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Reisepaß ins Leben

 

Ein zweites Bolschewo

Ende Juni 1934 befand ich mich sozusagen auf der Höhe meines BBK-Glanzes und saß auf diesem ziemlich fest. Für die Spartakiade hat die »Umschmiedung« bereits große Reklame gemacht. Nach Moskau waren die Artikel für die Sportzeitschriften, die »Iswestija« und die TASS sowie einige »Hinweise« für die Zeitungen der brüderlichen kommunistischen Parteien bereits abgesandt. Die brüderlichen kommunistischen Parteien führen solche Hinweise widerspruchslos aus. Kurzum, ich hatte vorgebaut, obwohl es feste Höhen in dem sowjetistischen Paradiesleben im allgemeinen nicht gibt, doch in diesem besonderen Falle mußte schon irgendeine Naturkatastrophe ausbrechen, um mich wieder in die Lagerhölle hinabzuwerfen.

Teils der Chalture überdrüssig, teils meinen Zeitungsinstinkten gehorchend, entschloß ich mich, eine kurze Reise im Lagergebiet zu machen, um mich etwas umzusehen. Der offizielle Vorwand war mehr als genügend: man muß die größten Abteilungen bereisen, dort etwas instruieren, da jemand zur Vervollständigung der Riegen von Witschka heraussuchen, und so weiter. Mein Kommandoschreiben lautete auf Powenez, Wodorasdel, Segescha, Kem und Murmansk. Als Korsun erfuhr, daß ich auch nach Wodorasdel komme, bat er mich, die Lagerkolonie für Besprisorniki nicht zu vergessen, wohin er mich seinerzeit als Instruktor schicken wollte. Was ich dort machen sollte – blieb etwas unaufgeklärt.

»Dort haben wir ein zweites Bolschewo!« sagte Korsun.

Das erste Bolschewo kannte ich ziemlich gut. Georg kannte es noch besser, denn er arbeitete seinerzeit dort an der Vorbereitung des von Gorki geleiteten Szenariums »Die Umschmiedung der Besprisorniki«. Bolschewo ist vornehmlich eine Musterschau-Kolonie der Besprisorniki oder richtiger gesagt der ehemaligen Kriminalverbrecher in Moskaus Nähe, wohin alle zum eigenen Vergnügen, jedoch stets in Begleitung von Intourist-Beamten reisenden Ausländer unbedingt geschleppt werden, und wo man ihnen die Wunder der sowjetistischen Pädagogik und die sowjetistische Fingerfertigkeit demonstriert. Die Ausländer geraten dann in den Zustand des Entzückens – eines tobenden oder stillen, je nach Temperament. Bernhard Shaw geriet in den Zustand eines tobenden Entzückens. In dem Ehrenbuch der prominenten Besucher sind auch die Muster eines feurigen Enthusiasmus mit enthalten, auf die selbst Markowitsch seligen Angedenkens neidisch wäre. Es fand sich nur ein prosaisch gestimmter Amerikaner, wenn ich mich nicht irre – Professor Dew, der die unbescheidene und unehrerbietige Frage stellte: »Inwiefern ist es zweckmäßig, die Verbrecher in Verhältnissen leben zu lassen, die für ehrliche Bürger des Landes völlig unerreichbar sind?« Die Verhältnisse waren tatsächlich unerreichbar. Die »Kolonisten« arbeiteten in Werkstätten, die Sportausrüstungen für die Dynamo herstellten, und wurden mit Sonderbons bezahlt – damals gab es einen besonderen, nur für den »Inlandsverkehr« bestimmten GPU-Rubel, der seinem Wert nach ungefähr dem Goldrubel gleich war. Der Monatslohn schwankte zwischen fünfzig und zweihundertfünfzig Rubel. Von den »ehrlichen Bürgern« bekam niemand einen solchen Lohn. Der Nettoverdienst eines mittleren Ingenieurs war um das fünf- bis zehnfache niedriger als der Nettoverdienst eines Mörders.

Es gab dort herrliche Gemeinschaftswohnungen. Für die Neuvermählten wurden sogar Separatzimmer vorgesehen – im übrigen Rußland bekommen die Neuvermählten selten eine separate Schlafstelle. Manchmal, noch in der Freiheit, bauten Georg und ich Luftschlösser: wozu eine wissenschaftliche oder technische Karriere machen, wozu schreiben oder erfinden – wäre es nicht einfacher, zwei, drei Diebstähle (nur nicht »des heiligen sozialistischen Eigentums«) zu verüben oder zwei, drei Morde (nur nicht politische), es dann in gebührender Weise zu bereuen und sich umzuschmieden. – Die Reue und die Umschmiedung müßten selbstverständlich »auf der Höhe der neuzeitlichen Technik« stehen … Dann tauchen wir in Bolschewo wieder auf: das wäre ein Leben!

Auf die »Umschmiedung« waren »die Kolonisten« ideal eingedrillt. Erstens war es eine Auslese aus Millionen, zweitens vom Guten läuft man nicht weg, und drittens wurde man für die Flucht aus Bolschewo oder für die »Diskreditierung« ohne weiteres erschossen. Es gab noch einen Grund, von dem etwas melancholisch einer der Erzieher der Kolonie sagte: »Zu stehlen gibt es eigentlich nichts und nirgends – was kann man auch jetzt in der Freiheit stehlen?«

Das war also das »erste Bolschewo«. Es wird sich lohnen, auch das zweite anzusehen. Ich erklärte mich deshalb bereit, diese Kolonie mit aufzusuchen.

 

Rundreise

Von Medgora bis Powenez muß man im Autobus fahren, von Powenez bis Wodorasdel im Motorboot – auf dem berühmten Weißmeer-Ostsee-Kanal. Mit dem Autobus dürfen in erster Linie die vom BBK Abkommandierten reisen, dann die übrigen Ranghöheren – die Rangniedrigeren müssen oft warten. Die freie Bevölkerung darf den Autobus überhaupt nicht benutzen und kann sehen, wie sie vorwärts kommt. Ich beginne zu fühlen, daß auch das Zwangsarbeitslager nicht allein Dornen hat, und lasse mich behaglich auf den gepolsterten Sitz fallen. Hinter dem Fenster fleht ein altes Mütterchen mit weinerlicher Stimme die WOCHR-Männer an:

»Soldaten, Brüderchen, laßt mich auch einsteigen, bei Gott, den dritten Tag warte ich schon hier, kann kaum noch auf den Beinen stehen …«

»Was brauchst du Alte zu reisen«, bemerkt einer der WOCHR-Männer philosophisch, »sollst lieber zu Hause sitzen und beten.«

»Nitschewo, Madamken«, äußerte sich beruhigend ein anderer WOCHR-Mann, »hast nicht mehr lange zu warten.«

»So, kommt gleich noch ein Autobus?«

»Wann ein Autobus kommt – weiß ich nicht; aber auf den Tod, da hast du tatsächlich nicht mehr lange zu warten.«

Die WOCHR bricht kollektiv in ein brüllendes Gelächter aus. Der Autobus ruckt an. Wir rollen auf der nagelneuen Chaussee, die aber bereits voller Schlaglöcher ist, nach Powenez; sie ist, wie alles hier, von Zuchthäuslern gebaut. Die Chaussee ist völlig leer: wozu hat man sie gebaut? Vorbei flitzen verschiedene Unterlager mit ihrer zerlumpten Bevölkerung, schiefstehende und halbzerfallene kollektivisierte Dörfer, verlassene Farmen der Einzelbauern Einige Zeit hat man solche geduldet, doch so besteuert, daß sie bald »freiwillig« sich kollektivisieren ließen.. Die Chaussee bleibt aber leer und öde, wie ausgestorben. Allerdings sieht man ein reges Leben auch in den Dörfern nicht – viele hat man von hier verbannt.

Wir durchfahren das stille und auch irgendwie verödete Kreisstädtchen Powenez. Der Autobus hält an der Powenezer Bucht des berühmten Weißmeer-Ostsee-Kanals.

Ich dachte, hier ein einigermaßen lebhaftes Treiben anzutreffen: Dampfer, Schleppkähne, Flöße. Aber die Bucht ist völlig leer. An der Anlegestelle steht nur ein ziemlich mitgenommenes verbeultes Motorboot, in das zwei Passagiere unseres Autobusses umsteigen: ein Ingenieur und ich. Angestrengt prustend schleppt sich das Boot gen Norden.

Ich sitze am Bug, habe den Kragen meiner Lederjoppe fröstelnd hochgeschlagen und beschaue mir die Gegend. Alles öde und leer. Kein Wasserfahrzeug, nicht einmal Flößholz. Still, einsam, kalt, tot. Rings um die Seen und Durchflüsse, durch die der Kanal führt, zieht sich ein dichter, versumpfter, undurchdringlicher Wald. Fern über der Landschaft steht blaugrauer Nebel der dunstigen Sümpfe. An den Ufern – keine Menschenseele, kein Haus, kein Rauch, nichts.

Doch vor einem Jahr knirschten hier die Bagger, dröhnten die Ammonitschüsse, und eine hunderttausendköpfige Armee von Menschen tummelte sich in diesen Moorsümpfen, um dem Genossen Stalin ein Monument zu errichten. Jetzt sind diese Armeen fort, irgendwo – im BAM, im sibirischen Lager, Dmitlager und in den übrigen Lagern, in anderen Moorsümpfen – um auch dort Monumente zu errichten, nachdem sie hier in Massengräbern ganze Armeekorps von ihren Frontkameraden ließen. Wieviel ihrer gibt es – unbekannte Opfer dieses Kanailleabschnittes Wortspiel – Kanal und Kanaille. des großen »sozialistischen Aufbaues«. Die »Alten« vom Kanalbau sprachen von zweihunderttausend. Mehr kompetente Menschen aus der BBK-Verwaltung sagten: zweihundert zwar nicht, aber etwas mehr als hunderttausend haben ihr Leben hier lassen müssen – Gott allein mag ihre Namen wissen. Wer wird erfahren und wer wird die Tausende von Tonnen dieses lebendigen Düngers berechnen, den man in die Moorsümpfe Kareliens, in die sibirische Taiga eines BAM, in die Sandwüsten von Turksib, in das Steingeröll von Tschustroj geworfen hat?

Mir kamen ins Gedächtnis die Winternächte auf dem Dnjeprostroj, als der eisige Steppenwind durch die vereisten Wälder heulte und in den Baugruben und Gräben die Menschen vor Kälte und Müdigkeit umfielen, ohne die in ihren Unterkünften mit dünner Eisschicht bedeckten Stellagen zu erreichen; der Typhus wütete und eine Menge Frosterkrankungen traten auf, wobei die Ambulanzen besondere Arten einer Massenamputierung der abgefrorenen Gliedmaßen ausgearbeitet hatten und Rudel von Hunden diese Gliedmaßen fortschleppten und benagten. Der Bau ging aber Tag und Nacht ununterbrochen weiter, ohne eine Stunde zu stocken, und in den Zeitungen posaunte man über die aufgestellten Weltrekorde beim Betonieren. Auch an den Tschustroj dachte ich – ein nach sowjetistischen Maßstäben kleines Zwangsarbeitslager für vierzigtausend Menschen am Flusse Tschu in Mittelasien: dort baute man Dämme zur Bewässerung von dreihundertsechzigtausend Hektar Boden für die Pflanzungen von indischem Hanf und Gummibäumen.

Eine etwas naive Frage Georgs über diesen Tschustroj kam mir in Erinnerung. Es war in Daghestan. Wir verirrten uns in den Dschungeln nicht weit von der Eisenbahnstation Berikei, etwa fünfzig Kilometer nördlich von Derbent. Einst waren diese Dschungel Gärten und Plantagen. Die Entkulakisierung verwandelte alles in eine Wüste. Das System der von den Bergen abfließenden Bewässerungskanäle war zerstört, und die Kanäle traten aus den Ufern und bildeten ein ganzes Netz von Sümpfen – Brutstätten von Malariamücken. An Malaria starb das ebene Daghestan fast gänzlich aus. Die Naturbedingungen waren aber die gleichen wie auch auf dem Tschustroj: gleiches Klima, gleicher Boden … Georg fragte mich: wozu ist eigentlich Tschustroj nötig?

Im Etat der Sowjetunion wurden aber für diesen Tschustroj achthundert Millionen Rubel ausgeworfen. Auf die Frage Georgs fand ich keine Antwort. Ebenso wie ich auch keine Antwort auf meine eigene Frage fand, wozu hat man eigentlich den Weißmeer-Ostsee-Kanal gebaut, und wofür sind über hunderttausend Menschen umgekommen?

Etwas später fragte ich Menschen, die ein Jahr und mehr am Kanal verbracht hatten: befördert man etwas auf ihm? Nein, bis jetzt nichts. Im Frühjahr, beim Hochwasser, wurden mehrere Torpedoboote mit abmontierten Geschützen und Maschinen nach Norden durchgeschleppt – und weiter nichts. Ein andermal fragte ich die Ingenieure von der BBK-Verwaltung – wozu hat man denn diesen Kanal gebaut? Die Ingenieure spreizten die Arme: es wurde befohlen. »Also, einfach als Rekord und Monument?« Einer der Helden dieses Baues, ein ehemaliger »Schädling«, fragte mich mit trauriger Ironie: »Haben Sie sich daran noch nicht gewöhnt?«

Nein, daran habe ich mich noch nicht gewöhnt – und so Gott will, werde ich mich auch niemals daran gewöhnen.

Von den Wäldern zieht es mit fauliger, durchdringender, sumpfiger Feuchtigkeit. Ein aufdringlicher Sprühregen hebt an. Kalt, leer, tot.

Wir nähern uns dem »zweiten Bolschewo«.

 

Teufelshügel

Parallel und etwa dreihundert Meter östlich vom Kanal zieht sich ein nicht hoher Steinhügel aus angeschwemmten Kieselsteinen, Findlingen, formlosen und spitzen Granitsplittern. All das ist mit Sand halb verschüttet und erinnert an eine Straße der Giganten, die Sprengungen oder Erdbeben aufgewühlt haben.

Stellt man sich mit dem Gesicht nach Norden, dann zieht sich links von diesem Hügel ein seichter Sumpf hin, auf dem bis zu der Anlegestelle Bretter gelegt sind, dann kommt der Kanal und danach wieder Sumpf und Wald. Rechts – ein kilometerbreiter Moorsumpf, auf dem wie Gespenster die Streifen von durchdringendem, kaltem karelischem Nebel huschen, als ob es die Seelen des hier umgekommenen BBK-Armeekorps wären.

An der Spitze dieses Hügels stehen einige zehn verkümmerte Nordkiefern, die sich mit den entblößten Wurzeln krampfhaft an Stein und Sand halten, und etwa zwanzig grob zusammengehauene Blockbaracken, sorgfältig und dicht mit Drahtverhau umgeben – das ist das »zweite Bolschewo«. – »Erste Kinder-Arbeitskolonie des BBK«.

Der Regen rieselt weiter. Meine Füße gleiten auf den nassen Steinen aus – jeden Augenblick kann man hier ausrutschen und sich den Schädel an den scharfen Kanten der Granitsplitter einschlagen. Ich gehe, vorsichtig balancierend, und denke – was für ein Idiot kam darauf, in diesem schrecklichen Morastloch eine Kinderkolonie unterzubringen – viertausend Jungen im Alter von zehn bis siebzehn Jahren. Ganz zu schweigen von den Territorien auf einem Sechstel des Festlandes der Welt, die dem Kreml untertan sind – konnte man nicht schon auf dem Territorium des BBK etwas Besseres finden?

Der naßkalte Wind umheulte die Baracken. Die Kiefern rauschen und knarren. Ein tiefhängender, kalter Himmel liegt wie aufgestülpt auf ihren Spitzen. Mir ist es kalt, sogar in meiner ordentlichen Lederjoppe – und es ist doch schon Ende Juni. Auf dem Hofe der Kolonie hat man hier und da Kieswege angelegt. Alles übrige ist mit Granitsplittern überhäuft, naß vom Regen und glitschig wie Eis. Die »Liquidation des Besprisornitums« steht vor mir in irgendeinem neuen Aspekt. Ja – sie werden hier liquidiert. Man liquidiert sie als »Klasse«.

Und niemand erfährt.
Wo mein Grab steht.

Ja, in der Tat, es wird niemand erfahren.

 

Die Obrigkeit

Auf der Suche nach dem Leiter der Kolonie erfahre ich zu meinem größten Mißvergnügen, daß den Posten des Leiters Genosse Wiedemann bekleidet, den man hierher nach der Liquidation der Podporog-Abteilung des BBK versetzt hat.

Dort in Podporog bin ich nicht ohne Erfolg dem Genossen Wiedemann aus dem Wege gegangen. Wiedemann gehörte zu den Sowjetverwaltungsbonzen, die ihre ersten Erfolge buchen konnten, und er erlebte deshalb seine ersten, dafür aber um so stürmischeren Anfälle des administrativen Entzückens. Das administrative Entzücken in der Umwelt eines Zwangsarbeitslagers gleicht jener Kanone, die während des Seesturmes sich loslöst und auf dem Deck der Fregatte stumpfsinnig hin und her rollt, was so bildreich Viktor Hugo beschrieben hat. Wiedemann konnte sich nicht nur in die Wade eines Menschen verbeißen, wie es beispielsweise Starodubzeff tat, er konnte einem auch an die Gurgel springen, wie Jakimenko und Uspenski. Doch verstand er noch nicht, wie es Jakimenko und Uspenski bereits verstanden, daß das Springen umsonst sich nicht lohnt und unvorteilhaft ist. Diese Möglichkeit war für Wiedemann noch verhältnismäßig neu, die Empfindung einer fremden Gurgel in eigenen Zähnen regte ihn wahrscheinlich noch auf. Oder war es vielleicht einfach zum Training des administrativen Gebisses?

All diese Erwägungen könnten gewissermaßen als eine psychologische Erklärung des administrativen Charakters des Genossen Wiedemann dienen, doch wäre es meinerseits eine Unaufrichtigkeit, zu behaupten, daß es mich zu einer Begegnung mit ihm hinzog. Ich schimpfte selbst fürchterlich über mich, daß ich, ohne nach des Pudels Kern zu fragen, meine Nase in diese Kolonie steckte. Wohl konnte ich nicht wissen, daß ich hier dem Genossen Wiedemann begegnete. Wahr ist auch, daß ich mich in meiner gegenwärtigen Lage theoretisch außerhalb der administrativen Reichweite des Genossen Wiedemann befand; für den leisesten Versuch, mir etwas zuleide zu tun, hätte Uspenski ihm den Kopf zurechtgesetzt. Und doch blieben hinter all diesem manche »Aber«. Über meine Geschäfte und Beziehungen zu Uspenski hatte Wiedemann keine Ahnung, und wenn ich ihm erzählt hätte, wie ich mit Uspenski, beide im Adamskostüm, im Strandbad Kognak trank, dann hätte er mich für einen ganz gewaltigen Aufschneider gehalten. Ferner: Medgora ist weit. In der Kolonie ist Wiedemann ein unumschränkter Herrscher, wie ein feudaler Vasall, der zu seiner Verfügung eigene unterirdische Verliese und Keller hat, um dort die ihm nicht genehmen Leutchen zu konservieren. Dabei stand in weniger als einem Monat die Flucht bevor.

Wohl hat Wiedemann offensichtlich keine Veranlassung und keinen Vorteil, mir an die Gurgel zu springen, aber die Sache ist gerade die, daß er dies entschieden ohne jede Veranlassung und Vorteil machen könnte – einfach aus Machtüberfluß oder deshalb, weil ihm sozusagen die Zähne administrativ juckten … Manchem Leser ist wahrscheinlich das Gefühl bekannt, das aufkommt, wenn ein mit großen Zähnen, aber schlechter Disziplin begnadeter Köter knurrend die Wade beschnuppert. Vielleicht schnappt er zu, vielleicht auch nicht. Schnappt er zu, dann kriegt er von dem Herrn eine Tracht Prügel. Doch ist das für die Wade kein Trost.

In Podporog flogen die Menschen auf Wiedemanns Veranlassung wie die Fetzen nach allen Seiten: manche nach dem BAM, manch einer in den Strafisolator, manche auch an den Faulen Fluß. Ich wählte für meinen Teil eine verhältnismäßig harmlose Seite – ich bemühte mich, Wiedemann in weitem Bogen zu umgehen. Meinen einzigen persönlichen Zusammenstoß mit ihm hatte ich Nadeschda Konstantinowna zu verdanken.

In einem Schreiben gebrauchte Wiedemann das Wort »Vorberedung«. Er befand sich offensichtlich in gesättigter Stimmung, und Nadeschda Konstantinowna riskierte, mit ihm eine sprachliche Diskussion einzugehen: ein solches Wort gäbe es in russischer Sprache nicht. Wiedemann erwiderte: das gibt's doch. Nadeschda Konstantinowna sagte unüberlegt, daß bei ihr ein Schriftsteller arbeitet, d. h. ich, den kann man fragen als einen Spezialisten. Ich wurde als Sachverständiger gerufen.

Wiedemann saß flegelhaft lässig in einem Sessel und brummte ziemlich gutmütig. Die Frage aber war ganz diplomatisch gestellt:

»Was meinen Sie nun, gibt es in russischer Sprache das Wort ›Vorberedung‹ oder nicht?«

»Nein«, hatte ich die Dummheit zu antworten.

»Und ich weiß bestimmt, daß es das gibt« – dröhnte Wiedemann. »Und Sie wollen noch ein Schriftsteller sein? Scheren Sie sich raus! Nicht umsonst setzt man solche hierher!«

Nein, Gott bewahre mich vor Wiedemann, vor Sprachforschungen, vor der russischen Sprache und vor den übrigen Diskussionsproblemen. »Wohl dem, der nicht wandelt im Rate der Gottlosen« und mit diesen diskutiert.

*

Doch wird man hier offensichtlich diskutieren müssen. Einerseits habe ich in den Gefilden des Sowjetparadieses nur noch knapp einen Monat zu leben oder überhaupt am Leben zu bleiben – wozu dann, zum Teufel, soll ich mich auf eine Diskussion einlassen, die diesen Monat in viele Jahre umwandeln kann!

Andererseits meldet sich aber das alte auf allerhand Burschuiskultur erzogene intellektuelle Gewissen und weist beharrlich darauf hin, daß es doch nicht möglich sei, daß ich aus diesem stinkenden, mit den höllischen Steinen gepflasterten Skorbutloch fortfahre, ohne etwas getan zu haben, um aus diesem Loch viertausend lebendig begrabene Kinder zu befreien. Das sind doch Kinder, verdammt nochmal … Wohl sind sie Diebe, wovon ich mich bereits nach einer Stunde noch einmal überzeugen konnte, allerdings eine für mich seit langem schon feststehende Tatsache; wohl sind sie Alkoholiker, Spitzbuben, Anwärter des Berufsverbrechertums, aber es sind doch immerhin Kinder, hol's der Teufel! Haben sie denn Schuld daran, daß die Revolution ihre Väter erschoß, die Mütter verhungern ließ, sie selbst auf die Straße warf, wo ihnen nichts weiter übrigblieb, als Hungers zu sterben wie Millionen ihrer Brüder und Schwestern, oder unter die Diebe zu gehen? Konnte denn all das zum Beispiel nicht meinem Sohne widerfahren, wenn seinerzeit Spiegel nicht auftauchte und meine Frau und ich die Odessaer Tscheka nicht lebendig verlassen hätten … Sind denn diese Kinder schuld daran, daß die Kommunistische Partei die Kollektivisierung der Dörfer durchführt, daß diese Partei das Besprisornitum als liquidiert erklärte, daß man im siebzehnten Jahre der Existenz des sozialistischen Paradieses sich entschlossen hatte, diese Kinder irgendwo weit weg aus den Augen zu bringen – und brachte. Fortschaffte in dieses Teufelsnest, in Polarmorast – Skorbut und Tuberkulose ausgeliefert?

Ich stellte mir die endlosen Polarnächte über diesen mit Stacheldrahtverhau umgebenen Baracken vor und erschauerte. Ja, hier wird man wohl dieses Besprisornitum mit Stumpf und Stiel liquidieren. Hierher wird man Mister Bernhard Shaw nicht fahren.

Ich fühle, daß das intellektuelle Gewissen die Oberhand gewinnt, und daß ich um die Diskussion nicht herumkomme.

 

Das Koloniebild

Wiedemann ist aber nicht zugegen. Wie sich herausstellte, wohnt er nicht in der Kolonie: unpassendes Klima. Seine Residenz befindet sich irgendwo zehn Kilometer weiter. Um so besser – ich werde mich auf die Diskussion vorbereiten können und inzwischen auch etwas essen.

Ich gehe auf den glitschrigen Steinen der Kolonie dahin. Es hat aufgehört zu regnen. In den Trichtern zwischen den Steinen sitzen kleine Gruppen von Besprisorniki. Wie die Indianer an ihrer Friedenspfeife, ziehen sie der Reihe nach an einem Machorka-Rehbein. Brot gibt es in der Kolonie wenig, aber Machorka schon. Andere spielen voll Hasard ihre mir unbekannten Besprisornispiele mit Münzen und Steinchen. Wie ich später erfuhr, verspielt man hier die Brotrationen.

Die Jungen sind zwar barfuß, aber nicht sehr zerlumpt und mehr oder minder gewaschen. Ich war so gewohnt, Besprisornikigesichter zu sehen, die mit dicken Schichten von allerhand Schmutz und Ruß verschmiert waren, daß diese gewaschenen Mäulchen auf mich irgendeinen besonders widerwärtigen Eindruck machten: das ganze Laster und die ganze Fäulnis der städtischen Unterwelt, die ganze Vielseitigkeit der sexuellen Perversität einer vorzeitlichen Reife, die früher durch die Schmutzschicht versteckt wurden, traten jetzt mit bedrückender Deutlichkeit hervor.

Irgendwie haben die Jungen erfahren, daß ein Sportinstruktor eingetroffen ist, und laufen auf mich zu – manche mit auf alle Fälle einschmeichelndem Lächeln, manche mit frecher Ungezwungenheit. Ich werde mit Fragen überschüttet. Heisere, aber immerhin Kinderstimmen. Klebrige, geschwinde Kinderhände mit unbegreiflicher Gewandtheit durchsuchen all meine Außentaschen, und ehe ich mich versah, verschwindet daraus alles: Machorka, Aufstellungen, mein Taschentuch …

Wann hatten sie nur Zeit, das alles einzufuchsen? Es waren doch lauter neue Besprisorniki – »Jahrgänge« 1929 bis 1931. Später erfuhr ich, daß es darunter auch Jungen gab, die in diesem Jahre unter die Besprisorniki geraten waren: die Quelle versiegt also nicht.

Eine Selbstschutzabteilung (die eigene Kinder-WOCHR) und zwei »Erzieher« schleppen einen an Kopf und Beinen festgebundenen »Pazan« Name des Anführers einer Bande in Urkis- und Besprisorniki-Sprache.. Der Pazan quiekt so laut, als ob man nicht nur vorhat, ihn abzustechen, sondern es bereits tut. Niemand aber schenkt diesem Vorfall Aufmerksamkeit, eine gewohnte Geschichte – man schleppt den Pazan in den Strafisolator.

Ich begebe mich zum »Stab«. Das riesige Zimmer einer Bretterbaracke ist mit Jungen überfüllt, die teils sich am Ofen wärmen, teils an Rehbeinchen ziehen, teils sich phlegmatisch lausen und teils einfach Radau machen. Ein unglaubliches Geschimpfe hängt in der Luft.

Ein Erwachsener sitzt am Tisch – ich erkenne in ihm den Genossen Poludoff, der seinerzeit Abteilungschef der Kultur-Erziehungsabteilung in Podporog war. Er hält Gericht – versucht die Schuldigen an der Fabrikation von Spielkarten festzustellen. Corpora delicti liegen vor ihm auf dem Tisch – die aus einem Heft ausgerissenen und mit entsprechenden Schablonen bedruckten Papierblätter. Es stehen etwa zehn Jungen unter dem Verdacht, diese Karten verfertigt zu haben. Sie stehen unter der Bewachung des Selbstschutzes, durcheinander schwören und beteuern sie bei Gott ihre Unschuld. – Ein ohrenbetäubendes Geschnatter. Poludoff schaut mit seinen von Machorka und Schlaflosigkeit entzündeten Augen völlig verwirrt drein. Er fungiert hier als Stellvertreter Wiedemanns. Ich lasse mir von ihm einen Talon für ein Mittagessen für die Kantine der Freiangestellten ausstellen und verlasse den Stab, wobei die Besprisorniki nicht vergessen, mich mit Augen und Händen zu betasten – doch sind meine Taschen bereits leer, mögen sie ruhig suchen.

 

Idealist

Mein Nachtlager schlage ich im Klub auf. Der Klub ist eine riesige Blockhütte mit großem Vortragssaal, Bibliothek und einem halben Dutzend völlig leerer Klubzimmer. Der Klubleiter – ein hoher, abgemagerter junger Mann, Mitte zwanzig – empfängt mich, als sei ich sein Verwandter:

»Gott sei Dank, mein Lieber, daß Sie endlich gekommen sind. Jetzt gibt es wenigstens etwas zu tun für die Jungen. Denn hier, in diesem Teufelsloch, haben sie rein gar nichts: keine Werkstätten, keine Schule, keine Lehrbücher, überhaupt nichts. Sogar Kinderbücher gibt es in der Bibliothek kein einziges. Im Freien spielen können sie nicht. Sie sehen ja selbst, ringsherum Sumpf und Steine, und in den Wald läßt sie die WOCHR nicht. Hier sind sie der Zersetzung viel mehr als in der Freiheit unterworfen, müssen Sie wissen. Überlegen Sie nur – viertausend Jungen sind in dieses Riesenloch gesteckt und haben gar keine Beschäftigung.«

Doch muß ich den Klubleiter enttäuschen:

»Ich habe hierher nur einen Abstecher gemacht, so auf ein, zwei Tage, und möchte nebenbei sehen, was hier im allgemeinen gemacht werden kann.«

Der Klubleiter ergreift den Knopf meiner Lederjacke:

»Aber hören Sie mal. Sie sind doch ein intelligenter Mensch …«

Ich weiß schon im voraus, womit die Tirade, die mit dem intelligenten Menschen beginnt, beendet wird … Ich bin ein »intelligenter Mensch« – folglich bin ich verpflichtet, meine Nerven, Gesundheit und, wenn es sein muß, auch die Haut daranzugeben, um zahllose Löcher der Sowjetwirklichkeit zu flicken. Ich bin ein »intelligenter Mensch« – folglich muß ich meinem Grundberuf nach ein Märtyrer sein, muß in diesem phantastischen Morastloch steckenbleiben und meine Haut hergeben, um die Löcher zuzuflicken, die durch Kollektivisierung des Dorfes, durch Besprisornitum und dessen »Liquidierung« entstanden sind. Nur zum Flicken der Löcher – denn mehr kann man nicht machen. Aber von diesem »intellektuellen« Standpunkt ist eigentlich nicht so sehr das Ergebnis, als die Opferwilligkeit wichtig. Ich kenne ihn sehr gut, diesen Klubleiter. Er ist es, der als Geologe, Botaniker, Volkskundler, Ichthyologe und weiß Gott was noch in Hunderttausenden von Exemplaren über die russische Erde verstreut ist und langsam an Unterernährung, Skorbut, Tuberkulose und Malaria dahinsiecht und trotz alledem das dünne Spinngewebe seiner Kulturarbeit errichtet, ein Gewebe, das durch einen leichten Atemzug eines sowjetistischen »Haltdieschnauze« fortgeblasen werden kann oder durch die Tscheka schon im Keime liquidiert wird. Er, dieser Klubleiter, der ebenfalls zu Hunderttausenden in die Zwangsarbeitslager, in Gefängnisse und an die Wand geht – und trotzdem baut und errichtet …

Ich habe ihn bereits gesehen, diesen Klubleiter, auf den Bergweiden von Pamir, wo er die feinwolligen Schafe züchtet, oder in den Malarianestern von Daghestan, wo er die Versuche der Joderzeugung aus Wasserpflanzen des Kaspischen Meeres betreibt, oder in den Schluchten von Swanetien, wo er sich mit der Entsklavung der Frauen befaßt, oder in den ukrainischen Kolchosen, wo er Topinambur kultiviert, oder in den Laboratorien von ZAGJ, wo er die Stromlinien der Luftbomben studiert.

Dann verkommen die feinwolligen Schafe aus Futtermangel, die entsklavte Frau von Swanetien stirbt an Hunger, Topinambur will auf dem entkulakisierten Boden nicht wachsen, auf dem verkommenen Boden wachsen nicht mal an alles gewohnte Kartoffeln … Mit den Luftbomben werden von dem Erdboden ganze Gebiete von »Kulaken« weggefegt, und die Kinder dieser Kulaken geraten hierher – und das rote Lied beginnt von neuem.

Aber etwas bleibt. Immerhin bleibt etwas. Das Blut der Gerechten wird niemals so ganz umsonst vergossen.

Und ich schäme mich angesichts dieses Klubleiters. Außerdem weiß ich ganz bestimmt, daß zum Flicken dieser von dem roten Stier gerissenen Löcher alle Häute der Welt nicht ausreichen werden, daß, solange man diesen Stier nicht abschlachtet, die Anzahl der Löcher von Jahr zu Jahr wachsen wird, daß seine und meine Bemühungen und die Bemühungen des Bauern, des Ichthyologen und wie sie alle heißen mögen – alle spurlos in den Untiefen der sowjetistischen Kaschemme versinken werden. Und er selbst, dieser Klubleiter, versinkt mit. Er ist ein Freiangestellter. Von Skorbut ist er bereits halb angefressen, und doch sagt er: »Sie verstehen doch selbst, wie kann ich hier so alles liegenlassen, bis ich einen Stellvertreter gefunden habe.« Wohl ist es nicht so einfach, die Stellung zu verlassen – die Rechte eines Freiangestellten sind hier nicht viel größer als die eines Zuchthäuslers. Beim Dienstantritt wird der Paß abgenommen, und an seiner Stelle gibt man ein Papierchen aus, mit dem man außerhalb des Lagers nirgends hinkann. Und doch weiß ich, daß nicht nur dieses Papierchen allein den Klubleiter hier festhält.

Es bleibt mir nichts übrig, als mich zu fügen. Anstatt aus diesem Loch schon am nächsten Morgen, bis zur Begegnung mit dem Genossen Wiedemann Reißaus zu nehmen, verspreche ich dem Klubleiter, hier eine Woche zu bleiben, verwünsche mich für meinen Kleinmut und fühle, daß ich morgen mit Wiedemann über die Kolonie »im allgemeinen« diskutieren werde.

*

Der Klubleiter ruft zwei Jungen zu sich:

»Na, ihr Räuber, stopft mal dem Genossen Instruktor einen Strohsack und holt aus der Zeugkammer eine Decke. Macht fix!«

»Onkel, wirst du uns vielleicht dafür etwas Machorka geben?«

»Ja, er gibt euch etwas. Los, macht schnell!«

Die »Räuber« verschwinden, daß die Fersen nur so blinken.

»Das ist mein Kultaktiv Abkürzung von Kultur-Aktiv.. Der klaut wenigstens keine Bücher.«

»Wozu brauchen sie denn Bücher?«

»Wie wozu? Machorkazigaretten drehen, Karten fabrizieren, falsche Ausweise … Banknoten fälschen sie sogar daraus, die Teufelskerls« – erklärte der Klubleiter nicht ohne Stolz.

»Sehr talentierte Burschen trifft man mitunter. Manchen bringe ich das Zeichnen bei – ich zeige Ihnen ihre Skizzen. Schade nur, daß es so selten Papier gibt …«

»Versuchen Sie es doch mit Steinschrift«, ironisierte ich, »eine sozusagen ganz neuzeitliche Technik.«

Doch merkte der Klubleiter meine Ironie nicht:

»Auch damit versuchen es diese Teufel – leider nur mehr pornographisches Zeug … Und doch gibt es ein talentiertes Publikum darunter …«

»Was meinen Sie übrigens, wie hoch der Prozentsatz von den Hierhergeratenen ist, die am Leben bleiben?«

»Das weiß ich nicht. So etwa zwanzig Prozent werden schon leben bleiben.«

Doch glaubte ich an diese zwanzig Prozent nicht … Die »Räuber« brachten den Strohsack und warteten auf das versprochene Honorar. Ich schütte ihnen aus einem Päckchen auf das vorgehaltene Papierblatt etwas Machorka ab, während die Hand des Klubleiters auf dieses Blatt traurig hinweist:

»Was ist denn das?«

»Onkel, bei Gott, Onkel, das haben wir nicht gemacht. Wir haben es gefunden.«

Der Klubleiter entfaltet das konfiszierte Papierblatt – es ist ein frisch aus einem Buch herausgerissener Bogen.

»Selbstverständlich, hab mir's gedacht«, stellt der Klubleiter traurig fest, »das ist aus dem fünfbändigen Werk Lenins … Schämt ihr euch denn nicht!«

Der Klubleiter hält eine lange Standpauke. Die Burschen haben die Situation sofort begriffen: der eine hört ergeben zu, und der andere dreht hinter seinem Rücken ein Rehbeinchen aus einem anderen Bogen … Der Klubleiter winkt hoffnungslos mit der Hand, und der Kultaktiv verschwindet.

*

Ich schlage mein Nachtlager am Fenster eines großen, völlig leeren Zimmers auf. Durch das Fenster sieht man den sich unten ausbreitenden Sumpf mit den darüberstehenden nebelhaften Dünsten, hinter dem Sumpf das bleigraue Band des Kanals, weiter – Wald, Wald und Wald. Die weiße Polarnacht beleuchtet mit einem tristen, matten Licht diese freudlose Landschaft.

Ich breite meinen Strohsack aus, lege darunter alle meine Sachen – dazu hat mir der Klubleiter geraten, sonst wird alles geklaut – Ich lege mich hin, bewaffne mich mit einem in der Bibliothek gefundenen Bändchen Balzac und will mich dem süßen Nichtstun hingeben. Wie wohl es tut, einmal allein zu sein.

Aber die Nachtstille dauert nicht lange. Irgendwo von den Baracken her ertönt ein herzzerreißender Schrei, dann Geschimpfe, das plötzlich abbricht, als sei jemandem plötzlich ein Knebel in den Mund gesteckt. Dann erschallen irgendwo hinter dem Kanal fünf, sechs Gewehrschüsse – wahrscheinlich schießt die Kanalwache auf einen verirrten Flüchtling. Wiederum Stille. Und wieder wird diese Stille durch Schüsse zerrissen, diesmal schon ganz nahe. Dann hört man einen markerschütternden Todesschrei, dann wieder einen Schuß …

Balzac geht mir nicht in den Kopf.

 

Werktag der Besprisorniki

Der sonnige Morgen verschönert irgendwie die ganze Trostlosigkeit dieses in den Sümpfen verlorenen Steinhügels: die Düsterkeit der grauen Baracken, die Blässe und Verlebtheit der hungrigen Jungengesichter.

Als Cicerone wird mir ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren beigeordnet, mit dem merkwürdigen Namen Tschenikal. Es ist ein trockener, beweglicher, sehniger Mann mit dem an einen Wolf erinnernden Gebaren – einer der Obererzieher der Kolonie. Einst war er Kommandeur der roten Partisane, dann diente er in den Truppen der GPU, dann – irgendwo in der Miliz und geriet schließlich hierher auf fünf Jahre, für »Amtsüberschreitung«, wie er sich ausdrückte. Inwiefern er sein Amt »überschritt«, konnte ich nicht erfahren – wahrscheinlich irgendein gerichtloser Mord. Gegenwärtig ist er hier Chef des Selbstschutzes.

»Selbstschutz« – das sind etwa dreihundert Burschen, besonders ausgesucht und gedrillt, um die Rolle der Ortspolizei, oder richtiger gesagt, der Orts-GPU zu spielen. Sie wohnen in der besten Baracke, werden besser verpflegt und tragen auf der Brust und am Ärmel aus Stoff aufgenähte rote Sterne. Sie befassen sich mit dem Spitzeldienst, Razzien, Durchsuchungen, Verhaftungen und leisten der WOCHR Hilfsdienste bei der Bewachung des Lagers. Die übrige Jungenmasse haßt sie unerbittlich. Im Lager bewegen sie sich nur patrouillenweise – kaum bleibt einer von der Schar zurück, schon haut man ihm den Schädel mit einem Stein ein oder schlitzt ihm den Bauch auf. Vor etwa zwei Wochen verschwand einer vom Selbstschutz Tschenikals, man fand ihn später an einem Baum aufgehängt. Die Mörder hat man nicht gefunden. Dieser Selbstschutz, im ganzen genommen, verliert auf ähnliche Weise fünf, sechs Mann je Monat.

Wir gehen durch die Baracke – überall Enge, Schmutz und Läuse. Die Kolonie ist auf zweitausend Insassen berechnet, heute sind es hier bereits viertausend, und die Leningrader GPU schickt und schickt immer neue »Verstärkungen«. Heute wird eine neue Gruppe von zweihundertfünfzig Jungen erwartet. Tschenikal hat Sorgen – er weiß nicht, wohin damit. Die Stellagen in den Baracken sind wie üblich zweistöckig. Man wird die dritte Reihe aufbauen müssen – dann gibt es in den Baracken endgültig keine Luft zu atmen.

Der Klubleiter hatte recht: die Jungen haben tatsächlich nichts zu tun. Ganze Tage hindurch spielen sie Karten und ihre eigenen Hasardspiele, und weil man zum Verspielen außer den Rationen nichts mehr gibt, so verspielen sie diese, und nachdem das »Barvermögen« verspielt ist, spielen sie auf Kredit weiter. Sind die Rationen für zwei, drei Wochen verspielt, und hat man dann weiter nichts als das Geschlörr aus der Kantine – dann ergreift man die Flucht.

Wohin aber kann man hier fliehen?

Man ergreift die Flucht auf ganz verschiedene Art und Weise. Manche durchschwimmen den Kanal und gehen auf die Murmansk-Eisenbahn – dort fängt sie die Eisenbahn-WOCHR. Allerdings werden nicht viele – etwas weniger als die Hälfte – wieder eingefangen. Der größeren Hälfte gelingt es, sich entweder nach dem Süden durchzuschleichen, oder sie kommt in den Sümpfen um. Manche versuchen, nach dem Osten zu entkommen, in der Richtung auf Wologda – über ihr Schicksal wußte Tschenikal nichts. Gegen Ende des Winters versuchte eine Gruppe von etwa dreißig Jungen, sich durch den zugefrorenen Onega-See nach dem Süden durchzuschlagen. Der Sturm und das plötzlich aufgetretene Tauwetter rissen eine große Eisscholle, auf der sich die Flüchtlinge befanden, ab, und die Jungen mußten mehr als eine Woche auf dem schwimmenden und immer mehr auftauenden Eisblock zubringen. Acht Jungen ertranken, den einen aßen die Kameraden auf, die übrigen retteten die Fischer.

*

Tschenikal hat immer einen Beutel mit Natron bei sich – fast alle Jungen leiden entweder an Sodbrennen oder an Magenkatarrh: die BBK-Nahrung vertragen nicht mal die Besprisornikimägen, die schon allerhand gewohnt sind. Das Natron spielt hier sozusagen eine aufmunternd erzieherische Rolle: bei guter Führung bekommt man Natron, bei schlechter – bekommt man es nicht. Allerdings mangelt es an Natron wie auch an guter Führung. Die Jungen umschwirren Tschenikal, machen leidvolle Gesichter, halten sich den Bauch und winseln. Hinter uns drein schallen Tonleitern von ausgesucht unflätigem Geschimpfe derjenigen, die kein Natron bekamen.

Tschenikals Leben ist wirklich nicht beneidenswert. Einerseits – das administrative Entzücken Wiedemanns, andererseits – das Messer der Besprisorniki und drittens – weder am Tage noch nachts eine ruhige Stunde: immer kommt es in den Baracken zu blutigen Raufereien oder zu sinnlosen hysterischen Aufständen, manchmal muß man auch zu Erschießungen greifen, teilt mir Tschenikal vertraulich mit. Besonders schwer war es gegen Ende des Winters und am Frühlingsanfang, als etwa siebenhundert Jungen im Verlaufe nur eines Monats an Skorbut starben und die übrigen »die Wände hochgingen – so oder so wird man sterben«.

»Warum hat man denn keine Schulen und Werkstätten organisiert?«

»Ja, diese Frage wird höheren Ortes noch durchgearbeitet.«

»Seit wann denn?«

»Ja, so seit der Gründung der Kolonie – seit etwa zwei Jahren …«

Von den Erzählungen Tschenikals, von dem Barackengestank, von dem Anblick der Jungen, die haufenweise auf den Stellagen sitzen und Läuse knacken, wurde mir ganz übel. Innerhalb des Lagers kann man für den Sport absolut nichts organisieren: nicht mal ein Quadratmeter Fläche hat man zur Verfügung, die frei von Steinen wäre. Ich kundschafte um das Lager herum – ob in der Nähe nicht etwas Passendes für einen Sportplatz zu finden ist.

Das Lager ist sorgfältig mit breitem Drahtverhau umgeben. Am Ausgang steht eine Patrouille aus drei WOCHR-Männern und drei »Selbstschützlern« – das ist kein Bolschewo, nicht einmal ein Medgora. Die Patrouille fragt mich nach dem Ausweis. Ich zeige mein Kommandoschreiben. Doch es genügt der Patrouille nicht – sie verlangt, daß ich nach dem Stab zurückkehre und mir dort einen Tagespassierschein besorge. Ich weigere mich kategorisch und sage, daß mein Kommandoschreiben für das ganze BBK ausgestellt ist, und daß ich auf die hiesigen Passierscheine pfeife. Ich gehe vorbei. »Halt, wir schießen.«

»Unterstehen Sie sich!«

Die Patrouille wird selbstverständlich auf keinen Fall schießen, doch mußte man die WOCHR belehren. Eingedenk des Genossen Wiedemann könnte es sein, daß ich von hier nicht nur ohne Ausweis, sondern auch ohne mich umzuschauen und sogar ohne den Rucksack werde Reißaus nehmen müssen.

 

Der Aufbau

Wald und Steine. Steine und Sumpf … Doch etwa drei Kilometer nördlich am Wegrand finde ich ein Plätzchen, aus dem man etwas machen kann; man wird etwa vierzig Baumstümpfe ausroden müssen, etwas planieren, und dann wird man hier, wenn nicht gerade Fußball, so doch Basketball spielen können. Mit dieser Entdeckung kehre ich in das Lager zurück. Die WOCHR betrachtet mich ehrerbietig.

Ich gehe zu Wiedemann, der inzwischen angekommen ist.

»Ach, Sie sind's?« empfängt er mich in einem nicht besonders aufmunternden Ton und sieht mich prüfend an: was ich eigentlich bin, und ob es sich geziemt, mich administrativ anzubrüllen, oder ob es besser ist, korrekt mit dem Schwanz zu wedeln. Ich melde, was ich bin und wozu ich hierher kam, und gehe anschließend zu der »Diskussion« über. Ich sage, daß in der Kolonie selbst von Sport nicht mal die Rede sein kann – Steine überall.

»Das wissen wir auch ohne Sie. Unsere Ambulanz macht hundert bis zweihundert Verbände täglich … ständig zerschlagen sie sich die Schädel.«

»Es wird erforderlich sein, die Kolonie irgendwo anders zu plazieren. Zurückgekehrt nach Medgora, werde ich diese Frage vorbringen und hoffe, Genosse Wiedemann, daß Sie mich hierbei unterstützen werden. Sie verstehen natürlich selbst: in solchem Loch, bei diesen klimatischen Verhältnissen …«

Aber wie Seifenblasen platzten die Absichten meiner Diskussion.

»Das wissen auch ohne Sie alle. Es existiert eine Anordnung der GULAG, die Kolonie hier zu belassen. Es hat keinen Zweck, weiter darüber zu reden.«

Ja, es hat tatsächlich keinen Zweck, weiter darüber zu reden. Bei Uspenski hätte ich noch über die anderweitige Unterbringung der Kolonie vielleicht etwas erreicht: ich hätte schon irgendeine Chalture, ähnlich wie die Spartakiade, ausgeklügelt. Doch sich mit der GULAG zu unterhalten, hatte ich gar keine Möglichkeit. Immerhin wage ich die Frage, womit man eigentlich den Befehl, die Kolonie hier zu belassen, begründet hat.

»Nu, womit begründet, das geht Sie gar nichts an!«

Tja, man hat es hier nicht leicht, zu diskutieren. Ich trage weiter vor, berichte über das von mir gefundene Plätzchen und darüber, daß es gut wäre, einen Sportplatz zu schaffen.

»Ja, das ist was anderes … Doch werden wir nicht alle dorthin lassen können. Morgen soll Poludoff für Sie hundert Mann der zuverlässigeren Sorte raussuchen, nehmen Sie Schaufeln oder sonstige Geräte mit und legen Sie los … Das heißt – wir haben keine Schaufeln. Einmal haben wir uns welche im Südstädtchen geborgt, konnten sie aber nicht zurückgeben. Jetzt werden uns die Lumpen keine mehr geben – es sei denn, Ihnen, als einem neuen Menschen …«

Ich bekam im Südstädtchen die Schaufeln doch. Südstädtchen nannte man ein Unterlager der Lagerabteilung Wodorasdel. Am nächsten Morgen wurden hundert Besprisorniki auf dem Hofe der Kolonie in einer zerlumpten und durcheinanderschreienden Kolonne ausgerichtet. Alle freuten sich, in den Wald zu kommen, allen hing das Sitzen hinter dem Stacheldraht, ohne Lernen, ohne Beschäftigung und sogar ohne Spiele zum Halse heraus. Die Kolonne umringte noch einige Hundert von neiderfüllten Gesichtern – »Onkel, nehmen Sie mich auch mit; Genosse Instruktor, darf ich auch mit …«

Etwas klappt nicht bei meinem Unternehmen. Die Erzieher laufen wie besessen aus dem Stab zur WOCHR und von der WOCHR in den Stab. Und wir warten und warten. Endlich stellt sich heraus, daß der WOCHR-Chef verlangt, daß jemand von den Erziehern die Aufstellung der zu der Arbeit beorderten Jungen unterschreibt und somit die Verantwortung auf sich nimmt, daß die Jungen nicht auseinanderlaufen. Niemand will aber seine Unterschrift hergeben. Wiedemann ist nicht zugegen. Niemand kann etwas anordnen. Ich fürchte, daß aus meinem Unternehmen nichts wird, und daß die Kolonne wieder in die Baracken zurück muß; aber ich fühle, daß es für die Jungen eine ganz große Enttäuschung geben wird.

»Kann ich vielleicht unterschreiben?«

»Ja, selbstverständlich … Nur, wenn jemand entkommt, dann werden Sie es verantworten müssen.«

Wir gehen zur WOCHR, und ich unterschreibe dort gleichmütig die lange Aufstellung der zur Errichtung des Sportplatzes abkommandierten Jungen. Der WOCHR-Chef gibt mir ein ziemlich unbestimmtes Geleitwort:

»Sehen Sie nun zu!«

*

Auf dem künftigen Sportplatz angelangt, stellt sich gleich heraus, daß meine Besprisorniki als Arbeitskraft vollkommen untauglich sind. Trotz ihrer wölfischen Zähigkeit im Ertragen von Hunger und Kälte können sie nicht arbeiten: die Kräfte reichen nicht aus. Die schweren Schaufeln können ihre wie Schilfrohr dünnen Arme kaum halten, sie leiden an Atemnot, ihre Muskelkräfte sind ohne Ausdauer. Die Arbeit geht stoßweise vor sich, bald stürzen sie sich alle wie ein Schwarm Fischchen nach dem unhörbaren Kommando ihres stummen Anführers auf die Arbeit, bald hören sie auf einmal alle auf, werfen die Schaufeln fort und strecken sich auf dem naßkalten Gras aus.

Ich treibe sie nicht an. Wir haben keine Eile. Irgendein Bürschchen schlägt ein Projekt vor: anstatt die Baumstümpfe auszuroden, sollte man auf jeden ein ordentliches Feuer legen – dann werden sie nach und nach verbrennen oder verglimmen. Dreißig Feuer anzulegen, das wäre riskant; aber drei entfachen wir. Ich setze mich zu einer Gruppe der Jungen an eines der Feuer.

»Du, Onkel, setz dich auf den Stumpf, sonst machst du dir die Hosen naß.«

Ich setze mich auf den nächsten Stumpf und hole aus der Innentasche meiner Lederjoppe ein Päckchen Machorka. Sofort richten sich gierige Augen auf dieses Päckchen. Ich drehe mir eine Zigarette und reiche schweigend das Päckchen einem der nächsten Bengel.

»Darf ich auch eine drehen?« etwas erstaunt fragt er.

»Dreht nur schon.«

»Nicht doch alle.«

»Meinetwegen auch alle.«

»Onkel, dann nehmen wir nur die Hälfte des Päckchens.«

»Ihr könnt auch das ganze nehmen – ich habe noch Machorka.«

»Siehste …«

Es werden Blätter hervorgeholt, sicher aus der Klubbibliothek, die Burschen verteilen schnell und geschäftig die empfangene Machorka unter sich. Eine Minute später rauchen alle feierlich und schweigend. Ich schweige auch.

»Onkel, hör mal, wozu sollen wir hier den Platz bauen?«

»Ich habe euch doch schon in der Kolonie erklärt – ihr werdet hier Fußball spielen.«

»Das hast du doch nur so für Melting geschwatzt, nicht wahr?«

Ich erkläre noch mal. Doch glauben's die Burschen nicht recht.

»Das die für uns was machen sollen – so siehste aus … Hierher hat man uns zum Abmurksen und nicht zum Fußballspielen gesteckt.« »Natürlich zum Abmurksen, sie haben doch den Teufel davon, uns Sport beizubringen.« »Das wissen wir schon: bauen müssen wir – und spielen werden diese Armkriecher.«

»Was für Armkriecher?«

»Na ja, diese Selbst …« – der Besprisornik gebrauchte ein völlig undruckfähiges Wort, das sich auf die Selbstschützler bezog.

»Für die Armkriecher werden wir nicht arbeiten … der Teufel soll sie holen – sollen selbst arbeiten.«

Ich versuche, die Burschen zu überzeugen, daß auch sie spielen werden: »I wo, das haben wir schon gehört.« – »Uns kannst du nicht beschummeln, Onkel.« – »Das kannst du wem anders aufbinden.«

Ich fühle, daß man dieses Thema einstweilen fallen lassen muß – ein viel zu breites Thema ist es. – Für die »Armkriecher« will der Bauer nicht arbeiten. Für die »Armkriecher« will auch kein Arbeiter arbeiten – auch die Besprisorniki wollen es nicht. Ich entsann mich der Geschichte mit meinen Sportparks, der Mitteilung Radetzkys über deren späteres Schicksal und staunte sogar etwas: eigentlich wiederholt sich mit diesem Besprisornikisportplatz das gleiche Schema vollkommen: ich wirke wie ein, sagen wir, idealistisch gesinnter Spezialist – niemand hat mich angetrieben, diesen Sportplatz zu bauen, es sei denn der Klubleiter, ich werde also planieren und organisieren, die Besprisorniki werden bauen – und spielen werden Selbstschutz und WOCHR … In der Tat – hatte es Zweck, das ganze Theater anzufangen? Ich schneide die Frage von einem anderen Standpunkt an:

»Macht es euch nicht mehr Spaß, hier im Walde zu buddeln, als in den Baracken zu stecken?«

Es erwies sich, daß meine Partner bedeutend auffassungsfähiger waren, als ich es vermutet hatte.

»Davon ist keine Rede, in den Baracken kann man vor Sehnsucht und Langeweile zum Teufel krepieren, und gar im Winter, da ist es erst recht ein besch… Leben. Das beste für uns wäre, den ganzen Sommer zu bauen, dann werden wir den ganzen Sommer hindurch jeden Tag in den Wald geführt.«

*

Besprisorniki aller zahllosen sowjetistisch-sozialistischen, föderativen, autonomen und sonstigen Republiken sprechen ein und denselben Verbrecherjargon, mit immer dem gleichen Odessaer Hafenakzent. Nach dem Grade der Vollkommenheit dieses Jargons und des Akzents kann man sich einigermaßen ein Bild machen über die Dauer des Besprisornitums jedes einzelnen Jungen. Einige von meinen Partnern haben ihr Heimatplatt noch nicht verloren. Ich frage einen von ihnen, wann er unter die Besprisorniki geriet. Der eine antwortet – seit dem Herbst vorigen Jahres, der andere seit dem Frühjahr dieses Jahres – 1934. Von der »Einberufung« dieses Jahres finde ich in der um mich sitzenden Gruppe fünf Mann – in dieser Gruppe sind im ganzen etwa vierzig Jungen. Also, noch eine Entdeckung.

Der Junge der vorjährigen »Einberufung« ist offensichtlich ein Bauernjunge mit einem klar ausgeprägten Wologdaakzent, etwa dreizehn bis vierzehn Jahre alt.

»Wie bist du denn hierher geraten?«

Der Junge erzählt: der Vater war Kolchosnik, man erwischte ihn beim Stehlen von Kolchoskartoffeln und gab ihm zehn Jahre. Die Mutter starb vor Hunger. »Es wurde ziemlich leer im Dorf – so ungefähr wie im Walde … allerhand hat man verbannt. Der jüngere Bruder hatte seit langem schlimme Augen und erblindete schließlich.« Der Erzähler nahm seinen Bruder und begab sich nach Petersburg, wo er eine irgendwo dienende Tante hatte. »Wo hat sie gedient?« – »Wo? Ist doch klar, auf dem Werk.« »Auf welchem Werk?« »Einfach auf dem Werk.«

Kurzum – Tante Xenia – den Zunamen hat er vergessen – ähnlich wie in einer Erzählung Tschechows die Adresse lautet: »An den Großvater, auf dem Land.« Mit Ach und Krach erreichten sie Petersburg, das wenig Ähnlichkeit mit all dem hatte, was der im Walde aufgewachsene Bauernjunge bisher in seinem Leben gesehen hatte. Den Bruder hat er im Gedränge auf dem Bahnhof verloren, und ihn selbst packte die GPU.

»Hast wohl jemand erleichtert?« unterbricht ihn skeptisch einer von den Jungen.

»Ne–e, bin gar nicht dazu gekommen. Damals kannte ich es auch noch nicht.«

Aber jetzt wird er es bestimmt lernen …

Der zweite Junge – diesjährige Einberufung – war der Sohn eines Moskauer Spezialarbeiters. Der Arbeiter wurde nach Magnitostroj versetzt und fuhr mit seiner Familie mit dem Zuge nach dort. Der Junge, er war etwa dreizehn Jahre alt, wollte Kochwasser holen und verpaßte den Zug oder er geriet, nachdem er Wasser geholt hatte, in den verkehrten Zug – etwas Vernünftiges konnte er selbst nicht darüber erzählen. Und nun begann das übliche Theater. Er pendelte zwischen verschiedenen Bahnhöfen auf der Suche nach den Eltern – die Familie suchte wahrscheinlich auch nach ihm, dann griffen ihn die Besprisorniki auf, und der Bursche geriet endgültig unter die Räder.

Die Geschichten der übrigen waren völlig stereotyp: Hunger, heiliges sozialistisches Eigentum, die Verbannung des Vaters – mitunter auch beider Eltern für den Versuch, die eigenen Kinder mit eigenem Brot zu ernähren, das heute für kollektiv, für heilig und für den Bauern für unantastbar erklärt wurde – nun, das übrige ist klar. Bei den städtischen, hauptsächlich Arbeiterkindern beginnt das Besprisornitum mit der Aussichtslosigkeit: der Vater muß zwölf bis fünfzehn Stunden täglich arbeiten, die Mutter auch, zu Hause gibt es nichts zu essen, und der Junge beginnt durch Mundraub sich zu helfen – dann sammelt sich eine ganze Schar von solchen »Unternehmern« – weiter ist wiederum alles klar.

Im allgemeinen hatte ich hier eine für mich neue Art der sowjetistischen Internationale gesehen – die Internationale des Hungers, des Leidens und der Not, die alle nationale Abarten nivelliert. Ein Georgier, dessen Lungen von der Tuberkulose ganz angefressen sind, und der immer heiser hustet, behauptete, daß er der Sohn eines von der GPU erschossenen Arztes wäre.

»Sprichst du Georgisch?«

»Ne–e, hab's vergessen …«

Auch eine Russifizierung … Russifizierung von Menschen, die bereits auf dem Wege ins Jenseits sind.

*

Die Unterhaltung verlief irgendwie in einer gespannten Nervosität: die Burschen verstummten entweder plötzlich alle oder plapperten auf einmal um die Wette. Immer wieder kam mir der Vergleich mit dem Fischschwarm in den Kopf: als ob jemand unsichtbar und unhörbar kommandierte. Sowohl in den Stimmen als auch in dem Stimmungswechsel, der diesen ganzen Besprisornikischwarm beherrschte, war etwas Hysterisches. Ich kann mich jetzt nicht entsinnen, warum ich einen der Burschen nach seinen Eltern fragte – doch überraschte mich die grobe Antwort:

»Krepiert sind sie. Und Gras drüber. Mir geht es auch ohne die nicht schlechter.«

Ich wandte mich ihm zu. Es war ein Bengel von fünfzehn bis sechzehn Jahren mit eigensinniger Stirn und dunklen boshaften Augen.

»Stimmt das?«

»Und wozu kann ich die brauchen? Lebe doch auch ohne die.«

»Also gefällt dir dieses Leben?«

Der Bengel sah mich böse an:

»Ich lebe, wie ich will …«

»Ist das wahr?« Zur Antwort erhielt ich ein greuliches virtuosenhaftes Geschimpfe.

»Zu Hause, bei den Eltern«, sagte ich, »hättest du von der Mutter gekochten Borschtsch gegessen und nicht diese elende Lagerbrühe. Hättest gelernt, Fußball gespielt … Die Läuse hätten dich nicht gefressen.«

»Leck mich am …« sagte der Bengel, spuckte schmatzend ins Feuer, ging fort und zog im Fortgehen seine rutschende Hose mit flegelhafter Selbstgefälligkeit hoch. Nach etwa zehn Schritt drehte er sich um, spuckte noch mal aus und warf mir zu:

»Auch so'n Aas!«

In seinen Augen stand ein glühender Haß.

*

Später, auf dem Wege aus der Kolonie, weiter nach Norden, dachte ich oft an diesen Bengel mit seinem ekelhaften Geschimpfe und dem Haß in den Augen und über die völlige Gesetzmäßigkeit, über die unvermeidliche Bedingtheit seiner Psychologie. Nicht ein unglücklicher Zufall, sondern die Gesellschaft, die zu einem Staatswesen emporsteigen konnte, brachte diesen Bengel um seine Eltern. Niemand griff ihn auf und niemand half ihm. Von den allerersten Schritten seiner »selbständigen« und halbwegs bewußten Existenz an wurde er vor die Alternative gestellt – entweder Hungers zu sterben oder die gesellschaftlichen Gesetze in ihrer elementarsten Form zu brechen. Hier ein Beispiel einer solchen Gesetzbrechung.

Es war in Odessa im Jahre 1925 oder 1926. Ein Besprisornik riß aus den Händen eines Dämchens einen Brotlaib und stürzte davon. Das Dämchen schrie und lief hinterher, jemand stellte dem Knaben ein Bein. Der Knabe fiel auf das Kopfsteinpflaster und schlug sich das Gesicht blutig. Das Dämchen kam herbeigelaufen und begann, ihn mit dem Fuß in den Rücken und in die Seite zu stoßen. Dem Beispiel des Dämchens folgte noch jemand. Doch dauerte es nicht lange, man behandelte das Dämchen nicht gut: irgendein Student schlug sie mit einer bestialischen Ohrfeige nieder. Doch das nur nebenbei. Auf dem Pflaster liegend, blutig geschlagen, zusammenzuckend und den Schlägen die am meisten widerstandsfähigen Körperteile aussetzend, riß der Junge mit gieriger Hast mit seinen Zähnen große Stücke vom mit Blut und Schmutz bedeckten Brot ab und verschlang die Stücke, ohne zu kauen. Dann schleppte man den blutenden Knaben in die Miliz. Er ging, schluchzte, wischte mit dem Ärmel immer wieder Tränen und Blut ab, hörte aber nicht auf, mit der gleichen gierigen Hast das mit so teurem Preis von dem Schicksal erkaufte Stück Nahrung zu Ende zu essen.

Niemand von diesen Kindern konnte sich einfach auf die Erde legen, die Hände auf der Brust falten und mit friedlicher Resignation zum Ruhme der künftigen sozialistischen Generation sang- und klanglos sterben … Im Gegenteil, sie begannen selbstverständlich ihren Lebenskampf und das mit der einzigen Waffe, die ihnen blieb – mit dem Stehlen. Aber dabei stahlen sie den Menschen das letzte Stück Brot – das vorletzte besaß fast niemand. Bei der Armut des Sowjetlebens, bei den Millionen des sozialistischen Besprisornitums wurden sie zu einer Volksplage. Und man warf sie aus jeder Gemeinschaft – aus der offiziellen und nicht offiziellen. Sie verwandelten sich in tolle Wölfe, auf die alle jagten.

Aber auf dieser Welt, die auf sie jagte – blieben irgendwo dort doch Kinder, auch die Eltern, auch die Familien, auch die Fürsorge, irgendein Sattsein und sogar irgendeine Sicherheit – und all das war für diese kaum Zehnjährigen auf immer verloren, für diese Kinder, die mehr oder weniger außer Gesetz erklärt wurden. Kraft eines Selbsterhaltungstriebes, rein instinktmäßig waren sie gezwungen, in sich die Psychologie eines abgesonderten Schwarmes zu entwickeln. Den haßerfüllten Blick meines Bengels von vorhin konnte man so deuten: »Kannst du mir denn meine Eltern, meine Familie, die Mutter und den Borschtsch wiedergeben? Nein, dann scher dich zum Teufel, zerre nicht an meiner Seele …«

*

Der Bengel ging an ein anderes Feuer. An unserem herrschte wieder Schweigen. Jemand schlug vor, etwas zu singen. Man forderte einen auf: »Nu los, sing mal was!« Einer der Jungen sprang flink auf die Beine, zog aus der Tasche eine Art von Kastagnetten, und tänzelnd, im stoßenden Rhythmus, stimmte er herausfordernd ein Vagabundenlied an:

Wofür wir litten, wofür wir kämpften?
Wofür wir unser rotes Blut vergossen?
Für geschminkte Lippen, für Knie unter Röcken,
Für die verdammte Liebe, ihr Genossen.

*

Da der Pfiff? Kriecht unter, auf die Achsen,
Der Zug zieht an, wir sitzen wie verwachsen
Und fahren in die weite Welt.
Besprisornik lebt ohn' Haus und Zelt.

Das liederliche Motiv hat aber niemandes Stimmung gehoben. »Hör uff mit dem Quatsch!« Der Sänger schloß mit einem raffinierten Fluch und setzte sich. Wiederum Schweigen. Dann hub ein Stimmchen das langgezogene Lied an:

Marucha, Marucha, laß dein Gebaren,
Es komplementiert mir dein Wesen.
Sie mit tiefer Stimme: geh zu den Massen,
Ich bin in deinem Klub mal gewesen!

In das Lied fallen noch zehn gedämpfte Stimmen mit ein. Die einen singen liegend, die anderen sitzend, die Hände um die Knie geschlungen und den Kopf darauf gestützt; andere starren stumpf und hoffnungslos ins Feuer – die Augen sehen aber nicht die Flamme, sondern sind nach innen gerichtet, in irgendeine Zukunft – aber in was für eine?

… Aber ich eine Waise,
Vergessen, verstoßen.

Eine Waise bin ich.
Vergessen, verlassen.
Kein Glück finde ich.
Nur Elend in Gassen.

Bin ich gestorben in Not,
Verscharrt mich der Kumpane.
Grab und Hügel dem Tod
Errichtet keine Mutter, kein Ahne.

Fürwahr – es wird niemand erfahren, wo ihr Grab liegt. Gedämpft zieht sich das herzzerreißende Motiv hin. Die erdfahlen Kindergesichter scheinen sich auf die Gedanken an dieses Grab konzentriert zu haben, an den Tod, der sie irgendwo ganz in der Nähe erwartet: vielleicht auf dem Moorgrund des nächsten Sumpfes, oder unter den Rädern eines Zuges, oder am Skorbut, der die Massen der Kolonie vernichtet, oder aber einfach an der Wand des GPU BBK …

»Die Lumpen kommen!« sagt plötzlich jemand von den »Kolonisten«.

Ich sehe mich um. Mit Tschenikal an der Spitze marschieren etwa zwanzig Selbstschützler heran. Das Lied verstummt. »Ha, diese Skorpione, Reptilien, diese Schlangenbrut.«

Die Selbstschützler schwärmen wie eine Kette um den kleinen Platz und setzen sich. Tschenikal läßt sich neben mir nieder. Die Jungen erheben sich unwillig:

»Statt mit den Kriechern zu sitzen, gehen wir schon lieber buddeln!«

»Sollen die selbst buddeln! Wir werden arbeiten, was das Zeug hält, und die – sitzen und gucken zu. Diese Pestbrüder sollen auch lernen, sich selbst das Grab zu graben.«

Die Jungen erheben sich alle und verlassen mit verächtlich nachlässigem Gang unser Feuer. Tschenikal und ich bleiben allein. Er zwinkert mir zu, als ob er sagen wollte: Da, haben Sie gesehen, was das für ein Volk ist. – Doch ich sehe es noch besser als Tschenikal.

»Wozu haben Sie eigentlich Ihre Abteilung hergebracht?«

»Damit die Bengel nicht auseinanderlaufen.«

»Haben Sie aber eine lange Leitung – wir sind hier schon drei Stunden.«

»Das Ganze ist zu plötzlich gekommen«, zuckte Tschenikal die Achseln.

*

Gegen Mittag lasse ich die Jungen wieder zu einer Kolonne antreten, und wir gehen nach Hause. Die Selbstschützler, mit besonderen Knüppeln bewaffnet, umringen die Kolonne von allen Seiten. Ich gehe nebenher. Ein Bengel drängt sich verdächtig an mich heran. Meine äußeren Taschen sind vorsorglich leer, und ich schaue mir das Bürschchen ironisch an: zu spät. Der Bengel blickt mit seinen schelmisch flackernden Augen ebenso ironisch auf mich und läßt von mir ab. Ein Gelächter erschallt in der Kolonne. Etwas gekünstelt lache ich mit. »He, Onkel, sieh mal in der Tasche nach!« Ich stecke die Hand in die Tasche. Das Gelächter verstärkt sich. Zu meinem Erstaunen ziehe ich aus der Tasche den mir neulich geklauten Tabaksbeutel. Aber das erstaunlichste – der Tabaksbeutel ist voll. Ich binde auf – Machorka. Sieh mal an! Die bei mir geklaute Machorka haben die Jungen selbstverständlich sofort aufgeraucht, also haben sie hinterher eine Sammlung veranstaltet. Wie und wann? Die Kolonne lacht lustig: »Beim Onkel Instruktor hat sich die Machorka wieder eingefunden, so 'n Kerl ist er. Haben dir doch gesagt – sollst deine Tasche offenhalten. Das nächste Mal aber sollst du nicht den Freigebigen spielen.«

»Was ist denn in euch gefahren?« frage ich den nächsten Pazan etwas fassungslos.

Der Pazan lächelte herausfordernd und zeigte seine halbabgeschlagenen Zähne:

»Darüber stimmen wir ab, genau wie die Großen.«

Der aufgehängte Selbstschützler fiel mir ein, und ich dachte daran, daß diese »Abstimmungen« unter Umständen weit mehr als bei den Erwachsenen bedeuten und erreichen.

Aus den hinteren Reihen der Kolonne erscholl Geschimpfe und Geschrei. Mit dem Satz eines Wolfes sprang Tschenikal dorthin und brüllte: »Kolonne, halt!« – Die Kolonne trottete noch etwas weiter und blieb dann stehen. Ich begab mich auch an das Ende. An einem Wegstein saß einer der Selbstschützler; er schluchzte und wischte sich Blut von dem aufgeschlagenen Kopf. »Mit einem Stein hat man nach ihm geschmissen«, erklärte Tschenikal. Seine Wolfsaugen huschten durchdringend über die Gesichter der Besprisorniki und versuchten, die Schuldigen herauszufinden. Aus den Reihen der Besprisorniki ertönten höhnische Zurufe: »Das war ich, Genosse Erzieher. Nein, ich. Schau mir in die Augen. Und mir kannst du in den Arm gucken.« – Na, und so weiter. Es war klar, daß man den Schuldigen nicht fand; der Stein flog aus der Mitte der Kolonne und traf den Scheitel des Selbstschützlers.

Wankend erhob er sich, zwei seiner Kameraden stützten ihn auf beiden Seiten. In den Augen aller drei stand eine wölfische Wut.

Man muß schon sagen – auch daran hat man gedacht – divide et impera. Diese Selbstschützler sind zu einer geschlossenen Kette zusammengeschmiedet – sie, Tschenikal, Wiedemann und Uspenski sind genau so zusammengeschweißt, wie in der Freiheit der sowjetistische Aktiv mit der Sowjetmacht. Zusammengeschweißt durch das Blut und den Haß der übrigen Bevölkerungsmassen, durch das Bewußtsein, daß nur die Solidarität der ganzen Bande, nur die Energie und Erbarmungslosigkeit ihrer Anführer ihnen, wenn nicht ein allzu sehr menschliches, dann immerhin ein Leben sichern kann.

Für den Schluß des Rückweges blieb Tschenikal an meiner Seite.

»Jetzt sehen Sie, Genosse Solonewitsch, wie man hier arbeitet. Gehen Sie mal hin und suchen Sie den Schuldigen. In der Baracke 6 hat man nachts nach dem diensthabenden Erzieher mit einem Speer geworfen.«

»Wieso mit einem Speer?«

»Einfach ein Stock und an seinem Ende ein Nagel. Im Rücken hat man ihn getroffen. Schlimm war es nicht, doch ein hübsches Loch hat es gegeben. So leben wir alle Tage. Einmal, es war im Frühjahr, haben sie in den Kochkessel der Freiangestelltenkantine Glassplitter geworfen. Es war nur gut, daß es der Koch rechtzeitig gemerkt hat – es waren ziemlich grobe Splitter … Ich war, müssen Sie wissen, seinerzeit bei den Partisanen der Roten Armee; das war ein Krieg – man wußte nicht, woher die Hiebe kamen, war es aber soweit, dann schlug man uns zu Brei. Doch gebe ich Ihnen mein Ehrenwort: selbst dort war es leichter.«

Ich machte eine höfliche mitfühlende Bemerkung.

 

Wiedemann springt an die Gurgel

In der Kolonie angekommen, zählten wir die Reihen nach. Sechzehn Mann waren doch ausgerissen. Tschenikal war entsetzt. Eine halbe Stunde später rief mich der WOCHR-Chef zu sich. Er sah aus wie die Boakonstriktor, die in dem Vorgeschmack eines guten Mittagessens sich langsam entringelt.

»Also sechzehn Mann sind bei Ihnen ausgerissen?«

»Bei mir ist niemand ausgerissen!«

Die Konstriktorringe strecken sich zu einem langen Fluch:

»Machen Sie mir hier keine Fisimatenten; denn sonst werde ich Sie …«

Ein ganz dummer Mensch. Ich setze mich gelassen an den Tisch, hole aus der Tasche die Präsentiermusterschachtel mit Zigaretten. Die Schachtel bekam ich im GPU-Verteiler in Medgora nach einer besonderen Order von Uspenski (im ganzen hat man dort von dieser sehr guten Qualität nur hundert Schachteln bekommen); das war die einzige Gefälligkeit, die ich von Uspenski anzunehmen geruhte. Das Vorhandensein solcher Zigarettenschachtel hebt in der Sowjetunion einen Menschen in gewisse höhere Regionen – besonders im Lager; denn eine Schachtel Zigaretten ist nur dem privilegierten Stand zugänglich. Bei dem Anblick der Schachtel klebt die Zunge des WOCHR-Chefs am Gaumen.

Ich entnahm der Schachtel eine Zigarette, klopfte sie auf dem Deckel ab und hielt die Schachtel dann dem WOCHR-Chef hin: »Rauchen Sie? Sagen Sie mal bitte, wie alt sind Sie eigentlich?«

»Fünfunddreißig«, platzt der WOCHR-Chef heraus, nimmt sich aber sofort zusammen – wittert irgendeine Gemeinheit:

»Was geht Sie das an, was erlauben Sie sich?«

»Etwas geht es mich schon an. Weil Sie fünfunddreißig und nicht erst drei Jahre auf dem Buckel haben, hätten Sie doch verstehen müssen, daß ein Mensch gar keine Möglichkeit hat, auf hundert Besprisorniki aufzupassen, dazu noch im Walde.«

»Warum haben Sie denn dann die Aufstellung unterschrieben?«

»Mit meiner Unterschrift habe ich lediglich das Vorhandensein der mir zur Verfügung gestellten Arbeitskräfte bescheinigt. Für die Bewachung sind Sie da. Wenn Sie mir keine Bewachung mit auf den Weg gaben, dann haben Sie es auch zu verantworten. Versuchen Sie aber nochmals, mich anzubrüllen, dann könnte es für Sie sehr schlecht enden.«

»Ich melde es dem Leiter der Kolonie …«

»Damit sollten Sie gerade beginnen …«

Ich entzünde ein Streichholz und halte es höflich dem WOCHR-Chef hin. Ganz verdattert sitzt er da.

Abends begebe ich mich zu Wiedemann. Offensichtlich belauert man mich; denn zusammen mit mir stolpert hastig auch der WOCHR-Chef zu Wiedemann hinein. Sicherlich hat er Angst, daß ich als erster und nicht zu seinen Gunsten von der Flucht erzählen werde.

Der WOCHR-Chef tritt vor und meldet: »Dieser Genosse nahm hundert Mann mit, und sechzehn sind ausgerissen.«

Wiedemann zeigt keinerlei Aufregung:

»Also, Sie sagen sechzehn Mann?«

»Jawohl, Genosse Chef.«

»Na, dann hol sie der Teufel!«

»Drei sind zurückgekehrt. Man erzählt, daß der eine im Sumpf versank. Sie wollten ihn herausziehen, wären aber beinahe selbst versunken.«

»Hol auch die der Teufel.«

Der WOCHR-Chef ist wiederum perplex. Wiedemann wendet sich zu mir:

»Was ich sagen wollte, Genosse Solonewitsch. Sie bleiben bei uns, ich habe Korsun angerufen und alles Erforderliche vereinbart – er hat schon lange versprochen, Sie nach hier zu versetzen. Ihre Sachen werden aus Medgora durch die Operativabteilung hergeschafft.«

Der Ton war höflich, schloß aber jede Widerrede aus. Und unter dem höflichen Ton ahnte ich die fletschenden Zähne der immer zum Durchbruch bereiten administrativen Selbstverherrlichung.

Ein Unbehagen steigt in mir auf. Zwar habe ich den Verdacht, daß er Korsun gar nicht angerufen hat – aber was kann ich machen! Hier bin ich für Wiedemann eigentlich zu nichts zu gebrauchen; aber Wiedemann hat die WOCHR, und er kann mich hier, wenn auch nicht sehr, so doch genügend lange aufhalten, um die Flucht zu vereiteln. »Die Sachen werden durch die Operativabteilung hergeschafft« – das bedeutet, daß irgendein Operateur an mein Regal geht und folgende Dinge entdeckt: Lebensmittelvorräte, die ich noch nicht die Zeit hatte, nach dem Versteck im Walde zu schaffen, und zwei Kompasse, die Georg vor kurzem vom Technikum entwendet hatte. Mit meiner Festnahme wird es wohl nicht so schlimm sein. Georg geht zu Uspenski, und Wiedemann kriegt eins aufs Dach, daß seine Plattfüße noch platter werden. Aber die Kompasse?

Ich fühle, daß die Zähne Wiedemanns sich in meine Kehle verbissen haben, doch ich darf jetzt die Ruhe nicht verlieren; unter keinen Umständen die Ruhe verlieren!

Meine Zigarettenschachtel erscheint wieder, und ich reiche sie Wiedemann. Erstaunt sieht er sie an.

»Sehen Sie, Genosse Wiedemann … Gerade vor meiner Abreise besprach ich dieses Thema mit Genossen Uspenski. – Bat ihn um die Versetzung nach hier …«

»Warum mit Uspenski? Was geht das Uspenski an?«

Im Gedröhne von Genosse Wiedemanns Baß höre ich eine gewisse Unsicherheit durch.

»Augenblicklich bin ich mit der Durchführung der Lagerspartakiade für das ganze BBK beschäftigt. Genosse Uspenski hat persönlich die Oberleitung übernommen. Korsun ist nicht ganz im Bilde – dauernd auf Reisen. Auf jeden Fall kann von meiner Versetzung nach hier vor Beendigung der Spartakiade keine Rede sein. Werden Sie mich trotz einer ausdrücklichen Anweisung Uspenskis hierbelassen, dann, so denke ich, können große Unannehmlichkeiten entstehen …«

»Was geht Sie das an? Ich lasse Sie hier nicht los, und es erübrigt sich, darüber weiter zu reden. Mit Uspenski wird Korsun auch ohne Sie alles Erforderliche vereinbaren.«

Schlecht. Wiedemann konnte mich in der Tat nicht loslassen. Auch könnte er der Operativabteilung die Anordnung erteilen, meine Sachen nach hier zu schaffen. Unter anderem auch die Kompasse. Das kann ganz schlecht enden. Mit anderen Worten, es hängt unser Leben davon ab, ob es mir gelingt, mich von Wiedemann loszueisen: das Leben von Boris, Georg und das meinige. Ganz schlecht …

»Ich habe Ihnen bereits gemeldet, daß Genosse Korsun nicht ganz im Bilde ist. Die Sache ist aber sehr dringend. Und wenn die Vorbereitung zur Spartakiade sich nur um, sagen wir, zwei Wochen verzögert …«

»Sie können gehen«, entläßt Wiedemann den WOCHR-Chef, worauf dieser kehrtmacht und verschwindet.

»Was spinnen Sie mir da vor von einer Spartakiade?«

Mein Gott, wie durchsichtig ist dieser Wiedemann. Zu gern hätte er zugeschnappt; aber dort in Medgora sitzt der Herr mit dem großen Stock. Weiß der Teufel, was für Beziehungen dieser »Schriftsteller« zu Herrchen hat! Schnappst du nach der Wade, und es erweist sich dann, daß es zur Unzeit geschehen ist! Und dann … das Herrchen … der Stock. Den Rückzug antreten möchte man aber nicht: man hat immerhin administrative Eigenliebe.

Statt zu antworten, hole ich aus der Tasche die »Umschmiedung« und einen Stoß Befehle, die Spartakiade betreffend: »Bitte sehr!«

Die fletschenden Zähne Wiedemanns verschwinden, und der Schwanz beginnt, kreisende Bewegungen zu machen. Irgendwo in der Tiefe seiner Seele dankt Wiedemann seinem GPU-Schöpfer, daß er nicht nach meiner Wade schnappte.

»Aber gegen Ihre Versetzung hierher nach der Spartakiade werden Sie nichts haben, Genosse Solonewitsch?«

Uff, entronnen … Man hätte natürlich Wiedemann fragen können, wozu er mich eigentlich hier braucht, doch lieber nicht.

In der Nacht heult über die Kolonie ein Subpolarsturm. Der Wind schleudert ganze Sandgarben an die Fenster. Mir ist nicht nach Schlafen zumute. Irgendwie tauchen in meinem Kopf die Gedanken an den Winter auf und daran, was diese viertausend Jungen in den endlosen Winternächten tun werden, wenn dieser Teufelshaufen mit meterhohen Schneewehen zugeschüttet wird und in den Baracken die trüben Funzeln flackern – denn bis zum Winter wird man es doch nicht fertigbringen, all diese viertausend Jungen zu »liquidieren«.

Ich dachte an den Machorkabeutel: menschliche Reaktion auf menschliches Verhalten … Also sind sie doch nicht so hoffnungslos – diese ungewollten Diebe? Also glimmt bei ihnen doch irgendwo ein Gottesfünkchen. Wer wird es aber entfachen – Wiedemann? Soll ich vielleicht doch hierbleiben? Nein, unmöglich: weder technisch – Spartakiade, die Flucht am 28. Juli – noch psychologisch – mit nichts, aber auch mit nichts kann man hier helfen … Es sei denn: die Agonie verlängern.

Weitere Gedanken schleichen sich in meinen Kopf: von dem im Sumpf versunkenen Jungen, von jenen dreizehn, die geflohen sind … Wie viele von ihnen sind in den karelischen Moorgründen umgekommen … Wieder steht das Mädchen mit dem Eistopf vor mir, der vor seiner Baracke erfrorene Professor Awdejeff, der Setzer Mischka; all meine bitteren Erfahrungen der »schöpferischen Arbeit« kommen mir in Erinnerung, all mein bitteres Wissen über das Schicksal jedweder Menschlichkeit in diesem »sozialistischen Paradies«. Nein, keinerlei Hilfe ist hier möglich.

Morgens früh verlasse ich das »zweite Bolschewo« wie ein Dieb in der Nacht, ohne mich vom Klubleiter zu verabschieden: er wird mich wieder am Knopf halten und zu überreden versuchen. Was kann ich ihm aber sagen?

Irgendwo auf dieser Welt existiert die »Liga zum Schutze der Menschenrechte«. Sowohl der Mensch wie auch seine Rechte sind in der letzten Zeit ein sehr relativer Begriff geworden. Beispielsweise hat der Kulake aufgehört, ein Mensch zu sein – seine Rechte zu schützen, hat die Liga nicht mal versucht.

Es gibt aber Rechte, die völlig außerhalb jeder Zweifel stehen: das sind die Rechte der Kinder. Sie machten weder Revolution noch Konterrevolution. Sie kommen um, absolut ohne jegliche persönliche Schuld.

Zur Beschreibung dieser Kolonie habe ich nichts hinzugefügt: weder zur Anschwärzung der Bolschewisten noch zur Reinwaschung der Besprisorniki. Das Wesen der Sache ist: Die Sowjetmacht beraubte zunächst Millionen von Kindern ihrer Eltern und schuf dadurch das Besprisornitum, das sich möglichst weit von den Augen der kultivierten Welt durch die Methoden des Bolschewismus zu einer Landplage auswuchs. Diese Kinder wurden aus jedweder menschlichen Gesellschaft ausgestoßen, ihre Reste sperrte man in die karelische Taiga und lieferte sie dem langsamen Tod – durch Hunger, Kälte, Skorbut und Tuberkulose aus.

In den paradiesischen Gefilden des Sozialismus gibt es viele dieser Kolonien. Jene, die ich hier beschrieb, befindet sich am Ufer des Weißmeer-Ostsee-Kanals siebenundzwanzig Kilometer nördlich der Stadt Powenez.

Wenn die »Liga zum Schutze der Menschenrechte« das elementare Menschengewissen hat – wird sie sich vielleicht für diese Kolonie interessieren.

Ich muß noch hinzufügen, daß man bis zur Verkündigung des Gesetzes über die Erschießung der Minderjährigen die Jungen ohne jegliche Gesetze erschoß – sozusagen im Rahmen des sowjetistischen Gewohnheitsrechtes.

 

Wodorasdel

Auf dem gleichen Motorboot und auf dem gleichen öden Kanal schleppe ich mich weiter gen Norden. Eine Viertelstunde später verdeckt der Wald den Teufelshaufen der Besprisornikikolonie.

Eigentlich ist meine Abfahrt mehr einer Flucht ähnlich – genauer gesagt, einer Fahnenflucht. Was ist aber zu machen? Fußballplätze auf den Kinderknochen bauen? Einer ist schon in dem Sumpf umgekommen. Was ist aus den dreizehn geworden, die nicht zurückkehrten? Der Kanal ist still und einsam. Auf dem Motorboot bin ich der einzige Fahrgast. Die Kajüte, etwa zehn bis fünfzehn Mann fassend, ist verschmutzt und vollgespuckt; auf dem Deck bläst feuchter durchdringender Wind, der über das Wasser lange Schleier des Morgennebels zieht. Der »Kapitän« winkt mir von seiner eingeglasten Kommandobrücke zu und ladet mich mit einer Geste zu sich ein. Ich gehe hin und lasse mich neben ihm nieder. Hier ist es warm und es zieht nicht; durch die Fenster des Raumes kann man die herannahenden Landschaftsbilder genießen: Sumpf und Wald, das schmale Band des Kanals umbrämt von den grobbehauenen Granitblöcken. Stellenweise sind sie schon ins Wasser gefallen, und die sandigen Uferränder sind bis auf die Längen von Hunderten von Metern in den Kanal abgerutscht. Der Kapitän macht einen weiten Bogen um diese Stellen und hält sich möglichst nahe an das gegenüberliegende Ufer.

»Nanu? Kaum ist der Bau zu Ende, und es fällt schon alles auseinander?«

Der Kapitän zuckt phlegmatisch die Achseln:

»Der Sand, das wäre noch halb so schlimm; aber die Dämme brechen ein – da hinter der Wasserscheide werden Sie es selbst sehen. Wahrscheinlich werden sie von unten unterspült oder so was … Eine schäbige Arbeit war das, großer Murks, mit übertriebener Hast alles schnell zusammengehauen, und kaum sind sie fertig geworden, als schon alles unter den Händen zerfällt. Jetzt, vor kurzem – das ganze Frühjahr hindurch haben die Bagger gearbeitet, kaum war das Flicken beendet, als schon wieder alles auseinanderging. Ja, mit dem Sand, das ginge noch! Was aber aus den Dämmen wird, weiß kein Mensch. Man beabsichtigt, einen neuen Kanal zu bauen – Gott bewahre uns davor …«

Von der Absicht, eine zweite Kanalstraße zu bauen, hörte ich schon in Medgora. Die Geometer hatten schon ihre Messungen vorgenommen, und in der Produktionsabteilung hing bereits eine Karte mit zwei Varianten dieser zweiten Linie – soweit ich weiß, war deren Bau aber nicht in Angriff genommen.

»Was wird auf diesem Kanal befördert?«

»Tja, Sie zum Beispiel.«

»Und was noch?«

»Na, ähnliche wie Sie …«

»Und die Frachtgüter?«

»Was für Frachtgüter? Gestern zum Beispiel hat man auf den Abschnitt 7 in der Nähe von Powenez zwei Schleppkähne mit Verbannten gebracht – lauter Weiber … Auch ein Frachtgut – kann man wohl sagen. Hol's der Teufel!«

Das Motorboot lief leise auf eine Sandbank auf. »Stopp! Volldampf zurück!« brüllte der Kapitän ins Sprachrohr. Der Motor begann im Rückwärtsgang zu laufen; das schäumende Wasser umspülte das Motorboot in der Richtung vom Heck bis zum Bug; doch rührte sich der alte Kasten nicht um einen Zoll. Der Kapitän fluchte wieder:

»Da haben wir uns festgeschwatzt und sind hineingefahren, Kreuzmillionendonnerwetter!«

Von unten kam der verölte Mechaniker angelaufen und belegte seinerseits den Kapitän mit Flüchen. »Da müssen wir uns halt abstoßen!« sagte der Kapitän fatalistisch.

Es fanden sich auf dem Motorboot mehrere lange Stangen, speziell zum Abstoßen hergerichtet – mit breiten Brettern an einem Ende, damit die Stangen nicht in den Sand eindringen. Man gab Volldampf zurück, man stemmte sich gegen die Stangen, und das Motorboot glitt weich zurück und machte dann befreit einen scharfen Ruck zum Ufer. In ein paar Sätzen sprang der Kapitän ans Steuer und rettete mit knapper Not den Bug vom Anprall gegen das steinige Ufer. Der Mechaniker ließ wiederum einen langen Fluch hören und ging hinunter an seinen Motor. Wir ließen uns wieder auf der Kommandobrücke nieder.

»Jetzt haben wir genug gequasselt«, sagte der Kapitän, »aus allen Fugen kommt hier der Sand, und rennst du gegen die Steine – gibt man gleich fünf Jahre.«

»Sind Sie auch Insasse?«

»Und was dachten Sie?«

Nach etwa zwei Stunden nähern wir uns Wodorasdel – der höchsten Stelle des Kanals. Von hier beginnt das Gefälle nach Norden, auf Soroka zu. Eine riesige und völlig leere Einbuchtung, die im Norden mit einem gigantischen Holzdamm abschloß. Über der Schleuse – ebenfalls aus Holzstämmen, ein Triumphbogen mit den knallroten Plakaten über Enthusiasmus, Siege und sonstige Ruhmestaten. Ein anderer Triumphbogen, diesmal aber aus Granit, überspannt den Weg zum Unterlager. Ein gewaltiger, ebenfalls leerer Platz, mit Kopfsteinen bepflastert, wird auf der nördlichen Seite durch ein etwa hundert Meter langes, zweistöckiges Blockhaus abgeschlossen. Inmitten des Platzes steht ein Granitobelisk mit der Büste von Dserschinsky. Auch hier alles leer und sandverweht. Keine Menschenseele, weder auf dem Platz noch auf den Schleusen. Den Kapitän nach dem Weg ins Unterlager zu fragen, habe ich vergessen, und hier gibt es niemand, den man fragen könnte. Ich mache einen Rundgang über Damm und Schleusen. Es stellt sich heraus, daß auf der Schleuse eine Wachtbude ist, in der zwei »Kanalwächter« friedlich ruhen. Ich erfahre, daß man bis zum Unterlager etwa zwei Kilometer durch den Wald gehen muß, der den Dserschinskyplatz umrahmt.

Am Eingang des mit Stacheldrahtverhau umgebenen Lagers standen drei WOCHR-Männer – sehr zerlumpt, dafür aber nicht sehr satt. Neben dem Eingang ein Wachthäuschen, aus dem diesmal nicht ein WOCHR-Mann, sondern ein Operateur – freiangestellter Beamter der GPU – im langen Kavalleriemantel, mit einem schläfrigen und gemästeten Gesicht heraustrat. Ich reichte ihm mein Kommandoschreiben. Der Operateur sah es nicht mal:

»Wozu denn, an der Persönlichkeit erkennt man einen von seinesgleichen; gehen Sie doch durch!«

Das nenne ich ein Kompliment. Ist denn meine Mimikry so weit gediehen, daß jeder Lump mich für die »Persönlichkeit« seinesgleichen hält? …

Ich ging hinter die Einfriedung des Lagers und begriff erst dort, worin das Geheimnis des Scharfsinns des Operateurs bestand: ich hatte kein verhungertes Gesicht, folglich bin ich seinesgleichen. Noch eine Sache begriff ich, und zwar, daß ich das Lager als solches noch nicht gesehen hatte – das Geviert 19 ausgenommen. Ich war nicht beim Holzfällen, schaufelte keinen Sand, rammte keine Pfähle in das Weißmeer-Ostsee-Spielzeug des Genossen Stalin. Gleich in den ersten Tagen krochen wir drei sozusagen auf die Oberfläche des Lagers. Außerdem war Podporog eine nagelneue Obersturmabteilung des BBK; Medgora war dessen Hauptstadt; hier aber, am Wodorasdel, war einfach ein Lager – kein Sturmlager, nicht neu und nicht hauptstädtisch. Die Baracken schief und verwittert, die Dächer aus Segeltuch, Holzrinde, stellenweise mit Dachpappe, Blech und weiß Gott womit noch geflickt. Kaum über die Erdoberfläche hinausragende Erdhütten, mit Rasenstücken bedacht. Vornübergebeugte erdfahle Menschen, die nicht gehen, sondern eher ihre Beine nachschleppen; angetan sind sie mit unglaublichen Lumpen – größtenteils Resten des eigenen Zeugs, nichts stammte aus den Zeugkammern des Lagers. Ich bemerke einen ziemlich intelligent aussehenden Mann, der eine Art Damenjacke aus der Vorkriegszeit trägt – wie ist sie hierhergeraten? Wahrscheinlich schrieb er nach Hause – schickt mir etwas, sonst erfriere ich – und da schickte man ihm das, was auf dem Boden der Familientruhe noch übrigblieb, nach all diesen Entkulakisierungen und Ausplünderungen von der Obrigkeit für nicht verwendungsfähig befunden. Die Mehrheit der Lagerinsassen hat Bastschuhe an. Einige sind noch einfacher dran: die Füße sind mit undefinierbaren Lumpen umwickelt und mit Baststricken verschnürt.

Ich ertappte mich dabei, daß ich angesichts all dessen selbst nicht mehr ging, sondern auch die Beine nachzuschleppen begann … Nein, weiter fahre ich nicht … Weder nach Segescha noch nach Kem, sogar nicht nach Murmansk – zum Teufel damit. Habe ich wenig Niederträchtigkeit in meinem Leben gesehen – es würde für hundert Normalleben reichen. Es reicht bestimmt für das meinige. Etwas Morastig-Ansaugendes, Niederdrückendes lag in dieser Landschaft des Hungers, der Armseligkeit und der Drangsal. Dagegen erschien Medgora wie das eigene Heim – gemütlich und geborgen … Alles in der Welt ist relativ.

Im Stab angekommen, machte ich den Chef des Unterlagers ausfindig – ein galliges, struppiges und verdattertes Männlein, das mir von vornherein zu verstehen gab, daß er nicht eine Sekunde daran glaube, daß ich zu diesem Halbfriedhof hergereist sei, um unter den lebendigen Leichnamen Sportler für meine Spartakiade herauszusuchen. Der Ton seiner Stimme war ehrerbietig, doch mit dem Anflug einer verborgenen Ironie: wir kennen euch, wir lassen uns nicht mit leerem Geschwätz anführen, wissen genau, was für Aufträge ihr tatsächlich habt.

Es wäre in der Tat zu dumm, auf den sportlichen Zielen meiner Reise zu bestehen. Wir wechselten nur bedeutungsvolle Blicke. Der Chef zuckte nur eigenartig die Achseln:

»Dazu noch, verstehen Sie, nach dem letzten hiesigen Aufstand …«

Von dem Aufstand habe ich nichts gehört – obwohl ich bereits in der obersten Schicht der BBK-Verwaltung verkehrte. Doch durfte ich nichts zeigen – hätte ich gesagt, ich weiß nichts von dem Aufstand, dann hätte ich mich dadurch von der privilegierten Kategorie der »Unsrigen« ausgeschlossen. Ich murmelte einige sinnlos mitfühlende Phrasen in den Bart. Entweder wollte der Chef des Unterlagers sein Herz erleichtern, oder er hielt es für zweckmäßig, vor mir, »einem Mitarbeiter der Zentrale«, die Kompliziertheit und Schwere seiner Lage zu unterstreichen. Wie dem auch sei, ich erfuhr, daß es im Unterlager vor drei Wochen zu einem offenen Aufstand kam. – Die WOCHR metzelte man samt und sonders nieder, den Chef des Unterlagers – den Vorgänger des vor mir stehenden – riß man in Stücke und marschierte schließlich geschlossen auf Powenez zu. Das in Powenez stationierte Schützenregiment 51 der GPU-Truppen trieb die Aufständischen in einen Sumpf, wo der größte Teil von ihnen umkam. Die Zurückgebliebenen und Gefangenen brachte man zunächst wieder ins Unterlager, manche wurden erschossen, manche weiter nach Norden verschickt, und das Lager wurde mit anderen Insassen aus Segescha und Kem wieder komplettiert. Der Chef des Unterlagers hegte keinerlei Illusionen.

»Man wird auch mir den Garaus machen, vielleicht nicht während eines Aufstandes, sondern einfach aus dem Hinterhalt.«

»Somit werden Sie unsere Lage verstehen, Genosse. Eine kritische Lage ist es, und offen gestanden, eine durchaus besch… Da laufen diese Bauern herum, und was sie denken, das weiß jeder. Einige sind einfach im Walde geblieben. Überfielen dann die Holzfällerbrigade, schlugen die Wachmannschaften tot und aßen sie dann auf …«

»Was heißt das, aßen sie auf?«

»So, ganz einfach, in Stücke geschnitten und mitgeschleppt. Später haben unsere Patrouillen die Spuren aufgenommen und Feuerreste und Knochen gefunden … Was sollen sie auch in diesen öden Wäldern Eßbares finden?«

So ist es also … Die gemeinschaftliche Ernährung im Lande des sozialistischen Aufbaues … Soweit sind wir gekommen, o Gott … Nein, ich muß zurück, nach Medgora … Dort werden wenigstens noch keine Menschen gegessen.

Ich aß zu Mittag in der Kantine für Freiangestellte, versuchte dann einen Spaziergang durch das Lager zu machen, hielt es jedoch nicht lange aus. Was konnte man aber sonst tun? Nichts. Ich erfuhr, daß das Motorboot um drei Uhr morgens zurückgehen sollte. Was soll ich mit mir anfangen in den noch bis dahin bleibenden fünfzehn Stunden? Meine Überlegungen unterbrach der vorbeigehende Chef des Unterlagers:

»Vielleicht wollen Sie sich die Waldarbeiten auf unserem Abschnitt ansehen?«

Das war keine schlechte Idee. Aber wie erreiche ich den Abschnitt? Doch es erwies sich, daß der Chef mir ein Reitpferd geben konnte. Ich kann zwar nicht reiten, aber die acht Kilometer bis zum Abschnitt werde ich schon irgendwie zurücklegen.

Eine halbe Stunde später führte man am Vorbau des Stabes eine gesattelte Schindmähre vor. Die Schindmähre stand mit gespreizten Beinen und traurig herabhängendem Kopf da. Ziemlich schneidig schwang ich mich in den Sattel, zog an den Zügeln: hü! Keinerlei Resultat. Ich begann, mit den Absätzen zu hämmern. Jemand von den Aktivisten des Stabes reichte mir eine Rute, doch machten die Absätze und die Rute auf die Schindmähre nicht den geringsten Eindruck.

»Das Pferd ist nicht gefüttert«, sagte der Aktivist, »deshalb will es auch nicht laufen. Wir werden es gleich in Gang bringen.«

Der Aktivist faßte die Schindmähre kurz am Zaum und zog sie. Die Schindmähre ging. Ich sah wie ein Khan aus, dessen Pferd der Großwesir am Zaume führt – oder einfach wie ein Tölpel. Die Lagerinsassen sahen sich dieses rührende Bild an und grinsten im stillen. So ritt ich hinter die Lagereinfriedung und noch einen Kilometer weiter. Hier aber streikte meine »lebendige Zugkraft« endgültig: blieb mitten auf dem Wege in der gleichen kopfhängerisch-gespreizten Pose stehen und schenkte mir nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ich versuchte es mit List – saß ab und begann, die Schindmähre hinter mir herzuziehen. Sie lief. Ich ging nebenher – sie lief weiter. Danach sprang ich im Gehen in den Sattel – sofort blieb sie stehen. Ich begriff, mir blieb nur eines: meinen Buzephalus zurück ins Unterlager hinter mir herzuziehen. Aber was soll ich auf dem Unterlager machen?

Die Schindmähre begann, am mageren karelischen Moos und spärlichen Riedgras zu rupfen. Ich setzte mich auf einen Wegstein, zündete eine Zigarette an und entschloß mich endgültig, keinerlei Reisen mehr zu unternehmen, Uspenski lüge ich schon was vor. Wohl ist es etwas kleinmütig – soll ich aber noch zwei Wochen lang die Nerven und das Gewissen mit dem Anblick dieser grenzenlosen Not und Drangsal quälen? – Nein, lieber nicht. Auch begann ich mich wegen Georg zu beunruhigen – allerhand konnte noch mit dieser Spartakiade geschehen. Und wenn etwas geschieht, ob es dann Georg gelingt, sich herauszuwinden? Nein, mit dem nächsten Motorboot fahre ich nach Medgora zurück.

Plötzlich erschallen hinter der nächsten Pfadbiegung Stimmen. Eine Kolonne Holzfäller erscheint – etwa fünfzig Männer – unter ziemlich starker WOCHR-Begleitung. Die Männer waren ebenso entkräftet wie meine Schindmähre, und ebenso wie diese konnten sie kaum gehen, stolperten dauernd, schleppten die Beine nach und sahen kaum auf. Einer der WOCHR-Männer schloß nach meinem wohlgenährten Aussehen, daß es sich nur um einen Vorgesetzten handeln konnte, und salutierte schneidig; einige der Lagerinsassen warfen mir gleichmütig feindselige Blicke zu, und die Kolonne ging wie eine Begräbnisprozession an mir vorbei … Sie erinnerte mich an eine andere Kolonne. –

Im Sommer 1921 saß ich mit meiner Frau und Georg in der Odessaer Tscheka. Die Technik des »höchsten Strafmaßes« war damals folgendermaßen organisiert: dreimal wöchentlich, gegen ein Uhr mittags, fuhr am Gefängnistor ein von berittenen Wachmannschaften umzingeltes Lastauto vor – Abtransport zur Erschießung. Wer zu diesem Abtransport bestimmt war – wußte niemand. Mit einer ungeheuren Schwere lasteten auf der Seele diese Minuten – eine Stunde, anderthalb Stunden – bis die Tür der Kammer, metallisch knarrend, aufging, der »Todesbote« erschien und ausrief: Bassiljev, Iwanov, Petrov … kurz vor »S« stockte der Herzschlag … Trofimov – vorbei, ich bleibe also noch … Der Hunger hat auch seine Vorzüge: ohne den hätte die Seele diese Marter nicht lange ausgehalten.

Aus den Fenstern unserer Kammer konnte man die Straße sehen. Eines Tages erschien nicht ein, sondern ganze drei Lastautos, umzingelt von einer ganzen Eskadron Kavallerie … Noch schwerer vergingen die Minuten. Aber der »Todesbote« zeigte sich nicht. Wir wurden zum Spaziergang auf den Innenhof des Gefängnisses hinausgeführt, der von dem Eingangshof mit einem Tor aus durchrostetem Wellblech getrennt war. Im Wellblech gab es Löcher. Ich sah hindurch.

Dort stand, rechteckig ausgerichtet, im vollsten und absoluten Schweigen eine Kolonne von etwa achtzig jungen Menschen – später erwies es sich nach den Listen der Erschossenen, daß es genau dreiundachtzig Menschen waren. Die Mehrheit hatte bunte ukrainische Hemden an, die Mädel waren mit Bändern und Halsketten geschmückt, eine Gruppe der ukrainischen »Proswita Ukrainischer Verein zur Pflege der Heimatkultur und Bildung.«, die man auf einem »Spinnstubenabend« überraschte. Das Fürchterlichste an dieser Menge war ihr völliges Schweigen. Kein Laut, kein Schluchzen. Um sie herum standen, an die Wände gelehnt, etwa sechzig Tschekisten mit Naganrevolvern und dem übrigen bewaffnet. Morgen früh werden diese soeben ihr Leben beginnenden Burschen und Mädel in einen Haufen von blutigen Menschenleibern verwandelt … Vor meinen Augen begannen rote Ringe zu tanzen.

Heute, dreizehn Jahre später, wurde dieses Bild wieder so tragisch grell, als ob ich es nicht in der Erinnerung, sondern in Wirklichkeit vor mir sähe. Die soeben vorbeigegangene Kolonne von Holzfällern war eigentlich ebenso dem Tode geweiht wie die ukrainische Jugend damals auf dem Hofe des Odessaer Gefängnisses … Ja, man muß fliehen! Weiter nach Norden fahre ich nicht. Man muß nach Medgora zurückkehren und alle Kräfte, Nerven und Gedanken auf unsere Flucht konzentrieren. Ich nahm die Schindmähre am Zaum und schleppte sie zurück ins Unterlager. Auf einer der Lagerstraßen begegnete mir ein biederes Bäuerlein mit einer Schrotsäge unter dem Arm, blieb stehen, betrachtete die Schindmähre und mich und sagte: »Dunnerkiel noch mal, soweit sind wir schon.« Ja, tatsächlich, soweit.

Der Chef des Unterlagers bot mir ein anderes Pferd an, allerdings ohne dafür zu bürgen, daß es besser als das erste sein wird. Doch ich verzichtete darauf – ich muß weiterfahren.

»Das Motorboot fährt aber erst in vierundzwanzig Stunden nach Norden.«

»Ich will nach Medgora zurück und fahre dann mit der Eisenbahn.«

Der Chef des Unterlagers musterte mich erschrocken und mißtrauisch …

Die sechste Abendstunde brach an. Bis zur Abfahrt des Motorbootes in südlicher Richtung blieben noch neun Stunden, doch reichten meine Kräfte nicht mehr, um im Unterlager zu bleiben. Ich nahm meinen Rucksack und ging zur Anlegestelle. Der riesige Platz war wiederum leer. In der Bucht schwamm nicht mal ein Spänchen. Ein durchdringender Wind ließ die roten Transparente des Triumphbogens flattern. Von diesen Plakaten ergoß sich auf den sandverwehten menschenleeren Platz und auf die schimmernde Fläche der toten Bucht der Enthusiasmus in den Parolen über den Aufbau, über die Umschmiedung und über die tschekistischen Arbeitsmethoden.

Ein breiter Damm führte zu den Schleusen. Er war am Ufer bereits durch Grundwasserquellen unterspült; die gigantischen Stützpfeiler traten hervor und standen schief; die Straße, die den Damm entlang gebaut wurde, sackte an mehreren Stellen ein und hatte zahlreiche Schlaglöcher. Ich ging zu den Schleusen; ein schläfriger »Kanalwächter« sah mich aus dem Fenster seines Wachthäuschens von der Seite an, sagte aber nichts. Am Schleusentor stand ein Holzverschlag mit dem dort untergebrachten Schleusenmechanismus; kein Mensch zu seiner Bedienung. Durch den Spalt zwischen den Flügeln des Schleusentores drangen hellplätschernd dünne Wasserstrahlen. Von den Schleusen, weiter nach Norden, ging das immer gleiche Band des Kanals, stellenweise traten die am Kanal liegenden Sumpflöcher aus ihren Ufern, überspülten den Damm und schwemmten am Ufer kleine Haufen von Verkleidungssteinen an … Und das am Wodorasdel selbst! Wie sieht es dann weiter im Norden aus? Man sah, daß der Kanal schon im Sterben lag. Noch waren die Flammenzungen des Enthusiasmus nicht ganz erloschen, die »Sturmarbeiter der tschekistischen Arbeitsmethode« noch nicht verwest, möglich sogar, daß die letzten Transportzüge der »Weißmeer-Kanalbauer« noch nicht das BAM erreichten; hier aber begann bereits alles zu veröden und zu sterben.

Ein visionäres Bild stand plötzlich vor meinen Augen. Wenn man sich mit dem Rücken gegen Norden stellt, dann hat man fast das ganze Rußland vor sich: »von den kalten Felsen Finnlands« bis zum Kreml, den man in eine befestigte Burg nach Art mittelalterlicher Raubritter verwandelt hat, und weiter – bis Dnjeprostroj, Dongebiet, bis zu der Chaussee über die Wasserfälle von Ingun (Kaukasus), bis zu den Bewässerungsarbeiten an den Flüssen Tschu und Wachscha und noch weiter die Turksibeisenbahn entlang nach Karaganda, nach Magnitogorsk – überall Enthusiasmus, Aufbau, Tempo, »Erfüllung und Übererfüllung« – und über all diesem ein totes Schweigen.

Einer meiner zahlreichen und sehr verschiedenen Freunde, der Leitartikler der »Iswestija«, vertrat den Standpunkt: die Macht plündert uns bis zur letzten Kopeke, von jedem geraubten Rubel werden neunzig Kopeken umsonst vertan; aber für den restlichen Groschen baut die Macht immerhin etwas. Damals, es war im Jahre 1930, bestritt ich diesen Groschen nicht – ja, für den Groschen bleibt vielleicht etwas. Jetzt, im Jahre 1934, dazu noch am Weißmeer-Ostsee-Kanal, bezweifle ich sogar diesen Groschen. Noch mehr – es wäre richtiger, vor diesen Groschen das Minuszeichen zu setzen: der Weißmeer-Ostsee-Kanal, ebenso wie Turksib, wie das Stalingrader Traktorenwerk, wie vieles andere – ist einstweilen kein für das Land erworbenes Gut, sondern ein weiterer Aderlaß zur Stützung der unnötigen Giganten und zur Fortsetzung der unnötigen Produktion. Wieviel Geld und wie viele Leben werden noch von diesem bereits einstürzenden Kanal verschlungen?

Es dämmerte. Ich ging zu der Anlegestelle. Niemand war dort. Ich legte mich in den Sand, holte aus dem Rucksack die Decke, wickelte mich ein und versuchte einzuschlafen. Aber ein naßkalter Nordost von der Bucht her ließ mich immer erschauern und drang durch die kleinsten Öffnungen meiner Kleidung. Schließlich machte ich es so, wie man es in den Strandbädern macht – wühlte mich in den Sand ein, wurde warm und schlief ein.

Ich erwachte von einem groben Zuruf. Gegen das blaßgrüne Firmament des Polarnachthimmels zeichneten sich die Gestalten von drei WOCHR-Männern mit dem Gewehr im Anschlag ab. Der eine hielt eine Petroleumblendlaterne.

»He, was zum Teufel machst du hier?«

Schweigend holte ich aus der Tasche mein Kommandoschreiben und reichte es dem nächsten WOCHR-Mann. Das »Mandat« für die Fahrt bis Murmansk und die Unterschrift Uspenskis milderten den Ton der WOCHR-Männer:

»Sie brauchen doch nicht hier zu liegen, Genosse, Sie könnten doch ins Gasthaus gehen.«

»In welches Gasthaus?«

»Da, in dieses.« Der WOCHR-Mann zeigte auf das langgestreckte Gebäude, das den Platz von Norden abschloß.

»Ich warte aber auf das Motorboot.«

»Bis das Motorboot kommt, da vergeht noch eine Weile – vielleicht morgen, vielleicht auch übermorgen. Na, dort in dem Gasthaus wird man es Ihnen sagen.«

Ich bedankte mich, schüttelte den Sand aus meiner Decke und ging gemächlich auf das Gasthaus zu. Zwei Reihen seiner dunklen, blinden und zur Hälfte ausgeschlagenen Fenster sahen finster und ungastlich auf den Platz. Lange klopfte ich an die Tür. Endlich erschien eine Frau mit einem Lagerbuschlat angetan.

»Habt ihr noch Platz?«

»Platz haben wir genug, augenblicklich haben wir nur einen Gast. Ich begleite Sie zu ihm; denn wir haben im ganzen Gasthaus nur eine Lampe.«

Die Frau führte mich in ein großes Zimmer, in dem sechs Pritschen mit Strohsäcken standen. Auf einer der Pritschen schlief jemand. Ein verschlafenes Gesicht zeigte sich unter der Decke und tauchte wieder unter.

Ohne mich auszuziehen, legte ich mich auf den schmutzigen Strohsack und schlief augenblicklich ein.

Als ich erwachte, war mein Nachbar nicht mehr im Zimmer, seine Sachen – Aktentasche und ein Coupékoffer waren aber noch da. Aus dem Korridor hörte man das Plätschern des Wassers und verhaltenes Prusten. Dann betrat ein Mann das Zimmer, der sich im Gehen mit einem Handtuch Brust und Arme abrieb; ich erkannte in ihm den Genossen Korolev.

In den Jahren 1929/30, zu der Zeit, als ich noch stellvertretender Vorsitzender des Allunionistischen Sportbüros war (der Vorsitzende war selbstverständlich ein Parteilaie), vertrat Korolev in dem gleichen Büro das Zentralkomitee des Komsomols. Eine Gruppe von Aktivisten aus dem gleichen Zentralkomitee begann die Kampagne für die »Politisierung des Sportes«; über diese Kampagne habe ich bereits berichtet. Die »Politisierung« führte, wie nicht anders zu erwarten war, zum völligen Zerfall der Sportbewegung. Darüber war niemand im Zweifel, darunter auch die Urheber dieser Politisierung. In der Eigenschaft als Urheber tat sich eine Gruppe ausgesprochenen Lumpenpacks hervor, die auf alles in der Welt, die eigene Karriere ausgenommen, pfiff. Allerdings haben all diese Karrieremacher und all diese Aktivisten ihre eigene Nemesis: im Falle eines Erfolges ist die Karriere zwei Kopeken wert, im Falle eines Mißerfolges endet sie irgendwo in Form einer Unterarbeit auf besonders lebensgefährlichen Plätzen oder gar im Zwangsarbeitslager. So geschah es auch mit der erwähnten Gruppe.

Doch zur damaligen Zeit, ich glaube es war Ende 1929, gewannen die Aktivisten ihre Schlacht. Von den zwanzig Mitgliedern des Sportbüros kämpften gegen diese Gruppe nur zwei Menschen: Korolev und ich. Ich deshalb, weil der Sport notwendig ist, um die körperliche Entartung der Jugend zu hemmen; Korolev – weil der Sport für die Hebung der Kampffähigkeit der künftigen »Soldaten« der Weltrevolution notwendig ist. Die Ziele waren verschieden, doch der Weg war einstweilen der gleiche. So sind im gegenwärtigen Rußland anscheinend unvereinbare Dinge vereinbar: der russische Ingenieur baut das Stalingrader Traktorenwerk in der Hoffnung, daß die Produktion dieses Werkes dem russischen Volke zugute kommt; der Kommunist baut das gleiche Werk mit einer etwas komplizierteren Vorausberechnung – seine Produktion wird zunächst den Bedarf der russischen Basis der Weltrevolution bis zu dem Moment decken, wo man die jährlich produzierten vierzigtausend Traktoren mit vierzigtausend Panzerverkleidungen ausstattet, die Maschinengewehre aufstellt, und dann laufen vierzigtausend Tanks, zwar improvisierte Tanks, doch immerhin vierzigtausend, hinaus, die Entkulakisierung und die GPU in Polen, Finnland und sonst noch irgendwo zu organisieren; kurzum, sie werden hinauslaufen, um den Weltbrand zu entfachen – Weltbrand und Ströme von Blut.

So ungefähr, auf einem weniger wichtigen und weniger auffallenden Gebiet, wirkte auch ich. Ich organisiere den Sport – russischen oder sowjetistischen, wie man will. Darunter auch den Schießsport. Wie werden aber die Resultate meiner Arbeit ausgenützt? Für das Volk? Für die Vertiefung der »Revolution in einem Lande«? Oder für die »Ausbreitung der sowjetistischen Revolution auf die ganze Welt«? Ich wußte es nicht und, ehrlich gesagt, weiß es auch bis jetzt nicht. Diese Frage wird im letzten – allerletzten Moment entschieden. Und die kolossalen Kräfte, aufgespeichert auf den »Kommandohöhen« – gegenwärtig ökonomisch unproduktiv, doch immerhin kolossal – werden entweder auf den gewaltigen, bisher ungesehenen Aufstieg des Landes oder auf das gewaltige, ebenfalls bisher ungesehene Weltchaos geworfen.

Ich prahle nicht, und es gibt auch nichts zu prahlen: das, was ich für den Sport getan hatte – und ich habe viel getan, wird bis zum Augenblick auf der Linie der »Vertiefung der Revolution« ausgenützt. Meine Stadien, Sportparks und das übrige geriet in die Hände der »Dynamo«. Folglich trainieren darauf Jakimenkos, Radetzkys und Uspenskis. Folglich, objektiv betrachtet, ungeachtet meiner guten oder schlechten Vorsätze, schärfen die Ergebnisse meiner Arbeit – wenn auch im geringen Maße – jenes »Schwert der proletarischen Diktatur«, unter dem unser ganzes Land stöhnt.

Doch hatte ich im Jahre 1929 noch Illusionen – es ist schwer für einen Menschen, ohne Illusionen weiterzuleben. Deshalb wurde Korolev, der in sich den Mut fand, auch gegen den Aktiv des Zentralkomitees des Komsomol vorzugehen, zu meinem Mitkämpfer und Weggenossen. Wir erlitten eine völlige Niederlage. Ich als »unersetzbarer Spezialist« kam aus diesem Geplänkel mit einem blauen Auge davon – ich erzählte bereits, wie es sich abwickelte. Korolev, Parteimitarbeiter, ersetzbar wie ein Ersatzteil eines Fordautos, verschwand vom Horizont. Später kam seine Frau in WCSPS und bat, man möge ihr ihre armselige Wohnfläche lassen, aus der sie mit dem Kind auf die Straße geworfen werden sollte. Von ihr habe ich erfahren, daß Korolev irgendwo auf die »Unterarbeit« versetzt wurde. – Seit der Zeit vergingen fünf Jahre – und nun begegne ich Korolev in der Abteilung Wodorasdel des GPU BBK.

 

Die Sieger

Mit bedauernd-ironischem Erstaunen betrachteten wir uns gegenseitig: ich – auf den Ellbogen gestützt, von meinem Strohsack aus, Korolev – mit gesenktem Handtuch, etwas fassungslos. Das Gesicht Korolevs, sorgfältig ausrasiert wie immer, war um eine ganze Reihe von erbittert-strengen Falten bereichert, und an den Schläfen schimmerten zahlreiche Silberfäden, obwohl er erst dreißig Jahre alt war.

»Alle Wege führen nach Rom«, lächelte ich ironisch.

Korolev seufzte, zuckte die Achseln und reichte mir die Hand: »Ich las deinen Namen in der ›Umschmiedung‹. Dachte, es wäre dein Bruder … Wie bist du hierher geraten?«

Ich erzählte ihm kurz die etwas abgeänderte Geschichte meiner Verhaftung, selbstverständlich ohne zu erwähnen, daß wir wegen eines Fluchtversuches verhaftet waren. Korolev erzählte mir ebenso kurz und noch weniger gern seine Geschichte, wahrscheinlich ebenfalls etwas abgeändert im Vergleich zur nackten Wahrheit. Für den Widerstand gegen die »Politisierung des Sports« flog er aus dem Zentralkomitee des Komsomols hinaus, und man schickte ihn in den oberen Ural, die kulturerzieherische Arbeit in irgendeiner Kolonie von Besprisorniki zu leiten. Er bekam von dieser Bande unversehens einen Messerstich. Aus dem Krankenhaus entlassen, wurde er auf die Getreideaufbereitungen in die »föderative Republik der Wolgadeutschen« versetzt. Dort durchschoß man ihm das Bein. Wieder genesen, fand sich Korolev in der Ukraine ein, mit der Sache der Auflösung und Vertreibung von ukrainischen Separatisten beauftragt. Wie diese Auflösung vor sich ging – hat Korolev vorgezogen, nicht zu berichten, doch hat man ihm für deren Ergebnis »Versöhnerei« und »Mangel an Klassenwachsamkeit« ans Bein gebunden – diese Anklage hätte den Ausschluß aus der Partei zur Folge haben können.

Für die Menschen des partei-komsomolzschen Schlages bedeutet der Ausschluß aus der Partei ein Mittelding zwischen Ziviltod und einfachem Tod. Ihre einzige Spezialität ist die Arbeit in der Partei, im Komsomol, im Berufsverband oder dergleichen. Der Ausschluß aus der Partei schließt jedwede Möglichkeit aus, in dieser Spezialität zu »arbeiten«, abgesehen davon, daß dadurch auch alle angebahnten Verbindungen zerrissen werden. Der betreffende Mensch wird aus der regierenden Schicht ausgestoßen oder, richtiger gesagt, aus der regierenden Bande, und dann hat er keinen Zutritt zu denen, die er noch gestern regierte. Aus ihm wird so etwas wie ein Pechvogel oder auf russisch: weder Pfau noch Krähe. Es bleibt dann übrig, entweder unter die Kontoristen oder unter die sogenannten Arbeiter zu gehen, wobei jeder Arbeitsgenosse sagen wird: aha, das geschieht dir recht, du Hundesohn … Im natürlichen Verlauf der Dinge wird ein solcher Pechvogel sich bemühen, wieder emporzusteigen – »seine Vergehen der Partei gegenüber wiedergutzumachen«, um wieder in die frühere Schicht zu gelangen. Aber von der Masse trennt ihn jetzt weder ein Naganrevolver noch die gegenseitige Bürgschaft der regierenden Bande, so daß er sehr wenig Chancen hat, diesen Dornenweg zurückzulegen und dabei am Leben zu bleiben. Eben deshalb ziehen viele von den aus der Partei Ausgeschlossenen einen einfacheren Ausweg aus dieser Lage vor – eine Kugel in den Kopf aus dem Nagan, ehe man sich ihn mit dem Parteibuch abnehmen läßt.

Doch verstand es Korolev, sich von dem »Mangel an Klassenwachsamkeit« irgendwie reinzuwaschen, und geriet hierher ins BBK auf die »Partei-Massenarbeit« – jawohl, auch die gibt es. Der Betroffene bereist allerhand Parteizellen und kontrolliert die politische Erziehung der Parteimitglieder, stellt fest, wieweit sie in die marxistisch-stalinsche Lehre eingedrungen sind, und untersucht den Einfluß der Parteizelle auf die parteilosen Massen. In der Umwelt des Weißmeer-Ostsee-Lagers, wo es Parteimitglieder überhaupt nicht gab und von den Freiangestellten je Abteilung kaum anderthalb Menschen da waren, war diese Arbeit ein völliger Unsinn, was ich Korolev auch sagte. Ironisch erwiderte er mir:

»Das ist nicht schlechter als deine Spartakiade.«

»Als eine Chalture ist die Spartakiade gar nicht so dumm ausgedacht.«

»Ich sage auch nicht, daß es dumm ist. Meine Arbeit ist auch nicht so dumm, wie es scheinen kann. Ich bin hierhergekommen, um zu klären, wodurch der Aufstand hervorgerufen wurde.«

»Da gibt es nichts aufzuklären.«

Korolev zog sein Uniformhemd an und begann, sich mit seiner »Rüstung« zu schmücken – einem Schulterriemen und dem Koppel mit dem Nagan.

»Man muß aber aufklären; denn es gibt doch nicht überall Aufstände. Die Abteilungsoberen verschacherten die Verpflegungsfonds, und da gingen die Insassen die Wände hoch.«

»Und dafür hat man sie ins Jenseits befördert …«

»Da ist nichts zu machen – die Autorität der Macht muß gewahrt bleiben. Die Insassen hatten auch andere Wege, sich über die Tätigkeit der Administration zu beschweren.«

In der Stimme Korolevs hörte ich einen für mich neuen administrativen Unterton. Ich sah ihn erstaunt an und schwieg. Er zuckte die Achseln etwas unsicher, als ob er sich damit rechtfertigen wollte.

»Du beginnst in dem Ton eines Leitartikels aus der ›Umschmiedung‹ zu reden. Damals in Moskau, als du im Zentralkomitee des Komsomolz mitsaßest, hast du auch versucht, ›Beschwerde‹ einzulegen – und was ist daraus geworden?«

»Nichts zu machen – revolutionäre Disziplin. Wir haben kein Recht, die Parteileitung zu fragen, warum sie dies oder jenes tut. Hier ist es wie im Felde. Man befiehlt, und man muß gehorchen. Und wozu – das ist nicht unsere Sache.«

In Moskau hatte Korolev in diesem Ton niemals gesprochen. Was er auch für Standpunkte hatte – er vertrat sie jederzeit. Offensichtlich war ihm die »Unterarbeit« nicht gut bekommen. Wir schwiegen eine Weile.

»Weißt du was«, sagte Korolev, »lassen wir diese Gespräche. Ich weiß, was du mir sagen kannst … Man hat diesen idiotischen Kanal gebaut. Alles geht etwas schlechter, als man gedacht hat. Doch immerhin es geht. Und es bleibt uns nichts übrig, als mitzugehen. Willst du, dann gehst du freiwillig – willst du nicht, dann zwingt man dich. Was ist da noch zu sagen? …« – Die Falten auf dem Gesicht Korolevs wurden tiefer und verbissener. – »Erzähle mir lieber, wie du dich selbst hier einzurichten gedenkst?«

Ich erzählte kurz eine mehr oder minder glaubwürdige Theorie meiner weiteren »Einrichtung« im Lager – ich hatte vor, diese Einrichtung noch knapp einen Monat zu genießen. Korolev nickte wohlgefällig.

»Die Hauptsache – man muß deinen Sohn hier fortbringen. Sobald ich nach Medgora komme, spreche ich mit Uspenski darüber. Zum Herbst muß er fort von hier. Und dich, wenn du die Spartakiade durchführst, machen wir zum Instruktor bei der GULAG – im Maßstabe der ganzen Union wirst du arbeiten …«

»In diesem Maßstabe habe ich bereits versucht …«

»Was soll man machen? Unbesonnen haben wir beide damals gehandelt. Man mußte diplomatischer vorgehen. Jetzt drehe ich mich bereits fünf Jahre wie ein Stück Mist im Eisloch … Meiner Frau hat man in Moskau sogar die Wohnfläche verweigert – ist schon eine glatte Schweinerei.«

»Warum läßt du sie nicht hierherkommen?«

»Hierher? Ich bleibe doch nicht mal eine Woche auf einem Fleck – dauernd auf Reisen. Außerdem braucht sie all das nicht zu sehen.«

»Niemand braucht es zu sehen.«

»Verkehrt, Kommunisten müssen es sehen. Sind verpflichtet dazu. Sie müssen wissen, was dieser Kampf kostet. Sie müssen lernen, nicht nur die anderen zu opfern, sondern auch sich selbst. Du brauchst nicht zu lachen – es gibt nichts zu lachen … Da, diese Lumpen haben das Regiment 51 zur Unterdrückung des Aufstandes in dieses Unterlager geschickt – ein Verbrechen ist das.«

»Warum ein Verbrechen?«

»Man mußte die Kommunisten aus Medgora und aus Petrosawodsk mobilisieren … Die Armee darf man dazu nicht verwenden.«

»Das sind doch die Truppen der GPU.«

»Das schon, aber immerhin keine Kommunisten. Jetzt gärt es im Regiment. Ein Kompagnieführer ist bereits ermordet. Noch eine solche Unterdrückung, und dann weiß der Teufel, wohin das Regiment geht. Wir nahmen all das auf uns – wir müssen es auch ausbaden. Einmal den Weg betreten, müssen wir ihn auch bis zu Ende gehen.«

»Wohin gehen?«

»Zum Sozialismus …« In der Stimme Korolevs lag eine gekünstelte und müde Überzeugung. Ohne mich anzusehen, begann er seine Sachen zu packen.

»Sag mal, wo kann ich dich in Medgora finden? Anfang August werde ich dort sein.«

Ich sagte, wie man mich finden könnte, sagte aber nicht, daß ich Anfang August sowohl im Lager wie überhaupt in der Sowjetunion höchstwahrscheinlich unauffindbar sein werde. Wir verließen zusammen das Gasthaus. Korolev nahm seinen Koffer auf die Schulter.

»Schön wäre es jetzt, nach Moskau zu fahren«, sagte er zum Abschied. »Sonst wird man hier ganz verwildern und abstumpfen.«

Für Verwilderung und Abstumpfung gab es hier Raum genug. Allerdings waren auch in Moskau die Möglichkeiten hierzu reichlich vorhanden. Doch wollte ich eine Diskussion, die zwecklos und aussichtslos war, nicht erneuern. Wir verabschiedeten uns. Der Vertreter der regierenden Partei schleppte sich traurig zum Unterlager, gebeugt unter der Last seines Koffers und stark auf dem rechten Bein hinkend. »Die Unterarbeit« hat den Burschen körperlich und seelisch gebrochen.

Das Motorboot stand bereits an der Anlegestelle – außer mir war auf ihm wiederum kein einziger Fahrgast. Der Kapitän bot mir wieder den Platz auf seiner Kommandobrücke an, aber mit der Bitte, keine Unterhaltung anzufangen:

»Verschwatze mich wieder und prallen nochmal irgendwo an.«

Doch hatte ich selbst keine Lust, mich zu unterhalten. Kann sein, von irgendwoher aus der Perspektive der Jahrhunderte – sub specie aeternitatis – wird all das irgendeinen Sinn annehmen, besonders für die Menschen, die geneigt sind, einen Sinn in jedem Unsinn zu suchen. Möglich, daß dann alles, was heute in Rußland vorgeht, seinen eigenen Sinn findet, sich irgendwie klassifizieren läßt und irgendein nicht allzu sehr empfindliches Gewissen beruhigen wird. Dann werden die Historiker den Platz der russischen Revolution in der allgemeinen Entwicklung des Fortschrittes der Menschheit bestimmen, wie sie den Platz der tatarischen Invasion, der Albigenser Kriege, der scheinheiligen Inquisition bestimmten, wie sie auch höchstwahrscheinlich den Platz für den größten Unsinn des Weltkrieges finden werden. Aber … das alles wird erst kommen. Heute aber – noch nicht im Licht der großen Verallgemeinerung aufgeklärt – sieht man: niemand hat eigentlich aus diesem ganzen Brei etwas gewonnen. Und wird es auch nicht. Die Geschichte hat den großen Vorzug, all das von der Rechnung abzusetzen, was einst lebendiges Menschentum war, und was heute, sagen wir in den Dünger für Urenkel verwandelt wird. Es ist sehr wahrscheinlich, daß auch ohne diesen Dünger die Urenkel besser leben werden als die Großväter, um so mehr, als den ersteren die Gefahr droht, auch zu Dünger zu werden – wiederum für irgendwelche Urenkel.

Genosse Korolev, mit seinem Parteibuch in der Tasche und dem Nagan am Koppel, steht schon bereits auf einem Düngerhaufen. Noch kann er etwas pendeln, noch redet er salbungsvolle Worte vom Opfer oder von Hunderttausenden von Opfern für den unsinnigen Weißmeer-Ostsee-Kanal. Wäre er in der Weltgeschichte mehr erfahren, dann hätte er wahrscheinlich mit dem Spruch von Danton aufgetrumpft: »Die Revolution ist ein Saturn, der seine Kinder selbst auffrißt.« Doch hat Genosse Korolev vom Saturn keine Ahnung. Er fühlt nur, daß die Revolution ihre eigenen Kinder frißt, was sie allerdings mit dem gleichen Appetit auch mit ihren Vätern macht. Wie viele sind noch am Leben geblieben – von diesen Revolutionsvätern und Revolutionsmachern? Wie viele von den Insassen des rühmlichen plombierten Waggons können wenigstens damit prahlen, daß sie nach der von ihnen angezettelten Revolution noch frei umherlaufen können? Und wie viele Kinder der Revolution, Enthusiasten, Aktivisten und Korolevs gehen, so wie er, gebeugt und hinkend ihren letzten freudlosen Weg zum Grabe in irgendeinem BBK-Morastloch? Wieviel Enthusiasten, Karrieremacher, Protestanten und Müßiggänger in der bourgeoisen Welt existieren, die von der Weltrevolution oder von der neuen Französischen Revolution träumen und die diese Revolution ebenso erwürgen wird und verfaulen läßt, wie es die große russische Revolution mit den Tausenden von »Vätern« und mit Millionen von »Söhnen« tat! Es ist wie beim Roulettespiel. Die Menschen haben einen mathematisch fast sicheren Verlust zu gewärtigen, und doch gehen sie hin. Von Millionen – gewinnt einer. Wahrscheinlich gewann Stalin und noch etwa zehn Mann … Vielleicht auch hundert … Aber all diese Korolevs, Tschekalins, Katz' Podmoklys und … Sinnlosigkeit …

 

Die Besiegten

Auf der sonst öden Fläche der Bucht von Powenez, dicht an den Schleusen, standen zwei riesige nach Wolgaart gebaute Schleppkähne. Der Kapitän nickte mit dem Kopf in diese Richtung:

»Dorfweiber mit Kindern hat man hierhergebracht. Weiß der Teufel – mal werden sie ausgeladen, dann wieder auf die Kähne gesetzt, an die drei Tage werden sie hier so gepiesakt …«

»Was sind das für Weiber?«

»Irgendwelche, entkulakisiert. Genau weiß ich es nicht – man darf nicht zu ihnen.«

Das Motorboot bog um die beiden Kähne und legte an dem hölzernen Kai an. Ich verabschiedete mich von dem Kapitän und betrat den hohen Damm. Hinter dem Damm dehnte sich eine kleine Wiese, die, wie mit Blumen, mit grellbunten Flecken der Zitz- und Kattunhemden der in dem Gras kribbelnden Kinder, Frauentücher und Leibchen bedeckt war; dazwischen standen zerstreut die gediegenen »Kulaken«truhen, bunt bemalt und eisenbeschlagen. Von der Seite, wo ich herkam, der einzigen Seite der Wiese, die nicht mit Wasser umgeben war, standen düster etwa ein Dutzend WOCHR-Männer, mit Gewehren bewaffnet. Der Autobus von Medgora stand mit drei Fahrgästen schon bereit, darunter zwei Bekannte. Ich gab ihnen meinen Rucksack in Verwahrung, holte meine wahrhaftig unersetzbaren Zigaretten hervor und passierte, im Gehen ungezwungen eine der Zigaretten ansteckend, die WOCHR-Kette. Die WOCHR-Männer schielten zwar hin, sagten aber nichts und traten zur Seite.

Ich hatte den Damm erklommen. Einer der Kähne war vollgepfropft mit dem gleichen bunten Blumenhain von Hemden und Tüchern – der andere stand leer. Auf der der Wiese zugewandten Böschung des Dammes, wo der Taigawind nicht so durchdringend blies, saßen auf ihren Truhen, Bündeln und Säcken einige Dutzend Weiber, kleinere Kinder um sich geschart. Der übrige Teil dieses Zigeunerlagers ließ sich auf der Wiese nieder.

Eine vierzigjährige Bauersfrau, in einer wattierten Jacke und in zerrissenen Bauernstiefeln, saß am Rand der Wiese in der Gesellschaft einer Alten und eines Mädchens von etwa zehn Jahren. Ich trat hinzu.

»Wo seid ihr her?«

Die Bauersfrau hob zu mir ihr versteinertes, haßerfülltes Gesicht: »Frage bei den Deinigen – die werden's dir schon sagen.«

»Ich frage auch bei den Meinigen

Die Bauersfrau sah mich mit gleichem Haß an, wandte ihr versteinertes Gesicht ab und starrte das Zigeunerlager an; die Alte war aber redseliger:

»Von Woronesch sind wir her, mein Lieber, von Woronesch … auch von Kursk sind manche hier, mehr aber dort auf dem Kahn. So sitzen wir hier in dem zugigen Wind, in der Kälte, halbtot sind wir schon, daß Gott erbarm! Sag mir mal, mein Sohn, wann geht's denn weiter mit uns?«

»Das weiß ich nicht, Großmutter, ich bin ungefähr wie ihr – ein Häftling.«

Die Bauersfrau wandte ihr Gesicht wieder mir zu:

»Arrestant also?«

»Ja, Arrestant.«

Die Bauersfrau musterte aufmerksam meine Lederjacke, die Brille, die Zigarette und wandte sich wieder ab:

»Die kennen wir … solche Arrestanten … Ihr alle seid Zuchthausbrut. Schade, daß man euch zur Zarenzeit nicht restlos aufknüpfte …«

Die Alte schielte die Bauersfrau erschrocken an und begann mit ihren spindeldürren Armen am Kopftuch des Mädchens zu nesteln. Das Mädchen schmiegte sich erschauernd an die Alte, sei es nun vor Furcht oder Kälte.

»Den dritten Tag plagen wir uns schon hier ab … Gestern hat man jedem ein Pfund Brot gegeben, und heute sitzen wir so, ohne zu essen. Wir hätten auch etwas eingetauscht; aber die Soldaten lassen's nicht zu.«

»Eintauschen, Großmutter, kann man hier nirgends, alle sitzen ohne Brot …«

»Für Sünden ist das, o Gott, für Sünden …«

»Nur wessen Sünden, das weiß man nicht«, sagte düster die Bauersfrau, immer noch abgewandt. Die Alte sah sie mit Schreck und Mitleid an.

»Wessen Sünden, das weiß Gott allein. Er, der Gerechte, richtet alles, viel bitteres Leid haben wir ausgekostet – ach du lieber Gott«, nickte die Alte nachdenklich. »Seit dem Frühjahr sind wir unterwegs, wie viele Kinder sind schon gestorben!« Sie senkte ihre Stimme bis zum Flüsterton, als ob die daneben sitzende Bauersfrau es dann nicht hören könnte, und teilte mir vertraulich mit: »Hier die Ärmste hat auch zwei Kinder verloren. Ja, die Menschen sagen – in der Gemeinschaft erträgt sich auch der Tod leichter – hier aber fuhren wir auf diesem verdammten Kahn, die Kinder starben wie die Fliegen, und wo sollte man sie begraben, so, ohne Seelenmesse, ohne ein christliches Begräbnis – einfach ans Ufer und dann ins Loch.«

Die Bauersfrau wandte sich zu der Alten: »Sei still«, sagte sie mit böser und dumpfer Stimme.

»Warum schleppt man euch seit dem Frühjahr überallumher?«

»Wer weiß es, mein Sohn, unsere Männer hat man im vorigen Herbst in die Verbannung geschickt, und im Frühjahr holte man uns, um uns zu unseren Männern zu bringen, das heißt an deren Verbannungsort, doch anscheinend hat man sie verloren, unsere Männer meine ich, und so fahren wir hin und her … Dort, hinter dem See haben wir Baumstümpfe gerodet, anderswo schickte man uns Sand schaufeln, meistens aber leben wir hier auf diesem Kahn. Wenn die wenigsten aus Gottesfurcht irgendein Dach über dem Kahn gemacht hätten; denn wir leben hier wie die Waldtiere, unter Wind und Regen. Hast du vielleicht gehört, mein Sohn, wo man unsere Männer hingebracht hat?«

Die sogenannten »Freisiedlungen«, die unter der Leitung der »Kolonisationsabteilung« des BBK standen, zogen sich im verhältnismäßig schmalen Streifen zwischen Powenez und Segescha hin. Solcher Siedlungen gab es an die achtzig. Von den üblichen »Unterlagern« unterschieden sie sich nur dadurch, daß es hier keine Bewachung, aber auch keine Rationen gab. Die GPU brachte hierher die verbannten Bauern – in den meisten Fällen mit Familien, gab ihnen das Werkzeug – Äxte, Sensen, Schaufeln, ein Drittel Zentner Getreidekorn je Kopf der Familie »zur Einrichtung« und überließ sie dann ihrem eigenen Schicksal.

Ich bedauere sehr, daß es mir nicht vergönnt war, eine dieser Siedlungen aufzusuchen. Ich habe sie nur auf der Karte der »Kolonisationsabteilung« gesehen, auf deren Plänen, Projekten und sogar Photographien. In der »Kolonisationsabteilung« saß eine intellektuelle Gruppe von derselben Art, die seinerzeit im Swirlager war. Es ist mir nicht möglich, von dieser Gruppe zu berichten – aus den gleichen Erwägungen, wie es bei der Gruppe des Swirlagers der Fall war. Ich möchte nur sagen, daß dank den Bemühungen dieser Gruppe die Bauern nicht in eine völlig aussichtslose Lage versetzt waren. Dort wandte man viele Tricks an. Aus den durchaus verständlichen Gründen kann ich aber darüber nicht mal mit jener verhältnismäßigen Freiheit erzählen, mit der ich über meine eigenen Tricks berichte. Eine ungeheure körperliche Zähigkeit und Fleiß dieser Bauern und die Unterstützung, die ihnen seitens der Lagerintelligenz gewährt wurde – gaben diesen »Freisiedlern« die Möglichkeit, irgendwie auf die Beine zu kommen – oder prosaischer gesagt, nicht vor Hunger zu sterben. Sie befaßten sich mit allerhand Waldarbeiten – darunter auch als »Freiarbeiter« im Lager – Fischfang, lieferten an die Leningrader Kooperative Pilze und Beeren, stellten Fangschlingen auf und paßten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit den für sie ungewohnten Bedingungen des Klimas, des Bodens und der Arbeit an.

Daher sagte ich der Alten, die Bauern hätten das schwerste bereits hinter sich, ihre Männer würde man früher oder später ausfindig machen und sie auf den neuen Plätzen irgendwie einrichten – zwar schlecht, doch immerhin einrichten. Die Alte seufzte und bekreuzigte sich.

»Gott gebe es … Und daß es schlecht wird, wo ist es denn jetzt gut? Ob dort, ob hier – egal – der Hunger. Nur daß der Boden hier ein fremder ist, ein kalter Boden, was kann schon dieser Boden geben?«

»In diesem Boden kann man nur Gräber graben«, sagte finster die Bauersfrau, die für meine Mitteilungen kein Interesse zeigte.

»Hier muß man nicht vom Boden, sondern vom Wald leben. Der karelische Bauer war in der alten Zeit ein reicher Bauer.«

»Es ist uns ja ganz egal, wo wir sind, nur soll man uns leben lassen, sollen doch das Volk nicht so quälen … Meinetwegen geht's nach Sibirien oder sonstwohin; aber läßt man uns denn in Ruhe? Mir macht's nichts, mein Sohn, lebe schon lange genug, und Gott ruft mich immer noch nicht. Manch einer müßte schon lange unter der Erde sein, Gott will ihn aber noch nicht – und die vielen anderen, die noch lange leben sollten …«

»Sei still, wie oft habe ich dich drum gebeten«, sagte die Bauersfrau mit hohler Stimme.

»Ich schweige schon, ich schweige«, beeilte sich die Alte. »Und doch habe ich mit einem Menschen gesprochen, und leichter ist es mir ums Herz, er sagt, wir sterben nicht vor Hunger, sagt doch, daß die Menschen hier irgendwie lebten …«

Ein greller Pfiff erscholl von der Anlegestelle her. Ich sah mich um. Dort war eine neue Gruppe der WOCHR-Männer angekommen – etwa zehn Mann, an deren Spitze ein Vorgesetzter schritt.

»Los, Weiber, auf den Kahn, jetzt fahrt ihr zu euren Männern, den Honigmond zu feiern!«

Doch niemand von den WOCHR-Männern lächelte über diesen Vorgesetztenscherz. Die Gruppe kam auf uns zu.

»Wer sind Sie denn?« fragte mich der Vorgesetzte mißtrauisch.

Gleichmütig blickte ich ihn an:

»Ich bin Instruktor aus Medgora …«

»A–ah«, dehnte der Vorgesetzte unschlüssig und schritt weiter. »Na, fertigmachen, fix«, rollte seine Stimme über die Weiber- und Kinderschar. Irgendwo in der Menge begann ein Kind laut zu weinen.

»Schon das vierte Mal werden wir verladen – mal vom Kahn, mal auf den Kahn«, sagte die Alte, sich hastig erhebend. »Was denken die sich eigentlich, Gott vergebe mir.«

Ein finster dreinschauender WOCHR-Mann trat auf sie zu:

»Na, Großmutter, komm, ich fasse mit an …«

»Danke, mein Sohn, danke, meine Arme tun nicht mehr mit, kann denn Weiberkraft ausreichen? …«

»Sind das aber schwere Klamotten, hast du Steine drin, was?« sagte der zweite WOCHR-Mann.

»I wo, Steine, nur das Letzte, das Allerletzte haben wir mitgenommen. Ein Topf ist wohl nichts Besonderes – doch ohne ihn geht's einfach nicht. Ein Leben lang hat man gearbeitet – geblieben ist aber nur das, was wir auf dem Buckel tragen konnten …«

»So siehste aus – auch gearbeitet«, sagte der zweite WOCHR-Mann verächtlich. »Für eure Arbeit seid ihr wahrscheinlich auch ins Lager geschickt?«

Die Bauersfrau erhob sich von der Truhe und zeigte dem WOCHR-Mann ihre grobe, breite, schwielige Hand:

»Sieh dir diese Hand an – hast du solche bei Burschuis gesehen?«

»Scher dich zum Teufel«, sagte der WOCHR-Mann, und zu der Alten gewandt: »Dann her mit deiner Truhe, fass' drüben an!«

»Dank euch, meine Lieben«, sagte die Alte, »vergelt's Gott, vielleicht wird jemand auch deiner Mutter helfen – wie du uns …«

Der WOCHR-Mann hob die Truhe, stolperte aber gleich über einen Stein.

»Verdammt nochmal … überall haben die Lumpen hier Steine herumliegen lassen.« Mit blinder Wut stieß er mit dem Stiefel gegen den Stein und schimpfte unflätig.

»Darf man denn so Gott lästern, mein Sohn?«

»Ach was, hier kann man nicht nur Gott, sondern … Na los, ran an die Kiste!«

Der merkwürdige und bunte Haufe von Weibern und Kindern – im ganzen etwa fünfhundert – begann mit Geschrei, Geheul und Geweine sich vom Damm auf den Kahn zu ergießen. Ein Sack plumpste ins Wasser. Ein Weib schrie mit schriller Stimme nach irgendeiner in der Menge verlorengegangenen Sonja; irgendein Weib stieß man vom Laufsteg ins Wasser. Die WOCHR-Männer, manche düster und schweigend, manche schimpfend und alles auf der Welt verdammend, schleppten all diese Weiberbündel und Truhen oder standen wie Götzen dabei und sahen finster auf dieses Chaos des GPU-Bannes.


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