Georg Simmel
Bemerkungen zu socialethischen Problemen
Georg Simmel

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I.

Bei dem Verhältniss zwischen der Ausbildung der Individualität und dem socialen Interesse ist vielfach zu beobachten, dass die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. Haben wir zwei sociale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzirung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äusserlichen und innerlichen Anlagen und deren Bethätigung verschärfen sich durch die Nothwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Concurrenz bildet bekanntlich die Specialität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Processes in M und N gewesen sei, so muss er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, dass, je grösser die Unähnlichkeit der Bestandtheile von M unter sich und derer von N unter sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen finden werden, die solchen im andern ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Complex für sich gültigen Norm muss nothwendig eine Annäherung der Glieder des einen an die des andern erzeugen. Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter noch so verschiedenen socialen Gruppen die Formen der Differenzirung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Concurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern u. s. w. Die Wirkung dieses Processes – von der bloss formalen Seite – kann man häufig in der internationalen Sympathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und die von dem specifischen Inhalt des Wesens, der sonst über Anziehung und Abstossung entscheidet, in wunderlicher Weise unabhängig ist. Nachdem der sociale Differenzirungsprocess zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig geführt hat, bringt die bloss formale Thatsache einer bestimmten socialen Stellung die durch sie charakterisirten Mitglieder der verschiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch äusserliche Beziehung.

Dazu kommt, dass mit einer solchen Differenzirung der socialen Gruppe die Nöthigung und Neigung wachsen wird, über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die anfängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisirung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu andern Gruppen zu setzen. Von vielen Beispielen dafür nur eines, aus der Geschichte der Zünfte. Während ursprünglich in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität der Production einschränkte, die alle Andern gleichfalls leisteten, andrerseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes vor Ueberflügelung durch den Andern zu schützen suchte – war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der Undifferenzirtheit aufrecht zu halten. Der durch irgend welche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fügen, nur das eigne Fabrikat zu verkaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle zu halten, und Aehnliches. Indem er aber das Recht dazu, zum Theil unter schweren Kämpfen, gewann, musste ein Doppeltes eintreten: einmal musste sich die ursprünglich homogene Masse der Zunftgenossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Capitalisten und Arbeiter differenziren; nachdem das Gleichheitsprincip einmal so weit durchbrochen war, dass Einer den Andern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine Kenntniss der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin, wählen durfte, so mussten eben jene persönlichen Eigenschaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch steigern, und zu immer schärferen Specialisirungen und Individualisirungen innerhalb der Genossenschaft und schliesslich zur Sprengung derselben führen. Andrerseits aber wurde durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen über das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, dass der Producent und der Händler, früher in einer Person vereinigt, sich von einander differenzirten, gewann der letztere eine unvergleichlich freiere Beweglichkeit und wurden früher unmögliche commercielle Anknüpfungen erzielt. Es war also eine zwiefache Richtung, in der die Entwicklung von dem engen homogenen Zunftkreise aus führte und die in ihrer Doppelheit die Auflösung desselben vorbereiten sollte: einmal die individualisirende Differenzirung und dann die an das Ferne anknüpfende Ausbreitung. So begründet sich die im ersten Satz ausgesprochene Beobachtung: die Individualisirung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen. Ein ganz entsprechendes Verhältniss findet sich in der Thier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Hausthierrassen (und dasselbe gilt für die Culturpflanzen) ist zu bemerken, dass die Individuen derselben Unterabtheilung sich schärfer von einander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unterabtheilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei uncultivirten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbildung durch Cultivirung bewirkt also einerseits ein schärferes Hervortreten der Individualität innerhalb der eignen Abtheilung, andrerseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer grösseren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn es uns versichert wird, dass die Hausthierrassen uncivilisirter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen als die bei Culturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Abtheilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. Und hierin ist die Entwicklung der Thiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich, dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber: je enger die Synthese innerhalb des eignen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Cultur wächst die Differenzirung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, dass die breiten ungebildeten Massen eines Culturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Charakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat.

Dieser Gedanke lässt sich auch verallgemeinernd so wenden, dass in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Und umgekehrt: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns bethätigen und dem unsre Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unsrer Individualität, aber als Theile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell – gerade wie ein sehr allgemeiner Begriff den unter ihm enthaltenen Einzeldingen einen grossen Spielraum für specifische Differenzen lässt. Das erstere Correlationsverhältniss zeigt sich z.B. in dem Zusammenbestehen von communaler Gebundenheit mit politischer Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der Mongolenkämpfe gab es in Russland eine grosse Anzahl territorialer Einheiten, Fürstenthümer, Städte, Dorfgemeinden, welche unter einander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zusammengehalten wurden und also als Ganze grosser politischer Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit des Individuums an die communale Gemeinschaft die denkbar engste, so sehr, dass überhaupt kein Privateigenthum an Grund und Boden bestand, sondern allein die Commune diesen besass. Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Gemeinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und gewiss auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, entsprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem weiteren politischen Kreise. Die Kreise der socialen Interessen liegen concentrisch um uns: je enger sie uns umschliessen, desto kleiner müssen sie sein. Daher kommt es, dass eine starke Ausbildung der Individualität und eine starke Werthschätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Gesinnung paart; dass umgekehrt die Hingabe an eine eng begrenzte sociale Gruppe Beides verhindert. Da nun aber, in Vererbung von den Anfängen der socialen Bildung und ihren Erfordernissen her, die Mehrzahl der Menschen Sittlichkeit nur in dem Altruismus im Sinne der engeren Gruppe zu erblicken weiss, so entsteht dadurch der Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig auf grossen Männern lastet – weil die objectiven Ideale, von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen weit über den engeren, sie umgebenden Kreis hinausreichen und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Hinausragen ihrer Individualität über den socialen Durchschnitt gegeben ist; um so weit sehen zu können, muss man über die Nächststehenden hinwegblicken.

Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Beziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen: je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm bloss als Menschen zukommen, in den Vordergrund des Interesses treten, desto enger muss die Verbindung sein, die ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg zu Allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht, und ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt. Für diese Correlation liefert die stoische Lehre ein deutliches Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschliesslich zur Aegide der stoischen Praxis, dass der Zusammenhang der Individuen unter einander nur als Mittel zu jenem idealen individualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser Vernunft, deren Realisirung im Individuum das stoische Ideal bildet, hat jeder Mensch Theil, sie schlingt, über alle Schranken der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um Alles, was Mensch heisst. Und so hat denn der Individualismus der Stoiker ihren Kosmopolitismus zum Complement; die Sprengung der engeren socialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Ueberlegung begünstigt, schob, unserm vorangestellten Princip zufolge, den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem Individuum hin, andrerseits nach jenem weitesten Kreise, dem jedes menschliche Individuum als solches angehört.

Man muss im Auge haben, dass dies ein continuirlicher Process ist; dass nicht etwa nur die Extreme des Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch und ethisch berühren, sondern dass schon auf den Wegen zu diesen von der socialen Gruppe aus die zurückgelegten Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen. Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel-, sondern auch für Collectivindividuen. Die Entwicklungsgeschichte der Familienformen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden. Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie reconstruirt haben) durch die Geltung der männlichen Macht verdrängt war, war es zunächst nicht sowohl die Thatsache der Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine darstellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine bestimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zugekaufte, Angeheirathete und deren ganze Familien u. s. w. befanden und unter einheitlichem Regimente zusammengehalten wurden. Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen Familie heraus differenzirt sich erst später die jüngere der blossen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein selbständiges Haus ausmachen. Diese war natürlich bei Weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene umfassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte sich ihr Zusammenschluss zu einem nun viel grösseren staatlichen Ganzen. Jene ältere Gruppe konnte allenfalls sich selbst genügen, sowohl zur Beschaffung des Lebensunterhaltes wie zur kriegerischen Action; hatte sie sich aber erst in kleine Familien individualisirt, so war aus naheliegenden Gründen der Zusammenschluss der letzteren zu einer nun erweiterten Gruppe möglich und erfordert. Die Functionen, die das Ganze als solches übt, ermöglichen ihm eine um so umfassendere Grösse, je specialisirter seine Theile sind. Für dieses Reciprocitätsverhältniss von Individualisirung und Verallgemeinerung finden wir ein Beispiel auf äusserlicherem Gebiet. Wir vernehmen von Reisenden, und können es auch in gewissem Masse leicht selbst beobachten, dass bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volksstamme alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich erscheinen, und zwar in um so höherem Masse, je verschiedener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A. nimmt diese Differenz das Bewusstsein so sehr gefangen, dass die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor verschwinden. Mehr und mehr aber treten sie hervor, je länger man diese zunächst gleichförmig erscheinenden Menschen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Bewusstsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als geschlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, gewöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, dass sie in demselben Masse als uns homogener erscheinen, in dem sie als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhältniss, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird.

In diesem Beispiel liegt angedeutet, dass nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der psychologischen Vorstellungsart die Correlation zwischen dem Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der Gruppe statthat; auch unsere Begriffsbildung nimmt den Weg, dass zunächst eine gewisse Anzahl von Objecten nach sehr hervorstechenden Merkmalen in eine Kategorie einheitlich zusammengefasst und einem andern ebenso entstandenen Begriffe schroff entgegengestellt werden. In demselben Masse nun, in dem man neben jenen zunächst auffallenden und bestimmenden Qualitäten andere entdeckt, welche die unter dem zuerst concipirten Begriff enthaltenen Objecte individualisiren – in demselben müssen die scharfen begrifflichen Grenzen fallen. Die Geschichte des menschlichen Geistes ist voll von Beispielen für diesen Process, von denen eines der hervorragendsten die Umwandlung der alten Artlehre in die Descendenztheorie ist. Die frühere Anschauung glaubte zwischen den organischen Arten so scharfe Grenzen, eine so geringe Wesensgleichheit zu erblicken, dass sie an keine gemeinsame Abstammung, sondern nur an gesonderte Schöpfungsacte glauben konnte; das Doppelbedürfniss unseres Geistes, einerseits nach Zusammenfassung, andrerseits nach Unterscheidung befriedigte sie so, dass sie in einem einheitlichen Begriff eine grosse Summe von gleichen Einzelnen einschloss, diesen Begriff aber um so schärfer von allen Andern abschloss, und, wie es entsprechend der Ausgangspunkt der oben entwickelten Formel ist, die geringe Beachtung der Individualität innerhalb der Gruppe durch um so schärfere Individualisirung dieser den andern gegenüber und durch Ausschluss einer allgemeinen Gleichheit grosser Klassen oder der gesammten organischen Welt ausglich. Dieses Verhalten verschiebt die neuere Erkenntniss nach beiden Seiten hin; sie befriedigt den Trieb nach Zusammenfassung durch den Gedanken einer allgemeinen Einheit alles Lebenden, welche die Fülle der Erscheinungen als blutsverwandte aus einem ursprünglichen Keime hervortreibt; der Neigung zur Differenzirung und Specification kommt sie dadurch entgegen, dass ihr jedes Individuum gleichsam eine besondere, für sich zu betrachtende Stufe jenes Entwicklungsprocesses alles Lebenden ist; indem sie die starren Artgrenzen flüssig macht, zerstört sie zugleich den eingebildeten wesentlichen Unterschied zwischen den rein individuellen und den Arteigenschaften; so fasst sie das Allgemeine allgemeiner und das Individuelle individueller als die frühere Theorie es konnte. Und dies eben ist das Complementärverhältniss, das sich auch in den realen socialen Entwicklungen geltend macht. Ich halte es nicht für unmöglich, dass eine sehr tief gelegene ursächliche Beziehung zwischen der realen und der psychologischen Form dieses Verhältnisses existirt; und zwar einerseits so, dass die geistige Beschränktheit auf oberflächliche Artbegriffe auch auf die vorurtheilsvolle sociale Abschliessung hingewirkt habe; andrerseits so, dass die aus praktischen Gründen erforderte Exclusivität der relativ kleinen Gruppe einen Einfluss auf die Bildung der Vorstellungen von der Zusammengehörigkeit der Lebewesen, von ihrer Eintheilung in Gruppen, von dem Verhältniss der Individuen zu einander und zum Ganzen u.s.w. geübt habe; und weiter würde dann auch der Fortschritt in der einen Beziehung in Wechselwirkung mit dem in der andern gestanden haben. Dies indess gehört, der zweitgenannten Seite nach, in das grosse und erst der zukünftigen Forschung vorbehaltene Gebiet der Wirkungen, die von den rein praktischen Lebensgestaltungen auf das rein theoretische Verständniss der Dinge ausgegangen sind.

II.

Die griechische Sittenlehre weist in ihren Hauptvertretern durchgehends das Dogma vom Zusammenfallen der Tugend und der Glückseligkeit auf. Der Socratische Satz von der Unfreiwilligkeit des Bösen und der Lehrbarkeit der Tugend ist nur auf dieser Grundlage zu verstehen; wo das Individual- und das Socialinteresse zusammenfallen, wo mit einer und derselben Handlungsweise beide befriedigt werden, da und nur da ist es freilich nichts als eine Thorheit, diese Handlung nicht zu vollbringen; bin ich sicher, dass sich in jeder Lage ein Benehmen ausfinden lässt, das zugleich egoistisch nützlich und social sittlich ist, so besteht Sittenlehre nur in der theoretischen Anweisung, diese Handlungsweise herauszufinden.

Nehmen wir mit der griechischen Philosophie an, daß Sittlichkeit der Weg, und zwar der einzige, zum Glück ist, so ist allerdings Niemand freiwillig böse, weil dies hiesse, sich freiwillig unglücklich machen. Dass Aristoteles gegen diesen Satz polemisirt, macht keinen Unterschied in der Grundanschauung: auch für ihn bilden Tugend und Glückseligkeit, in der vernunftgemässen Thätigkeit zusammengebunden, eine vollkommene Harmonie und die wahre Selbstliebe, der höchste Eigengewinn realisirt sich ihm in den Thaten der höchsten, eventuell Alles aufopfernden Sittlichkeit; wenn er daher auch Socrates gegenüber auf den Willenscharakter der sittlichen Handlung, der mit der theoretischen Einsicht nicht zu verwechseln sei, aufmerksam macht, so kann sich doch selbst seine eigene Lehre nicht gegen die Consequenz wehren, dass beim Zusammenfallen von Tugend und Glückseligkeit nur Thorheit uns zu falschem Handeln veranlassen könnte, da richtige Einsicht uns zeigt, dass wir uns bei tugendhaftem Handeln auch in egoistischer Beziehung am besten stehen. Wir brauchen nicht zu zweifeln, dass die Philosophie hiermit einer allgemeinen Ueberzeugung Ausdruck gegeben habe; und wieviel Täuschung dabei auch mit untergelaufen sei, so scheint mir doch, als ob die socialen Verhältnisse Griechenlands das Zusammenfallen von Tugend und Glückseligkeit, die Harmonie des egoistischen mit dem altruistischen Interesse zu einem geringeren Irrthum gemacht hätten, als ihm die gleiche Behauptung für unsere Verhältnisse unterliegt. Was dafür zunächst in Betracht kommt, ist die autokratische Stellung des Mannes innerhalb seines Hauses. Wenn es die Fälle des Conflictes zwischen dem eigenen Wohl und seiner pflichtmässigen Hingabe an das eines Andern oder zwischen den von entgegengesetzten Seiten her gestellten und gleichmässig begründeten Ansprüchen an Pflichterfüllung sind, die jene Harmonie verhindern, so werden sie sich in demjenigen Kreise auf ein Minimum reduciren, wo der Wille einer Person und ihr Interesse von vornherein das Bestimmende ist, wo die andern Angehörigen dieses Kreises keine überhaupt zu Worte kommenden Sonderinteressen besitzen. So aber lagen, den unsrigen gegenüber, die Verhältnisse der classischen Familie. Unzählige Differenzen innerhalb des Familienkreises werden bei uns durch die relative Selbständigkeit und Gleichberechtigung der Mitglieder eines Hausstandes hervorgerufen; auch dem Familienhaupte gegenüber schreibt sich der Einzelne oft Recht und Pflicht zu, ein Sonderinteresse oder eine abweichende Handlungsweise durchzuführen und schafft damit nicht nur eine einfache Collision, sondern stellt auch dritte Personen in den häufig tragischen Conflict der Parteinahme. Solche Fälle wurden von vornherein da abgeschnitten, wo der Wille des Familienhauptes der allein bestimmende war und dadurch für die Abwägung egoistischen und altruistischen Handelns ein Mass und eine Bestimmung a priori gab, die uns vielfach fehlt. Wie es bei aufrichtiger und consequenter theokratischer Denkweise eigentlich keinen Conflict, weder zwischen Selbstsucht und Sittlichkeit, noch zwischen divergenten Pflichten geben kann, so müssen auch in einem socialen Kreise derartige Conflicte in demselben Masse seltener sein, in dem ein einheitlicher Wille allen Sonderwillen ihren Inhalt giebt. Es wäre ein psychologischer Irrthum, den auf eudämonistische Interessenharmonie hinausgehenden Erfolg dieses Verhältnisses durch den Gedanken anzuzweifeln, dass gerade diese Alleinherrschaft eines Willens im Hause alles Leiden und alle Gegenstrebungen zur Folge haben müsse, die die Tyrannei eben hervorrufe. Thatsächlich verhält sich dies anders; wenn ein ursprünglicher Zwang der Form nach durch viele Generationen vererbt und in der ganzen Breite der mitlebenden geübt wird, so wächst er allmählich zu einer als sittlich empfundenen Pflicht aus. Ein Wille, der seine Interessen zunächst anderen Willen in heteronomer Weise aufgezwungen hat, wird durch Gewöhnung zum autonomen Inhalte derselben; der Eigenwille wird durch die andauernde Unmöglichkeit, seine von dem herrschenden abweichenden Tendenzen durchzusetzen, schliesslich diesem vollkommen angepasst und will dann auch von selbst gar nichts Anderes, als für die Interessen jenes leben – ein Vorgang, der sowohl in individual- wie in socialpsychologischer Hinsicht unendlich oft zu beobachten und auf ein »Princip des kleinsten moralischen Zwanges« zurückzuführen ist. Indem so im antiken Hauswesen der naive Egoismus des Familienvaters sich widerstandslos durchsetzte und die eudämonistischen Wünsche der Hausangehörigen, insoweit sie der hierdurch bestimmten Pflicht sich entgegenstellten, auf ein Minimum reducirt wurden, musste die Reibung zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Glückseligkeit und Tugend, der heutigen Familienverfassung gegenüber eine geringe sein.

Was diese Reibung auf anderem Gebiete gleichfalls im Gegensatz zu heute sehr milderte, war das Fernbleiben des griechischen Bürgers von eigentlicher Erwerbsthätigkeit. Die commerciellen Thätigkeiten sind es besonders, die immerzu Interesse gegen Interesse wachrufen, und zwar nicht nur die des Einzelnen gegen einen andern Einzelnen, sondern gegen einen ganzen Kreis; die Concurrenz nimmt in ihnen die ausgeprägteste Form an und stellt die Wünsche und Bestrebungen des Einen in vollen Gegensatz zu denen des Andern. So hat denn auch dieser relative Kriegszustand zu einer Legalisirung von Handlungsweisen für das commercielle Leben geführt, die in den sonstigen Beziehungen von Mensch zu Mensch als unsittlich gebrandmarkt sind – wie eben vor dem Kriegsrecht die sonstigen Normen der Billigkeit und des Altruismus schweigen; so dass sogar hochsittliche Männer es in unsern Tagen aussprechen konnten, die Sittlichkeit begönne erst da, wo das Wirthschaften aufhöre. Ueber diese Wirkung des Erwerbslebens scheinen die griechischen Denker auch keinen Zweifel gehabt zu haben. Aristoteles lässt als geziemenden Erwerb nur den Landbau gelten; denn dieser sei der allein gerechte, weil er seinen Nutzen nicht von Menschen nimmt und nicht, wie der eigentliche Handel, auf Kosten und durch die Beraubung Anderer erwirbt. Plato ist sich ganz klar darüber, dass die Gütergemeinschaft, die er für die oberen Stände seines Staates verlangt, nur dem Zwecke der Aufhebung egoistischer und widerstreitender Interessen dienen soll. Der als Pythagoreer genannte Hippodamos betrachtet es als eine Ursache für die Verschlechterung der Verfassung, wenn in einem Lande sich eine (aus Fremden bestehende) Menge befindet, die ihr Trachten auf Gelderwerb durch Handel richtet; dagegen sei ein Mittel, die Eintracht unter den Bürgern zu erhalten, dieses, dass sie bei mässigem Besitz ihren Unterhalt aus dem Ackerbau ziehen. In der That wird mit diesen ökonomisch ethischen Vorschriften nur die Wirklichkeit der griechischen Verhältnisse in Etwas idealisirt. Die Zurückhaltung des griechischen Vollbürgers vom Wirthschaftsleben verstopfte eine Quelle unzähliger Interessenkämpfe und Conflicte zwischen Egoismus und Altruismus und beseitigte mit der auf ökonomischem Gebiet besonders starken Versuchung, das Glück auf Kosten der Ehrlichkeit und Tugend zu vermehren, zugleich ein wesentliches Moment der Discrepanz dieser beiden.

Der allgemeine Grund aber, aus dem eine solche dem damaligen Griechen nicht in's Bewusstsein trat, lag in seiner Hingabe an die Interessen des Staates, mit der die vorher genannten Momente allerdings causal verbunden sind. Ebenso naiv, wie der Egoismus des Griechen seinem Hause und seinen Sklaven gegenüber war, ebenso unmittelbar und selbstverständlich war es, dass er sein Denken und Thun in den Dienst seines Staates stellte. Die Tugend, die hierin bestand und als wesentlichste von ihm verlangt wurde, stellte sich um so weniger in einen Gegensatz zum Eigeninteresse, als die griechischen Staatswesen klein genug waren, um den Einzelnen leicht überblicken zu lassen, welcher Eigenvortheil aus der Förderung des Gesammtwohles auf ihn zurückfallen musste. Gerade aus diesem ursprünglich egoistischen Moment konnte sich jene reflexionslose sociale Hingabe des griechischen Staatsbürgers heranbilden, die es dann auch in Fällen, wo wir eine Discrepanz zwischen egoistischem und socialem Interesse erblicken, zu einer eigentlichen Collision in seinem Innern nicht kommen liess; der aristokratische Communismus, der die Form der griechischen Staatswesen in ihrer Blüthezeit wesentlich bestimmte, machte von vornherein das Gefühl einer durchgehenden Spaltung zwischen Eigeninteresse und Socialinteresse, also zwischen Glückseligkeit und dem, was der Grieche Tugend nannte, unmöglich.

Die Griechen hatten im Leben wie in der Kunst nur einen Stil und dies erleichterte ihnen die Lebenskunst in hohem Grade. Der Satz, dass nur der Tugendhafte glücklich ist, spiegelt nur diese ungebrochene Einheitlichkeit des Wesens wieder, für die die erwähnten socialen Verhältnisse nicht weniger Ursache als Folge waren. Wenn Kant es also der griechischen Philosophie zum Vorwurf macht (wobei er freilich nur an Stoiker und Epikureer denkt), dass sie »zwischen äusserst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend Identität ergrübeln« wollten, so liegt dies nicht sowohl an einem Denkfehler, wie er es auffasst, als vielmehr an den völlig von den unsern abweichenden socialen Verhältnissen. Die Lücken und Beschränktheiten, welche die griechische Weltanschauung und Lebensordnung für unser Empfinden aufwies, betrafen Stellen, die den Zusammenschluss, dieser zu einem einheitlichen, in sich befriedigten Ganzen nicht hinderten (*Sogar die uns so lasterhaft und widernatürlich erscheinende Päderastie können wir nicht umhin, in gewisser Hinsicht als Beweis für den harmonischen Sinn der Griechen anzusehen. Bei der Niedrigkeit der geistigen und socialen Stellung, die die griechische Frau zur classischen Zeit einnahm, konnte der Mann bei ihr keine vollkommene Befriedigung finden; und so trieb ihn denn das Bedürfniss der Harmonie, schliesslich auch die körperliche Befriedigung da zu suchen, wo er die geistige fand, bei Männern.*); und für diesen ist das Dogma vom Zusammenfallen von Tugend und Glückseligkeit eigentlich nur ein analytischer Ausdruck. Ich will doch erwähnen, dass bei den Schriftstellern der vorclassischen Zeit der Optimismus, der sich in dem Letzteren ausspricht, viel weniger zu bemerken ist; ja, bei Theognis, aber auch sonst, finden sich gerade entgegengesetzte Vorstellungen, von dem Wohlbefinden der Frevler, dem Elend der Gerechten, u. ähnl. Allein gerade die socialen Verhältnisse, die mir jene Ueberzeugung psychologisch verständlich zu machen scheinen, waren in der früheren Zeit andere. Erst durch die bekannten, jahrhundertelangen Umwälzungen wurden die griechischen Staatswesen dem socialen Ideal angenähert, dessen höchste Verkörperung das Athen der Perserkriege ist; es fehlte in jenen früheren Zeiten das völlige Aufgehen des Individuums in den Staatszwecken, nebst seinen Folgen. Wir wissen, dass die griechische Frau in der vorclassischen Zeit eine selbständigere und hervorragendere Stellung hatte, dass der Bürger sich noch nicht von dem eigenen wirthschaftlichen Erwerbe fernhielt, dass das Leben in der Oeffentlichkeit und für sie, das diese Zustände änderte, noch nicht den Einzelnen völlig beanspruchte. Und so mag denn gerade das Fehlen jenes Dogmas vom Zusammenfallen von Glückseligkeit und Tugend in der früheren Zeit eine negative Instanz dafür sein, dass erst die sociologischen Verhältnisse, durch welche die spätere sich von dieser schied, ihm die Möglichkeit des Entstehens gaben.

III.

Trotz aller Schriften über den russischen Nihilismus ist doch der tiefste psychologische Grund noch nicht genügend klar gelegt, der einen so bedeutenden Bruchtheil der besseren russischen Gesellschaft dem Socialismus in die Arme getrieben hat. Den Ausgangspunkt des Nihilismus bildet offenbar jene pessimistische, weltschmerzliche und weltmüde Stimmung, in der die russischen Dichter so gern ihre Helden hinleben lassen; und die völkerpsychologische Ursache dieser ist freilich nicht schwer einzusehen. Sie liegt in der unvermittelten und unorganischen Einführung in die westeuropäische Cultur, für welche die halbasiatischen Elemente des russischen Wesens noch nicht reif waren; es ist eine vielfach bewährte Regel, dass die plötzliche Berührung relativ uncultivirter Völker mit hochcultivirten die schwerste Schädigung jener, ja, bei Naturvölkern vielfach den Untergang herbeiführt. Die Ideale in intellectueller, socialer, politischer Beziehung, von denen das Bewusstsein und an denen die Arbeit für das übrige Europa das endliche langsam erreichte Resultat ausgedehnter Mühen ist – sie wurden, eigentlich schon von Peter dem Grossen an, dann aber besonders, als selbst die eiserne Faust von Zar Nicolaus die Wirkungen des erleichterten europäischen Verkehrs nicht aufheben konnte, dem russischen Geiste eingeflösst; aber dessen organische Entwicklung war zum Theil noch nicht so weit gelangt, um sie mit Nutzen aufzunehmen, zum Theil überhaupt entgegengesetzt gerichtet; und aus deutlichen Gründen wirkt ein leidenschaftlich ergriffenes Ideal, von dem wir die Wirklichkeit sehr abweichen sehen, zerstörend, auf Weltschmerz und Pessimismus hin, so lange nicht die Kraft und die Bedingungen da sind, an seiner Realisirung positiv zu arbeiten; aus eben diesem Grunde sind idealistische Jünglinge so oft weltschmerzlich angekränkelt – nur das Wirken und Schaffen im Dienst des Ideals vermag uns vor dem Pessimismus zu bewahren, der aus der Vergleichung jenes mit der Wirklichkeit hervorgeht (*Hier mag auch die psychologische Ursache des indischen Pessimismus liegen. Die lebhafte und üppige Phantasie der Inder hatte die pantheistische Vorstellung des Brahman, des all-einen und all-guten Princips, gebildet; und an diesem Ideal gemessen schien alle Wirklichkeit werthlos, elend, leidenerfüllt. Der Pessimismus war so der Schatten, den das blendende Licht der Brahmanidee warf, und deshalb werfen musste, weil jene Indolenz, mit der die klimatischen und die socialen Verhältnisse den indischen Nationalcharakter inficirten, es verhinderte, dass durch kräftige reale Arbeit die Brücke geschlagen werde, die allmählich von der Wirklichkeit zum Ideale führen konnte, vielmehr zwischen beiden den klar erkannten Abgrund bestehen liess, an dem sich der eigenthümliche theoretische Nihilismus der Inder anbaute.*). Und zu jenem fehlten, im Hinblick auf die westeuropäischen Culturideale, in Russland die inneren wie die äusseren Bedingungen.

Aus diesem Verhältniss lässt sich wohl der Nihilismus der sechziger Jahre verstehen, dessen Anhänger alles Bestehende verwarfen und seine völlige Werthlosigkeit erklärten, aber noch keineswegs Socialisten waren, sondern, von diesem Bestehenden dennoch ausgehend, an der friedlichen Hebung der individuellen und socialen Verhältnisse arbeiten wollten. Allein der Zusammenhang jenes Pessimismus, der sich ursprünglich keineswegs nur auf die socialen Zustände bezog, mit dem Communismus, in den er schliesslich auslief, ist so noch nicht erklärt.

Vielleicht liegt der gesuchte Zusammenhang darin, dass die vom Socialismus erstrebte Beseitigung aller Unterschiede eine Vorstufe zur Beseitigung aller bestimmten Qualität überhaupt ist, wie der nihilistische Pessimismus sie wünschen muss. Jene »Allgestaltlosigkeit«, mit der man treffend das Ideal des extremen Nihilismus bezeichnet hat, wird in einer wesentlichen Beziehung durch das socialistische Ideal verwirklicht, das sich jenem Urbrei nähert, in dem es gar keine Unterschiede und deshalb gar keine specifischen Empfindungen mehr gibt. Wer mit dem Nihilismus der mephistophelischen Teleologie huldigt: »Denn Alles, was entsteht, ist werth, dass es zu Grunde geht« etc., der muss zunächst die extremste communistische Aufhebung aller Unterschiede innerhalb der Menschenwelt befürworten, weil mit dem Verschwinden alles Individuellen und Specifischen zugleich aller eigentliche Inhalt des Lebens negirt wird.

Es ist möglich, dass die mechanistisch-materialistische Weltanschauung, die das junge Russland in Folge seiner Vorliebe für die Naturwissenschaften adoptirt hatte, jene Beschäftigung mit den socialen Fragen als Reaction erzeugte oder erzeugen half. Diese Vorliebe artete zur Modemanie aus und zu jenem übertriebenen Grade, den Theorien dort anzunehmen pflegen, wo man sie sich nur von der Aussenseite aneignet. Da mag sich denn alle Gemüthswärme, die sich an keinen Punkt der äusseren, mechanisirten Natur mehr heften konnte, auf die sociale Welt zurückgewandt und concentrirt haben; dem Trieb des Herzens, sich hinzugeben, der in dem seelenlosen Spiel starrer Atome keine Stätte mehr findet, bleiben nur die rein menschlichen Interessen. Und dass bei der Eigenart des russischen Geistes, alles einmal Ergriffene mit ebenso einseitiger als leidenschaftlicher Consequenz zu verfolgen, das sociale Interesse gleich zum Communismus ausartete, ist leicht zu verstehen. Es ist auch vielleicht nicht ausgeschlossen, dass sogar bei den andern Nationen das neu erwachte ethische und sociale Interesse wenigstens theilweise ein Complement des immer durchgreifenderen Mechanismus der theoretischen Weltanschauung sei, die die Befriedigung der Gemüthsbedürfnisse, wie sie frühere Zeiten aus vermeintlichen Erkenntnissen des Wesens der Dinge schöpften, immer mehr als Anthropomorphismen und metaphysische Träume zu verwerfen lernt.


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