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5.

Der nachmittags von Königsberg abgegangene Personenzug bummelte gemächlich nach Südosten, der russischen Grenze zu. Eintönig klang das Läutewerk der Lokomotive, die mit Aechzen und Stöhnen etwa vier Meilen in der Stunde zurücklegen mochte. Ein schnelleres Tempo hätte zu viel Kohlen gekostet bei dem wenig lohnenden Betrieb.

Die brütende Julihitze ließ den sechs oder sieben Reisenden, die am Südbahnhofe eingestiegen waren, die Fahrt noch langsamer erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Der leichte Sommerwind, der ein wenig Kühlung gebracht hatte, war drückender Gewitterschwüle gewichen. Die Schwalben flogen dicht über dem Boden beim Nahrungsfang für die ewig hungrige Brut, und flimmernd, gleich durcheinanderschwingenden Silberfäden, zitterte die sonnendurchglühte Luft über der erntebereiten Erde.

Gaston von Foucar hatte die am Bahnhofe gekauften Berliner Zeitungen gelesen, es stand nichts Neues darin. Eine Erörterung darüber, ob auch Deutschland fechten müßte, wenn sein österreichischer Bundesgenosse von Rußland angegriffen würde. Das war doch selbstverständlich. Alles übrige, wie weit in diesem Falle die Bündnisklausel zuträfe, leeres Geschwätz. Es ging dabei ums eigene Leben. Und töricht wäre es doch gewesen, die äußersten Bastionen aufzugeben, wenn sie mit verhältnismäßig geringen Opfern zu halten waren. Viel wichtiger erschien ihm, daß man auch hier, im Osten des Vaterlandes, auf Posten war. An jeder kleinen Brücke standen Wachen. Das war sehr verständig. Bei dem mangelhaften, noch aus der Zeit der »ewigen russischen Freundschaft« stammenden Ausbau der zur Grenze führenden Bahnen hätten ein paar Sprengpatronen genügt, um den strategischen Aufmarsch um Tage zu verzögern ...

Der Vormittag in der alten Handelsstadt hatte Gaston wohlgetan. Es gab vieles zu sehen, was ihm neu war. Das Leben am Hafen, in dem neben leichten Segelschiffen auch stattliche Dampfer lagen. Krane schwenkten sich mit schwerer Last vom steinernen Kai zu den Schiffen, Ketten rasselten, und Maschinen stöhnten. Dazwischen ein emsiges Getriebe von Menschen, die in allerhand Sprachen durcheinanderschrien, Deutsch, Russisch, Englisch. Ueber dem allen ein undefinierbarer Duft von Wasser und Teer, der unwillkürlich in die Ferne lockte.

Lange hatte er gestanden und dem Treiben zugesehen. Die Menschen hasteten an ihm vorüber, keiner kannte ihn, keiner gab auf ihn acht, alle rannten sie emsig hinter ihrer Arbeit her, die einem einzigen Ganzen diente. Einen Unfall sah er mit an. Ein Arbeiter mit dem schweren Getreidesack auf der Schulter glitt auf schmaler Planke aus, stürzte rücklings ins Wasser. Es gab eine kurze Stockung, bis der Mann, der mit einem Notizbuch in der Hand die Zahl der in den Schiffsbauch wandernden Säcke zählte, sich durch einen flüchtigen Blick überzeugt hatte, daß man dem ins Wasser Gestürzten von Bord aus ein Tau zuwarf. Danach schloß sich wieder die Kette der lasttragenden Arbeiter, zog in ständiger Reihe von dem hohen Speicher ins Schiff, von dem Schiff auf schmaler Planke zurück in den Speicher.

Etwas von der Unbeträchtlichkeit eines Einzelschicksals verspürte er. So wäre es auch ihm gegangen, wenn er in diesen letzten Tagen gestrauchelt wäre. Das Leben ringsum ging seinen Gang, nur wenige hätten den Kopf nach ihm gewandt, wenn er in Gewissensbedrängnis den kurzen Schritt ins Dunkle getan hätte. Ein Mann über Bord ... Geschah ihm recht, das Schiff ging weiter.

Und merkwürdig, wie anders die Dinge aussahen, wenn man sie aus einiger Entfernung betrachtete. Wie geringfügig da die ungeheuren Wichtigkeiten erschienen, mit denen man sich geplagt hatte.

Eine kurze Episode war das, die hinter ihm lag. Er hatte jetzt an anderes zu denken, an Pflichten, die einen ganzen Mann erforderten.

Eine Melodie summte ihm im Kopfe, die er am frühen Morgen gehört hatte, als er zum Hotelfenster hinausblickte. Die Königsberger Kürassiere kamen in langer Schlangenlinie zu vieren nebeneinander die krumme Straße entlanggeritten. Grell schien die Sonne auf die schwarz-weißen Fähnlein und die blanken Helme. Die Trompeten bliesen die Melodie, und ein paar halbwüchsige Jungen, die mitmarschierten, sangen mit heller Stimme den Text:

»An der Grenze fern im Osten
Hält ein Reiter still auf Posten,
Späht hinaus ins weite Feld.
Drüben fahren auf Kanonen,
Sammeln sich Schwadronen,
In dem weiten, weiten Feld.«

Ein Zwischenspiel kam danach, Musik und Gesang zogen weiter, aber die Worte waren ihm haften geblieben: »An der Grenze fern im Osten hält ein Reiter still auf Posten.« Zu dem Dienst war er berufen neben vielen anderen, und hoffentlich blieb es nicht nur bei dem Postenstehen. Hier, näher an der Grenze, war auch die Erregung größer als in dem gleichgültigen Berlin. Ueberall auf der Straße, wenn er still hinhörte, klangen zwei Worte an sein Ohr: Rußland und Krieg. Aber eine gewisse Entschlossenheit lag in diesen Menschen, die einen seltsam breiten Dialekt sprachen. Es sollte endlich einmal losgehen! Das ewige »Hin- und Hergezodder« hatte man satt.

Gaston blickte zum Fenster hinaus. Zwischen goldgelb leuchtenden Roggen- und Weizenfeldern führte der Zug dahin, an schier endlosen Kartoffelschlägen vorüber, auf denen das Kraut noch üppig im Safte stand, und nur in weiten Zwischenräumen lugten die roten Ziegeldächer der Gutshöfe hinter grünen Baumgruppen hervor. Das typische Landschaftsbild des Großgrundbesitzes. Wenig Menschen auf den Feldern, dafür um so mehr Vieh aller Art. Wimmelnde Schafherden auf vorjährigem Brachland, weidende Edelfohlen in eingezäunten Koppeln und gewaltige Scharen weißbunter Kühe, die auf grünen Triften in träger Verdauungsruhe lagerten. Und dann wieder, so weit das Auge reichte, ein in starrer Ruhe stehendes Heer von gelben Halmen, die auf die Sense des Schnitters warteten. In ein paar Wochen vielleicht schon schwang hier ein anderer die Sense, aber nicht Halme lagen auf seinem Schwad ...

Der alte Herr in grauem Spitzbart, der Gaston am Fenster gegenüber saß, schien die Gegend sehr genau zu kennen. Aufmerksamen Auges musterte er Felder und Herden und äußerte von Zeit zu Zeit eine wohlgefällige oder kritische Bemerkung, aus der hervorging, daß er sogar mit den Namen der an der Bahnstrecke liegenden Güter und ihrer Besitzer vertraut war.

Die neben ihm sitzende Tochter, ein schlankes junges Mädchen in geschmackvollem Reisekleid aus hellblauem Leinen, gab nur einsilbige Antworten. Sie las in einem durch sein großes Format recht unhandlichen Buche und schien so vereifert, daß sich ihre Stirn über dem geraden Näschen in krause Falten legte. Da flog um die bärtigen Lippen des alten Herrn ein schalkhaftes Lächeln.

»Annemarie,« rief er plötzlich, »da in der Wiesenschlenke am Haferschlag steht ein kapitaler Rehbock!«

Das Buch fiel zu Boden, das junge Mädchen sprang auf und beugte sich hastig zum offenen Fenster hinaus.

»Wo, wo?«

»Ja, jetzt ist er wieder weg. Bist eben zu spät gekommen!«

»Ach, Unsinn! Hast mich bloß angeführt, Papa!«

Sie setzte sich mit enttäuschtem Gesicht auf ihren Platz zurück. Der alte Herr aber lachte herzlich auf. Ein seltsam innerliches Lachen war es, das seinen ganzen gewaltigen Körper und mit ihm die Polster des Wagens erschütterte.

»Na ja, mein Kind! Wenn Dein Vater Worte der Weisheit spricht und Du ihm nur mit halbem Ohr zuhörst!«

Gaston hatte das zu Boden geglittene Buch aufgehoben und überreichte es Annemarie mit leichter Verneigung. Während des Niederbeugens hatte er unwillkürlich den Titel gelesen. Ueber sein Gesicht huschte ein verwundertes Lächeln.

»Bismarcks ›Gedanken und Erinnerungen‹? Für eine junge Dame eine etwas ungewöhnliche Lektüre.«

Annemarie nahm mit leichtem Erröten das Buch, sperrte es in die neben ihr auf dem Sitze stehende Handtasche und dankte mit kurzem Kopfnicken. Ihre Antwort klang feindseliger, als sie beabsichtigt hatte.

»Jeder liest, was ihn am meisten interessiert.«

Ihr Vater hob begütigend die Hand.

»Na, na, Annemiechen, der Herr hat's doch nicht böse gemeint! Und gewiß ist es für ein junges Mädchen heutzutage ungewöhnlich, wenn es so ernste Bücher liest!« Zur Erklärung aber für den Mitreisenden fügte er hinzu: »Nämlich sie schwärmt für unseren Bismarck wie für einen Heiligen. Ihr ganzes Zimmer hat sie mit Bildern von ihm austapeziert, und das Buch da nebst seinen Briefen an Johanna führt sie auf allen Reisen bei sich. Wie fromme Leute das Gesangbuch oder die Bibel.«

Gaston verneigte sich höflich.

»Es ist wohl überflüssig zu versichern, daß mir eine Respektlosigkeit vollkommen ferngelegen hat. Im übrigen stimme ich Ihnen aufrichtig bei. Das sind für jeden guten Deutschen ein paar wahre Erbauungsbücher. Sie müßten nur noch mehr gelesen werden.«

Das kaum begonnene Gespräch geriet wieder ins Stocken, Annemarie hatte dabei aber Gelegenheit gefunden, den dem Vater gegenübersitzenden Herrn unauffällig ein wenig genauer anzusehen. Daß er über ihre beiden Lieblingsbücher so vernünftig urteilte, war ihr sympathisch. Und auch sonst gefiel er ihr wohl. Ueber breiten Schultern saß ein kluger Kopf, unter scharf gezeichneten Brauen sprang eine kräftige Nase hervor, die in ihrer Mitte einen ganz kleinen lustigen Knick nach links hatte. Darüber ein paar kluge blaue Augen ... Augen, die klar und lauter schienen und Vertrauen einflößten auf den ersten Blick. Nach der blassen Gesichtsfarbe zu schließen, war er vielleicht ein Gelehrter, aber dazu stimmte nicht sein sonstiges Auftreten. Kurze, fast militärische Bewegungen, und seinen eleganten Reiseanzug hatte sicherlich auch kein Zivilschneider gefertigt. Dafür hatte sie ein untrügliches Auge.

Die Hitze in dem sonnenbestrahlten Wagen fing an, unerträglich zu werden. Der alte Herr fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Hemdkragen und stöhnte auf.

»Herrgott, himmlischer Vater, dieses Blindschleichentempo ist ja kaum noch auszuhalten! Wenn ich ein paar Ackergäule vorspanne und hau' sie ordentlich über den Zagel, geht's rascher vorwärts. Und dieses ewige Angehalte an den kleinen Nestern – steigt ja doch kein Mensch ein oder aus!«

Annemarie öffnete eilig ihre Reisetasche, netzte ein frisches Tuch mit Kölnischem Wasser und kühlte ihrem Vater die Stirn. Und, während er ihr mit zärtlichem Händedruck dankte, flog ein schelmisches Lächeln um ihren hübsch geschnittenen Mund. »Wie würdest Du aber erst schimpfen, Papa, wenn er an unserer Station vorüberfahren wollte?«

Gaston nahm die Gelegenheit wahr, sich die junge Reisegefährtin unauffällig ein wenig genauer anzusehen. Herrgott, war das Mädel schön gewachsen! Eine gertenschlanke Figur voll unbewußter Anmut in jeder Bewegung, ein zierliches Köpfchen auf biegsamem Halse. Fast zu wuchtig erschien dazu der dicke, in einem straffen Neste zusammengesteckte blonde Zopf. Zwei Reihen gesunder weißer Zähne zeigte sie beim Lachen und in der linken Wange ein Grübchen, das dem vorhin so abweisend strengen Gesicht einen Zug hinreißender Liebenswürdigkeit verlieh. Ueber allem aber ein Hauch unberührter Reinheit wie der leichte Schimmer auf der Haut einer reifenden Frucht, die noch niemand in begehrlicher Hand gehalten hatte. Wer das liebe Mädel mal heimführte, trug etwas Sauberes in sein Haus ... Ein schmerzhafter Stich flog ihm durchs Herz. Auf sonnenbeschienener Straße gingen zwei dahin, und der eine sprach in plötzlich ausbrechendem Irrsinn häßliche Worte, und diese Worte krochen wie ekelhafte Kröten über das Bild einer bemitleidenswerten Frau.

Die Wagenbremsen zogen kreischend an, es gab einen Ruck, und der Zug hielt wieder einmal an einer der zahlreichen kleinen Stationen. Neben dem rotbemützten Stationsvorsteher stand ein dicker kleiner Herr in weißem Staubmantel, das volle Gesicht schier rostrot verbrannt, und mit bläulich schimmernder Nase unter weinfrohen Aeugelein.

Der alte Herr öffnete die Coupétür und winkte lebhaft mit der Hand.

»Tag, Lindemann! Erwarten Sie wen?«

Der Dicke blickte überrascht auf und setzte sich in der Richtung des Wagens erster Klasse in Bewegung.

»Tag, Herr von Gorski! Das ist ja 'ne Riesenfreude, daß Sie wieder zuwege sind! Und ob ich wen erwarte? Dieses nu weniger, ich wollt' bloß mal ein bißchen Großstadtluft schnappen. Da bin ich nach der Station gefahren, in dem Aberglauben, der Zug bringt 'was davon aus Königsberg mit. In meinem Dachsbau ist's jetzt, kurz vor der Ernte, zum Auswachsen langweilig!«

»Sie sollten heiraten,« sagte Annemarie und zeigte lachend die weißen Zähne. »Ich wüßte Ihnen eine, da würden Sie sich in Ihrem Ritterschloß keine Minute mehr langweilen!«

Der Dicke kniff listig das linke Aeuglein ein.

»Nachtigall, ich hör' Dir trapsen! Na dann grüßen Sie man das gnädige Fräulein in Marczinowen recht schön, und ich hätt' noch nich genug gesündigt, um so hart gestraft zu werden!« Er schüttelte sich in komischem Entsetzen und wandte sich zu Annemaries Vater.

»Aber es ist mir lieb, daß ich Sie treffe, mein verehrter Herr von Gorski. Ich wollte als Ihr Stellvertreter schon eine Sitzung des Parteivorstandes einberufen. Dazu müssen wir unbedingt Stellung nehmen.«

»Was' denn passiert?«

»Der Heidereuter in Sucholasken will verkaufen. An einen Polen.«

Dem alten Herrn stieg die Zornröte ins Gesicht.

»Schwerenot noch mal! Schämt der Mensch sich nicht in den Grund seiner Seele hinein?«

Herr von Lindemann zuckte mit den Achseln.

»Ich habe ihm zugeredet wie 'nem kranken Schimmel – alles umsonst! Er sitzt in Schulden bis an den Hals. Der Besitzer der letzten Hypothek schnürt ihm die Gurgel zu – auch natürlich auf Betreiben der Polen! Das Hemd ist ihm näher als der Rock, sagt er, und das polnische Angebot gibt ihm wenigstens die Möglichkeit, irgendwo mit einer kleinen Pachtung wieder von vorn anzufangen. Bei 'ner Subhastation müßte er mit 'nem Prachersack 'rausgehen und einem weißen Stock in der Hand. Ich wollte ihm zum Abschied 'ne rechte Niederträchtigkeit sagen, aber ich kriegte sie nicht über die Lippen. Der Mann hat 'ne kranke Frau und sechs Kinder.«

Herr von Gorski zog die buschigen Augenbrauen zusammen.

»Das ist in zwei Jahren hier in unserem engeren Kreise schon das zehnte Gut, das aus deutschen Händen in polnische übergeht. Soviel Geld haben wir nicht, um dieser andringenden Flut standzuhalten!«

Der Stationsvorsteher hob die Hand, das Zeichen zur Abfahrt zu geben, aber Herr von Lindemann winkte ihm energisch ab. Er hatte den dritten Mitreisenden im Wagen erspäht, der zu Beginn der Unterhaltung diskret auf die andere Seite getreten war. Dem Stationsvorsteher rief er zu: »Lassen Sie die alte Lokomotive man ruhig sich noch ein Weilchen verpusten! Wird ihr nichts schaden bei der Hitze, und ich bin hier noch nicht fertig!« Und, wieder zu dem Wagen gewandt, fuhr er lebhaft fort: »Herr von Foucar! Wie in drei Deuwels Namen kommen Sie hierher? Nach unserem geliebten Ostpreußen, wo es am tiefsten ist?«

Der Angeredete machte ein befremdetes Gesicht.

»Verzeihung, ich erinnere mich im Augenblick wirklich nicht ...«

»Aber, Mannchen! Blättern Sie mal ein bißchen in dem Buch Ihrer Erinnerungen an den Stellen, die junge Mädchen aus guter Familie nicht lesen dürfen – entschuldigen Sie gütigst, Fräulein Annemarie –, ja, besinnen Sie sich da nicht auf einen gewissen dicken Lindemann? Freiherr von Lindemann auf Borzymmen? Mein Vetter Sternheimb hat uns bekannt gemacht, der lange Kersien von den Königsberger Kürassieren war der dritte im Bunde. Und wissen Sie nicht, wie ich damals in der Jägerstraße den ganzen Bums unter Sekt gesetzt habe? Drei Morgen Weizen hat der Spaß gekostet, aber war doch fidel, was?«

Gaston lachte auf. Jetzt entsann er sich wirklich der lustigen Nacht, und wie sehr er sich damals über den dicken Agrarier amüsiert hatte, der in absichtlich vergröbertem ostpreußischen Dialekt allerhand komische Schnurren erzählt hatte.

»Wahrhaftig, Herr von Lindemann, jetzt fällt's mir wieder ein! Und ich bitte recht sehr um Entschuldigung ...«

»Nitschewo – ich bin nicht so übelnehmerisch! Aber der lange Kersien prophezeite Ihnen damals eine Springerkarriere, wie sie seit Erschaffung der Welt noch nicht dagewesen. Also was sind Sie inzwischen geworden? Generalfeldmarschall?«

»Vorläufig mal erst Rittmeister bei den Ordensburger Dragonern!«

»Na, für den Anfang auch ganz schön! Jedenfalls begrüße ich Sie als schätzenswerte Akquisition unseres Kreises, und man wird sich doch jetzt öfter sehen.«

Der Stationsvorsteher hatte zu seinem lebhaften Bedauern auf den Wunsch seines prominentesten Nachbarn nicht länger Rücksicht nehmen können. Der Aufenthalt auf der kleinen Station hatte schon fünf Minuten über die vorgeschriebene Zeit gedauert. Er gab hinter dem Rücken des Herrn von Lindemann heimlich das Abfahrtszeichen. Der Zug setzte sich ächzend und stöhnend in Bewegung, die Lokomotive stieß pfauchend ein paar weiße Dampfwolken aus. Der Dicke aber war noch nicht fertig. Erst warf er dem Beamten in der roten Mütze einen zornigen Blick zu, dann setzte er sich mit den kurzen Beinen ebenfalls in Bewegung und lief neben dem Wagen her.

»Entschuldigen Sie nur, daß ich vergessen habe, die Herrschaften miteinander bekannt zu machen! Herr Landschaftsdirektor und Reichstagsabgeordneter von Gorski auf Kalinzinnen nebst Fräulein Tochter – Herr Rittmeister Baron Foucar von Kerdesac! Und noch eins, mein verehrter Herr von Gorski« – er erhob seine Stimme – »in der Klinik alles gut abgelaufen? Keine Beschwerden mehr in dem kaputten Fuß?«

Herr von Gorski winkte mit der Hand.

»Danke, lieber Lindemann, alles im Lot! Ich laufe, Gott sei Dank, wieder wie 'n alter Fasanenhahn!«

Der Zug fuhr rascher, der Dicke im weißen Staubmantel mußte zurückbleiben. Dem Stationsvorsteher aber hielt er eine ärgerliche Standpauke. Was es wohl groß geschadet hätte, wenn der Zug sich noch ein paar Minuten länger verschnauft hätte? Und wieso er ihn nicht auf die gute Idee gebracht hätte, ein Billett zu lösen und in angenehmer Gesellschaft nach Ordensburg mitzufahren? Jetzt könnte er den ganzen langen Abend allein sitzen mit seinen spärlichen Gedanken und sich zum Sterben langweilen.

Der Stationsvorsteher legte die Hand an den Mützenschirm.

»Nich immer gleich schimpfen, trautester Herr Baron! Ich hab' nämlich 'ne Idee. Wenn Sie Ihren hochbeinigen Trakehner Kraggen man ein bißchen den Kopp freigeben, holen Sie den Zug zehnmal ein, sind noch vor ihm in Ordensburg! Und da is heute mächtig 'was los ... eine Damenkapelle fiddelt im Hotel zum Kronprinzen! Wenn ich nich Dienst hätt', wär' ich, warraftigen Gott, heute abend auch 'rübergefahren. Man versauert ja sonst ganz hier in der Einsamkeit, und e bißche 'was Höheres muß der Mensch doch von Zeit zu Zeit haben, so was Ideales von Kunst und so! Nich wahr, Herr Baron?«

Der dicke Herr von Lindemann klopfte ihm die Schulter.

»Kunst ist gut, Vorsteherchen, namentlich wenn sie wie in diesem Falle von holder Weiblichkeit ausgeübt wird. Na, die Idee ist wirklich glänzend – lassen Sie sich dafür morgen bei meinem Oberinspektor einen Sack Kartoffeln abholen als Erfinderprämie! Guten Abend, Herr Stationsvorsteher.«

Er hob grüßend die Hand und ging nach der Rückseite des Stationsgebäudes, wo sein Jagdwagen im Schatten von ein paar breitästigen Linden hielt.

»Ludwig, wir fahren zur Abwechslung mal nach Ordensburg. Aber sanftes Reisetempo bitt' ich mir aus, damit die Gäule nicht zu warm werden!«

»Befehl, Herr Baron!«

Ein leises Zungenschnalzen, und die beiden hochgezogenen Trakehner Halbblüter trabten an, daß hinter dem davonrollenden leichten Gefährt der Straßenkies spritzte ...

Herr von Lindemann wandte sich um, rief dem dienernden Stationsvorsteher zu: »Telephonieren Sie, bitte, nach dem Schloß hinüber, die Mamsell möcht' nicht mit dem Abendbrot auf mich warten ... verstanden?« Und während er sich zu der raschen Fahrt die Mütze fester ins Gesicht zog, zankte er schon mit sich selber: eigentlich war diese plötzliche Eskapade für einen ausgewachsenen Menschen reichlich töricht! Die Nachbarn mokierten sich auch über den lästerlichen Lebenswandel ... Aber die hatten gut reden! Waren alle verheiratet und wußten nichts von der Einsamkeit, die einen in dem großen Haus an den langen Abenden wie ein Alp überfiel. Mit seiner Nachbarin wollte sie ihn verheiraten, die blonde Annemarie von Gorski! Mit dem abstinenzlerischen Fräulein von Streit auf Marczinowen ... Hopfenstange war noch ein Euphemismus für ihre mangelnden Reize! Sie selbst aber? Was sie wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er mit einem Male in Frack und Claque in Kalinzinnen antreten wollte: »Also, wie wär's nu mit uns beiden, Fräulein Annemarie? Könnten Sie sich entschließen, mit Ihren weichen Patschhändchen über einen blanken Kahlkopp zu streicheln und ›lieber Gottfried‹ zu mir zu sagen? Sie können's nicht? Na schön, dann brauchen Sie sich auch nicht zu wundern, wenn der Freiherr von Lindemann lustige Gesellschaft sucht und sich einen Ordentlichen einschwenkt. Und na, überhaupt ...«

Er richtete sich auf seinem Sitze auf: »Kerl, zieh den beiden faulen Kraggen eins ordentlich über den Puckel! Bei dem Tempo kommen wir nach Ordensburg, wenn der Kunstgenuß im Hotel Kronprinz längst schon zu Ende ist.«


Das kurze Intermezzo auf der Station Borzymmen hatte den drei Reisenden die Müdigkeit verscheucht. Etwas von der lustigen Laune des dicken Herrn von Lindemann war hängen geblieben, die Hitze erschien nicht mehr so drückend wie noch kurz zuvor. Sogar Herr von Gorski schien für den Augenblick seine politischen Sorgen vergessen zu haben. Er sah sein Gegenüber mit lebhaftem Interesse an: »Sie kommen in unser Regiment, Herr Rittmeister?«

»Zu dienen! Und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, habe ich Ihnen Grüße zu bestellen. Ich hatte doch vorhin recht verstanden: Herr Reichstagsabgeordneter von Gorski auf Kalinzinnen?«

»Allerdings.«

»Dann stimmt es! Ich soll Sie von meinem verehrten Abteilungschef grüßen. Von Herrn Oberst Wegener im Großen Generalstab.«

Annemarie schlug vor Ueberraschung die Hände zusammen.

»Von Onkel Franz? Ist das eine Freude! Und wie geht's ihm denn?«

»Soweit ich's beurteilen kann, sehr gut. Ein bißchen abgearbeitet natürlich, denn wir haben saure Wochen hinter uns, kamen aus unseren Schreibstuben kaum noch heraus.«

Annemarie lachte herzlich auf und rückte vertraulich ein wenig näher.

»Daher Ihre blasse Gesichtsfarbe! Wissen Sie, wofür ich Sie zuerst gehalten habe?«

»Na?«

»Für einen Professor oder Oberlehrer. Unsere Offiziere in Ordensburg sehen jetzt, Ende Juli, wie die Neger aus! Na, und hat Onkel Franz nicht auch von mir gesprochen? Ihnen für mich keine Grüße aufgetragen?«

»Dazu war wohl die Zeit zu knapp, als ich mich vorgestern von ihm verabschiedete. Er mußte zum Vortrag. Aber gesprochen hat er von Ihnen, mein gnädiges Fräulein.«

»Was denn?«

»Dazu müßte ich wohl erst seine Erlaubnis einholen, um Ihnen das wiederzusagen.« Und kecker, als es Damen gegenüber sonst seine Art war, fügte er hinzu: »Aber er hatte recht! Jetzt, nachdem ich Sie persönlich kennen gelernt habe, unterschreibe ich's Wort für Wort!«

Annemarie errötete ein wenig und verzog schmollend den Mund.

»Das ist nun eklig von Ihnen! Erst einen neugierig machen und dann nichts sagen!«

Herr von Gorski hatte schmunzelnd zugehört.

»Ich kann's mir denken! Haben Sie auch seine Frau kennen gelernt?«

»Nur flüchtig bei einem Essen, das der Herr Oberst den Herren seiner Abteilung gab. Auch mit ihm bin ich sonst bloß dienstlich zusammengekommen. Da hat's mich eigentlich gewundert, daß er sich für mich so ins Zeug gelegt hat. Die Auszeichnung, daß ich vor dem Manöver schon in die Front hinauskam, verdanke ich nur ihm.«

Der alte Herr sah sein Gegenüber prüfend an. War das nun falsche oder echte Bescheidenheit? Aber die Musterung schien zu seiner Zufriedenheit ausgefallen zu sein, er nickte.

»Mein Vetter Wegener weiß, was er tut! Und Sie kommen gern zu uns nach Ostpreußen?«

»Jetzt noch lieber als früher.«

»Na, das ist recht! Welche Schwadron kriegen Sie denn?«

»Herr Oberst Wegener sprach von der fünften ...«

»So, so ... ich bin durch die sechs Wochen Stilliegen ein bißchen 'raus ... Na, und hat mein Vetter Wegener mir nicht noch irgend etwas Besonderes sagen lassen? Wie's so im allgemeinen aussieht?«

»Nein, Herr von Gorski. Unsere Unterredung dauerte ja auch bloß ein paar Minuten.«

»Na, mir gegenüber können Sie ruhig und ganz offen sprechen. Ich bin alter Herr des Regiments, das Offizierkorps geht in meinem Hause aus und ein, namentlich das unverheiratete,« – ein lächelnder Seitenblick streifte die neben ihm sitzende Tochter – »ja, also da brauchen Sie sich nicht zu genieren. Auch nicht vor Annemarie. Sie ist der heimliche Beichtvater und Vertrauensmann von allen jungen Dachsen im Regiment. Etliche hab' ich sogar im Verdacht, daß sie bei ihr ein bißchen in der Kreide sitzen!«

Annemarie wurde rot bis unter die blonden Stirnhaare und protestierte entrüstet.

Gaston aber spürte eine seltsame Regung, als müßte er ihr über das blonde Köpfchen streicheln und irgend etwas Liebes sagen. So stark war diese vermessene Regung, daß er sich ordentlich zusammennehmen mußte. »Himmlischer Kerl von Mädel«, hatte sie der Oberst von Wegener genannt. Das stimmte, und zu beneiden war der Mann, der sich das mal zum guten Kameraden gewann. Unwillkürlich flogen seine Gedanken weit fort zu einer anderen, stellten allerhand Vergleiche an ...

Gaston schreckte zusammen. Der alte Herr da drüben hatte eine Frage an ihn gerichtet.

»Wie befehlen? Ach so, ja, ganz recht. Es sieht wieder einmal bedrohlicher aus als sonst. Ich persönlich habe natürlich kein Urteil, aber mein verehrter Chef gab mir ein privates Avis an meinen neuen Kommandeur mit. Daraus schließe ich, daß jeder Tag vielleicht die Katastrophe bringen kann. Oder – wie man's nehmen will – die Erlösung aus einer immer unerträglicher werdenden Spannung.«

Herr von Gorski schüttelte den grauen Kopf. »Ich glaube nicht daran. Die Verantwortung ist zu ungeheuerlich! Da überlegen sich's die, in deren Hand die Entscheidung liegt, eher zehnmal als einmal. Namentlich bei unseren Nachbarn im Osten. Da spielen für die Dynastie im Falle eines unglücklichen Krieges noch ganz besondere Interessen mit. Ich habe livländische Verwandte in hohen Hofchargen. Einer von ihnen schrieb mir erst unlängst, die Truppenansammlungen an unserer Grenze sind nur befohlen worden, pour montrer la bonne volonté. Um den Bundesgenossen mit dem großen Sparstrumpf bei guter Laune zu halten.«

»Mag sein, Herr von Gorski. Dafür sieht's an unserer Westgrenze um so bedrohlicher aus. Dort geht's leider nach Stimmungen, nicht nach Erwägungen. Das ganze Volk schreit nach dem Revanchekrieg. Wie ein langsam angestautes Wasser ist es, das jeden Augenblick den Damm zerreißen kann. Mir persönlich wäre es recht. Nichts sehnlicher wünsche ich mir, als meine Schwadron gleich an den Feind zu führen!«

»Bravo!« sagte Annemarie, und Herr von Gorski lächelte.

»Sie ist nämlich mit ihren jungen Freunden vom Regiment unbedingt fürs Einhauen. Sie geht dann als Rote-Kreuz-Schwester mit! Aber was ich schon vorhin fragen wollte, lieber Rittmeister, wo standen Sie eigentlich früher?«

»Bei den Karlsburger Ulanen. Von dort kam ich auf Akademie und nachher in den Generalstab.«

»Ein glänzendes Regiment und eine angenehme Garnison,« sagte der alte Herr. »Und da sind Sie nicht wieder hingegangen?« Die Frage klang ein wenig argwöhnisch.

»Ich hatte meine besonderen Gründe!« sagte Gaston. Damit sollte es genug sein, aber er fühlte, daß Annemaries Augen an ihm hingen. Wie ihm scheinen wollte, mit ganz besonders gespanntem Interesse, und da sprach er offen und ohne Rückhalt. Als wenn das liebe Mädel ein Anrecht hätte, genau zu erfahren, was er fühlte und dachte.

»Also einmal, weil ich gerade Ostpreußen kennen lernen wollte, und dann ... in meiner Heimat nicht nur geht eine Legende, die mir jedesmal, wenn ich auf sie stoße, die Zornröte ins Gesicht treibt. Eine sehr hohe Dame soll angeblich mit besonderer Fürsorge über meine Karriere wachen. Ich habe auch sonst genug gelitten unter diesem törichten Gerede. Mein Vater war Kammerherr dieser hohen Dame an einem der süddeutschen Duodezhöfe. Er starb, als ich ein Jahr alt war, ich habe ihn nicht gekannt. Als ich Offizier wurde, gab mir mein Vormund einen Brief von ihm und klärte mich auf. Mein Vater war im Duell gefallen für die von einem Unwürdigen angegriffene Ehre dieser hohen Dame, war gestorben wie ein Kavalier und Held. Aber meine liebe Mutter faßte das anders auf. Glaubte an eine Schuld, wo nichts weiter gewesen war als die Pflicht eines seiner Herrin dienenden Kavaliers. Sie ging nach ihrer schwäbischen Heimat zurück und erzog mich dort auf ihre Art. Es steht einem Sohne nicht zu, mit der geliebten Mutter zu rechten, aber es wäre vielleicht manches in meinem Leben anders gekommen, wenn ich eine Jugend hätte haben dürfen wie andere. Wie ein junges Mädchen verpimpelte sie mich. Aber da gab es einen Umschwung. Eines Tages hatte ich mal wieder was ausgefressen, aber kam gerade noch mit blauem Auge davon. Wie und wieso weiß ich nicht mehr, aber einer meiner Coëtanen meinte: ›Na ja, wenn man eine Schutzheilige hat – eine richtige, lebendige Großfürstinwitwe, die ihre Gefühle vom Vater auf den Sohn überträgt.‹ Ich fuhr ihm an den Hals, wir schlugen uns auf schwere Säbel, und in der Festungshaft danach wurde ich ein ernsthafter Mensch. Ein Streber schlimmster Sorte ... Kommandierender General zum mindesten wollte ich werden! Aber ohne weibliche Protektion!«

Annemarie hatte mit aufgeregten Augen zugehört. Ehe ihr Vater etwas sagen konnte, streckte sie impulsiv dem Rittmeister von Foucar die Hand entgegen.

»Furchtbar interessant ist das! Und überhaupt, wo Onkel Franz so große Stücke auf Sie hält. Sind Sie Jäger?«

Gaston blickte ein wenig verwundert auf.

»Sogar mit Passion. Aber bisher hatte ich, zu meinem Bedauern, nur wenige Male Gelegenheit.«

»Na ja, in Berlin!« sagte sie geringschätzig. »Aber das wird hier anders werden. Sie sollen bei mir in Kalinzinnen den besten Bock schießen, den es im Kreise je gegeben hat. Mindestens dreißig Zentimeter Stangenhöhe und geperlt bis in die Enden hinein ... ein ganz alter Bursche, schlau wie ein Fuchs, aber in der Brunst werden wir ihn schon kriegen!«

Der alte Herr hatte zum Fenster hinausgesehen. Hallo, was war das? Hatte sein sonst so zurückhaltender Blondkopf an diesem Rittmeister Feuer gefangen? Und daß das Mädel mit den Kalinzinner Rehböcken so freigebig umging, war allein schon ein bedenkliches Zeichen. Sonst war sie damit sehr knauserig.

»Annemarie,« sagte er, »freust Du Dich, daß wir endlich wieder nach Hause kommen?«

»Aber natürlich, Papa, riesig!«

»Und was Hermann wohl sagen wird, wenn wir endlich wieder da sind? Wahrscheinlich wird er an der Bahn sein.«

Annemarie runzelte die Stirn.

»Natürlich wird er da sein. Du hast ihm doch sicherlich geschrieben, wann wir ankommen. Er ist überhaupt immer da.«

»Bitte sehr, diesmal habe ihm nicht geschrieben!«

»Er wird doch da sein!« sagte sie hartnäckig und legte sich abweisend in die Wagenpolster zurück. Gaston aber merkte die Absicht des alten Herrn und griff nach einer der schon längst gelesenen Zeitungen. Eigentlich war es ja schon deutlich genug gewesen, daß Herr von Gorski die Jagdeinladung der Tochter nicht bestätigt hatte. Und dieser Hermann, der auf der Station warten würde, war ein Wink für ihn: »Gib Dich nicht unnützen Hoffnungen hin.« Der Wink war überflüssig. Wer sich selbst eine Kette um den Fuß gelegt hatte, durfte seine Augen nicht aufheben zu einem stolzen und freien Herrenkind.

Annemarie hatte ein paar Minuten schweigend gesessen, jetzt schob sie in leichtem Trotz die Unterlippe vor.

»Ach, entschuldigen Sie, Herr Rittmeister ...«

»Bitte sehr, mein gnädiges Fräulein.«

»Sie müssen so freundlich sein, mir noch einmal recht deutlich Ihren Namen zu sagen. Vorhin, als Herr von Lindemann vorstellte ...«

»Aber mit Vergnügen! Gaston Baron Foucar von Kerdesac!«

Annemarie blickte überrascht auf: »Aber das ist ja ein rein französischer Name!«

»Zu dienen! Mein – einen Augenblick, ich muß nur nachrechnen – ja, also, mein Ururgroßvater kam als achtjähriger Knabe nach Deutschland. Seine Eltern waren auf die Guillotine geschleppt worden, ihm gelang es, als die Schergen des Konvents das Schloß durchsuchten, sich zu verstecken. In einer Regentonne. Dann wanderte er nach Osten, bis er an andere Flüchtlinge Anschluß fand. Mit zweiundzwanzig Jahren focht er unter Blücher gegen Napoleon.«

»Merkwürdig,« sagte Herr von Gorski, und aus dem Tone seiner Bemerkung war starke Mißbilligung herauszuhören, »ja, also merkwürdig, wie eine Familie mit Traditionen in so kurzer Zeit ihren vaterländischen Standpunkt verändern kann! Das Vaterland ist doch immer das Primäre! Und ich frage mich manchmal ... Die Abkömmlinge der französischen Refugiéfamilien ... ja, mit welchen Gefühlen werden die wohl einmal satteln, wenn es gegen ihr altes Vaterland Frankreich geht?«

Gaston verneigte sich leicht, Kampflust in den blauen Augen.

»Das haben sie schon einmal bewiesen, jetzt vor mehr als vierzig Jahren! Und ich darf wohl dagegen fragen, mit welchen Empfindungen werden Sie sich tragen, Herr von Gorski, wenn es morgen nach der anderen Seite losgehen sollte? Gegen Rußland?«

Der alte Herr steckte sich in einer gewissen Erregung eine Zigarette an.

»Sie verstehen zu fechten, Herr von Foucar! Aber es ist ein Irrtum dabei. Mein Geschlecht ist von Anbeginn an rein deutsch gewesen – trotz seines polnischen Namens. Darüber existieren unanfechtbare Urkunden. Mein erster nachweislicher Vorfahr ist als Gefolgsmann des Großmeisters Heinrich von Plauen urkundlich aufgeführt, Berger hieß er. Als nach dem Niedergange des Ordens die slawische Welle wiederkam, wurde sein guter deutscher Name ins Polnische übersetzt. Gorski heißt nämlich auf deutsch Berger, und das Schicksal, das ihn ereilte, traf auch all die anderen, ursprünglich deutschen Familien. Nicht nur aus dem Stande der Ritterbürtigen. Auch unter der bäuerlichen Bevölkerung können Sie noch heute herauskennen mit einiger Sicherheit, was ursprünglich mal deutsch war. Schon an der Körperlänge. Der slawische Masur ist klein, kaum daß mal einer über Mittelgröße hinauswächst.«

»Aehnlich wie in meiner Heimat,« versetzte Gaston. »Nur daß man da zwischen Normannen mit Wikingerblut unterscheidet und den kleineren Abkömmlingen der Römer. Aber ich meine, der ganze Streit ist unfruchtbar. Jeder hält zu dem Lande, dem er sich verbunden fühlt. Der alte Name ist nur eine Erinnerung. Das Nationalgefühl entscheiden die Mütter.«

»Haben Sie Ihre alte Heimat einmal besucht?« warf Annemarie ein.

Gaston wiederholte die Frage.

»Meine alte Heimat? Nein, aber im vorigen Jahre machte ich eine Reise durch Nordfrankreich. Ich sage das absichtlich, um von vornherein meine Empfindungen bei dieser Reise zu kennzeichnen. Nichts sprach zu mir, was irgendeinen sentimentalen Widerhall in mir geweckt hätte ... oder vielmehr einmal mußte ich an mich halten, um als preußischer Offizier nicht eine Unbesonnenheit zu begehen. Am zweiten September war es, in Havre. Zu Hause bei uns feierte man den Gedenktag von Sedan, hier schleifte ein Haufe halbtrunkener Gassenjungen eine Strohpuppe im Straßenkot, die wie ein deutscher Soldat ausstaffiert war mit ein paar bunten Fetzen. An der Spitze schritt ein Bengel, der ein freches Spottlied auf die › sales Prussiens‹ sang. Die andern grölten den Refrain. Da mußte ich mich mit Gewalt zusammenreißen, um dem Lümmel an der Spitze das Maul nicht mit einer Ohrfeige zu stopfen ... Und ein paar Tage später war ich in dem Städtchen Kerdesac. Auf einem Hügel in der Nähe lag eine verfallene Ruine ... ein Rest des alten Gemäuers war wohnlich eingerichtet, ein weißbärtiges Männchen hauste darin ... Der Letzte der Foucar der französischen Linie. Ich machte ihm meine Aufwartung, ohne meinen Namen zu nennen, und fragte so nebenher, ob nicht ein Zweig des Geschlechts in Deutschland lebte. Da richtete der alte Herr sich auf und spie aus. ›Verflucht sei er und verdorren möge er! Meine Arme sind vertrocknet, aber wenn wir morgen marschieren sollten, marschiere ich mit. Und Gott wird mir helfen, die zu züchtigen, die ihr Vaterland vergessen konnten ...‹ Ich empfahl mich und ging. War nicht im geringsten betroffen, hatte nur das Gefühl einer Seltsamkeit ... einen fast schnurrigen Gedanken: daß nämlich anscheinend in jedem Lande der liebe Gott eine andere Nationalität hat. Und daß er jedesmal helfen soll, die Leute jenseits der Grenze totzuschlagen ...«

Das Gespräch verstummte. Annemarie holte mit einem leichten Seufzer die »Gedanken und Erinnerungen« hervor, die sie vorhin beiseite gelegt hatte, Herr von Foucar griff nach einer Zeitung, und nach einer Weile schien es so, als wären die drei, die der Zufall für eine kurze Reise zusammengeführt hatte, einander so fremd wie zu der Zeit, als der lustige Herr von Lindemann sie noch nicht vorgestellt hatte. Nur ein kleiner Unterschied war dabei. Nach kurzer Pause hob Annemarie den Kopf von der Lektüre, Herr von Foucar tat desgleichen, ihre Blicke begegneten sich und hielten stumme Zwiesprache miteinander. Der eine sagte: »Ist das nicht ärgerlich, daß unser erstes Beisammensein mit solch einem Mißklang enden soll?« Und der andere meinte: »Es wäre doch jammerschade, wenn nun aus der so freundlich gebotenen Jagdeinladung nichts werden sollte!« Da huschte über das feingeschnittene Gesichtchen ein schalkhaftes Lächeln. Sie legte das dicke Buch wieder beiseite und wandte sich besorgt zu dem neben ihr sitzenden Vater.

»Willst Du es Dir nicht lieber ein bißchen bequemer machen, Papa? Ich kann mich ja ganz in die andere Ecke setzen, Du aber streckst das Bein auf das Polster.« Und wie zur Erklärung für Herrn von Foucar fügte sie hinzu: »Nämlich mein Papa hat vor sechs Wochen einen schweren Sturz mit dem Pferde getan, weil er noch immer so verwegen drauflos reitet, als sprengte er an der Spitze seiner alten Schwadron. Das ganze Schienbein war gesplittert, und ich fürchte beinahe, bei aller Kunst des Königsberger Professors, ganz so wie früher wird es wohl nicht mehr werden.«

»Unsinn,« brummte Herr von Gorski in seinen kurzgeschnittenen grauen Spitzbart, »der Mann hat sein Handwerk verstanden! Ist alles wieder in Ordnung, und, wenn ich ehrlich sein soll, ich muß mich immer erst besinnen, welcher Fuß eigentlich kaput war, der rechte oder linke!«

Sein Gegenüber pflichtete ihm bei, um ihn bei guter Laune zu erhalten.

»Ja, es ist erstaunlich, was heutzutage die Herren Chirurgen alles leisten! Einer meiner Kameraden beim alten Regiment hatte von einem schweren Sturze eine Gehirnerschütterung gekriegt, Schlüsselbein kaput und das ganze rechte Bein ein einziger schlotternder Lappen ... vier Wochen Klinik in Tübingen, und er konnte wieder in den Sattel steigen! Zwei Monate danach aber gewann er sein erstes Rennen.« Die Geschichte war frei erfunden, aber was tat man nicht einem Paar blauer Mädchenaugen zuliebe, die einen lustig anlachten?

Der alte Herr sprang prompt auf die kleine Kriegslist ein und nahm die abgebrochene Unterhaltung wieder auf.

»Siehst Du, da hast Du's! Morgen laß ich mir meinen alten ›Perkuhn‹ an die Rampe führen, probier' mal, ob's nicht schon wieder geht!« Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Was aber unseren vorhin angeschnittenen Hammel anlangt, Herr von Foucar – also ich möchte da kein Mißverständnis aufkommen lassen. Ich habe inzwischen nachgedacht. Ich verstehe zwar immer noch nicht, wie geborene Franzosen in ein paar Menschenaltern reine Deutsche werden können, aber da ich ein überzeugendes Beispiel vor mir sehe, muß ich die Tatsache anerkennen. Und sie interessiert mich sehr, denn vielleicht liegt in ihr irgendein Fingerzeig verborgen für unsere Arbeit in den Grenzprovinzen, den Kampf gegen das Polentum. Wenn Sie unsere Parlamentsverhandlungen der letzten Jahre ein wenig verfolgt haben, werden Sie wissen, daß ich bisher immer einer der Hauptvertreter der gemäßigten Richtung gewesen bin in der Behandlung unserer polnischen Mitbürger. Während meiner unfreiwilligen Muße aber, jetzt in der Klinik, habe ich eine Art von Inventur gemacht über die Ergebnisse meiner Tätigkeit. Und, wenn man so losgelöst daliegt von allen verwirrenden Eindrücken der kleinen Tageskämpfe, sieht man wohl schärfer als sonst. Ja also, da hat sich mir die niederschmetternde Erkenntnis aufgedrängt, daß all unsere Arbeit bis zur Stunde vergeblich war. Statt vorwärts zu kommen, haben wir Boden verloren, und da fragt man sich unwillkürlich, ob die bisherige Methode die richtige war.«

»Verzeihen Sie, Herr von Gorski,« sagte der Rittmeister, »ich habe mich bisher mit diesen Dingen zu wenig beschäftigt, um ein eigenes Urteil zu haben. Aber was ich von Ihnen, einem berufenen Sachverständigen, höre, macht mich stutzig.«

Der alte Herr lächelte trübe.

»In unseren Industriegebieten finden Sie ganze Stadtteile und Niederlassungen, in denen kaum noch ein Wort Deutsch gesprochen wird. Und gehen Sie in die Mark, nach Sachsen, Pommern oder Mecklenburg – die Leute, die dort auf den Feldern arbeiten, sprechen Polnisch! Das hängt ja nun mit der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen, aber muß doch mit in Rechnung gebracht werden, wenn man sich das Gesamtbild vergegenwärtigen will. Und das übrige ... das Ende ...« Er brach ab und sah sinnend vor sich hin.

Herr von Foucar hatte gespannt und achtungsvoll zugehört. Als der alte Herr plötzlich schwieg, erlaubte er sich in bescheidenem Tone die Frage: »Nun und? Wenn all diese Polen den deutschen Gesetzen gehorchen, ihre Steuern bezahlen und als Soldaten ihre Pflicht und Schuldigkeit tun? Unsere Armee ist doch noch intakt. Und gerade unsere polnischen Regimenter haben sich im letzten Feldzuge doch mit Auszeichnung geschlagen. Geben wir den Polen vollkommene politische Freiheit und wirtschaftliche Vorteile, die ihnen die Ueberzeugung wachrufen müssen, unter keiner Herrschaft der Welt könnte es ihnen besser gehen als unter der preußischen oder deutschen, und sie werden – unter dem Zwange dieser Einsicht – treue und gute Staatsbürger werden.«

Um den bärtigen Mund des alten Herrn flog ein nachsichtiges Lächeln.

»Sehr schön und sehr nobel gedacht, aber das Mittel ist schon längst versucht worden – bisher ohne Erfolg! Zu keiner Zeit wurde wohl in polnischen Kreisen mehr komplottiert, das alte Königreich wieder auszurichten, als in jenen Jahren, in denen die Polen verhätschelt und mit Zuckerbrot gefüttert wurden. Das ermutigte die Herrschaften nur, die bisher im stillen betriebene großpolnische Agitation auf die Gasse zu tragen! Wie Pilze schossen allenthalben die nationalen Hetzblätter empor, und ganz unversehens war ein neues Moment in die Bewegung gekommen: Der bisher indifferente kleine Mann in den Städten und auf dem Lande war zum Bewußtsein seiner polnischen – wie heißt doch das neugeprägte Wort? – ja richtig, zum Bewußtsein seiner polnischen ›Volkheit‹ gelangt! ... Aus solchen geschichtlichen Prozessen muß man lernen, solange es noch Zeit ist. Alles auf dieser Welt verläuft in Wellenlinien, nicht einmal der Strahl des Lichts fährt in schnurstracks gerader Bahn dahin, also muß es auch wohl in der politischen Bewegung der Völker ein Auf und Nieder geben. Es muß nur die gewaltige Persönlichkeit kommen, die stark genug ist, die Hand zu heben: Halt!«

Der alte Herr schwieg erschöpft, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Herr von Foucar wollte etwas erwidern, aber Annemarie gab ihm ein heimliches Zeichen, das Gespräch abzubrechen. In dem Coupé war es plötzlich so finster geworden, daß man Mühe hatte, das Gesicht des Gegenübersitzenden zu erkennen, eine jäh aufgestiegene dunkle Wolkenwand hatte sich vor die Sonne geschoben. Die drückende Schwüle wurde schier unerträglich, da, mit einem Male gleißende Helle, vor der sich unwillkürlich die Augen schlossen ... in derselben Sekunde ein schmetternder, kurzer Schlag, ein Reißen und Krachen, daß die Wagenfenster klirrten. Einen zuckenden leichten Schmerz gab es in den Gelenken, ein schwefliger Geruch drang zu den Fenstern herein, Annemarie hob die Hand und deutete nach außen: »Da ... sieh nur, Papa, sieh.« Eine rank aufgeschossene Kiefer, die mitten in einer abgeholzten Lichtung etwa hundert Schritt vom Bahndamme stand, leuchtete rot auf, züngelnde Flammen leckten an dem Stamme in die Höhe, und um die grüne Krone breitete sich eine weißliche Wolke. Ueber das Gesicht des alten Herrn aber flog ein heller Schein, seine Augen blitzten auf.

»Das sei ein Zeichen,« sagte er laut, »und so möge sich erfüllen, was ich eben vorausgesagt habe.«

Die Bremsen an den Rädern zogen kreischend an, der Zug hielt vor einer Art von ziegelgedecktem Schuppen, neben dem ein Wärterhäuschen aus Wellblech stand. Und plötzlich kam mit Rauschen und Brausen der Regen gezogen wie eine graue Wand. Hagelschlossen prasselten dazwischen, der gelbe Sand des Bahnsteiges spritzte auf, und unablässig schmetterte und krachte der Donner. Ein triefend nasser Schaffner kam gelaufen, riß die Tür auf: »Kalinzinnen, eine Minute!«

»Um Gottes willen, schon?«

Annemarie sprang auf, stopfte Buch und Zeitungen eilig in die krokodillederne Handtasche, der Rittmeister half dem alten Herrn in einen Gummimantel, ohne für seinen Dienst mehr als ein kurzes »Danke!« zu ernten. Aus der grauen Regenwand trat ein Diener, einen großen, aufgespannten Leinenschirm in der Hand: »Willkomm zu Hause, gnäd'ger Herr,« sagte er respektvoll. »Und der gnä'ge Herr müssen schon so gut sein, ein paar Minutchen unter die Wartehalle zu treten. Die beiden alten Kobbeln vor dem Kutschwagen sind von dem großen Blitz rein wie verrückt geworden. Der Gottlieb mußt sie laufen lassen, aber er is wohl gleich wieder 'ran.«

Der alte Herr verabschiedete sich von dem Reisegefährten mit kurzem Gruße, kletterte ein wenig schwerfällig den Wagentritt hinab. Annemarie rief ihm nach: »Papa, Du hast wohl nur vergessen ...?« Er hörte nicht, oder vielleicht tat er auch nur so, denn der Zuruf war laut genug gewesen, und in dem Rollen des Donners hatte es gerade eine kurze Pause gegeben. Da flog über ihr Gesicht ein trotziger Zug, sie streckte dem Rittmeister die Hand entgegen: »Entschuldigen Sie, mein Papa ist nur durch die plötzliche Ankunft ein bißchen durcheinander, sonst hätte er sicherlich ... jedenfalls sind Sie uns in Kalinzinnen herzlich willkommen!« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Seien Sie ein bißchen nett mit meinen beiden Vettern, sie stehen bei Ihrer Schwadron!«

Der Schaffner an der offenen Tür, dem das Wasser vom Mützenschirm über die Nase rann, hob mahnend die Hand.

»Trautstes Freileinchen, beeilen Sie sich, der Zug hat sowieso all Verspätung.«

Da gab es noch einen kurzen Händedruck. »Also gut, und auf bald.« Hastig sprang sie von dem Tritte, der Diener, der den alten Herrn schon nach der Wartehalle geleitet hatte, eilte mit dem großen Regendache herbei. Eine Pfeife schrillte, der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Gaston trat ans Fenster, um vielleicht noch einen Blick oder Gruß zu erhaschen, aber Annemarie stapfte eilig dahin, zwischen den vom Boden schnellenden Spritzern. Der über die Knöchel gehobene Rock zeigte ein paar schlanke Fesseln über schmalen Füßen. Der alte Herr unter der Wartehalle schien ungeduldig geworden zu sein, sprach lebhaft auf die Tochter ein, nach dem abfahrenden Zuge sah er nicht mehr hinüber. Die graue Wand schob sich dazwischen, der ziegelgedeckte, offene Schuppen und ein heranfahrender Wagen waren noch wie durch einen Schleier zu erkennen. Dann nichts als unablässig strömender Regen, nach jedem der rollenden Donnerschläge schien er nur noch stärker zu fallen, als wenn da oben an irgendeiner himmlischen Talsperre ein Staudamm gebrochen wäre, so schüttete es hinab.

Gaston hatte das Fenster hochgezogen und setzte sich auf seinen Platz zurück. Trocknete sich Gesicht und Hände von den durch die offene Tür gespritzten Regentropfen, und ihm war seltsam lustig und aufgeräumt zumute. Mit dem alten Herrn schien er's ja gründlich verdorben zu haben, nach anfänglichem Wohlgefallen hatte es ein ziemlich unverhohlenes Mißvergnügen gegeben. Aber was lag daran – dafür hatte die Tochter einen um so freundlicheren Abschied genommen. Wie hatte sie gesagt? »Auf Wiedersehen, recht bald.« Na, das konnte ja besorgt werden! Und ein Vorwand war gar leicht gefunden. Da drüben, zwischen Rückwand und Wagenpolster blitzte etwas auf, als hätte es spitzbübisch bloß auf den rechten Augenblick gewartet, sich bemerkbar zu machen. Eine kleine goldene Zigarettendose, mit einem Saphir als Druckknopf und einem, aus funkelnden Brillanten gefügten »A« auf dem Deckel. Eine siebenzinkige Krone darüber, deren Zacken in hellem Rubinrot leuchteten. Und allerhand Widmungen daneben, in Schrift oder figürlicher Darstellung. Ein blau-weiß-roter Emailschild mit der Umschrift: »Masovia sei's Panier! Der holden Korpsschwester die Füchse des Sommersemesters 1911.« Viele, sauber ausgeführte Wappen mit Jahreszahl und Datum, und endlich auf der Rückseite ein Emailbild der beiden »bösen Buben«, Max und Moritz. Eine Inschrift besagte, daß unter dieser allegorischen Darstellung die beiden Vettern Hans und Karl von Gorski zu verstehen wären. Nur eine Ecke auf dem goldenen Untergrunde war noch frei. Gaston schob mit einem Lächeln die Dose in die Brusttasche: da war er ja, der gute Vorwand! In ein paar Tagen überbrachte man das kostbare Fundstück persönlich, und inzwischen war auf der letzten freien Ecke von einem geschickten Goldschmied ein Kleinod ganz besonderer Art eingefügt worden zur Erinnerung an die Stunde der ersten Begegnung. Ein tiefblauer kleiner Saphir von altertümlich flachem Schliff, der ein winziges Zeichen trug. Man mußte eine Lupe zu Hilfe nehmen, um es zu erkennen: der gefiederte Sarazenenpfeil war es aus dem Wappenbilde der Foucar, mit dem sie zeichneten, was ihnen gehörte. Nach einer alten Familiensage stammte der Stein von einem Ringe, den ein Ahnherr am heiligen Grabe geweiht hätte, und sollte seinem Besitzer Glück bringen, ihn vor jeder Art von Gefahr bewahren. Wem aber wünschte er wohl von Herzen mehr Glück als dem blonden Mädel, das ihm ein gütiges Geschick hier in den Weg geführt hatte.

Er brauchte nur die Augen zu schließen, und er sah es wieder vor sich auf dem Platze da drüben ... die biegsame, schlanke Gestalt, das feine Gesichtchen mit dem lustigen Grübchen in der Wange und den klaren, blauen Augen. Ganz dunkel schienen sie in der Abwehr und leuchteten hell auf, wenn sie lachte. Allmählich aber verwischte sich das Bild. Es hing eine an seinem Halse, drängte sich ganz nahe an ihn und biß ihn in bitterem Trennungsweh, daß er sie nie mehr vergessen sollte und immer an ein Wort denken, das er selbst gesprochen hatte. Sie wäre für ihn die Herrlichste und Reinste auf der ganzen Welt. In einer Art von Trunkenheit hatte er es gesprochen, aber es stand da. Wahnsinn war es doch, zu denken, mit seiner raschen Flucht wäre alles zu Ende. Die Wirrsal fing jetzt erst an ... die Wirrsal für einen, den die Natur mit mancherlei Gaben ausgestattet hatte, nur nicht mit einem robusten Gewissen ...

Das Gewitter war vorübergezogen, kaum eine Viertelstunde hatte es gedauert. Nur im Westen stand noch eine dunkle Wolkenwand, von der untergehenden Sonne wie mit Blut und Feuer übergossen. Der Zug hielt im freien Felde. In der Ferne blaute ein See mit spärlich bewaldeten Ufern, ein schlanker Kirchturm, dessen Kreuz im Sonnenlicht blitzte, ragte zwischen roten Ziegeldächern in die Höhe.

Auf dem anderen Gleise rollte ein langer Zug vorüber. Mehr als fünfzig Wagen zählte Gaston, alle mit Menschen dicht besetzt. An den Oeffnungen der Türen und Fenster drängten sie sich Kopf an Kopf, schauten mit einer Art stumpfer Neugierde heraus. Gesichter von fremdartigem Schnitt ... kleine blaue Augen über breiten Backenknochen, stumpfe Nasen und blondes Haar. Die Frauen in bunten Tüchern, die Männer in grauen Röcken, breitschirmige Mützen tief in die Stirn gezogen.

Der aus seinem Bremserhäuschen gestiegene Schaffner gab unaufgefordert die Erklärung: »Polnische Auswanderer. Jeden Tag kommen vier solcher Züge von der Grenz'. Alles wegen dem Krieg. Da drüben haben se, scheint's, noch mehr Angst wie bei uns. Möcht's man endlich losgehen, sonst reißen se uns noch alle aus.«

Gaston nickte.

Ja, wenn's nur endlich losgehen wollte!

Dann wäre er mit einem Schlage aus aller Wirrsal heraus gewesen – – –


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