und was soll man machen, wenn Georg unterwegs von irgendwelchen zu eifrigen Operateuren einfach aufgehalten wird?

Ich kletterte von der Pritsche herunter. Der Barackenälteste, ein ehemaliger Kommunist und gegenwärtiger Lageraktivist, von der Menschensorte, die am besten mit dem Ausdruck »Heukopf« bezeichnet wird, fragte mich in gleichgültigem Ton:

»Müssen Sie auch dienstlich verreisen?«

»Ja, nach Murmansk und zurück.«

»Dann wünsche ich Ihnen gute Reise.«

In diesem Wunsch glaubte ich eine versteckte Ironie zu hören. Ich goß mir einen Becher Kochwasser ein, dachte nach und sagte: »Wird nicht so schlimm sein, kein besonderes Vergnügen. Es gibt verdammt viel Arbeit …«

»Das wohl, aber immerhin – Sie werden wenigstens Menschen sehen …«

Und dann ohne jeglichen logischen Zusammenhang:

»Ein lieber Junge ist Ihr Georg … Geben Sie nur Obacht, daß man ihn hier nicht verdirbt … Es wäre schade um den Burschen … Aber da Sie mit Uspenski bekannt sind – läßt man ihn wahrscheinlich bald frei.«

Ich schlürfte mein Kochwasser und suchte mit einem Augwinkel jedes Mienenspiel auf dem stupiden Gesicht dieses Barackenältesten zu erforschen … Nein, nichts Verdächtiges; denn sonst hätte ein solches Gesicht etwas verraten. Von Georg spricht er nur so, auf alle Fälle, um dem Menschen, der mit Uspenski selbst »bekannt« ist, etwas Angenehmes zu sagen. Wir plauderten noch etwas. Bis zum Auszug bleiben mir noch drei Stunden – die längsten Stunden in meinem ganzen Leben.

Beharrlich und aufdringlich verfolgt mich der Gedanke über einen geheimnisvollen »Onkel«, der irgendwo in dem Dickicht der dritten Abteilung sitzt, alle unsere Schliche wie unter der Lupe sieht und uns Zeit und Möglichkeit läßt, um alle ihm notwendigen Indizien aneinanderzureihen. Möglich, daß, während ich das zweite Kommandoschreiben in südlicher Richtung beantragte, dieser Onkel die administrative Abteilung anrief und sagte: »Stellen Sie ruhig aus, soll man fahren« … und gleichzeitig schickt er eine geheime WOCHR-Patrouille nach unserem Versteck.

Um diese Gedanken loszuwerden und, um alle Möglichkeiten, diesen Onkel zu umgehen, nicht unversucht zu lassen – falls er in Wirklichkeit existiert –, schrieb ich zwei kleine Artikel über die Spartakiade für »Die Umschmiedung« und für die Funkzeitung des Lagers, brachte sie selbst zur Redaktion, plauderte etwas mit Smirnow, gab ihm mehrere zeitungsväterliche Ratschläge, bekam mehrere Aufträge für Murmansk, Segescha und Kem und, was schon ganz und gar unerwartet war, bekam auch noch einen Vorschuß in Höhe von fünfunddreißig Rubel a conto Honorar für die Ausführung dieser Aufträge. Das war das letzte Sowjetgeld, das ich in meinem Leben erhielt, und dafür machte ich meine letzten sowjetistischen Einkäufe: zwei Kilo Zucker und drei Päckchen Machorkatabak. Ein halber Rubel blieb noch übrig.

Ich verließ die Redaktion und stellte zu meinem größten Mißvergnügen fest, daß bis zu Mittag noch anderthalb Stunden verblieben. Während ich beide Redaktionen aufsuchte, mit Smirnow plauderte, das Geld empfing – zog sich die Zeit so qualvoll lange hin, daß ich dachte, daß es kurz vor Mittag sei. Ich fühlte, ich werde diese anderthalb Stunden kaum aushalten.

Ich ging wieder in die Baracke. Dort war es fast leer. Ich bestieg meine Pritsche, die in der obersten Reihe war, den Blicken von unten entzogen, und verstaute in meinem Rucksack den übriggebliebenen Proviant und die Sachen – es war viel mehr, als ich vermutete; nahm zur Täuschung noch ein Netz für Korbball mit, einen Fußball, ein Bündel mit Sportliteratur, mit der zu oberst mitverschnürten Fußballeinleitung, die auf dem Umschlag ein für jeden WOCHR-Mann verständliches Bild hatte, zwei Wurfspeere und verließ die Baracke.

Es waren eigentlich keine Gründe, zu vermuten, daß jemand bei dem Verlassen der Baracke mein Gepäck untersuchte, obwohl der Barackenälteste oder der Barackenwärter nach dem Reglement dazu verpflichtet war. Weiß das »wachsame Auge« von unseren Plänen nichts, dann wird es niemand wagen, uns zu durchsuchen: große Nummer bei Uspenski. Ist man aber im Bilde, dann werden wir erst am Geheimversteck gepackt … Und doch überschritt ich die Schwelle der Baracke mit gemischten Gefühlen. Der Barackenälteste wünschte mir noch einmal gute Reise. Der Barackenwärter, der auf einer Bank an der Baracke saß, tat dasselbe und wurde dann etwas verlegen:

»Schade eigentlich, daß Sie heute fahren …«

Es kam mir wie eine freundliche, aber zugleich auch unklare Warnung vor … Ein ganz wenig stockte mir der Atem … Aber der Wärter fuhr fort:

»Hier habe ich einen Brief von der Frau bekommen … Also, von wegen die Antwort … Na, wenn Sie zurück sind, dann werde ich Sie bitten … Georg? Nein, is noch zu jung, braucht nicht von solchen Sachen zu wissen …«

Mir fiel ein Stein vom Herzen … Ich ging den Hügel hinauf, wandte mich um und schaute zum letztenmal auf die traurige Stätte unseres einzigartigen Wohnortes. Unsere Baracke stand da wie ein windschiefer Sarg, mit seinem schiefen und geflickten Dach, mit den durch Papier ersetzten Fensterscheiben und mit der traurigen resignierten Gestalt des vor ihrem Eingang hockenden Barackenwärters. Merkwürdig, aber es regte sich in mir ein Gefühl des Bedauerns. Eigentlich lebten wir nicht schlecht in dieser Baracke. Auch waren dort viele ganz gute und mir nahestehende russische Menschen. Sogar an meine Pritsche dachte ich als an etwas Gemütliches zurück. Und vor mir, bestenfalls – Wälder, Moorsümpfe, Nächte unter dem kalten karelischen Regen … Nein – für Abenteuer bin ich nicht geschaffen.

Es war ein heißer Julitag. Ich ging durch die sandigen Straßen von Medgora, passierte den Bazar und den Platz, spähte aufmerksam in die Menge nach bekannten Gesichtern, um ihnen auszuweichen, wandte mich mehrmals um, blieb stehen und zündete mir eine Zigarette an, betrachtete mir Plakate und das örtliche Käseblatt, das auf den Leitungsmasten und Mauern aufgeklebt war (abonnieren konnte man die Zeitung wegen Papiermangels nicht) und hielt dauernd Umschau, ob niemand hinter mir her sei. Nein – kein Spitzel, hierfür hatte ich ein geübtes Auge. Dann passierte ich den WOCHR-Kordon am Ausgang der Siedlung; man fragte mich nach nichts, und ich ging auf die Bahnstrecke zu.

Die ersten sechs Kilometer unserer Marschroute verliefen die Bahnlinie entlang; es war eine der zahlreichen Vorsichtsmaßregeln, so auf alle Fälle. Während unserer Trinkgelage in der Dynamo stellten wir fest, daß die Spürhunde der GPU die Bahnlinie entlang nichts ausrichten können: die Feuerung der Lokomotive vernichtet alle der Witterung der Hunde zugänglichen Spuren. Auch das sollte man nicht außer acht lassen.

Es war ein beschwerlicher Marsch: ich war offensichtlich überlastet – mein Gepäck wog mindestens hundertzwanzig Pfund. Ein Kilometer um das andere zog vorüber – hier eine bekannte Wegbiegung, da eine kleine Brücke über den daherplätschernden Bach, hier, endlich der Telegraphenmast mit den Zahlen 27/511, von wo aus nach dem Walde zu eine Art Pfad abbog, der den Weg nach dem Unterlager 5 etwas verkürzte. Auf alle Fälle blickte ich nochmals um – niemand zu sehen –, betrat den Pfad und tauchte im Buschwerk unter. Der Pfad schlängelte sich zwischen den Felsen und Baumwurzeln hin. Der Schweiß lief in Strömen unter der fast anderthalb Zentner schweren Last. Plötzlich, vor der nächsten Biegung des Pfades, von wo ich endgültig in das Dickicht untertauchen sollte, sehe ich eine Operateurpatrouille aus zwei Mann mir entgegenschreiten.

Für einen Moment packt mich ein durchdringendes Entsetzen: also doch aufgelauert … Und ein noch schärferes Gefühl der Kränkung: die sind also doch klüger gewesen … Was nun? Uns trennen noch zwanzig Schritt. Mit irrsinniger Geschwindigkeit löst ein Gedanke den anderen ab … Nach dem Dickicht stürzen? Und Georg? Es auf einen Kampf ankommen lassen? Sie sind zu zweit … Warum nur zu zweit? Wenn diese Patrouille extra für mich ausgesandt war, dann wären es mehr Operateure – man hat doch seinerzeit in dem Wagen Nummer 13 je zehn Tschekisten auf je ein kampffähiges Mitglied unseres »Kooperativs« beordert … Die Distanz wird immer kürzer … Nein, man muß geradeaus gehen. Ach, wenn der Rucksack nicht da wäre, der mir die Bewegungsfreiheit raubt. Man könnte dann den einen packen, ihn als Schild benützen, ihn dann auf den anderen werfen und alle beide zu Fall bringen. Dort, auf dem Boden wären ihre beiden Gewehre nicht zu gebrauchen, und mein Jiu-Jitsu hätte mir noch einmal geholfen – wie oft hat es mir schon geholfen. Nein, nur geradeaus, es ist auch zu spät abzubiegen – uns trennen nur etwa zehn Schritt.

Mein Herz schlug wie toll. Doch offensichtlich war mein Äußeres bis auf das schweißüberströmte Gesicht nicht auffällig. Einer der Operateure hob die Hand zum Mützenrand und lächelte nicht ohne Freundlichkeit:

»'nen bißchen heiß, Genosse Solonewitsch. Warum nicht mit dem Zug?«

Was ist das? Ein feiner Hohn?

»Sparmaßnahmen. Das Reisegeld bleibt in der Tasche …«

»Das wohl, ein Fünfer mehr, und sieh da, ein halb Literchen ist voll … Wollen Sie auf Unterlager 5?«

»Ja, auf das fünfte.«

Aufmerksam betrachte ich die Gesichter dieser Operateure. Es sind einfache, kartoffelnasige rotarmistische Visagen – auf so einer Visage bleibt nichts verborgen … Nichts Verdächtiges! Wahrscheinlich haben die beiden Burschen mehr als einmal gesehen, wie Podmokly und ich nach dem Nachtessen in der Dynamo daherstolzierten; es kann auch sein, daß sie mich vor der angetretenen Kompanie der Operateure sahen, aus der ich die Anwärter für Kurort Witschka und für die Spartakiade aussuchte, und höchstwahrscheinlich wußten sie von meiner großen Nummer …

»Na, dann viel Glück …« Der Operateur legte wieder die Hand an die Mütze, ich tat etwas Ähnliches – eine Mütze hatte ich nicht auf, und die Patrouille ging weiter … Das Knirschen ihrer Schritte verhallte allmählich in der Ferne. Ich blieb stehen und horchte … Nichts, sie sind fort; vorüber …

Ich legte einen Teil meines Gepäcks auf die Erde, lehnte mich mit dem Rucksack gegen einen Felsen und wischte den Schweiß ab. Dann lauschte ich noch etwas. Nein, nichts! Nur das Herz hämmert so, daß es vielleicht bei der dritten Abteilung zu hören ist. Ich bog ins Dickicht ab, in die Büsche, wo jegliche Streifen undenkbar waren – man konnte auf zehn bis zwanzig Schritt nichts sehen.

Ein halbes Kilometer blieb noch bis zu unserem Geheimversteck. Ich komme näher und höre mit Entsetzen eine unklare Stimme – eine Art Gesang. Vielleicht ist es Georg, ausgerechnet jetzt von der Sangeslust befallen, oder weiß der Teufel was … Auf allen vieren krieche ich zu einem kleinen Abhang, an dessen Ende im Dickicht der undurchdringlich wuchernden Büsche alle unsere Reisereichtümer versteckt lagen, und wo mich Georg erwarten sollte. Es schimmert etwas Bronzefarbiges durch die Blätter – ähnlich dem sonnengebräunten Rücken Georgs. Ist es denn möglich, daß er hier auf den Einfall kommt, Sonnenbäder zu nehmen und Wertinskilieder zu singen? So was bringt er fertig – dieser Idiot? Ich werde ihm schon gleich ein paar nette Wörtchen sagen!

Doch da ertönt aus dem Dickicht des Busches so etwas wie ein Schlangengezisch, die Brille Georgs erscheint, er macht mir eine Geste: kriech schnell hierher. Ich gehorche.

Hier im Dickicht ist es halbdunkel, und von außen kann man hier nichts unterscheiden.

»Irgendwelche Bauern sind hier«, flüstert Georg, »beim Grasmähen oder so was … Schnell packen, und ab!«

Die Stimmen werden deutlicher. Ein paar Menschen arbeiten, etwa zwanzig bis dreißig Schritt entfernt. Ihre bunten Hemden schimmern von Zeit zu Zeit durch die Bäume … Ja, man muß gleich packen und verschwinden.

Fußball, Wurfspeere, Literatur und Netz vergrub ich im Moos, und unter dem Moos, gleich nebenan, holten wir unsere vergrabenen Vorräte hervor, die reichlich mit Machorkatabak bestreut waren, damit irgendein verirrter und hungriger Köter sich durch die ungekannten Gerüche von Torgsinspeck und Torgsinwurst nicht verführen ließ. Mit fieberhafter und schweigsamer Eile verstauten wir unsere Sachen in die Rucksäcke. Nachdem ich mich mit meinem Rucksack beladen hatte, fühlte ich, daß ich immer noch überlastet war, der Rucksack wog wieder nicht weniger als hundertzwanzig Pfund; jetzt ist es aber nebensächlich.

Aus dem Dickicht, über das Gras und Unkraut kriechend, ließen wir uns noch weiter den Abhang hinuntergleiten, in das Bett eines fast ausgetrockneten Baches, dann bogen wir das Bett entlang – immer noch kriechend – um den Rücken eines Hügels, der uns endgültig vor den Blicken der unbekannten Besucher unseres Geheimversteckes verdeckte. Hier erhoben wir uns und lauschten. Das angestrengte Gehör und die hochgespannten Nerven ließen uns gegenseitige Zurufe wahrnehmen: offensichtlich hat man uns bemerkt.

»Jetzt aber mit Volldampf«, sagte Georg.

Wir gaben Volldampf. Nach unserem »Promfinplan« mußten wir einen etwa fünf Kilometer von der Eisenbahn entfernten Felsblock und dann nach weiteren fünf Kilometern noch einen schmalen Durchfluß, der zwei Seen verband, überqueren. Wir liefen, krochen, krabbelten und kletterten, der Schweiß lief über die Brille, die Augen quollen uns vor Müdigkeit aus den Höhlen, der Atem wurde keuchend – aber wir gingen und gingen. Der Felsblock war die gefährlichste Stelle. Sein Gipfel war von den Polarstürmen kahlgefegt, und auf ihm spazierten WOCHR-Patrouillen – nicht oft, aber ab und zu. Während der Geländeerkundungen in dieser Gegend habe ich in diesem Rücken einen nicht tiefen Spalt entdeckt, den wir jetzt entlangkrochen, nach jedem Laut und Rascheln horchten wir auf. Hinter dem Felsblock wurde es ruhiger. Aber in Sicherheit – wenngleich einer äußerst relativen – werden wir erst hinter der Seenkette sein. Noch ein Felsblock, mit Windbrüchen überhäuft, von dessen Gipfel ein verdammt steiler Abhang nach einem See zu – ungeheures Steingeröll mit nassem, glitschigem Moos bedeckt. – Solche Stellen hielt ich für den gefährlichsten Teil unserer »Reise«. Bei der Schwere unserer Rucksäcke auf diesen Steinen auszugleiten und, im besten Falle, eine Sehnenzerrung am Bein zu bekommen – wäre doch sehr leicht möglich. Wir wären an die Unglücksstelle ein bis zwei Wochen gefesselt, und ohne genügend Proviantvorräte hätte es den Untergang bedeutet. Eben darum nahmen wir so ungeheuer viel Proviant mit.

Gegen fünf Uhr erreichten wir den See, schritten hinunter, fanden unseren Durchfluß, überquerten ihn und atmeten mehr oder minder erleichtert auf. Unterwegs, noch vor dem ersten Felsblock, rieben wir ab und zu unsere Sohlen mit allerhand stark riechendem Zeug, damit keine Spürhunde unsere Spuren verfolgen konnten. Hinter dem Durchfluß setzten wir uns eine Weile, um zu verschnaufen. Wir berieten den Vorfall mit den vermeintlichen Bauern bei unserem Geheimversteck und kamen zu der Schlußfolgerung, wenn sie uns bemerkt und agressive Absichten uns gegenüber hatten – dann wären sie zur Bahn gelaufen, um Meldung über die verdächtigen Menschen im Walde zu machen, oder sie hätten die Verfolgung aufgenommen. Aber keineswegs wären sie in der Nähe unseres Verstecks geblieben und hätten es bei gegenseitigen Zurufen belassen. Erstens mal das. Zweitens: das Lager haben wir endgültig verlassen. Niemand hat Verdacht geschöpft. Die Dauer unserer Kommandoschreiben gab uns allen Grund, zu vermuten, daß wir nicht eher als nach fünf Tagen vermißt werden – das Kommandoschreiben Georgs war auf fünf Tage befristet. Mich wird man vielleicht früher vermissen – es könnte Uspenski einfallen, mir nach Kem oder nach Murmansk eine Anfrage oder irgendeinen Auftrag zu depeschieren, und dann würde sich herausstellen, daß man dort von mir nichts gehört und gesehen hat. Doch ist es äußerst unwahrscheinlich, um so mehr als ich, dem Kommandoschreiben nach, sechs Orte aufsuchen mußte. Für Georg wird sich nach Ablauf seines Kommandoschreibens niemand sofort interessieren. Ungefähr eine Woche sind wir somit gesichert. In dieser Zeit werden wir mindestens hundert Kilometer zurücklegen, selbstverständlich nach der Luftlinie gerechnet. Ja, es hat im allgemeinen gut geklappt. Keinerlei »wachsame Augen« und keinerlei »geheimnisvolle Onkel« aus der dritten Abteilung … Entsprungen!

Allerdings war das Lager immerhin noch sehr nahe. Sosehr wir auch ermüdet waren, wir gingen noch eine Stunde nach Westen; wir stießen auf einen tiefen, unten ziemlich breiten Spalt, auf dessen Boden ein kleines Bächlein dahinfloß, mit dem Gefühl einer großen Erleichterung luden wir unsere Rucksäcke ab. Blitzschnell entkleidete sich Georg, stieg in eine ruhige Einbuchtung des Baches und begann Schweiß und Schmutz abzuwaschen. Ich tat dasselbe – zog mich aus und stieg ins Wasser; von Kopf bis Fuß war ich in Schweiß gebadet.

»Hallo, Wa, dreh dich mal um, was hast du auf dem Rücken?« fragte plötzlich Georg mit besorgter Stimme. Ich drehte ihm meinen Rücken zu.

»Teufel noch mal … wie konntest du es nur nicht merken? Dein Kreuz ist ja ganz wund!«

Ich strich mit der Hand über das Kreuz. Die Handfläche war ganz mit Blut bedeckt, und beiderseits vom Rückgrat war die Haut bis an die Muskeln abgeschürft. Doch fühlte ich vorher gar keinen Schmerz, auch jetzt nicht.

Mit tadelnder Hast bemühte sich Georg um mich – wusch die Wunde, brannte sie mit Jod aus und wickelte mir eine Mullbinde um den Leib. – Mit Medikamenten waren wir für den Weg nicht schlecht ausgerüstet – dank der »großen Nummer«. Wir untersuchten den Rucksack. Es stellte sich heraus, daß ich bei der überstürzten Verpackung in unserem Geheimversteck so schlau war, ein Riesenstück Torgsinspeck so zu verstauen, daß die scharfe Kante der Speckschwarte mir unterwegs das ganze Kreuz wund scheuerte, doch in der Erregung dieser Stunden fühlte ich nichts. Auch jetzt hielt ich es für eine Kleinigkeit, die nicht der Rede wert war.

Wir entfachten aus ganz trockenem Reisig, um Rauchentwicklung zu vermeiden, ein Feuer und rückten unseren berühmten Aluminiumtopf, gefüllt mit Buchweizenbrei und einem ordentlichen Stück Speck, daran. Dann untersuchten wir sorgfältig unser Gepäck und entfernten erbarmungslos alles, was entbehrlich war – Seife, Zahnbürsten, Sporthosen … Es blieben aber immer noch über zwei Zentner.

Mit Wollust fuhr Georg mit seinem Löffel in den Topf mit Brei.

»Weißt du, Wa, bei Gott, es ist herrlich hier!«

Georg war sehr fröhlich zumute. Übrigens mir auch.

Nach dem Essen streckte sich Georg genießerisch in seiner ganzen Länge auf dem Rücken aus und sah in den strahlenden Sommerhimmel. Ich versuchte es auch, legte mich auf den Rücken und hatte plötzlich das Gefühl, als ob jemand mich mit glühendem Eisen am Kreuz berührte. Ich fluchte und drehte mich auf den Bauch. Wie werde ich jetzt meinen Rucksack schleppen können?

Nach der Rast verstellte ich die Riemen des Rucksackes so, daß dessen unterer Rand nicht bis ans Kreuz reichte. Aber es wurde nicht besser. – Die Last von etwa hundertzwanzig Pfund, fast bis an den Hals hochgerückt, versetzte mich in eine sehr labile Lage – der Schwerpunkt war zu hoch, und man mußte auf dem Granitgeröll wie ein Seiltänzer gehen. Ein Kilometer von unserer Raststätte entfernt, richteten wir unser Nachtlager ein. Wir wählten hierfür ein dichtes Gebüsch auf dem Gipfel eines Hügels, breiteten auf dem Boden eine Decke aus, deckten uns mit der anderen zu, streiften die Moskitonetze über und legten uns hin, in der Hoffnung, nach einem so ermüdenden und an Erlebnissen reichen Tage wonniglich zu schlafen. Aber es wurde nichts aus dem Schlaf. – Millionen von Mücken, ganz verschieden ihrem Kaliber nach, aber alle gleich niederträchtigen Charakters, senkten sich auf uns wie eine dichte kompakte Masse herab. Diese kleinen Bestien krochen in die kleinsten Kleideröffnungen hinein, verstopften Nase und Ohren und summten mit Millionen von widerlichen Stimmen über unseren Gesichtern. Es schien mir damals, daß man unter solchen Bedingungen überhaupt nicht leben, nicht gehen und nicht schlafen kann … Nach einigen Tagen merkten wir diese Bestien fast nicht mehr – der Mensch gewöhnt sich an alles. Wir kamen in Finnland mit Gesichtern an, die wie Hefeteig aufgegangen und verschwollen waren.

So quälten wir uns die ganze Nacht herum. Kurz vor Morgendämmerung ließen wir alle Hoffnungen auf Schlaf fallen, bepackten uns mit unseren Rucksäcken und marschierten auf dem vom Tau nassen Grase weiter. Bald kam es noch zu einem unvorhergesehenen Übel. Nach einigen Minuten des Marsches waren unsere Hosen völlig durchnäßt, klebten an den Beinen und hemmten jeden Schritt. Es blieb nichts übrig, als in der Turnhose zu gehen.

Unausgeschlafen und ermüdet schlenderten wir niedergeschlagen den Bergabhang hinab, erreichten einen nebelverhangenen Sumpf, überquerten ihn, bis an die Hüften in dem quatschenden Morast einsinkend, und erklommen wieder irgendeinen Grat. Die Sonne ging auf, vertrieb den Nebel und die Mücken, unten breitete sich ein winziger See aus, so ruhig, gemütlich und heimelig, als ob es nirgends auf der Welt Lager gäbe.

»Eigentlich wäre es jetzt die rechte Zeit zum Schlafen«, sagte Georg.

Wir krochen wieder in die Büsche und legten unsere Decken aus. Georg sah mich mit dem Blick eines Amerikaentdeckers an:

»Also tatsächlich ausgekratzt, hol's der Kuckuck …«

»Sage nicht hopp, bis du's nicht übersprungen hast Ukrainisches Sprichwort.

»Springen schon darüber. Gott, wie herrlich! Je eine Flinte und Parabellum dazu … das wäre ein Leben!«

 

Die Tagesordnung

Diese wurde so aufgestellt, daß wir vor Morgengrauen uns erhoben, Tee kochten, dann bis elf Uhr marschierten, Rast machten, Brei kochten, das Feuer löschten, ein Kilometer weitergingen und uns dann wieder schlafen legten. An den Stellen, wo wir Feuer machten, legten wir uns niemals nieder; Rauch und Feuerschein könnten bemerkt werden und irgendein in den Wäldern verirrter Aktivist, auf der Spähe nach Flüchtlingen, oder ein Urka – auf der Suche nach Paß und Nahrung, oder ein Grenzbauer, ausgesiebt von jedweder konterrevolutionären Spreu und in der Hoffnung, einen Sack Mehl zu verdienen, könnten auf das Feuer zugehen und uns dann schlafend vorfinden.

Um fünf Uhr standen wir auf und marschierten bis zum Anbruch der Dunkelheit. Dann wieder Rast mit Brei und das Nachtlager. Mit den Nachtlagern war es recht schlecht. Wie wir uns auch aneinanderschmiegten und mit allem Verfügbaren einwickelten, drang doch die nasse Kälte der Subpolarnacht stets durch. Aber auch damit wurden wir bald fertig: mit unseren Messern schnitten wir große Streifen Moos aus und bedeckten uns damit. Zwar krochen uns in den Kragen ganze Bataillone von allerhand Insektengetier, Fichtennadeln, Erdkrümchen; aber es wärmte.

Unser Kartenersatz zeigte gleich in den ersten Tagen seine völlige Unbrauchbarkeit. Die Flüsse auf der Karte und die Flüsse in der Natur flossen jeder nach eigenem Gutdünken daher, ohne jegliche Rücksicht auf die sowjetistischen kartographischen Anstalten zu nehmen. Allerdings waren auch die früheren Karten nicht viel besser, da das wasserüberreiche Gelände sein Gesicht oft wechselt und die genauen topographischen Aufnahmen nicht selten mit Lebensgefahr verbunden waren. Für unseren ersten Fluchtversuch im Jahre 1932 verschaffte ich drei Kilometerkarten dieses Gebietes. Von dieser Sorte besaß ich drei Varianten; sie stimmten nur in allgemeinen Zügen überein, und sogar ein solcher Fluß wie die Suna floß auf jeder von ihnen anders.

Doch genierte es uns nicht – wir machten uns den Grundsatz eines gewissen Helden von Jack London zu eigen: was auch geschehen mag, immer nach Westen halten. Wir hielten also gerade nach Westen. Der eine ging vorn und korrigierte die Richtung nach der Sonne oder nach dem Kompaß, der andere ging etwa zwanzig Schritt hinterher und glich die kleinen Biegungen des Weges aus. Es gab sehr viel Biegungen. In dem Labyrinth von Seen, Sümpfen und Durchflüssen waren wir mitunter gezwungen, die verwickeltsten Schleifen zu machen, um dann mit großer Mühe die verlorene Gerade unserer Marschroute wiederherzustellen. Im Ergebnis all dieser Vorsichtsmaßregeln, vielleicht aber auch unabhängig hiervon, erreichten wir nach sechzehn Tagen mühseliger schleifenreicher Wanderung über die Taiga genau die vorherbestimmte Stelle. Ein Fehler von dreißig Kilometer nach Norden oder nach Süden wäre uns sehr teuer zu stehen gekommen: im Süden machte die Grenzlinie eine Schleife, und nach deren Überquerung und Weiterwanderung in westlicher Richtung riskierten wir, wieder auf das Sowjetterritorium zu geraten, und wären folglich gezwungen, die Grenze dreimal zu überschreiten. Ein dreifaches Glück durfte man aber kaum erwarten; im Norden verlief eine strategische Chaussee nach der Grenze zu – an dieser lag ein großes Dorf Porossosero mir einer Grenzkommandantur und einem größeren Grenzschutztruppenteil, ungefähr ein ganzes Regiment, so daß man dorthin seine Nase besser nicht stecken sollte.

Die Tage verliefen in einer gleichförmigen Reihenfolge, nur langsam kamen wir voran. Wir hatten auch keine Eile, man mußte die Körperkräfte so berechnen, daß ein Alarm, plötzliche Begegnung oder Verfolgung uns niemals in entkräftetem Zustand überraschen konnte. Schließlich konnten wir mit unseren Rucksäcken eine besondere Geschwindigkeit nicht entwickeln.

Meine Wunde im Rücken erwies sich viel quälender, als ich zuerst vermutet hatte. Wie ich auch meinen Rucksack umplazierte, immer rutschte er von Zeit zu Zeit tiefer und riß die angeheilte Haut wieder auf. Nach einem langen Streit war ich gezwungen, einen Teil meiner Last in Georgs Rucksack umzuladen, dann hatte er weit über einen Zentner auf seinem Buckel und konnte kaum die Beine verstellen.

 

Jagd durch das Gelände

Stunde um Stunde, Tag um Tag wiederholte sich ungefähr die gleiche Reihenfolge: verworrenes und mit Steinen überhäuftes Walddickicht an einem Bergabhang, dann undurchdringliche Windbrüche an dessen Gipfel, dann wieder Abhang und Wald, danach Sumpf oder See. So treten wir an den Waldrand und sehen vor uns einen rostigen karelischen Sumpf liegen, der – ein halbes bis ganzes Kilometer breit – wie ein langer Streifen sich von Nordwest nach Südost hinzieht – in der Richtung des Hauptmassivs der Bergrücken Kareliens. Morgens im Nebel oder abends in der Dämmerung kneteten wir ehrlich den Morast, manchmal sanken wir bis an den Bauch ein, manchmal sprangen wir von Grasbühne zu Grasbühne und dachten dabei immer an Boris. Wir sind zu zweit und brauchen weniger zu befürchten. Sollte einer von uns einsinken und der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt sein, dann kann der andere helfen. Wie steht es aber um Boris?

Bisweilen nachts waren wir gezwungen, diese Sümpfe zu umgehen. Mitunter sogar am Tage, wenn rechts und links kein Ende des Sumpfes abzusehen war, sahen wir uns verständnisinnig an und trabten in der Hoffnung auf den heiligen Nikolaus geradeaus. Dabei mußten wir fünfhundert bis siebenhundert Meter mit Höchstgeschwindigkeit zurücklegen, um möglichst kurze Zeit an offener Stelle sichtbar zu sein. Wir gingen, sackten bis über die Knie ein, brachen manchmal bis an den Bauch durch, beugten uns zu Boden, suchten sorgfältig jeden kleinsten Busch als Deckung zu benutzen – und landeten am jenseitigen Ufer des Sumpfes restlos ausgepumpt. Das waren die gefährlichsten Augenblicke unserer Wanderung. Sehr schlecht war es auch um die Überquerungen bestellt.

Auf die erste von ihnen stießen wir eines Spätabends. Etwa eine Stunde gingen wir in dem dichten, übermannshohen Schilfdickicht. Das Dickicht brach am Ufer eines stillen und etwa zwanzig Meter breiten Flusses ab. Wir suchten nach einer Furt – doch gab es keine. Eine Dreimeterstange ging ganz hinein – sogar am Ufer, wo sich auf dem Grund etwas Glitschiges und Klebriges ertasten ließ. Dann kamen wir dahinter, daß es eigentlich kein Ufer in dem üblichen Sinne dieses Wortes war. Es war eine schwimmende Schicht von abgestorbenem Schilf, verwickelten Wurzeln, längst verfaultem Grase – Urbeginn eines künftigen Torfstiches. Wir gingen ein Kilometer weiter nach Süden – das gleiche Bild. Wir entschlossen uns, den Fluß zu durchschwimmen. Aus Ästen banden wir ein kleines Floß zusammen – Stricke zu diesem Zweck hatten wir vorrätig – legten darauf einen Teil unseres Gepäcks, ich zog mich aus, sofort beklebten mich ganze Wolken von Mücken, das Wasser war eiskalt, das kleine Floß hielt sich kaum auf dem Wasser, ich mußte sechsmal hin und herschwimmen, um unser ganzes Gepäck hinüberzubringen, und war bis auf die Knochen durchgefroren. Dann folgte Georg. Mittlerweile wurde es ganz dunkel. Beide steif und durchgefroren, sammelten wir unser Gepäck und tasteten uns in fast völliger Dunkelheit nach einem trockenen Plätzchen.

Aber es gab keins. Sumpf, Schilf, wassergefüllte Löcher zogen sich scheinbar ins Unendliche hin. Hier und da stießen wir auf Moorlöcher – schmale Fenster in dem abgrundtiefen Torfmorast. Gehen durfte man nicht – gefährlich – nicht gehen durfte man aber auch nicht – sonst erfriert man. Für Feuer war nirgends Platz und kein trockenes Holz da. Endlich erklommen wir einen von Dunkelheit und Nebel eingehüllten Hügel. Erst hier konnten wir Feuer machen. Vom Sumpf drang das Geschnatter der Wildenten herüber, dumpf rauschten die Kiefern, spukhaft ächzte es im Sumpf – aber kein menschlicher Laut war über der karelischen Taiga zu hören. Der Nebel hüllte noch dichter unsere nasse Lagerstatt ein. Wie in Watte eingewickelt, standen die nächsten Kiefern, und es schien mir, daß wir hoffnungslos unentrinnbar in der Öde des Taigadickichts verloren sind und nunmehr tagein, tagaus, jahrelang gehen werden, ohne den Weg aus diesem Labyrinth von rostbraunen Sümpfen, von Nebel, schemenhaften Ufern und gespensterhaftem Wald zu finden. In der Tat war der Wald etwas Gespensterhaftes. – Hier steht der Stamm einer verdorrten Birke, man stützt sich mit der Hand darauf, und er zerfällt als nasser Schimmel. Oder es liegt auf dem Wege ein vom Sturm gestürzter Baumriese. Man stellt das Bein darauf, und es versinkt im weichen, mürben Moder.

Wir knickten einige Tannenzweige ab und errichteten daraus auf der nassen Erde eine Art Liegestatt. Das Feuer war herabgebrannt. Nebel und Dunkelheit schoben sich immer näher heran. Wir rückten dicht aneinander, und ich verfiel bald in einen unruhigen Schlaf inmitten der Sümpfe.

Achtmal mußten wir auf ähnliche Weise übersetzen. Einmal war es sehr drollig: ich sah zum ersten Male, daß auch Georg Angst kannte.

An einem strahlenden Augusttag kamen wir an ein stilles Waldflüßchen, so an fünf Meter breit und anderthalb Meter tief. Der Grund des Flüßchens war schwarz von abgefallenen Fichtennadeln, das Wasser – völlig klar. Niedrige, mit Erlengehölz bewachsene Ufer fielen steil ins Wasser. Uns ausziehen und das Flüßchen durchwaten, mochten wir nicht. Auf der Suche nach einer schmäleren Stelle gingen wir ein Stückchen das Ufer entlang. Wir fanden eine durch den Sturm umgelegte Kiefer, deren Stamm das Flüßchen überbrückte. Die Mitte des Stammes war durchgebogen und mit Wasser und Schlamm überspült. Entschlossen kletterte Georg auf den Stamm und schritt auf die andere Seite zu.

»Nimm doch einen Stock zum Stützen!«

»Ach was!«

In der Mitte des Stammes machte Georg plötzlich mehrere balancierende Bewegungen mit Händen und Hüften und blieb wie angewurzelt stehen. Ich konnte klar sehen, wie sein Gesicht erblaßte und seine Kinnladen sich krampfhaft zusammenschlossen, als habe er etwas Furchtbares erblickt. Am jenseitigen Ufer war niemand zu sehen – die Augen Georgs waren nach unten ins Wasser gerichtet. Was war da, vielleicht ein Ertrunkener? Doch das Wasser war klar und auf dem Grunde nichts zu sehen. Endlich sagte Georg mit dumpfer und stockender Stimme:

»Stock her.«

Ich reichte ihm die erstbeste Stange. Ohne sich umzuschauen, ertastete Georg das ihm gereichte Ende, stützte sich damit am Grund und kehrte zurück. Sein Gesicht war blaß, und dicke Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.

»Was hast du denn?«

»Glitschig«, sagte Georg dumpf.

Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten. Zornig sah mich Georg an: was gibt's da zu lachen? Dann aber erschien auch auf seinem Gesicht ein schwaches Lächeln.

»Habe ich aber 'ne Angst ausgestanden …«

»Weshalb denn das?«

»Wie weshalb? Wäre ich ins Wasser gefallen, kein Körnchen Zucker hätten wir behalten.«

Die nächste Überquerung war weniger komisch.

Eines Frühmorgens kamen wir an das hohe, steile Ufer eines Flusses oder Durchflusses. Das jenseitige Ufer, ebenso hoch und steil, lag etwa ein Kilometer von uns entfernt, halb verdeckt durch die Streifen des Morgennebels. Wir gingen in nordwestlicher Richtung in der Hoffnung, eine schmalere Stelle zur Überquerung zu finden. Nach etwa zwei Stunden sahen wir, daß der Fluß sich zu einem See erbreiterte – etwa zwei Kilometer breit und drei bis vier Kilometer lang. In dem entferntesten nordwestlichen Winkel des Sees war ein Kirchlein sichtbar, mehrere Baulichkeiten und – was das Schlimmste war – eine Brücke. Die Brücke bedeutete das unbedingte Vorhandensein eines Grenzschutzkordons. Es war also aus, mit der nordwestlichen Richtung.

Wir machten kehrt und gingen zurück. Nach weiteren drei Stunden, wobei wir stündlich nicht mehr als anderthalb bis zwei Kilometer zurücklegen konnten, entschlossen wir uns, zu rasten, und legten uns hin. Georg döste ein. Ich begann auch zu schlummern, aber irgendwo vom Süden her drang das Geläute von Holzglocken, die die karelischen Kühe um den Hals tragen. Ich erhob mich etwas. Der Schall schien noch weit entfernt, als plötzlich nur einige zehn Schritt von uns eine Kuhherde auftauchte. Wir ergriffen unsere Rucksäcke und stürzten davon. Hinter uns ertönte ein Schrei: es war der Hirt; aber wir wußten nicht, ob er mit diesem Schrei uns oder seine Kühe meinte.

Wir bogen nach Südosten ab. Doch vor uns ertönten wieder Glocken und Axtschläge. Schäbige Lage. Es blieb nur eins – einen gewaltigen Haken zu machen und das Dorf mit der Brücke von Nordosten her zu umgehen. Wir versuchten es.

Nach drei bis vier Stunden erreichten wir einen Waldrand. Georg warf seinen Rucksack ab, kroch etwas hervor, schaute sich um und flüsterte zurück: »Straße.« Ich kroch auch hervor. Es war eine funkelnagelneue Straße, eine von jenen strategischen Chausseen, die die Bolschewiken an der finnischen Grenze gebaut haben. Es blieb nichts übrig, als diese Chaussee im Laufschritt zu überqueren. Wir starteten und liefen geduckt auf die andere Seite. Dort stand ein Telegraphenmast mit einigen Inschriften, und wir beschlossen, das Risiko auf uns zu nehmen, hinzugehen und die Inschrift anzusehen – vielleicht sind wir schon in Finnland.

Wir traten an den Mast – aber o weh – es waren sowjetistische Zeichen. Plötzlich höre ich hinten eine gellende Stimme: »H–a–l–t!«

Nur für einen Augenblick sah ich eine Menschengestalt, offensichtlich soeben aus dem Walde aufgetaucht, etwa vierzig bis fünfzig Schritt hinter uns. Die Gestalt riß etwas einem Revolver sehr Ähnliches empor. Das weitere warteten wir nicht ab … Hinter uns krachten zwei oder drei Revolverschüsse, fast übertönt durch das Getrampel unserer Füße. Möglich, daß »die Kugeln um unsere Ohren pfiffen«, doch hatten wir dafür kein Interesse – wir rasten, was die Beine hergaben. Ich stolperte über irgendeine Wurzel, fiel hin und hörte im Erheben schon ganz idiotische Schreie:

»Halt, stehenbleiben!«

Ausgerechnet bleiben wir stehen und warten! … Dann brüllte jemand noch scharfsinniger:

»Festhalten!«

Wer hätte uns hier wohl halten können?

Wir liefen etwa ein halbes Kilometer und hielten an. Eine ungemütliche Sache: man hat uns ungefähr zwei Kilometer von dem Dorf bemerkt, im Dorfe – darüber bestand kein Zweifel – lag ein tschekistischer Kordon, auf dem Kordon gab es selbstverständlich Hunde, und in fünf bis zwanzig Minuten läßt man diese Hunde auf unsere Spur los. Selbstverständlich wird eine Treibjagd veranstaltet. Wie man die Treibjagden machte – darüber fischten wir bei der Dynamo die erschöpfendsten Schilderungen heraus. Auf die Schreie der geheimnisvollen Gestalt antwortete jemand (ebenfalls schreiend) aus dem Dorf, und sogleich ließ sich auch vielstimmiges Hundegebell vernehmen.

Ich bin auf lange Strecken ein sehr schlechter Läufer. Anderthalb Kilometer einer Laufstrecke sind für mich eine höllische Qual. Und hier liefen wir bald drei Stunden, dazu noch mit zentnerschweren Rucksäcken über ein irrsinniges Chaos von Steingeröll, Löchern, Wurzeln, umgestürzten Stämmen, und der Teufel weiß, was noch. Wohl blieben wir dreimal stehen, doch nicht um zu verschnaufen. Das erstemal rieben wir unsere Sohlen mit der Schwarte vom Räucherspeck ein, das zweitemal – mit einem Aufguß von Machorkatabak, das drittemal mit Salmiakgeist. Der genialste Spürhund wäre nicht dahintergekommen, daß der ursprüngliche Geruch unserer Stiefel, dann das verführerische Aroma des Räucherspecks, dann der Machorkagestank und danach die scharfe Ausdünstung des Salmiakgeistes – daß dies alles von ein und derselben Spur herrührte.

Wir liefen drei Stunden – eine Distanz, die eines Marathonlaufes würdig wäre. Und – nichts! Das Herz barst nicht; eine große Sache – die Nerven! Wenn es sein muß, ist der Mensch zu den unglaublichsten Dingen fähig.

Schlecht war nur, daß wir in die Falle geraten waren. Am Endpunkt unseres Laufes erschien irgendein See, der nach Osten zu in einen breiten und von allen Seiten offenen Sumpf überging. Wir gingen ein halbes Kilometer zurück, stiegen einen Hügel hinauf und warfen unsere Rucksäcke ab. Georg schaute auf die Uhr und sagte:

»Drei Stunden durchgerast: nie im Leben hätte ich das geglaubt!«

Irgendwo von der Chaussee her tönte immer noch das Hundegebell. Offensichtlich war es eine Menge von Hunden. Drei Schüsse schallten herüber: der eine aus einem Gewehr – scharf und trocken, und zwei aus Jagdflinten – hohl und rollend. Die Linie all dieser aufmunternden Laute erstreckte sich ungefähr von dem Seeufer, an dem das kleine Dorf lag, bis zu dem vermeintlichen Ende des Sumpfes. Es wurde uns klar, daß man zu unserer Ergreifung die Dorfhunde (die Spürhunde der GPU bellen nicht) sowie Dorfkomsomolze mobilisiert hatte; die letzteren gehen wir eigentlich nichts an, doch werden sie, im Walde angelangt, dem Instinkt der Jagd auf das edelste Wild – auf den Menschen – verfallen.

Wir befanden uns also in einem Dreieck, dessen eine Seite – südwestlich durch eine Seenkette begrenzt, die andere – südöstlich von Treibern umstellt und die dritte – nordöstlich vom See und Sumpf verschlossen war. Es blieb nur die Möglichkeit offen, nach Nordosten zu gehen, in der Hoffnung, dort an der Spitze des Dreiecks irgendeinen mehr oder minder zugänglichen Ausgang zu finden – eine Landenge, schmaler Durchfluß zwischen dem See oder etwas Ähnliches … Also, los in dieser Richtung! Ich ging, kaum daß die Beine mich trugen, und verwünschte zum tausendsten Male meine Gewissensregungen und meinen Kleinmut. Nein, dort in Medgora hätte man doch dem Lewin den Hals umdrehen und die Waffen beschaffen müssen. Hätte jeder von uns jetzt eine Doppelflinte und noch einen Nagan dazu – würden wir ihnen die Treibjagd zeigen. Wir würden diesen Komsomolzen zeigen, was es heißt, auf Menschen zu jagen – die Jagd wäre ihnen gründlich verdorben. Wohl sind Georg und ich keine hervorragenden Schützen; aber es ist eine Sache, schießen zu können – und eine ganz andere Sache, die Feuerwaffen sich nützlich zu machen. Mit mir ginge es noch, schwächere Nerven, aber mit Georg ist es besser, in solchen Fällen nicht anzubändeln … Ja, wir hätten ihnen die Treibjagd gezeigt … Und jetzt – keine Waffen da, und das Leben hängt schon ganz an einem Haar. Das nächste Mal – Gott verhüte es – werde ich dem Betreffenden, ohne jegliche Rücksicht auf die hohen Materien, alle Knochen brechen … Mit einem Wort – ich war sehr wütend.

Zum Glück begann es bereits zu dämmern. Wir stießen noch auf einen See, gingen an dessen Ufer noch zwei Kilometer entlang, die Beine wollten endgültig nicht mit, der Rucksack rutschte wieder nach unten und riß meine Wunde auf; vor uns breitete sich immer noch der gleiche See – anderthalb Kilometer Wasserfläche, über die sich bereits die Dämmerung senkte. Die Treiber kamen immer näher, Schüsse und Hundegebell wurden deutlicher und deutlicher. Endlich schleppten wir uns bis zu einer Stelle, wo der See – oder Durchfluß – sich etwas verengte und das jenseitige Ufer nicht weiter als ein Kilometer entfernt lag. Wir beschlossen zu schwimmen.

Wir gingen das Ufer hinab, banden aus Ästen und Zweigen ein kleines unförmiges Floß von einer Tragfähigkeit, die ungefähr für unsere Rucksäcke ausreichend war. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Wir zogen uns aus und stiegen ins Wasser. Eine Unmenge Mücken setzte sich auf uns – wie immer bei den Überquerungen; der Grund war seicht und sumpfig, wir wateten auf dem morastigen klebrigen, glitschigen Teig dieses Gewässers, bis das Wasser bis zur Brust stieg, und schwammen los … Kaum hatten wir zehn bis fünfzehn Meter zurückgelegt, als ich irgendwo in der Ferne ein gleichmäßiges Geknatter hörte.

»Wahrscheinlich – ein Lastauto jenseits des Sees«, sagte Georg. »Schwimmen wir weiter.«

»Nein, warten wir mal ab.«

Wir hielten an. Die Stelle war noch nicht zu tief – das Wasser reichte uns bis an die Schulter. Wir horchten. Nach zwei, drei Minuten kam die volle Gewißheit: vom Norden, vom Oberlauf des Stromes her zieht mit großer Geschwindigkeit ein Motorboot. Das Motorgeknatter wurde immer lauter und lauter, irgendwo hinter einer Uferbiegung blitzte etwas einem Scheinwerfer sehr Ähnliches auf. Mit panischem Schrecken strebten wir zurück, dem Ufer zu.

Das Floß auseinanderzunehmen und das Gepäck abzuladen, war keine Zeit mehr. Wir ergriffen das Floß wie eine Tragbahre, doch fiel es gleich auseinander. Fieberhaft und tastend lasen wir seine Reste auf, sammelten unsere Sachen, Rucksäcke und Kleidung … Das Motorboot war schon ganz nahe, und der Strahl seines Scheinwerfers tastete sorgfältig das Ufergebüsch ab. Wir tauchten in das nasse Gras hinter irgendeinem kleinen Busch unter, legten uns platt auf die Erde und sahen, wie das Motorboot mit einer wahrhaftig niederträchtigen Langsamkeit an unserem Ufer entlang fuhr, und wie die Fühler seines Scheinwerfers jeden Busch durchsuchten. Dann flammten die nassen Zweige des uns bedeckenden Busches in grellweißem, elektrischem Licht auf, wir steckten unsere Nasen ins Gras, und ich dachte darüber nach, daß, unsere Anwesenheit zu entdecken, nicht allzuviel Schlauheit bedurfte, schon allein wegen der Wolken von Mücken, die über unseren nackten Rücken schwirrten.

Aber der Strahl glitt gleichgültig über uns hin. Das Motorboot fuhr feierlich weiter, stromab. Wir hoben die Köpfe. Aus der nassen Dunkelheit erstanden im Strahl des Scheinwerfers die ins Wasser gefallenen Baumstämme, Schilf und die steinigen Böschungen des Ufers. Dann bog das Motorboot um eine Halbinsel, und sein Geknatter verstummte allmählich.

Pechschwarze Dunkelheit hüllte uns ein. Es war gar nicht daran zu denken, in dieser Dunkelheit ein Floß zusammenzubauen. Vor Kälte zitternd, zogen wir unsere durchnäßten Kleider an, kletterten einige Meter höher – aus dem sumpfigen Ufer heraus, ertasteten einen Spalt im Felsen und ließen uns dort nieder. Schweigend und unbeweglich verbrachten wir fast die ganze Nacht und fühlten allmählich unser Inneres vor Kälte erstarren.

Vor Morgengrauen brachen wir auf. Die Beine waren steif und schmerzten. Georgs Gesicht war blaugefroren. Mein Hemd hatte sich an die Wunde im Kreuz festgeklebt, gleich bei der ersten Bewegung riß ich irgendeine angeheilte Schicht wieder los. Von Südosten her, von der Treiberlinie erschollen wieder Schüsse und Hundegebell. Auf wen mochten sie dort bloß schießen – keine Ahnung.

Wir gingen in der Morgendämmerung noch anderthalb bis zwei Kilometer das Ufer entlang und entdeckten eine kleine Halbinsel, ganz mit Wald und Gebüsch bewachsen, die sich auf etwa zweihundert Meter in den See hineinschob. Mit dem Ufer war diese Halbinsel durch eine schmale wasserüberspülte Sandbank verbunden. Der Tag brach an, und über das Wasser zogen sich durchdringende Morgennebel. Irgendwo, schon ganz in der Nähe, dröhnte ein Schuß, und ein Hund begann zu bellen.

Georg und ich sagten fast gar nichts – alles war auch so klar. Wir schlichen uns auf die Halbinsel, schnitten mit den Messern mehrere trockene Tannenzweige, banden ein langes, genügend tragfähiges, im allgemeinen aber äußerst unsicheres Floß, schleppten es ans Wasser und luden darauf unsere Rucksäcke und Kleidung. Plötzlich – wieder das Motorgeknatter. Wieder krochen wir in die Büsche.

Diesmal fuhr das Motorboot nach Norden – bald von Nebelstreifen verdeckt, bald sich in seiner ganzen Pracht zeigend: ein kleines schnittiges Motorboot mit Außenbordmotor, einem Scheinwerfer, einem Maschinengewehr und mit vier Mann Besatzung. Ich sagte Georg:

»Sollten wir bei der Überquerung überrascht werden, dann ohne weiteres kapitulieren, und wenn wir an Bord gehoben werden (keinem Tschekisten wird es einfallen, einem nackten Menschen den Nagan vor die Nase zu halten) – sofort den nächsten Tschekisten umarmen und mit dem auf diese Weise verdoppelten Eigengewicht sich auf die Reling fallen lassen: das Motorboot kippt selbstverständlich um. Und im Wasser den Umständen entsprechend handeln.«

Ich fragte Georg noch, ob er sich eines passenden Jiu-Jitsu-Griffes entsänne, der unter solchen, nicht ganz gewöhnlichen Umständen anwendbar sei. Georg entsann sich. Das Geknatter des Motorbootes verklang in der Ferne. Kaum wird es vor einer halben Stunde zurück sein können, und in der Zeit sind wir bereits am jenseitigen Ufer.

Niemals, in keinem Wettkampf habe ich eine derartige Schwimmenergie entwickelt. Man konnte nur mit dem linken Arm arbeiten – der rechte bugsierte das Flößchen. Georg war gescheiter: nahm das Strickende, mit dem unser Gepäck an dem Floß festgebunden war, zwischen die Zähne und schwamm in einem klassischen Braß.

Sobald wir in einem Nebelstreifen waren, hatte ich Sorge, die Richtung zu verlieren. Zog der Streifen vorbei, hatte ich Angst, daß man uns vom Ufer her bemerkte und beschießen würde. Aber nach zweihundert Meter legten sich meine Befürchtungen wegen des Schießens mehr oder weniger. Während meiner Tätigkeit kam ich auch mit dem Schießsport in Berührung und wußte, daß man ein Sowjetgewehr auf die Entfernung von zweihundert Meter nicht besonders zu fürchten brauchte: auf diese Entfernung streut das Gewehr so, daß man eine Kopfzielscheibe nur zufällig treffen kann, weshalb die Schießrekorde in der Sowjetunion vornehmlich mit dem Roßgewehr aufgestellt werden.

Das Schilf des jenseitigen Ufers kam mit entsetzlicher Langsamkeit näher. Endlich fühlten die Beine einen schlammigen und zähen Boden. Gehen konnte man noch nicht, aber es wurde leichter ums Herz. Nach weiteren fünfzig Metern konnten wir im Wasser gehen, zogen das Floß ans Ufer, zerlegten es, nahmen die Stricke wieder mit und versteckten die Floßteile im Schilf, damit keine Spuren unserer Überfahrt zurückblieben.

Ob wegen Kälte, ob wegen der überstandenen Aufregung, ich zitterte wie im Fieber. Wir liefen etwa fünfzig Meter bis zum nächsten Wald, Georg frottierte mich besorgt mit seinem Hemd, wir zogen uns an und stiegen das steile Ufer empor. Es war bereits ganz hell. Auf der silbrigen Fläche des Sees glitt immer noch das gleiche Motorboot. Aus dem Walde jenseits des Sees hörte man Hundegebell und Gewehrschüsse.

»Offensichtlich knallen sie dort aufeinander los«, sagte Georg. »Daß sie bloß nicht pudeln! Ach, wenn jeder von uns ein Gewehrchen hätte. Das wäre eine nette Unterhaltung.«

Ich muß schon zugeben, daß auch mir nach dieser »netten Unterhaltung« die Hände juckten. Und sogar dermaßen, daß, wenn die Waffe da wäre, ich nicht sosehr um die Rettung des eigenen Lebens besorgt wäre, als darum, diesen mir unbekannten Komsomolzen alle Unannehmlichkeiten des Jagdfiebers auf einen Menschen zu zeigen. Aber es gab keine Waffe, und es war gut so. Wäre die Waffe da, dann hätten wir uns in ein Geplänkel verwickelt. Ein paar hätten wir niedergeknallt, doch wären wir selbst kaum mit dem Leben davongekommen.

Noch eine interessante Überquerung gab es. – Eines Tages kamen wir an einen Fluß, der sich in verschiedenen kleinen Seen und Nehrungen ausbreitete. Wir gingen noch etwa zwei Kilometer am Ufer weiter und sahen auf der anderen Seite einen Fischerkahn. Der Kahn war offensichtlich »in Betrieb«; denn es lagen darin Ruder, Enterhaken und andere Sachen. Eigentlich war es eine große Unvorsichtigkeit, doch beschlossen wir, diesen Kahn zur Überfahrt zu benutzen. Georg entkleidete sich blitzschnell, schwamm auf die andere Seite und brachte den Kahn an unser Ufer, und in zwei, drei Minuten waren wir auf der anderen Seite. Von der Stelle, wo wir angelegt hatten, stieg steil den Hügel hinauf eine Art Pfad. Bis zum Kamm des Hügels waren es etwa fünfzig Meter. Georg, nackt wie er war, kroch schnell den Kamm hinauf, lugte hinüber – purzelte aber sofort wieder hinunter und winkte warnend. Im Nu ergriff ich unsere bereits ausgeladenen Habseligkeiten, und wir stürzten beide nach rechts in das Dickicht des Waldes. Nach einem Lauf von etwa zweihundert Meter blieb ich stehen. Georg war nicht da. Ringsherum stand ein selbst für das Auge undurchdringliches Dickicht, und in ihm waren weder die Schritte noch die Stimme Georgs zu hören – rufen durfte man ja nicht: offensichtlich hat Georg hinter dem Kamm jemand erblickt, vielleicht eine Patrouille. Wie konnte es nur kommen, daß wir uns trennten? Ich wartete noch zwei Minuten. Georg kam aber nicht … Wie, wenn er mich verfehlt, und wir beide in diesem Dickicht Blindekuh werden spielen müssen – direkt vor der Nase einer mir noch nicht bekannten Gefahr? Und das Risiko, einander endgültig zu verlieren! Kaltes Entsetzen schlich in meine Seele: Georg ist ganz nackt – wie kommt er durch dieses Gebüsch, was wird er anstellen, wenn wir uns verfehlen – denn er hat außer der Brille nichts bei sich – kein Messer, keine Streichhölzer, nichts … Aber das Entsetzen dauerte nicht lange. Noch eine Minute, und ich hörte leises Knacken der Zweige, irgendwo abseits, und pfiff leise. Aus dem Gebüsch tauchte die von Zweigen zerkratzte Gestalt Georgs und sein erblaßtes Gesicht auf. Georg zog sich hastig an. Seine Hände zitterten etwas. Wir erklommen den Kamm wieder und lugten hinunter: dort unten breitete sich ein See aus, an dessen Ufer zwei Fischer an ihren Netzen herumhantierten. Daneben saßen drei Grenzschützler mit Gewehren und einem Hund – bis zu der Gruppe waren es etwa dreihundert Meter.

Wir rutschten zurück.

»In der Heiligen Schrift steht es – Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht unnützlich führen: auf den heiligen Nikolaus wollen wir unsere Überquerungen nicht mehr bauen.«

»Nee, wollen wir nicht«, pflichtete Georg bei, »lassen wir …«

An diesem Tage bemühten wir uns, möglichst viel Kilometer zurückzulegen.

So verging Tag um Tag. – Der zehnte, der elfte, der zwölfte. Nachts – in kalter Feuchtigkeit oder unter dem Regen, am Tage – grenzenlose Müdigkeit von Überquerungen der Sümpfe und Schneisen, stets wie ein Wild beim kleinsten Rascheln die Ohren gespitzt, und das Empfinden, daß alle Wege zurück abgeschnitten sind. Und – nichts einer Grenze Ähnliches. Wir überquerten zahlreiche Schneisen, die die Bolschewiken durch die karelische Taiga gezogen haben, besahen uns bald hier, bald da eingeschlagene Pflöcke, stießen auf geheimnisvolle in die Erde gesteckte Stöcke: das obere Ende eines solchen Stockes war schräg und glatt abgeschnitten, und darauf stand mit Tintenstift eine geheimnisvolle Inschrift: »Kommando des Zugführers Iwanoff, sieben Mann gingen 8/8 7 Uhr 40 M halten N.–W., keine Spuren«.

Wessen Spuren suchte dieses Kommando? Wir bogen scharf von unserer Marschroute ab und machten uns im Eiltempo aus dem mit diesen geheimnisvollen Stöcken umsteckten Gebiet heraus. Bereits viermal dachten wir, wir hätten die Grenze überschritten: wir stießen auf Pfähle, die auf der einen Seite einen schon längst mit Moos überzogenen grob ausgeschnitzten russischen Doppeladler trugen – auf der anderen Seite den finnischen Löwen. Ich vermutete, daß es die alte Grenze zwischen Rußland und Finnland war – die neue Grenze entspricht fast der alten. Aber nach ein, zwei Tagen stießen wir wieder auf die Pflöcke mit den Buchstaben PK oder mit den geheimnisvollen Inschriften irgendeines anderen Zugführers.

Es stellte sich etwas Ähnliches wie Halluzinationen ein. Eines Abends, als wir uns unter die mit Messern ausgeschnittene Decke aus feuchtem Moos legten, richtete sich Georg etwas auf, horchte und sagte dann:

»Hörst du, Wa, ich glaube – ein Zug …«

Ich lauschte. Irgendwo von weit her, von Westen erscholl das ganz deutliche Rattern der Räder über die Gleisstöße: ra–ta–ta, ra–ta–ta. Woher konnte hier nur die Eisenbahn kommen? Rührte das Rattern von Osten her, dann hätten wir eine zwar unwahrscheinliche, doch theoretisch immerhin mögliche Tatsache vermuten können, daß wir uns total verlaufen haben und nunmehr zur Murmanskbahn zurückkehren; so geschah es schon vielen Flüchtlingen. Doch vom Westen? Die nächste finnische Eisenbahn lief einhundertfünfzig Kilometer von der Grenze entfernt; eine solche Entfernung auf dem finnischen Territorium konnten wir unmöglich zurückgelegt haben, ohne es zu merken. Aber vielleicht hat man in den letzten Jahren dort irgendeine neue Strecke gebaut?

Man brauchte nur eine kleine Willensanstrengung zu machen, und das Räderrattern ging in das eigenartig rhythmische Rauschen der Kiefern über. Sobald aber diese Anstrengung nur für ein paar Minuten sich schwächte, wurde das Rattern wieder so deutlich, so verführerisch und so überzeugend.

Diese Halbhalluzinationen verfolgten uns bis nach Finnland hinein. Und jede Nacht immer aufdringlicher und aufdringlicher.

Als ich unsere Marschroute ausarbeitete, rechnete ich ungefähr mit einem achttägigen Marsch – der Luftlinie nach mußten wir hundertfünfundzwanzig Kilometer zurücklegen. Bei unserem Training und auf guten Wegen hätten wir diese Entfernung in zwei Tagen bewältigt. Doch durfte von »guten Wegen« nicht mal die Rede sein: ich setzte acht Tage an. Georg führte das Tagebuch unseres Marsches, ohne es hätten wir die Zeit verloren. Und nun: acht, zehn und zwölf Tage vergingen, und immer noch die kaum passierbaren Windbrüche auf den Graten von Bergen und Hügeln, immer noch die gleichen Sümpfe, Seen und Durchflüsse. Der Gedanke, daß wir uns verlaufen haben, wurde immer eindringlicher. Sehr stark von der Richtung abgekommen sein konnten wir nicht. Aber wir konnten nach Norden abgeschwenkt sein, bei der Umgehung von Porossosero, und das konnte bedeuten, daß wir ungefähr parallel der Grenze gehen, die an dieser Stelle eine Biegung nach Nordwesten macht. In diesem Falle riskieren wir sehr unangenehme Begegnungen … Ein Trost war unser großer Proviantvorrat – mit solchem Vorrat konnten wir noch lange gehen, ohne Angst vor Hunger zu haben. Ein Trost war auch die optimistische Stimmung Georgs, die nur ein starker Regen verderben konnte, aber nur dann, wenn es nachts goß. Immer noch gingen wir in dieser öden Landschaft, stießen nur zweimal in die Nähe von menschlichen Siedlungen und einmal auf eine Siedlung, die von Menschen leer war.

Unsere Tagesrast verbrachten wir am Ufer eines zauberhaft schönen Sees, im Schilf. Nicht weit davon sahen wir am Seeufer eine verfallene Anlegestelle und einen daran gebundenen halbversunkenen und halbvermoderten Kahn. Im Kahn lagen noch die Ruder, als ob jemand sie erst gestern zurückgelassen hätte. Hierfür konnten wir keine vernünftigen Erklärungen finden, als ich plötzlich, fünf Minuten vom See entfernt, wo ich mir einen Weg durch das Dickicht von jungem Gebüsch, Birken und dergleichen bahnte, auf eine Wand aus Holzstämmen stieß. Es erwies sich, daß es die Wand einer Bauernhütte war. Wir gingen um sie herum. Die Hütte war noch gut erhalten, aber ringsherum wucherte üppig das wildgewachsene Unterholz. Wir gingen hinein. Die Hütte war leer, auf den Wandbrettern standen mehrere Töpfe. Alles war mit Staub und Schimmel bedeckt, durch die Fußbodenritzen wuchs das Gras. Feuchte Grabesluft schlug uns entgegen. Wir gingen hinaus. Es erwies sich, daß die Hütte nicht allein dastand. Einige zehn Meter weiter waren noch ein halb Dutzend Dächer, über das wuchernde Grün ragend, sichtbar. Ich sagte Georg, daß es wahrscheinlich ein entkulakisiertes Dorf sei. Er schlug vor, in den Hütten Umschau zu halten – vielleicht finden wir etwas Waffenähnliches vor. Wir suchten die Hütten nacheinander auf, die genau so öde und verlassen waren wie die erste. Es war nichts darin, außer eingeschimmelten Töpfen, zerbrochenem Dorfmobiliar, vermoderten Kleiderresten und Decken. In einer Hütte entdeckten wir allerdings noch ein menschliches Skelett; das nahm uns jedwede Lust zu weiteren Untersuchungen.

Niedergeschlagen und etwas fassungslos verließen wir dieses vom Wald wiedereroberte Dorf. Etwa hundert Meter weiter erhob sich ein Granitgrat, den wir zu erklimmen hatten. Wir gingen am Fuße der Böschung entlang, um die günstigste Stelle zum Besteigen ausfindig zu machen. Am Fuße der Böschung dehnte sich Steingeröll, auf dem sogar kein Gras wachsen konnte; nur sprödes karelisches Moos bedeckte die Steine mit graugrünen Mustern. Georg ging voran. Unerwartet blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen und fluchte leise. Am Fuße des Abhanges lag ein Haufen von Knochen, unter denen auch acht menschliche Schädel die Zähne fletschten.

»Und hier hast du auch die Kugelspuren«, sagte Georg.

In Kopfhöhe waren im Felsen etwa ein Dutzend Kugeleinschläge noch deutlich sichtbar … Das Bild des entkulakisierten Dörfleins bekam seinen letzten ergänzenden Pinselstrich. Wir umgingen den Knochenhaufen und schritten schweigend weiter. Nach etwa zwei Wegstunden sagte Georg nachdenklich:

»Schon lange mußte man verduften …«

»Schon lange versuchen wir es auch.«

Georg zuckte die Achseln.

*

Über die Grenze kamen wir wahrscheinlich an einem klaren Augustmorgen. Ein ziemlich hoher Bergrücken brach im Norden mit einem steilen Abhang nach einem See zu ab. Den Kamm des Bergrückens entlang führte ein recht gründlich ausgetretener Pfad. Angesichts dessen bogen wir rasch in die Büsche. Georg hatte noch Zeit, am Ende des Pfades einen massiven Steinpfeiler zu bemerken; ich sah ihn nicht. Unten, westlich vom Bergrücken breitete sich ein mit kleinem Gebüsch bewachsener Sumpf aus, in dessen Mitte wie üblich ein kleiner Fluß, etwa acht Meter breit, zwischen seinen veränderlichen Ufern daherfloß. Mit Rücksicht auf das Vorhandensein des Pfades und wahrscheinlich auch der Grenzpatrouillen mußte man schnell und stürmisch handeln. Fast im Gehen zog ich mich aus, schwamm auf die andere Seite, Georg begann unsere Sachen hinüberzuwerfen, wickelte meine Stiefel in das Hemd und die Hose in etwas anderes ein und schleuderte diesen »Diskus« mir zu. Das Bündel entfaltete sich im Flug wie ein Fallschirm, und sein ganzer Inhalt plumpste ins Wasser. Alles, außer den Stiefeln, konnten wir noch retten. Die Stiefel versanken. Geschimpft habe ich kräftig. Es war gut, daß ich als Ersatz ein Paar Fußballschuhe bei mir hatte.

Irgendwo vom Süden her, vom Berggipfel krachte ein Schuß, und wir rasten, halbfertig mit dem Anziehen und Schimpfen und halbnackt, über den Sumpf gen Westen. Noch zwei Schüsse krachten, aber das waldbewachsene Ufer war nahe, und wir stürzten uns in das Dickicht. Dort beendeten wir unsere Toilette, überlegten, daß die Verfolgung nicht allzu schnell kommt, gingen weiter und rieben unsere Sohlen mit den Spezereien ein.

Keinerlei Verfolgung ließ sich feststellen – wahrscheinlich waren wir bereits jenseits der Burschuisgrenze. Nach etwa drei Wegstunden entdeckte ich im Gras ein Stück rotbraunes Papier. Ich hob es auf, das Papier erwies sich als eine Tüte, Doppeltüte aus starkgeleimtem Papier, das man in der Sowjetunion nie zu sehen bekam. Die Tüte wurde nach der Methode von Sherlok Holmes genauestens untersucht. Wir entdeckten darin mehrere Weißbrotkrumen, offensichtlich von einem Burschuisweißbrot. Die Ränder der Tüte waren einst mit einem weißen Papierstreifen zusammengeklebt. Auf der Tüte war noch die Spur des Bindfadens sichtbar – die bourgeoise Herkunft dieser Tüte war außer Zweifel.

Georg richtete sich feierlich auf, ebenso feierlich umarmte er mich, und so standen wir da, tauschten gegenseitig Püffe aus und sprachen allerhand schöne Worte, die in keine Sprache der Welt zu übersetzen sind. Nachdem alle Worte gesprochen waren, nahm Georg seinen zerlumpten Helm ab, der aus dem Stück einer alten Decke nach rotarmistischem Muster angefertigt war, und, ungeachtet seines ganzen »Freidenkertums«, bekreuzigte er sich andächtig.

Trotzdem war ich noch nicht ganz sicher, daß wir bereits auf finnischem Territorium waren. Die Tüte konnte von irgendeinem Schmuggler oder einem stillen Idioten aus den Reihen der finnischen Kommunisten, der nach dem sozialistischen Paradies strebte, fortgeworfen sein, oder einfach von einem Grenzschützler stammen: wer weiß, was für Beziehungen diese Grenzschützler untereinander haben!

Endlich kannte ich auch solche Fälle, wo die Lagerausreißer durch Sowjetgrenzschützler vom finnischen Territorium zurückgeholt wurden – das internationale Recht geniert die »Genossen« nicht besonders.

Abends schlugen wir unser Nachtlager auf einem Berg auf. Das Wetter wurde immer schlechter. Ein schneidender Wind rauschte in den Kiefern, ein kalter Sprühregen kam herunter, Georg richtete eine Liegestatt unter den buschigen Tannenzweigen, und ich kletterte hinunter, um Wasser zu holen. Unten breitete sich ein See aus, vom Regen wie mit einem Schleier verhangen, am jenseitigen Seeufer, etwas schräg von mir, war ein großes Gebäude sichtbar. Mehr konnte man nicht unterscheiden.

Der Regen wurde stärker. Der Wind ging in einen Sturm über. Wir zitterten die ganze Nacht vor Kälte. Morgens stiegen wir zum See hinunter. Das Wetter hatte sich aufgeklärt. Das Gebäude auf der anderen Seite wurde ziemlich deutlich sichtbar: eine Art große Hütte mit allerhand Anbauten und mit einer sperrangelweit offenen Tür. Wir gingen ein halbes Kilometer nach Norden, setzten uns in die Büsche, diesem Gebäude gerade gegenüber und warteten. Nichts rührte sich. Die Tür blieb auf, und es erschien niemand in ihrem schwarzen Rahmen. Wir beschlossen, nach dem Gebäude zu gehen.

Wir umgingen den See, kamen auf etwa fünfzig Meter heran und begannen dann, bei jedem Geräusch im Walde aufhorchend, zu kriechen. Georg kroch etwas abseits von mir, als ich plötzlich seine jubelnde Stimme hörte:

»Nichts zu wollen – Finnland.«

Georg war auf einen Kehrichthaufen gestoßen. Dort lagen Zeitungsfetzen in finnischer Sprache – wohl konnten es auch karelische Zeitungen sein (beide Sprachen waren uns unbekannt) –, aber zugleich waren hier alte Zigarettenschachteln, Konserven-, Kaffee- und sonstige Büchsen – die Aufschriften auch in schwedischer Sprache aufwiesen. Es bestanden keine Zweifel.

 

In Finnland

Natürlich konnten es keinerlei Zweifel sein: wir sind in Finnland. Es blieb noch unbekannt, wie weit wir auf dessen Territorium eingedrungen sind, wo wir uns befinden und wie lange wir noch in der Taiga auf der Suche nach menschlicher Behausung umherirren werden. Nach unserer Flüchtlingstheorie hatten wir uns vorgenommen, allen ausländischen Beamten erst möglichst weit von der Grenze zu begegnen: wer weiß, was da für ungeschriebene Verträge zwischen zwei benachbarten Grenzkordons existieren können. Politik ist eine Sache für sich und das Dasein – auch. Vielleicht wird man uns im Rahmen der nachbarlichen Liebenswürdigkeit ausliefern wollen. Wohl wählten wir seinerzeit die finnische Grenze auch deshalb, weil von allen Grenzen der Sowjetunion hier mit dem korrektesten Verhalten und mit der am meisten kultivierten Umwelt gerechnet werden konnte; doch wiederum, wer weiß, was für ein »Gewohnheitsrecht« in dieser Taigaöde existiert? Während ich noch darüber ziemlich verworren nachdachte, stürzte Georg bereits dem Gebäude zu. Ich dämpfte etwas sein Ungestüm, und wir betraten mit unnötiger Vorsicht und mit klopfenden Herzen die Hütte. Es war offensichtlich eine Holzfällerbaracke, die nur im Winter bewohnt war und im Sommer leer stand. Die Baracke war wie üblich nicht viel besser als unsere in Medgora – nur in der Mitte lagen die Ruinen eines gigantischen Herdes oder Ofens, und der Fußboden, die Stellagen und Tische waren mit verschiedenen Burschuisabfällen bedeckt. Hier fand Georg ein Paar Stiefel, die nach den Burschuisansichten offensichtlich nicht mehr gebrauchsfähig waren, die aber in der Sowjetunion bestimmt ein Luxusgegenstand wären; umher lagen noch leere Büchsen von Konserven, Kakao, Kaffee, kondensierter Milch und leere Zigarettenschachteln. Ich hatte schon fünf oder sechs Tage nicht geraucht und stürzte auf diese Schachteln. Für eine halbe Zigarette konnte ich Tabak zusammenkratzen. Georg fand inzwischen etwas Ähnliches wie Schmalz und mehrere bereits steinharte Brote – unser Brot war auch seit acht Tagen alle.

»Gleich mache ich ein Butterbrot mit Schmalz«, sagte er.

Ich versuchte zu protestieren, aber die Suche nach Tabak lenkte mich ab. Georg schmierte mit dem gefundenen Schmalz ein ordentliches Stück Zwieback und steckte es in den Mund. Sein Gesicht wurde nachdenklich, und der Blick richtete sich sozusagen nach innen.

»Na, schmeckt's?«

Georg begann sein Butterbrot behutsam auszuspucken.

»Schmeckt nicht?« fragte ich wieder, nicht ohne einige pädagogische Schadenfreude.

»Skiwachs«, sagte Georg in gekünstelt gleichgültigem Ton und trat bescheiden zur Seite.

Wir verließen die Baracke. Der Himmel schien besonders sorgfältig ausgewaschen, und ein leichter Taigawind war besonders aromatisch. An der Baracke stand ein Pfahl mit einer Aufschrift, die uns unverständlich war, und mit einem Pfeil, der nach Westen zeigte. In der Richtung des Pfeiles lief ein mit Gras halb zugewachsener Pfad. Georg zog die Riemen seines Rucksackes fester und stimmte sogar an: »Voll ist meine Kiepe, doch drückt der Riemen nicht die Schulter.«

Der Riemen drückte tatsächlich nicht: erstens waren unsere Rucksäcke nach sechzehn Tagen der Wanderung gründlich erleichtert, zweitens, es ging sich – nach den Taigasümpfen, Windbrüchen und dem Steingeröll – so leicht auf einem menschlichen Weg, und endlich, lachte einem tatsächlich die Seele.

Doch war diese Stimmung durch den Gedanken an Boris unterbrochen: wie ist es ihm ergangen?

» Nobiscum deus«, sagte Georg optimistisch, »er erwartet uns bereits in Helsingfors.« Es erwies sich, daß Georg ungefähr recht hatte.

Nach weiteren zwei Stunden des Marsches stießen wir auf einen kleinen Hügel, der mit einem für Karelien typischen Zaun umfriedet war: schräg, gitterartig in die Erde gesteckte Tannenstangen. Hinter dem Zaun war ein sorgfältig gepflegter Gemüsegarten zu sehen. Hinter dem Gemüsegarten, oben auf dem Hügel, stand eine kleine, peinlich saubere Hütte. An der Wand der Hütte bemerkte ich sofort das Blechschild einer Versicherungsgesellschaft, das die letzten irgendwo in der Tiefe der Seele versteckten Zweifel und Ängste zerstreute. Neben der Hütte standen zwei Scheunen. Wir schauten in eine hinein.

Dort machte sich ein Mädchen im Alter von zehn bis zwölf Jahren an etwas zu schaffen. Georg steckte seinen Wuschelkopf durch die Tür und versuchte, sich in allen ihm bekannten Dialekten zu verständigen. Seine Versuche machten auf das Mädchen einen etwas unerwarteten Eindruck. Das Mädchen lief zu einer Wand, lehnte sich mit dem Rücken dagegen, preßte ihre Hände entsetzt an die Brust und begann krampfhaft und lautlos mit weit aufgesperrtem Mund nach Luft zu schnappen. Georg setzte seine Sprachübungen fort. Ich zog ihn aus der Scheune: man muß abwarten. Wir setzten uns auf einen an der Scheunenwand liegenden Holzstamm und harrten der weiteren Entwicklung der Dinge. Nach anderthalb bis zwei Minuten lief das Mädchen pfeilgeschwind aus der Scheune, sprang seitwärts von uns, fegte in einem phantastischen »Stil« über den Zaun, und erst kurz vor der Eingangstür zur Hütte hub es ein Mordsgeschrei an. Die Eingangstür tat sich auf, ein erschrockenes Frauengesicht erschien, und das Mädchen verschwand in der Hütte. Die Tür tat sich wieder zu, das Geschrei des Mädchens wurde dumpfer und brach bald ab.

Georg betrachtete mich mit einem prüfenden Blick und sagte:

»Man muß wohl sagen, daß man allen Grund hat, sich zu erschrecken – könntest du dich bloß im Spiegel sehen.«

Ein Spiegel war aber nicht da. Doch statt dessen genügte es mir, Georg anzusehen: sein schmutziges und von Mückenstichen stark geschwollenes Gesicht, die zerlumpte Lagerkleidung, am Gürtel – ein Räubermesser und auf der Nase – eine drohende schwarze Brille. Ja, mit so einem Äußeren muß man wohl an zehnjährige Mädchen mit etwas mehr Vorsicht herantreten.

Es vergingen noch zehn bis fünfzehn Minuten. Wir saßen in geduldiger Erwartung der weiteren Ereignisse auf unserem Holzstamm. Das gleiche Mädchen sprang panikartig aus der Hütte, fegte wieder über den Zaun und stürzte nach dem Walde zu, wieder durchdringend schreiend, doch nach dem Ton der Stimme zu urteilen, rief sie jemand. Nach einer Viertelstunde trat aus dem Walde ein handfester finnischer Bauer in den unglaublich guten gelben Schaftstiefeln, einer ordentlichen Lederjacke und mit einer Pfeife im Mund. Aber nicht die Stiefel und Lederjacke machten auf mich den größten Eindruck. Mich erschütterte jene in der Sowjetunion im allgemeinen und im Sowjetdorf im besonderen fehlende Selbstsicherheit, die an diesem Bauern so vollkommen und absolut zum Ausdruck kam. Die Sicherheit des morgigen Tages, der Unantastbarkeit seiner bürgerlichen Persönlichkeit und seines bürgerlichen Fleckchens Boden.

Der Bauer trat bedächtig auf uns zu und maß uns mit einem aufmerksamen und mißtrauischen Blick. Ich erhob mich und fragte, ob er russisch verstehe. Zu meiner größten Freude antwortete der Bauer in einem sehr gebrochenen, doch immerhin verständlichem Russisch, daß er etwas verstände. Ich erklärte kurz, worum es sich handele. Die mißtrauischen Falten in seinen Augwinkeln glätteten sich, der Bauer nickte mitfühlend mit dem Kopf und nahm sogar seine Pfeife aus dem Mund.

»Ja, ja, ich verstehen … sehr gut verstehen … dort, hinter Grenze zwei Bruder blieben – beide weg … ja, ich sehr gut verstehen.«

Der Bauer rieb seine Rechte an der Hose und drückte uns feierlich die Hände. Hinter seinem Rücken lugte das Mäulchen des Mädchens hervor, die Angst kämpfte immer noch mit der Neugier – doch mit allen Chancen auf der Seite der letzteren.

Die Lage klärte sich auf. Der Bauer führte uns in die Hütte. Ein sehr großes Zimmer mit einer niedrigen Decke, mit einem ungeheuren Backofen und Herd, auf und über dem Herd strahlte einladend das blankgeputzte Kupfergeschirr, am Herd stand eine etwa dreißigjährige Frau – appetitlich-mollig und häuslich. Sie betrachtete uns mit einem mißtrauischen und wachsamen Blick. Aus der Tür des Nebenzimmers guckten mehrere Kindergesichtchen. Damit es nicht zu gruselig wurde – erschienen diese Gesichtchen dicht über dem Fußboden und sahen uns mit ihren kornblumenblauen Äuglein an. Überall – Wohlhaben, Gemütlichkeit, Selbstsicherheit … Ich erinnerte mich an unsere entkulakisierten Dörfer, und ein schmerzliches Gefühl stieg in mir auf.

Der Bauer begann, seiner Frau die Situation bedächtig und gründlich auseinanderzusetzen. Er erzählte dreimal so lange, als ich es tat. Der mißtrauische Gesichtsausdruck der Bäuerin ging in mitfühlende Achs und Ochs über, worauf eine stürmische haushälterische Tätigkeit folgte. Solange wir auf einer Bank saßen, solange Georg das Zimmer betrachtete und den Kindern an der Tür zuzwinkerte und Grimassen schnitt – die Kinder schäkerten bald mit –, während ich mit Wonne den kräftigsten Bauernknaster rauchte und dem Bauern erzählte, wie es jenseits der Grenze steht und geht, begann der mächtige Eßtisch mit der nicht nur im Sowjetdorf, sondern auch in den Sowjethauptstädten ungesehenen Fülle von Speisen sich zu decken. Nacheinander erschienen Kaffee mit Sahne – wie sich später herausstellte, trinkt man hier Kaffee vor dem Mittagessen – dann Fischsuppe, dann ein gebratener Weißfisch, dann eine Pastete, dann Quark mit saurer Sahne, dann irgendein Brei mit süßem Blaubeerensirup; auf all das schauten wir fassungslos und fast entgeistert. Georg lockerte vorsorglich die Schnalle seines Leibriemens und ging ans Werk, »ernstlich und auf lange«. Nach dem Mittagessen schlug der Bauer vor, uns entweder zu dem Landjäger, der sein Büro zwanzig Kilometer entfernt hatte, oder auf den Grenzkordon etwa zehn Kilometer weit, zu begleiten.

»Wir werden es selbst finden.«

»Nein, Sie verirren sich.«

Nach dem Mittagessen ruhten wir eine Stunde – während dieser Zeit blieb das Mädchen verschwunden –, drückten dann unserer Wirtin lange die Hand und begaben uns zum Grenzkordon. Unterwegs erklärte uns der Bauer das System und die Ergebnisse seiner Wirtschaft: eine mit unmenschlicher Mühe mitten im Wald ausgerodete Lichtung, aus der ein winziges Ackerfeld und Gemüsegarten wurden, Netze am See, im Winter – Waldarbeiten. Wieviel zahlt man für Waldarbeiten? – Ja, so zwölfhundert bis fünfzehnhundert Mark pro Monat. Ich rechnete sofort aus: eine finnische Mark ist nach ihrer Kaufkraft ein wenig mehr als ein Sowjetrubel – somit sind es im Durchschnitt anderthalbtausend Rubel … Ja … Und jenseits der Grenze bekommt der gleiche Bauer fünfunddreißig Rubel … Da soll das Burschui-Finnland mit dem proletarischen Holzexport konkurrieren?

Der Bauer hatte recht: ohne ihn hätten wir den Grenzkordon nicht erreicht. Der Pfad verzweigte sich oft, schlängelte sich durch die Sümpfe, wand sich zwischen den steinigen Hügeln oder verlor sich im Steingeröll. Auf halbem Weg sprang plötzlich aus dem Gebüsch ein riesiger Köter und stürzte sich sogleich auf Georgs Hosen. Mit einem Satz sprang Georg zur Seite, sich mit seinem Stock wehrend, und ich war schon drauf und dran, dem Köter das Rückgrat zu zerschlagen, als hinter der nächsten Pfadbiegung Stimmen hörbar wurden und zwei finnische Grenzjäger hervorliefen; der eine, klein von Wuchs, blauäugig und ungewöhnlich lebhaft – der andere etwas älter, ernsthafter und dunkel. Sie riefen den Köter zurück und begannen mit dem Bauern zu sprechen. Der Bauer fragte uns, ob wir Waffen hätten. Wir zeigten auf unsere Messer. Der kleine Grenzjäger machte ein Amtsgesicht: ich bin verpflichtet, euch zu durchsuchen – klopfte Georg auf die Taschen und begnügte sich damit.

Man brauchte kein großer Psychologe zu sein, um zu verstehen, daß beide Burschen von der Begegnung mit uns sehr erfreut waren; erstens war es für sie ein großes Ereignis in ihrem wahrscheinlich ziemlich eintönigen Leben und zweitens war es doch eine gewisse Sensation. Der Kleine schwatzte mit dem Bauern drauflos und knüpfte dann eine lebhafte Unterhaltung mit Georg an, die aus Gesten, Bindeworten und Versuchen bestand, mit dem Mienenspiel solche Dinge, wie zum Beispiel die Weltrevolution, auszudrücken. Ich weiß nicht, was der Grenzjäger verstand. Georg hatte nichts verstanden.

So plaudernd und mit Hilfe des Bauern uns halb verständigend, kamen wir an einen nicht breiten See, auf dessen anderer Seite ein großes Holzgebäude stand. In einem Kahn fuhren wir über den See. Das Gebäude erwies sich als ein Grenzkordon. Uns empfing der Kordonführer, ein ebenso kleiner gutmütiger und ruhiger Finne wie unser Bauer. Würdevoll drückte er uns die Hände. Wir betraten ein geräumiges sauberes Zimmer – die Kaserne der Grenzjäger. Hier stand ein Dutzend Pritschen und an der Wand – ein Gewehrständer.

Wir nahmen unsere Rucksäcke ab. Der Kordonführer hielt uns eine Schachtel mit finnischen Zigaretten hin. Wir rauchten an und setzten uns an den Tisch vor dem Fenster. Der Bauer trug bedächtig etwas vor, der Kordonführer nickte ebenso bedächtig und mitfühlend mit dem Kopf. Die Grenzjäger standen nebenan und zwinkerten sich bedeutungsvoll zu. Von irgendwoher erschien eine Frau und lehnte sich an die Tür des Zimmers – allen äußeren Merkmalen nach die Frau des Kordonführers. Hinter ihr lugten ein paar flachsblonde Kinderköpfe hervor.

Die Unterhaltung wollte nicht recht vonstatten gehen. Unser Bauer hatte offensichtlich seinen durchaus nicht vielbändigen Vorrat an russischen Worten erschöpft, während ich einfach keine Lust zum Reden hatte … Und doch habe ich von diesem Tag, dem ersten Tage in der Freiheit, geträumt – fünfzehn, siebzehn Jahre strebte und plante ich, setzte mein und anderer Leben aufs Spiel – und jetzt, nachdem ich es endlich erreichte, bemächtigte sich meiner einfach eine unerklärliche Fassungslosigkeit.

Die Frau verschwand. Dann erschien sie wieder und sagte etwas. Der Kordonführer erhob sich und lud uns mit einer etwas zeremoniellen Geste ins Nebenzimmer. Es war ein sauberes, in allen Winkeln wie ausgelecktes Zimmer, in der Mitte stand ein mit schneeweißem Tuch bedeckter Tisch, auf dem Tisch – Tassen und eine dampfende Kaffeekanne. Also »Einladung zur Tasse Kaffee«. Unerwartet.

Wir waren so schmutzig, verschwollen, zerlumpt, daß man sich irgendwie genierte, an diesem an sich schlichten Tisch zu sitzen, der mir, nach dem Schweineleben des Lagers als etwas Hochherrschaftliches vorkam. Irgendwie unschicklich schien es, in die Tasse nicht eigenen Zucker zu legen. Peinlich war es, in die Augen dieser Frau zu schauen, die ich niemals vorher gesehen und wahrscheinlich auch künftig niemals wiedersehen werde, und die mit so rein weiblichem Instinkt bemüht war, uns zu bewirten, obwohl wir nach dem Mittagessen bei dem Bauern bis obenhin satt waren.

Wir saßen eine Weile; es sah sogar nach einer Unterhaltung aus. Allmählich fühlte ich eine tödliche Müdigkeit – Reaktion nach all der Spannung vieler Jahre und der letzten Tage. Man erhob sich. Wieder betraten wir das Zimmer der Grenzjäger. Dort auf dem spiegelblank gebohnerten Fußboden war ein Teppich ausgebreitet, und darauf zwei komplette Betten: für mich und für Georg. Richtige Betten, menschliche, und wir schliefen bis jetzt mehr als ein Jahr auf weiß Gott was. Georg schielte auf diese Betten und sagte:

»Wahrhaftig mit Bettlaken, hol's der Teufel!«

Es dämmerte bereits. Ich trat auf den Hof. Die Frau des Kordonführers kniete am Vorbau und bearbeitete mit aufgekrempelten Ärmeln unseren vielgeprüften Aluminiumtopf, in dem einst irgendein mir unbekanntes Mädchen aus Podporog versucht hatte, mit der Wärme seines hungrigen Körperchens einen zwanzigpfündigen Eisklotz von gefrorenem Lagerschtschi aufzutauen; den Topf, der unsere erste Flucht, die Lagerzeit und sechzehn Tage mühseliger Wanderung über die karelische Taiga mit durchgemacht hatte. Die Frau des Kordonführers versuchte offensichtlich, dem Topf ein christliches Aussehen zu geben. Sie war mit Lappen, Bürsten und Scheuerpulver bewaffnet und gab sich ehrlich die größte Mühe. Unterwegs putzten wir diesen Topf selbstverständlich nicht. Die ursprüngliche zylindrische Form hatte sich durch Stöße gegen Steine, Baumstämme und manches andere in etwas verwandelt, das keinen adäquaten Terminus selbst in der Geometrie von Lobatschewski hatte. Und hier kniet nun eine Frau und reibt dieses Aluminiumwrack eines Schiffbruches. Ich begann ihr zu erklären, daß diese Arbeit sich nicht lohne, daß der Topf sein abenteuerreiches Leben bereits hinter sich habe. Die Frau verstand schlecht. Auf dem Vorbau erschien Georg, und mit vereinten Kräften erreichten wir es doch. Die Frau ließ von dem Topf ab und sah uns mit einem Blick an, in dem deutlich die unüberwindliche weibliche Tendenz fühlbar war, mit uns ungefähr genau so wie mit dem Topf zu verfahren: abreiben, auswaschen, flicken, Knöpfe annähen und schlafen legen. Ich konnte mich nicht beherrschen: nahm die schmutzige Hand der Frau und küßte sie. Doch seelisch war mir sehr elend zumute.

Offensichtlich ging es auch Georg so. Wir standen eine Weile unter dem schon dunkel gewordenen Himmel und gingen dann an den Hügelabhang am See. Natürlich sollte man es nicht tun. Natürlich waren wir, gleichwohl wie man uns behandelt hat, Arretierte, und man sollte den Grenzjägern keine Veranlassung geben, diese offizielle Tatsache zu unterstreichen. Aber niemand unterstrich sie.

Wir setzten uns auf den Hügelabhang. Vor uns breitete sich die hellgraue Fläche des Sees aus, weiter östlich von ihm erhob sich wie dichte und schwarze Borsten die Taiga, über die wir, Gott gebe es, niemals wieder werden wandern müssen. Noch weiter nach Osten dehnte sich der unendliche Raum unseres Vaterlandes. Gott weiß allein, ob es uns gelingt, dahin zurückzukehren.

Ich holte aus der Tasche die Zigarettenschachtel, mit der uns der Kordonführer versehen hatte. Georg streckte die Hand vor:

»Gib auch mir eine …«

»Nanu, auf einmal?«

»Ja, so …«

Ich entzündete ein Streichholz. Georg rauchte ungeschickt an und verzog das Gesicht. Wir saßen und schwiegen. Am Himmel erschienen im Osten die ersten Sterne – sie leuchteten auch dort – irgendwo über Saltykowka, über Moskau, über Medgora und über Magnitogorsk – nur war anzunehmen, daß in Magnitogorsk niemand sie betrachtete, man hat wohl keine Zeit, sich damit abzugeben … Und in der Seele war es uns unerwartet und merkwürdig elend.

 

Bei den Grenzjägern

Offensichtlich fühlten wir uns beide wie Schiffbrüchige – the drelicts. Solange wir um unser Leben kämpften, um die Freiheit, um ein menschliches Dasein, um das Recht, sich nicht als Dünger für die kommenden Ernten des Sozialismus fühlen zu müssen, sondern als Menschen, und ich insbesondere – nach dem eingewurzelten Instinkt eines Journalisten – um das Recht, das zu sagen, was ich sah und fühlte – solange wir, poetisch ausgedrückt, unsere Muskeln im Kampf mit den tobenden Wellen der sozialistischen Kaschemme anstrengten, war alles einigermaßen geradlinig und einfach. Merkwürdig: am einfachsten war es in der Taiga. Keinerlei Probleme. Man hatte nur eins – immer gen Westen zu gehen. Und so gingen wir. Und kamen an.

Und nun, wie ein Strandgut nach dem Sturm, saßen wir an dem unbekannten Ufer und sahen dahin, nach Osten, wo in den Wellen des kommunistischen Terrors und der sozialistischen Kaschemme soviel uns nahe Menschen täglich umkommen … Viele verspätete Gedanken und Gefühle bestürmten mich … Ja, verspielt haben wir unser Vaterland! Darunter auch ich, wozu die Sünde verbergen. Patriotismus? Vaterlandsliebe? Wer kämpft einfach nur dafür? Man kämpfte für das Grundstück, für ein Programm, für die Partei, für die Kirche, für die Demokratie, für die Selbstherrschaft … Ich kämpfte für die Familie. Boris kämpfte für die Pfadfinderorganisation. Man mußte aber, schon lange mußte man verstehen, daß es außerhalb des Vaterlandes nichts gibt: kein Grundstück, keine Familie, keine Pfadfinder, keine Karriere, keine Demokratie, keine Selbstherrschaft – nichts. Die Heimat ist wie die kategorischen Imperative von Kant, außerhalb dieser Kategorien: Leere, Urnichts. Und doch haben wir es verspielt.

Und diese Finnen … Taigabauer, Grenzjäger, die Frau des Kordonführers. Ich erinnerte mich an die finnischen idealistisch und kommunistisch gesinnten Karauschen, die nach der Sowjetunion aus Amerika kamen, dann bis auf die Haut ausgeplündert wurden und irgendwo im Ural oder Altai hungerten, ich entsann mich der Gesichter der finnischen »Flüchtlinge« im Leningrader Sammelgefängnis – Gesichter, in denen vor Hunger die Augen irgendwo in die Tiefe des Schädels eingesunken und die Lippen so vertrocknet waren, daß man darunter die Umrisse der Kiefer sehen konnte … Ich erinnerte mich des Lastautos mit den finnischen Flüchtlingen in Karelien, im Dorfe Koikory … Ja, man hat sie anders empfangen, als man uns hier empfängt … Zu einer Taffe Kaffee lud man sie nicht ein, und man versuchte nicht, ihre Töpfe zu putzen … Sind wir sehr im Recht, wenn wir von der russischen Menschlichkeit und Freundlichkeit sprechen? … Sind wir sehr im Recht, wenn wir den »materialistischen Westen« der idealistischen russischen Seele gegenüberstellen?

Georg saß mit der erloschenen Zigarette im Mund und sah wie ich nach Osten, über den See und die Taiga … Er fing meinen Blick auf, sah mich an und lächelte trübe; wahrscheinlich zog auch er eine Parallele zu dem, wie man die Menschen dort und hier empfängt … Ja, erklären kann man es – aber es nachfühlen, – unmöglich. Georg hat Rußland eigentlich nie gesehen. Er sah Sozialismus, Moskau, Saltykowka, Menschen, die auf den Straßen von Derbent an Malaria starben, vom Artilleriefeuer weggefegte Dörfer der Ukraine, Lager auf dem Tschubau, Einzelzelle der GPU, das BBK … Vielleicht hätte man ihm all das nicht zeigen sollen? Aber wie sollte man es nicht zeigen?

Georg bat mich um ein Streichholz. Er zündete seine Zigarette wieder an, seine Hände zitterten etwas. Er lächelte noch mal, schon ganz gekünstelt und schief, und fragte:

»Entsinnst du dich, wie wir nach Petroleum fuhren?« …

Mich schauderte …

Es war im Dezember 1931. Georg war soeben aus dem »bourgeoisen« Berlin zurückgekehrt. In unserem Saltykowka saßen wir ohne Licht – Petroleum war nirgends aufzutreiben. Wir fuhren deshalb nach Moskau und reihten uns um vier Uhr morgens in die Schlange ein. Froren bis um zehn. Ich nahm die administrativen Pflichten auf mich und begann, die Schlange auszurichten, was zur Folge hatte, daß ich nach der Eröffnung dieses Elendsladens zwei Fünfliterkanister außerhalb der Reihe und über die Norm hinaus extra bekam. Einige begannen zu protestieren und einige versuchten, mit mir eine Schlägerei anzufangen … Was war das? Rußland? Hat Georg ein anderes Rußland gesehen?

Wohl konnte man sich damit trösten, daß durch ähnliche »Impfungen« der Sozialismus in Rußland auf immer abgetan sei. Man konnte noch mehrere ebenso trostreiche Standpunkte finden, doch an diesem Abend gingen die Vertröstungen nicht in den Kopf hinein. Hinter uns verlosch allmählich die spätsommerliche Sonne. Vom Vorbau herüber ertönte die lustige Stimme des kleinen Grenzjägers, er rief nach uns. Wir standen auf. Im Osten röteten sich, wie blutrote Fahnen, die von der uns nicht mehr sichtbaren Sonne erleuchteten Wolken und rauschte dumpf die Taiga.

Der kleine Grenzjäger rief tatsächlich nach uns. In der kleinen sauberen Küche stand ein mit allen möglichen schönen Sachen bedeckter Tisch, den Georg mit großem Bedauern betrachtete: es ging nichts mehr hinein. Die Frau des Kordonführers, die offensichtlich in dieser kleinen »Familienkaserne« das Regiment führte – ich denke sogar ein mehr selbstherrliches als der Kordonführer – versuchte, Georg und mich zu überreden, noch etwas zu essen – doch war es ein hoffnungsloses Unternehmen. Wir dankten und weigerten uns, die Grenzjäger tauschten lustige Bemerkungen aus, aus den Gesten verstand ich, daß sie fragen wollten, ob auch in Rußland ein solcher Überfluß sei. Natürlich war es in Rußland nicht der Fall, doch wollte ich nicht davon sprechen. Georg versuchte, begreiflich zu machen: Rußland, das ist eins, die Sowjetunion und der Kommunismus aber etwas ganz anderes. Zum besseren Verständnis mischte er in die russische Sprache deutsche, französische und englische Worte unter, die aber den Grenzjägern nicht viel verständlicher als die russischen waren. Deshalb versuchte er es mit Zeichen. Mit Hilfe einer sehr komplizierten und verwickelten Symbolik gelang es uns offensichtlich doch, einen gewissen Unterschied zwischen einem Russen und einem Bolschewik begreiflich zu machen. Ich weiß allerdings nicht, ob es sich lohnte, dies zu erklären. Uns hat man auf jeden Fall nicht als Bolschewiken empfangen. Unser kleiner Grenzjäger ergriff auch den Bleistift. Aus seinen Gesten und Zeichnungen verstanden wir, daß er eine Medaille für ausgezeichnetes Schießen besitzt; diese Medaille hing bei ihm seitlich an der Hose; weiter verstanden wir, daß er und seine Kameraden in dem See Forellen fangen und Wildenten schießen. Der Kordonführer zeichnete noch neben diese Enten etwas einem Truthahn entfernt Ähnliches. Es herrschte hier offensichtlich ein geruhsames Leben. Die Frau des Kordonführers schickte uns alle ins Bett: Georg, mich, die Grenzjäger und den Kordonführer. Wieder standen wir vor den für uns hergerichteten Betten. Irgendwie peinlich war es für uns, mit unseren schmutzigen Füßen unter diese zwar derben, aber schneeweißen Bettbezüge zu kriechen. Wir schämten uns unserer Lagerlumpen, und es war irgendwie kränkend, daß unsere Grenzjäger diese Lumpen nicht als bolschewistisch, sondern als russisch ansahen.

Die Frau des Kordonführers rief den Grenzjägern laut etwas Zurechtweisendes zu, weil sie sich über etwas lustig machten, worauf sie nach einigem Feilschen sich schlafen legten. Nicht ohne Genuß streckte ich mich in meinem Bett – das erstemal seit der Einzelzelle der GPU, wo es immerhin ein Bett gab. Im Lager waren nur die nackten Bretter der Stellage, dann Moos und Tannenzweige der karelischen Taiga. Nein, was man auch sagen mag, Komfort ist eine große Sache.

Aber diesmal half auch Komfort nicht. – An Stelle der von mir erwarteten Empfindung eines endlich erreichten Zieles der Sicherheit und der Freiheit kreisten in meinem Kopf Bruchstücke schwerer Gedanken über die Vergangenheit wie über die Zukunft, und in der Seele war es widerwärtig schlecht … Die Sauberkeit und Gemütlichkeit dieser kleinen Familienkaserne, die mitleidige Gastfreundlichkeit der Frau des Kordonführers, die freundlichen Neckereien der Grenzjäger, die Ruhe, das Sattsein und die Ordentlichkeit dieses Lebens riefen die Empfindung eines beleidigten Nationalstolzes hervor: warum ist es bei uns so niederträchtig, so hungrig, so grausam? Warum empfangen sowjetistische Grenzjäger (sowjetistische, aber immerhin russische) Flüchtlinge aus Finnland bei weitem nicht so, wie hier diese Finnen uns, Flüchtlinge aus der Sowjetunion, empfingen? Haben wir in der Tat soviel Rechte auf jenes Monopol der »Allmenschlichkeit« und Freundlichkeit, die wir für die russische Seele beanspruchen? Ich weiß nicht, wie es weiter wird. Der normalen Entwicklung der Ereignisse nach muß man uns natürlich verhaften, irgendwo festsetzen, bis unsere Personalien mehr oder weniger geklärt sind. Aber bis jetzt behandelt uns niemand wie Arrestanten, wie Verdächtige. All diese Menschen empfangen uns, als ob wir Gäste seien, sehr ermüdete Wanderer, die man vor allen Dingen satt füttern und aufmuntern muß. Wäre ich ein finnischer Kommunist, der sich in das »Vaterland aller Werktätigen« durchgeschlagen hat, hätte man mich so behandelt? Ich entsann mich der finnischen Überläufer, die als Häftlinge auf den Bau der Eisenhütten in Magnitogorsk verschickt wurden – sie starben dort restlos aus; ich entsann mich »prominenter Ausländer« im Leningrader Sammelgefängnis, der Gruppen von finnischen Überläufern im Dorf Koikory, hungrig, entmutigt, fassungslos und in den Augen ein schlecht verheimlichtes Entsetzen einer völligen Katastrophe, des grausamen Betrogenseins, der Vernichtung aller Hoffnungen … Ja, sie hat man nicht so wie uns empfangen. Merkwürdig, aber wenn man uns auf eben diesem finnischen Grenzkordon gröber, offizieller behandelt hätte, dann wäre es mir irgendwie leichter ums Herz. Doch, man verhielt sich uns gegenüber so menschlich, wie ich es bei all meinem Optimismus nicht erwartete. Der Kontrast mit der Unmenschlichkeit all dessen, was ich auf dem Territorium des ehemals russischen Imperiums sah, lastete auf meiner Seele als schwere Beleidigung meines Nationalstolzes, qualvoll, unentrinnbar und unvermeidlich.

Noch eins – dort der Gewehrständer. Ich, wie die Mehrheit der Männer, hege für die Waffen eine leidenschaftliche Vorliebe. Nicht daß ich zu blutrünstig oder zu kriegerisch veranlagt bin; aber jede Waffe, vom Flitzbogen bis zum Maschinengewehr zieht mich eigentümlich an. Jede Waffe möchte ich in die Hand nehmen, einschießen, meine Macht über sie fühlen. Da ich aber ein Mensch unter dem Herrgott und unbedingt friedfertig, unbedingt kriegsgegnerisch gesinnt bin, weil ich außerdem eine unbedingte Abscheu gegen jeden Mord empfinde, und weil ich in meinem Leben zwei Morde zu verzeichnen habe, allerdings beide Male nur mit der bloßen Faust, so betrachte ich meine Liebhaberei für die Waffen immer als eine Art stillen und völlig ungefährlichen Wahnes – so etwa wie das Sammeln von Briefmarken, zahlen doch die Menschen für diesen Unsinn mitunter sehr viel Geld. Der Gewehrständer stand neben meinem Bett: acht Gewehre russischen Musters (die finnische Armee ist mit russischen Gewehren ausgerüstet), zwei Doppelflinten und ein mir noch unbekanntes kleinkalibriges Gewehr: morgen muß ich sie unbedingt näher betrachten … Komische Leute sind das! – Wir sind doch Arrestanten! Und wenn wir uns in Haft befinden, dann gehört es sich eigentlich nicht, uns neben den Gewehrständer schlafen zu legen. Die Kaserne schläft, ich aber nicht. Gleich zur Hand habe ich Waffen, genügend, um diese ganze Kaserne im Nu zu liquidieren, wenn ich es für nötig halte. Über dem Ständer hängt der geladene Parabellum des kleinen Grenzjägers. In diesem Parabellum – ein volles Magazin; der kleine Grenzjäger zeigte Georg noch die Handhabung dieser Pistole … Merkwürdige Burschen!

Ich ertappte mich bei der Empfindung, außerhalb jedweder Politik, außerhalb der defensiven oder offensiven Gesinnung, vielleicht sogar im allgemeinen außerhalb des Bewußtseins steht das »Ich«: das erstemal in den letzten siebzehn Jahren meines Lebens empfand ich die in Reichweite stehenden Gewehre als die Waffe der Freundschaft. Das war nicht die Waffe der Gewalt, sondern die Waffe zur Abwehr der Gewalt. Ein sowjetistisches Gewehr empfand man immer als die Waffe der Gewalt – der Gewalt über Awdejeff, Akulschin, Batuschkoff, Boris, Georg, mich und so weiter, das ganze Alphabet. Alle hatten dies Empfinden. Jetzt schützen Georg und mich diese finnischen an der Wand stehenden Gewehre vor den sowjetistischen Gewehren. Das ist sehr schwer, aber immerhin eine Tatsache: die finnischen Gewehre schützen uns; aus russischen Gewehren wären wir erschossen worden, wie Millionen anderer russischer Menschen erschossen werden – Gutsbesitzer und Bauern, Priester und Arbeiter, Kapitalisten und Besprisorniki … Erschossen, wie wahrscheinlich auch jene Ingenieure, die versucht haben, aus der Tulomaabteilung des sozialistischen Paradieses zu fliehen, und zur Zeit unserer Flucht ihre letzten Tage im Gefängnis von Medgora verbrachten. Erschossen wie Akulschin, falls es ihm nicht gelungen ist, sich nach der Taiga Sibiriens durchzuschlagen … Oder wie hunderttausende russischer Emigranten, wenn sie sich auf ihrem heimatlichen Boden nur gezeigt hätten.

Ich hatte Lust, aufzustehen und dieses finnische Gewehr zu streicheln. Ich verstehe wohl – das ist eine schlechte Illustration des Patriotismus. Ich glaube nicht, daß ich ein schlechterer Patriot als jeder andere Russe bin – ein schlechter Patriot war ich, schlechte Patrioten waren wir Russen alle, damit können wir uns nicht rühmen. Auch ich nicht, und doch: bei all meiner unterbewußten Hingezogenheit zu jeder Waffe bemächtigte sich meiner bei dem Anblick jeder sowjetistischen Waffe ein Zittern des Abscheus, der Angst und des Hasses. Die Sowjetwaffe ist im Grunde genommen eine Erschießungswaffe. Und das Furchtbarste in unserem Leben besteht darin, daß das sowjetistische Gewehr gleichzeitig auch ein russisches Gewehr ist. Diese Sache habe ich erst auf dem finnischen Grenzkordon begriffen. Früher begriff ich es nicht. Für mich wie auch für Georg, Boris, Awdejeff, Akulschin, Batuschkoff und Millionen andere war das sowjetistische Gewehr nur etwas derartiges. Von seiner russischen Herkunft war dort nicht mal die Rede. Jetzt, wo dieses Gewehr den Kopf meines Sohnes nicht bedroht, kann ich, sozusagen, »objektiv« urteilen. Wenn aber dieses Gewehr – ob sowjetistisch, ob russisch – auf den Kopf meines Sohnes, meines Bruders gerichtet wird – dann werde ich von keinem Patriotismus und von keinen Territorien reden. Auch Akulschin wird es nicht … Von irgendeinem »Objektivismus« wird auch keine Rede sein. Ich persönlich aber, nachdem ich mich fast in voller Sicherheit vor dem Sowjetgewehr befinde, nachdem ich allen Reizen des sozialistischen Aufbaues entronnen bin, beginne mich bei dem gemeinen Gedanken zu ertappen: ich bin entwischt, und wenn dort noch eine Million Menschen erschossen wird, na, was denn schon, ich werde aus diesem Anlaß einen entrüsteten Artikel schreiben und dem Genossen Stalin anraten, sich mit meinen unbestreitbaren Beweisen einverstanden zu erklären: über die Schädlichkeit der Diktatur, über das Utopische des Sozialismus, über Unterdrückung des Geistes und über andere passende Dinge. Und dann, nachdem der Artikel fertiggeschrieben ist, werde ich friedlich und mit dem Gefühl der erfüllten moralischen und patriotischen Pflicht in ein Kaffee gehen, um eine Tasse Kaffee mit Sahne zu trinken, eine Zigarre für zwei Mark zu rauchen und »objektiv« über das Mädchen zu philosophieren, das versuchte, mit ihrem ausgemergelten Körperchen das gefrorene Gebräu aufzutauen, über jene viertausend völlig unschuldigen russischen Jungen, die während der furchtbaren Tage in ihrer »Arbeitskolonie« der Wodorasdelabteilung des GPU BBK langsam verfaulen, und über manches andere, was ich mit eigenen Augen sah. Zu meinem Herrgott bete ich, daß wenigstens dieser Kelch an mir vorübergeht …

Niemals in meinem Leben – und es war ein buntes Leben – hatte ich eine so furchtbare Nacht, wie diese erste Nacht unter dem gastlichen und freundlichen Dach des finnischen Grenzkordons. Sogar die Verführung stand nahe: den Parabellum zu nehmen und alle Fragen radikal zu liquidieren. Denn gerade dieses menschlich-freundliche Verhalten uns zwei zerlumpten, hungrigen, angeschwollenen und selbstverständlich verdächtigen Ausländern gegenüber, das war für mich – wie eine Ohrfeige.

Warum gibt es hier in Finnland diese Freundlichkeit, dazu noch zu mir, dem Vertreter jenes Volkes, das einst Finnland »unterdrückte«? Warum aber gibt es in meiner Heimat, ohne die ich sowieso kein richtiges Leben habe und haben kann, diese unentrinnbare, grausame, blutige Kaschemme? Wie kam das alles? Wie konnte ich, Iwan Lukjanowitsch Solonewitsch, Gestalt mittelgroß, Augen gewöhnlich, Nase kartoffelförmig, Gewicht hundertzwanzig Kilo, besondere Merkmale keine – wie konnte ich, ein Mann, diese ganze Kaschemme zulassen? Warum denn erwies ich mich, nicht gerade ein Feigling und nicht ein ganz kompletter Narr – in Praxis doch als Feigling und als Narr?

Über dem Ständer hing friedlich der Parabellum. Mir war so qualvoll zumute, und der Parabellum zog mich so an, daß es mir bange wurde – was ist das, werde ich wahnsinnig? Georg schnarchte friedlich. Aber Georg ist für diese ganze Kaschemme nicht verantwortlich. Ich habe die Verantwortung zu tragen. Und mein Sohn dürfte wohl das Recht haben, mich zu fragen: »Wie hast du denn das alles zugelassen?«

Doch fragte Georg nicht. Ich stand auf, um von dem Parabellum loszukommen, und ging auf den Hof. Das war etwas ungeziemend. Wir waren Inhaftierte, und selbstverständlich war es unnötig, unsere Gastgeber in die unangenehme Notwendigkeit zu versetzen, mir zu sagen: »Machen Sie bitte keine Spaziergänge.« In der Diele schlief der Köter und knurrte mich sofort an. Der kleine Grenzjäger sprang schlaftrunken auf, beruhigte den Köter, sah mich mit einem mitfühlenden Blick an – ich glaube, daß ich ein ganz verrücktes Aussehen hatte – und legte sich wieder schlafen. Ich ließ mich wieder am Abhang des Seeufers nieder und rauchte unbändig die ganze Nacht hindurch. Die blasse Morgenröte des Nordens stieg über der Taiga auf. Von der Stelle aus, wo ich saß, waren noch die Wälder des russischen Landes sichtbar, in denen zehntausende Russen als unfreiwillige Siedler des Weißmeer-Ostsee-Kombinats und anderer Einrichtungen dieser Art umkamen.

Es war bereits ganz hell. Eine Patrouille kehrte von ihrer Streife zurück, sah mich an, sagte nichts und ging ins Haus. Nach einer halben Stunde erschien der Kordonführer, streifte mich mit einem mitfühlenden Blick, seufzte und ging zum Brunnen, sich zu waschen. Dann erschien Georg; er trat auf mich zu und besah mich kritisch:

»Es will nicht in den Kopf hinein, daß all das bereits hinter uns liegt, sind wir denn tatsächlich ausgerissen?«

Dann sah er mein saures Gesicht und fügte trostspendend hinzu:

»Du hast jetzt einfach eine Nervenreaktion … du ruhst dich aus, und alles vergeht.«

»Und wie geht es dir?«

Georg zuckte die Achseln:

»Ja, eigentlich dachte ich, daß es anders kommt. Die Deutschen sagen: Bleibe im Lande und nähre dich redlich.«

»Was denn? Sollten wir vielleicht lieber bleiben?«

»Äh, nee, zu allen Teufeln! Sobald ich an die Podporoger RVA, an BAM, an die Kinder denke, dann kommt es mir auch jetzt so vor, als ob mir jemand kaltes Wasser hinter den Kragen gießt … Nitschewo, laß dich nicht gehen, Wa …«

Man fütterte uns wieder bis obenhin. Dann drückte uns die ganze Einwohnerschaft des Kordons die Hände, und unter Bewachung der gleichen beiden Grenzjäger, die uns gestern im Walde in Empfang genommen, gingen wir irgendwohin weiter. Ein Kilometer von dem Kordon, am Ufer eines anderen Sees, lag ein Motorboot, das wir alle vier bestiegen. Wiederum Labyrinthe von Seen, Durchflüsse, Flüßchen. Wieder Taiga, Sümpfe, Steingeröll und Windbrüche an Hügelkämmen. Georg sah sich um und sagte:

»Brr, nie im Leben möchte ich diese Landschaft wieder betreten. Sogar jetzt möchte ich sie nicht sehen …«

Er tat es aber doch. Jetzt, vom Motorboot aus, erschien die eigenartige karelische Landschaft so malerisch, ihr entströmte der Friede einer Waldeinsamkeit, als ob sie nicht GPU-Kordons, sondern fromme Einsiedler berge. Das Motorboot schreckte Schwärme von Wildenten auf, der kleine Grenzjäger versuchte sogar, aus seinem Parabellum nach ihnen zu schießen. Dem Gesicht Georgs sah man an, daß auch ihm die Hände juckten. Der Grenzjäger reichte ihm seinen Parabellum – in Medgora hätte man es nie getan. Dreimal schoß Georg nach einer am Uferschilf schwimmenden Entenschar, doch immer daneben. Die Enten hoben sich auf und flogen davon.

Die Sonne stieg gen Mittag. In der Seele wurde es allmählich klarer und ruhiger. Vielleicht hatte Georg tatsächlich recht, daß es nur eine Nervenreaktion war. Gegen ein Uhr nachmittags legte das Motorboot an einem im Waldesdickicht verborgenen kleinen Dörfchen an. Unsere Grenzjäger liefen zum Dorfkrämer und brachten Zigaretten, Limonade und noch etwas Erfrischendes. Die sich am Motorboot eingefundenen schweigsamen Finnen hörten mitfühlend die lebhafte Erzählung unseres kleinen Grenzjägers an und nickten nachdenklich mit ihren Pfeifen. Der kleine Grenzjäger fuchtelte mit den Händen so, als ob er nicht Finne, sondern ein Levantiner wäre, und ich habe den Verdacht, daß er viel und kräftig aufschnitt. Aber offensichtlich war sein Aufschneiden recht malerisch.

Gegen Abend erreichten wir einen Grenzpunkt, in dem eine Patrouille von drei Soldaten hauste. Wieder malerische Erzählungen unseres Grenzjägers – ihre Länge nahm mit jedem neuen Fall zu, und offensichtlich wurde sie immer mit neuen Einzelheiten und Bildern bereichert. Unsere neuen Gastgeber kochten uns einen Kessel voll Fischsuppe, und nach dem Abendessen legten wir uns im Heu schlafen. Diesmal schlief ich wie ein Toter.

Morgens früh kamen wir in ein kleines Städtchen – hundert Holzhäuschen, die inmitten ausgerodeter Waldfleckchen verstreut lagen. Wie sich später erwies, hieß das Städtchen Illomantsi, und in ihm befand sich der Stab einer Grenzabteilung. Doch war es noch früh, und der Stab schlief noch. Unsere Bewachung begann, ich weiß nicht warum, mit uns alle ihre Bekannten aufzusuchen. Alles ging sozusagen nach einem Ritual. Der kleine Grenzjäger fuchtelte mit den Händen und berichtete; die Hausfrauen, mit Ach und Och stürzten sie zu ihren Herden, zehn Minuten später erschien Kaffee, Sahne, Butter und dergleichen. Mit Neugier und nicht ohne Bitterkeit betrachteten wir uns die winzigen Zimmerchen, wahrscheinlich von sehr armen Menschen, Fenstergardinchen, Tischtücher, naive Oleographien an den Wänden, mollige und saubere Hausfrauen – ein wohlgefügtes, so klares und selbstsicheres Dasein … Ja, wenn man hierher auf dieses, mit unserer Ukraine nicht zu vergleichendes Land, unsere Entkulakerer losließe – das Land, auf dem die Menschen trotz der Dürftigkeit ein menschliches Leben und nicht ein kollektivisiertes Durcheinander aufbauen!

Bereits im dritten Hause konnten wir weder trinken noch ein Krümchen essen. Die Aufwartungen wurden vor dem Objektiv eines Ortsphotographen beendet, der uns alle vier verewigte. Unsere Grenzjäger fühlten sich als Teilnehmer einer an diesem Ort nie dagewesenen Sensation. Dann gingen wir zum Stab. Vor dem erschienenen Offizier stand unser kleiner Grenzjäger wie ein Hähnchen stramm und begann etwas lebhaft vorzutragen. Aber weil das Erzählen, dazu noch lebhaft, ohne zu gestikulieren, ihm offensichtlich unmöglich war, blieb von seiner Subordination bald gar nichts: die Sitten in der finnischen Armee sind offensichtlich ziemlich demokratisch.

Mit dem Offizier konnten wir uns endlich in deutscher Sprache verständigen. Man unterzog uns einem Verhör – das erste Verhör auf Burschuiterritorium; ein durchaus einfaches Verhör: wer und was wir sind, woher und ähnliches. Nach dem Verhör wieder Essen. Da in meinem Lagerausweis in der Zeile: Beruf – Sportinstruktor stand, sammelte sich gegen Abend eine Gruppe von Soldaten – der eine von ihnen sprach nicht schlecht englisch – und wir maßen unsere Kräfte im Diskuswerfen und Kugelstoßen. Finnische »Nejti« (was dem deutschen – Fräulein – entspricht) standen umher, tuschelten und kicherten. Die kleine Kaserne und der Stab wurden von Frauen bedient. All diese »Nejti« waren so appetitlich sauber, so frisch, als ob sie soeben aus dem Verkaufsladen einer der besten und der gewissenhaftesten Firmen kamen. Es kamen noch einige »Nejti«, brachten uns Apfelsinen und Bananen; dann legte man uns im Heu schlafen – selbstverständlich mit Bettlaken und allem Drum und Dran. Morgens verabschiedeten sich unsere Grenzjäger ganz rührend von uns, drückten uns die Hände, klopften uns auf die Schulter und sagten einige, höchstwahrscheinlich sehr gute Dinge. Aber von allen diesen sehr guten Dingen verstanden wir kein Wort.

 

»Im Kittchen«

In Illomantsi wurden wir in die Hände der Zivilbehörden übergeben. Ein gleichmütig aussehender Bursche fuhr uns im kleinen Autobus in eine Stadt von wahrscheinlich etwa zehntausend Einwohnern, ließ uns auf dem Bürgersteig stehen und verschwand irgendwohin. Das vorbeigehende Publikum sah uns mit Blicken an, in denen Zurückhaltung vergeblich mit Neugier und Staunen kämpfte. Dann fuhr irgendein Onkel auf dem Motorrad vor und brachte uns an das Ende der Stadt, und dort wurden wir ins Kittchen gesetzt. Später erklärte man uns aus Höflichkeit, daß es kein Kittchen, das heißt keine Arretierung, sondern einfach die Quarantäne war. Meinetwegen auch Quarantäne. Das Kittchen war ganz harmlos, und bei unserer Erfahrung wäre das Ausreißen aus ihm eine Kleinigkeit. Das lohnte sich aber jetzt nicht. Der Onkel, der uns hierherbrachte, machte Anstalten, daß er nach dem Gesetz verpflichtet sei, unsere Sachen zu durchsuchen, besann sich aber, winkte ab und zog von dannen. Zwei Stunden später kam er wieder mit dem gleichen Motorrad und fuhr uns irgendwohin in die Stadt, wie sich erwies, zur politischen Polizei.

Ich kann mir nicht klar vorstellen, womit sich die finnische politische Polizei befaßt … Irgendein langer Herr mittleren Alters überraschte mich durch die Frage:

»Sein Sie Mitglied WKPB?« (Allunionistische kommunistische Partei der Bolschewiki.)

Die nächste Frage, wie nach einem Pfuschzettel gestellt, klang ungefähr so:

»Sein Sie Mitglied der MOPR, sein Sie Mitglied OPTETE?« – Unter letzterem war wahrscheinlich die »Gesellschaft für Proletarische Wanderungen und Reisen« zu verstehen.

Wir gingen zur deutschen Sprache über, und die Fragen über meine zahlreichen Mitgliedschaften fielen fort. Wir füllten etwas Ähnliches wie einen Fragebogen aus. Ich bat meinen »Untersuchungsrichter« um zwei Gefälligkeiten: sich zu erkundigen, ob auch Boris in der Gegend sei – er mußte die Grenze ungefähr gleichzeitig mit uns überschritten haben – und mir das Geld für ein Telegramm an meine Frau nach Berlin zu borgen … Damit war das Verhör beendet. Am anderen Tage kam zu uns ins Kittchen unser ständiger Motorradfahrer in Begleitung eines sehr geschäftig aussehenden, ebenso wie alle anderen appetitlich sauberen und frischen »Nejti«. Es erwies sich, daß »Nejti« mir das Geld brachte: telegraphische Überweisung aus Berlin und ein Gratulationstelegramm. Nach noch einer Stunde wurde ich ans Telephon gerufen, wo der »Untersuchungsrichter« mir freundschaftlich gratulierte und mitteilte, daß jemand, der sich Boris Solonewitsch nennt, die finnische Grenze im Gebiet von Serdobol am 12. August überschritten hat … Georg, der neben mir stand, sah an meinem Gesicht, worum es sich handelte.

»Also auch mit Bob ist alles in Ordnung! Also, alle Küken sind wohlauf, das nenne ich Klasse!«

Georg wollte mir einen Knuff in den Bauch versetzen, verwickelte sich aber in die Telephonschnur. Mir stockte der Atem: ist all das nicht ein Traum? …

Am 9. September 1934 gegen elf Uhr vormittags fuhren wir in einem Auto vor unserer ersten bürgerlichen Wohnung vor … Die Anwesenheit von Frau M., die Vertreterin der russischen Kolonie war, und in deren Obhut und Fürsorge wir seitens der finnischen Behörden übergeben wurden, brachte weder freundliche Ergüsse noch besorgte Fragen zum Stillstand: wie wir flohen, wie Boris floh, und wie unwahrscheinlich und unglaubwürdig ist all das, daß wir nunmehr auf einem freien Lande fahren, und es gibt keine GPU, kein Lager, kein Geviert 19, keinen blutroten Schatten Stalins und keine schändliche Notwendigkeit, die Genialität der Stupiden und die Humanität der Henker rühmen zu müssen.

 

In richtiger Freiheit

Eng umschlungen gehen wir zu dritt durch die Straßen Helsingfors und betrachten neugierig und erstaunt die mit Waren überladenen Schaufenster der Läden: Weißbrot, Wurstwaren; die saubere Kleidung der Passanten, die lächelnden Lippen gut angezogener Frauen, die ruhigen Gesichter der Männer. Alles ist so neu und so wunderbar.

Viele sehen sich lächelnd nach uns um – hat vielleicht die Troika dieser kraftstrotzenden Kerle über den Durst getrunken? Sie sind offensichtlich nicht vom Lande – alle mit Brillen. Worüber sind sie denn so erstaunt und verwundert?

Unvermittelt bittet Georg:

»Hör mal, Wa, gib mir ordentlich eins auf den Buckel; mir scheint, ich schlafe in der Lagerbaracke und sehe all das im Traum.«

Die hinter uns gehenden soliden Europäer sind von meinem dröhnenden Faustschlag, dem lustigen Gelächter und freudigen Ausruf Georgs schokiert:

»Na, Gott sei Dank, es tut weh. Also ist es kein Traum!«


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