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Siebenter Vortrag

Die Menschheitswerte und die Dekadenz

Wie Schopenhauer nur einen einzigen absoluten Wert kennt: Nicht-Leben – so kennt Nietzsche gleichfalls nur einen: Leben. Wie für jenen alle sonst als selbständig anerkannten Werte: Schönheit und Heiligung, metaphysische Vertiefung und Sittlichkeit nur Mittel sind, die auf das Endziel der Verneinung des Lebens ausgehen, so sind diese und alle andern Güter und Vollkommenheiten für Nietzsche ein Mittel der Bejahung und Steigerung des Lebens. Mit dem definitiven Werte der Lebensverneinung hat Schopenhauer das Mittel gefunden, den Bewegungen des Lebens eine ideale Einheit zu geben, die doch nicht ein Endzweck ist – denn der Zweck des Lebens kann es nicht wohl sein, nicht mehr zu leben, vielmehr ist dies eine ganz einzigartige, der teleologischen ganz fremde Sinngebung – und zugleich mit dem absoluten Zweck doch auch die relativen aufzuheben, wie die Entwicklungsidee sie statuiert. Indem so das Leben rückwärts gedreht wird und einen Sinn nur an der Direktive, die es auf das tote Gleis führt, bekommt, wird die Aversion Schopenhauers gegen die »Geschichte« begreiflich. Er selbst freilich rechtfertigt sie anders: alle Wissenschaften und insbesondere die Philosophie habe es mit dem Zeitlosen und Allgemeinen zu tun, die Geschichte aber sei kein eigentlich würdiger Gegenstand des Geistes, weil sie sich nur mit dem Einmaligen und den individuellen Zufälligkeiten abgebe. Dies aber ist nur die logisch konstruierte Rechtfertigung für jene tiefer motivierte Abneigung gegen die Geschichte. Wo das Nacheinander der Tatsachen grundsätzlich jede Wertentwicklung ausschließt, können die Tatsachen sich nicht zu dem, was wir Geschichte nennen, zusammenfügen. Denn so fern man den Spekulationen stehen mag, die die Geschichte der Menschheit einem Endzweck und der Realisierung eines allbeherrschenden Wertes zuführen, so hängen doch die einzelnen Stadien abgegrenzter Epochen nur so zusammen, daß Ziele und Werte, in der einen angelegt, rudimentär, im Zustand des Strebens – in der andern zur Wirklichkeit, zu höheren Maßen, zu vollerem Sinne gelangen. Die Geschichte als Ganzes zeigt vielleicht keinen Sinn, Fortschritt, wirkliche »Entwicklung«; aber wenn diese Kategorien nicht die je einander folgenden Momente verknüpften, so gäbe es keine Geschichte, sondern nur ein Geschehen. Es verkündet von vornherein den tiefsten Gegensatz Nietzsches zu Schopenhauer, daß geschichtliche Vorstellungen sein ganzes Denken formen; die Wertbegriffe, deren Steigen und Sinken ihm den Sinn des Weltprozesses, soweit der Mensch ihn trägt, ausmacht, sind spezifisch historischer Natur, das Bedürfnis nach Erlösung, bei Schopenhauer zu einem bloßen Nein allem Leben gegenüber erstarrt, befriedigt sich für ihn in der endlosen geschichtlichen Entwicklung unsrer Art. Die von Schopenhauer statuierte Scheidung: das einmalige, zufällig-individuelle Sich-Ereignen des Geschichtlichen und die zeitlos wertvolle, allgemeine Idee – hebt Nietzsche auf, indem ihm die innerhalb unsrer Artentwicklung herausgebildeten Werte, die Höhe- und Konzentrationspunkte des geschichtlichen Lebens in die Region des absolut Gültigen, dessen, was schlechthin sein soll, hinaufgehoben sind. Es besteht bei ihm die eigentümliche Kombination, die er selbst übrigens nie in logischer Abstraktheit, sondern sozusagen immer nur in ihren konkreten Anwendungen denkt: daß all die menschlichen Qualitäten, in denen das Leben sich bejaht: Willensenergie und Vornehmheit, Denkkraft und Milde, Gesinnungsgröße und Schönheit – ihren Wert zwar dadurch gewinnen, daß durch ihr Auftreten die Menschheit aufwärts geführt wird, daß sie aber doch keineswegs bloß Mittel sind; sondern indem sie jenen allgemeinen Zweck realisieren, besitzen sie eine in sich unabhängige Bedeutung, sind absolute Werte, die ihren Wertcharakter keineswegs erst dem Zwecke entlehnen, zu dem sie Mittel sind. Denn auch jenes Höhere, dem sie den Boden bereiten, das gesteigerte Maß des Menschentums besteht in nichts anderem als in den immer höheren, immer intensiveren Erscheinungen aller jener Qualitäten. Das Leben, so sehr es eine Urtatsache ist, die und deren Wert nicht aus Ursprünglicherem zusammenwächst, sondern nur als einheitliche »erlebt« werden kann, ist andrerseits, wenn man es sozusagen als historische Erscheinung ansieht, nichts als der abstrakte Name, der einheitliche Aspekt für jene einzelnen wertvollen Beschaffenheiten und Energien. Daß diese vorhanden sind – das eben ist Leben und zugleich der Träger seiner wachsenden Intensität, während alles, was wir klein und feige, stupid und häßlich nennen, an sich ein Minder des Lebens und zugleich eine Minderung seiner Zukunft ist. Und weil es keine Grenze für die Fülle des Lebens gibt, haben jene Beschaffenheiten die einzigartige Stellung, in jedem Augenblick Zielstation und zugleich Durchgangsstation unsrer Wertverwirklichungen zu sein. In dieser Formulierung wird Nietzsches Lehre zur reinsten Darstellung des Entwicklungsgedankens, der den absoluten Wert in sich hineinzieht, statt ihn am Ende, also dem Prozesse selbst äußerlich, stehen zu lassen: die einzelnen Stadien des geschichtlichen Lebensprozesses, in denen er, rein als solcher, sich hebt und kondensiert, können trotz ihrer Relativität, ihres Stufencharakters dem künftigen, dem »Über«-Menschen gegenüber, von absolutem, nicht erst an ihren anderweitigen Folgen legitimiertem Werte sein, können diesen Wert rein als Sein, als Beschaffenheit besitzen – eben weil alle Zukunft, die sich über sie und aus ihnen baut, nur ein Mehr ihrer selbst ist, kein plötzlich, d. h. geschichtslos eintretender Umschwung des Daseins, wie ihn Kant und die Mystik, Schopenhauer und das Christentum lehren. Und so geht der geschichtliche Prozeß ins Unendliche, die Absolutheit des Wertes ist in seine relativen Stufen aufgelöst, kann an seinen vergänglichen und überleitenden Erscheinungen haften, ohne ihr Definitives, ihre nicht über sich hinausfragende Würde einzubüßen. Dadurch, daß das Leben sich in der Form des Geschichtlichen, d. h. des Endlichen, abspielt, kann es der absolute Wert sein, ohne daß der Weltprozeß ein Endziel – auch nur in der Idee – besäße.

Diese prinzipielle Vorstellung oder Empfindung von dem Wertsinn unsres Daseins, die gleichsam ideell in Nietzsche vorgezeichnet war, wurde nun durch die besondere Kulturlage, die er vorfand, in einer bestimmten, sein ganzes Denken beherrschenden Richtung theoretisch ausgemünzt. Oder vielleicht richtiger: weil die in jener Werttheorie ausgedrückte Stimmung ihn beherrschte, hat er die geschichtliche Welt, die er vorfand, in der folgenden Weise gedeutet. Im Lauf der Geschichte – dies ist sein grundlegendes Motiv – insbesondere seit dem Christentum, hat die Majorität, die naturgemäß aus den Schwachen, Mittelmäßigen, Unbedeutenden besteht, die äußere und innere Herrschaft über die Minorität der Starken, Vornehmen, Eigenartigen erlangt. Teils als Folge und Ausdruck, teils als Ursache davon sind die ursprünglichen moralischen Werte völlig umgewandelt worden. Es war, wie die Sprachgeschichte zeigt, ursprünglich »gut«, zu siegen, zu herrschen, seine Kraft und Vollkommenheit erfolgreich, wenn auch auf Kosten andrer, zu entfalten; der Schlechte war der Unterliegende, der Schwächliche, der Unvornehme. Diesen Wertgegensatz haben die demokratisch-altruistischen Tendenzen, wie sie am klarsten im Christentum herrschen, umgeprägt: gut ist jetzt der Selbstlose, der auf das Sich-Durchsetzen verzichtet, der für andere, für die Schwachen, Armen, Untenstehenden lebt; ja diese selbst, die Leidenden, Entbehrenden, Zukurzgekommenen, sind die eigentlich »Guten«, die Seligen, derer das Himmelreich ist. Und die begreifliche Folge davon ist, daß selbst die Starken, die von Natur Befehlenden, die innerlich und äußerlich Unabhängigen sich nicht mehr natürlich und unbefangen, sondern nur noch mit schlechtem Gewissen ausleben – vor dem sie sich retten, indem sie sich selbst nur als Ausführer höherer Befehle gebärden, der Autoritäten, des Rechts, der Verfassung oder gar Gottes; so heucheln die, welche herrschen, die Tugend derer, welche dienen. Diese Wendung der sittlichen Interessen nach unten, diese Wandlung der sittlichen Würde: daß sie nicht mehr der Steigerung des Lebens, seiner Fülle, Schönheit, Eigenart zukommt, sondern dem Verzicht zugunsten des Schwächeren, der Hingabe des Höheren an den Tieferen – muß unabwendlich eine Herabstimmung, Vermittelmäßigung des allgemeinen menschlichen Typus zur Folge haben. Das Herdentier Mensch ist dadurch, daß es sich selbst, nämlich die Majorität, die Unterdrückten, die Zurückgebliebenen, zum Sollensinhalt der höheren und höchsten Exemplare gemacht hat, zum Sieger über diese geworden. Während der gesunde Lebensinstinkt auf Wachstum, Häufung von Kräften, Willen zur Macht geht; während nur der Gehorsam gegen diese Antriebe die Gattung ins Höhere entwickeln kann, sind durch die Umbiegung der Ideale nach unten die Instinkte und Kräfte verstümmelt worden, die die Gattung nach oben treiben. Die christlichen, altruistisch-demokratischen Wertbegriffe wollen den Starken zum Diener des Schwachen, den Gesunden zum Diener des Kranken, den Hohen zum Diener des Niederen machen; und in dem Maße, in dem dies gelingt, verkümmern die Führenden auf das Niveau der Masse, und alle scheinbare Sittlichkeit der Güte, Herablassung, Hingabe, Entsagung bringt eine immer tiefere Heruntersetzung des Typus Mensch und seiner oberen, aufwärts gehenden Werte mit sich.

Der Angelpunkt in dieser Gedankenverkettung ist dies: das Christentum bedeutet die religiöse Weihe des sinkenden, verfallenden Lebens. Es gibt eine Äußerung des heiligen Franziskus – Nietzsche hat sie wohl nicht gekannt –, die die christliche Heiligung des Wertlosen, der Wertverneinung ohne jeden Vorbehalt zu bestätigen scheint: »Du willst wissen, warum mir die Menschen nachfolgen? Weil es die Augen des Höchsten also gewollt haben. Da sie unter den Sündern keinen geringeren, keinen unzulänglicheren, keinen sündigeren Menschen gefunden haben als mich, so haben sie mich auserwählt, um das wunderbare Werk zu vollbringen, das Gott unternommen hat; mich hat er erwählt, weil er keinen Niedrigeren finden konnte, weil er also Adel, Größe, Kraft, Schönheit und Weisheit der Welt zu schanden machen wollte«. Dennoch liegt hier ein ungeheures Mißverständnis Nietzsches vor, daher stammend, daß er keine spezifisch transzendente Natur, sondern eine auf Leben, Geschichte und Moral gestellte war. Darum blieb es ihm verborgen, daß ein wesentliches Maß seiner und der christlichen Wertungen unter dieselben Oberbegriffe gehören, wenn man nur die transzendenten Beziehungen und Glaubensvorstellungen des Christentums dazu nimmt und es nicht, wie Nietzsches Blickrichtung es freilich mit sich brachte, auf seine dem Irdischen zugewandten Rangierungen beschränkt. Vor allem: es kommt beiden ausschließlich auf die Seinsbeschaffenheiten des Individuums an, die für Nietzsche im Begriff des Lebens ihre Kulmination oder ihren Ausdruck gewinnen, im Christentum aber als Elemente einer höheren, göttlichen Ordnung, innerhalb deren sie ähnlich, wie ich es vorhin an dem Lebensbegriff Nietzsches zeigte, die eigentümliche Doppelstellung als Endwerte und als Glieder eines über sie hinweggreifenden Ganzen besitzen. Nietzsche übersieht im Christentum völlig diese Zuspitzung zu dem Eigenwerte der Seele, indem er das christliche Wertgefühl ausschließlich in den Altruismus verlegt. Nicht auf den, dem gegeben wird, sondern auf den, der gibt, nicht auf den, für den gelebt wird, sondern auf den, der lebt, kommt es Jesus an. Wenn der reiche Jüngling sein Gut an die Armen verschenken soll, so ist das keine Anweisung zum Almosengeben, sondern ein Mittel und Zeichen der Vollendung und Befreiung der Seele. Es handelt sich dabei um Unterschiede von der größten Zartheit, die in der praktischen Erscheinung nicht sichtbar werden, aber über den inneren Wertsinn des Lebens absolut entscheiden. Ob das Verhalten der Seele insoweit bedeutsam ist, als es ein Tun ist, auf Objekte gerichtet und an der Wirkung auf diese sein Recht und seinen Wert gewinnend – oder ob ihre Beschaffenheit, die sich in allem Tun nur ausdrückt oder seiner nur als eines Mittels zu sich selbst bedarf, alles Recht und allen Wert in sich trägt – dies ist die große Alternative. Dabei ist jene Betätigung keineswegs nur im Sinn des äußeren Erfolges gemeint, sie mag vielmehr als bloßer »guter Wille«, als die wie auch immer auslaufende Bestrebung der Seele verstanden werden; das Entscheidende für diese Seite der Alternative ist nur, daß die Betätigung am Objekt, am Wohl des Nebenmenschen, an der Herstellung eines Werkes der Sinn der moralischen Existenz, der Träger ihres Wertes ist, auch wenn solches Tun rein als Vorgang in der Seele selbst angesehen wird. Dies ist die Wertsetzung Kants, der Demokratie, der sozialen Ethik. Aber mit ganz prinzipieller Wendung legt das Christentum und legt Nietzsche allen Wert der Seele in ihre rein innerlichen Qualitäten, ihr nicht aus sich heraustretendes So-Sein. Gewiß tritt dieses tatsächlich im Handeln aus sich heraus, muß es und soll es; allein nicht in dieser zentrifugalen Richtung, so sehr sie auf ihren rein sittlichen Wert hin angesehen sein möge, sondern in der zentripetalen liegt der Wert des Handelns, das nur eine Offenbarung oder eine Förderung jenes Beschaffenseins der Seele ist. Dieses mag nun, inhaltlich und seinen Äußerungen nach, bei beiden aufs weiteste divergieren: die Form der Wertsetzung, die Lage des definitiven Wertpunktes ist die gleiche. Innerhalb des Christentums drückt ein kalvinistisches Motiv dies mit eigentümlicher Paradoxie aus. Jede Seele sei durch göttlichen Ratschluß zur Seligkeit oder zur Verdammnis vorherbestimmt, ohne daß irgend ein irdisches Tun ihrer auf dieses Schicksal den geringsten Einfluß üben könne. Niemand aber kenne seine Prädestination, und es gäbe für sie nur dieses Erkennungszeichen: der zur Seligkeit Berufene handle auf Erden sittlich und tüchtig, der von vornherein Verdammte sei unmoralisch und wertlos. Mit diesen verschiedenen Verhaltungsweisen würde nicht etwa das künftige Los verdient und erworben, denn es stehe als die Beschaffenheit der Seele fest, sie seien dieser gegenüber metaphysisch ganz irrelevant. Wenn der Mensch also gut und tugendhaft handle, so geschehe es nicht, weil dies an sich religiös wertvoll sei, sondern nur, weil er darin, daß er es tut, hier schon ein Erkenntnismittel für seine religiöse Wertbestimmtheit besitze. So wunderlich hiermit das Verhältnis zwischen dem sittlichen Tun und seinem Werte gedreht ist, es offenbart doch, daß es dem Christen im letzten Grunde nicht auf jenes, nicht auf Selbstlosigkeit, Hingebung, Demütigung als solchen, sondern ausschließlich auf die in sich ruhende Qualität der Person ankommt. Nietzsche hat dies nur verkannt, weil sein Blick nicht über jene inhaltlichen und Dokumentierungsverschiedenheiten hinaus auf den letzten Sinn der christlichen Wertsetzung ging. Der christliche Altruismus, so fern er dem Kraft- und Entwicklungsideal Nietzsches steht, teilt mit ihm doch den Gegensatz gegen alle im engeren Sinne bloß moralische und soziale Idealbildung: nicht in der altruistischen Handlung als solcher, sondern in der Heiligung und Seligkeit der Seele, die deren Innenseite bildet, liegt der abschließende Wert. Indem Nietzsche das Leben ausschließlich auf dem Gipfel des Erreichbaren und in seiner, von aller äußeren Verwebung unabhängigen Qualitätsbestimmtheit für wertvoll hält, tritt es völlig unter die Kategorie des Gefährlichen; je spitzer gleichsam die Kurve ist, auf deren Höhe allein es sich zu existieren lohnt, um so näher liegt die Gefahr des Herabgleitens, ehe die Höhe erreicht ist, des Schwindels, wenn man sie erreicht hat. Diese Form des Lebenswertes wird ihm zum Symptom der Wertlosigkeit aller demokratischen Ideale. Denn die Masse will es »gut haben«, will Sicherheit und Behaglichkeit. Man wird aber nie stark, wenn man nicht nötig hat, es zu werden. Der höhere Mensch will kämpfen; nur die Schwachen wollen aus ersichtlichen Gründen »Friede auf Erden«. Mag dies der breiten Masse des Philisteriums gegenüber gelten; dem Christentum gegenüber gilt es nicht. Denn dieses, mit seinen ungeheuren Entscheidungen für die Ewigkeit steht mehr als irgend eine Religion im Zeichen der Gefahr. Die klassischen Religionen hatten gar keine Analogie dafür; nicht einmal die indischen Religionen mit ihren Wiedergeburten, da die schlimmsten Erfolge einer Existenzperiode noch durch die nächsten wieder gut gemacht werden konnten. Nietzsche sah dies nicht, weil er das Christentum nur von seiner dem Irdischen zugewandten Seite her wahrnahm. Hier mochte das Christentum Frieden predigen; aber nicht aus Furcht vor der Gefahr, nicht, wie es Nietzsche versteht, als eine Art Volksversicherung, sondern nur, weil das Irdische ihm überhaupt gleichgültig war und nur diejenige Form haben sollte, in der es am wenigsten das unermeßlich gefährliche Ringen um die ewige Zukunft störte. Nur aus diesem negativen Grunde suchte es Frieden und Sicherheit, ungefähr wie die Ansätze zum Kommunismus, die sich in ihm finden, nicht wie der moderne Kommunismus aus dem Interesse am irdischen Besitz, sondern gerade aus der Gleichgültigkeit dagegen hervorgingen. An diesem Punkt zeigt die Unfähigkeit Nietzsches, die Transzendenz des Christentums zu begreifen, vielleicht am augenfälligsten ihren Erfolg, ihn gegen die Verwandtschaften zwischen seiner und der christlichen Lehre blind zu machen.

Es begegnet freilich ein Motiv echt transzendenten Wesens bei Nietzsche, mit dem die Steigerung der Persönlichkeit in sich selbst, sonst in der Relativität des geschichtlichen Prozesses sich vollziehend, an das Absolute rührt. Es kann kein Gott sein, sagt er; denn gäbe es ihn – wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein! Aber so fantastisch und maßlos dies klingt, so bringt er damit doch nur ein Gefühl in die Form des höchsten Personalismus, das in andrer Form auch christlichen Strömungen des Innenlebens durchaus nicht ferngeblieben ist. Im Christentum lebt neben allem unendlichen Abstand und Niedrigkeit gegen Gott doch das Ideal, ihm »gleich« zu werden. Und dieses mündet in die Sehnsucht, die durch die Mystik aller Zeiten und Religionen geht: mit Gott völlig Eins zu werden, oder, mit dem kühnsten Ausdruck: Gott zu werden. Von der deificatio redet die Scholastik, für Meister Eckhart kann der Mensch seine Kreatürlichkeit aufheben und wieder zu Gott werden, wie er es seinem eigentlichen und ursprünglichen Wesen nach ist, oder, wie es Angelus Silesius ausdrückt:

Soll ich mein letztes End und ersten Anfang finden,
So muß ich mich in Gott und Gott in mir ergründen
Und werden das, was er. –

Es ist diese selbe Leidenschaft, die auch Spinoza und Nietzsche erfüllt: sie können es nicht ertragen, nicht Gott zu sein. Beide aber hegen, wie auch jene frühe deutsche Mystik, die Voraussetzung, daß die Individualität, das Fürsichsein, die Besonderheit, sich nicht mit der Universalität, dem Allsein, dem Göttlichen, vertragen. Und von diesen beiden Motiven aus schließt Spinoza im Sinne der Mystik und völlig konsequent: also gibt es keine Besonderheit. Denn in der Tat, wenn es nur Gott gibt, wenn die Individualität der Wesen eine bloße negatio, ein Nichts ist – so ist sie nicht. Und damit ist erreicht, daß das menschliche Wesen Gott ist. Was sie zu scheiden schien, die begrenzende Bestimmtheit, die andres ausschließende Sonderform des Ich ist überhaupt keine Wirklichkeit, kein wahres Sein, und so fließen wir in die ungeschiedene Einheit des Göttlichen ein. Wird aber so die Unerträglichkeit des Gegensatzes von Gott und Ich dadurch aufgehoben, daß das Ich fällt – so erreicht Nietzsche das genau Gleiche, indem er Gott verneint. Der Gegensatz wird vernichtet, gleichviel welche seiner Seiten man zum Opfer bringt. Zu einer Vereinigung des individuellen Ich mit Gott kommt es ja auch auf dem Wege der Mystik und Spinozas nicht, weil beide die Individualität aufheben, indem die deificatio eintritt. Ihnen genau wie Nietzsche ist das Nicht-Gott-Sein des Individuums so unaushaltbar, daß sie lieber entweder das Individuum oder Gott beseitigen, um nur aus der Qual der Gottferne erlöst zu sein. Nur Schleiermacher hat diesen Zwiespalt überwunden, weil er jene Voraussetzung nicht anerkannte: die Besonderheit und die göttliche Universalität schließen sich so wenig aus, daß umgekehrt jene allein die Form ist, in der diese sich darstellt – nicht so, als wäre sie dahinter und offenbarte sich in ihr, sondern Persönlichkeit, Einzigkeit ist die Art, in der das Universum lebt, ist seine unmittelbare, von dieser Form nicht trennbare Existenz. Darum lebt das ganze Universum, das Göttliche, in jeder Individualität, als jede Individualität. Wenn der Zwiespalt nicht besteht, fällt der Grund fort, um seiner Unerträglichkeit willen eine seiner Seiten zu leugnen. So lange aber an dem unversöhnlichen Gegenüber von Gott und Individuum festgehalten wird, ist die der christlichen Mystik analoge spinozistische Aufhebung der letzteren und die Nietzschesche Aufhebung Gottes nur die Auskünfte zweier verschieden gestimmter Seelen in der gleichen Schwierigkeit. Der Mensch, der auf Lösung der individuellen Form, Vereinigung mit dem All unter Befreiung von der personalen Besonderheit gerichtet ist, wird das Individuum opfern und Gott behalten; der andre, dem alle Ideale nur in der Form des individuellen Seins erwachsen, wird Gott zum Opfer bringen und die Persönlichkeit retten. Auch hier ist ersichtlich die Meinung Nietzsches keineswegs so paradox wie seine Ausdrucksweise. Nur sein Grundmotiv der Persönlichkeit als letzten Daseinswertes zwingt ihn zu einem, von jenen scheinbar viel weniger exzentrischen Denkern so sehr abweichenden Schlusse aus Voraussetzungen des Fühlens und des Denkens, die er doch mit ihnen teilt.

Für das Christentum wie für Nietzsche handelte es sich nun darum, die vollendete Persönlichkeit, die der absolute Wertträger innerhalb der Welt ist, doch noch in einen übergreifenden Sinn und Zweckstruktur des Daseins einzubauen. Das Christentum erreicht dies durch die Idee des Reiches Gottes, dem die Seele diesseits wie jenseits ihrer irdischen Begrenzung angehört, Nietzsche durch die Idee der Menschheit, deren Entwicklung sich vermittels der immer vollkommeneren Individuen, d. h. in ihnen, als sie, vollzieht. Dies erhält seine ganze geschichtsphilosophische Bedeutung erst durch den Gegensatz, in den der Begriff der Menschheit hiermit gegen den Begriff der Gesellschaft tritt. Wo der moderne Mensch, Werte suchend, über das Individuum hinaussieht, macht er im allgemeinen an der »Gesellschaft« halt, als an der letzten Instanz der Wertbildung und Wertverleihung; vielleicht, weil derjenige Stand zu einem Träger erheblicher realer Macht und einem Gegenstand ethischen Interesses geworden ist, mit dem die Angehörigen der höheren Schichten nur durch die Tatsache, daß sie mit ihm zu einer »Gesellschaft« gehören, verbunden zu sein pflegen. An Klarheit läßt dieser Begriff etwa so viel zu wünschen übrig, wie der Begriff der »Natur«, der im 18. Jahrhundert ungefähr die gleiche Rolle gespielt hat. Beides sind Sammelbecken, in denen allerhand Vorstellungen über fundamentale Wirklichkeiten und ideale Normen zusammenrinnen; im weitesten Maße hatte bis dahin die Gottesvorstellung diese Funktion geübt. Offenbar braucht jede Zeit einen Begriff an dieser Stelle ihrer geistigen Systematik, einen Begriff, der hinreichend hoch und unbestimmt ist, um allen möglichen Interessen und Erklärungsbedürfnissen zu dienen, der die richtige Mischung von Mystik und Unmittelbarkeit besitzt, so daß die Bewegtheiten des Fühlens und die des Denkens sich in ihm treffen und damit die einen an den andern ihren vorläufigen Beruhigungspunkt gewinnen. Eine Zeitlang wirken solche Begriffe schlechthin dogmatisch, und eine Kritik ihrer Würde erscheint selbst freieren Geistern als Ketzertum; denn sie sind mit unsern elementaren und dauernden Forderungen, Gedanken, Gefühlen, die sich in ihnen zusammenfinden, jeweilig so eng assoziiert, daß ein Zweifel an ihnen den Zweifel an jenen letzten Wesentlichkeiten und Innerlichkeiten zu bedeuten scheint. In Wirklichkeit ist die »Gesellschaft« eine der Formen, in denen die Menschheit, ihre Kräfte, ihre Inhalte, ihre Interessen, leben; aber auch auf die Form der rein individuellen Existenz, auf die Form der objektiven geistigen Inhalte, auf die Form des rein naturhaften Daseins, auf die Form ihrer Beziehung zu ihren religiösen und metaphysischen Grundlagen hin kann doch die Menschheit angesehen werden! Daß man sich bewußt wurde, ihr Leben sei in jedem Augenblick auch ein gesellschaftliches, die soziale – d. h. in der Wechselwirkung der Individuen die Bestimmtheit alles Einzelnen suchende – Betrachtungsweise sei in jedem Augenblicke irgendwie auf sie anzuwenden, dies hat dazu verführt, die Form sozialer Existenz mit der Tatsache der Menschheit überhaupt zu identifizieren. Der soziale – sozialgeschichtliche, sozialpsychologische, sozialethische – Gesichtspunkt, der einer unter vielen möglichen ist und tatsächlich eine der großen formgebenden Energien der Menschheit sichtbar macht, ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu dem Gesichtspunkt schlechthin geworden. Daß die Grenzen der Menschheit sozusagen räumlich, der Substanz nach, mit den Grenzen der Vergesellschaftung zusammenfallen, hat veranlaßt, sie auch nach den andern Dimensionen: den Inhalten, dem Sinn, den Funktionen nach als Wechselbegriffe anzusehen. Das Fundament nun, auf dem Nietzsche zu seiner geschichtsphilosophischen Wertlehre schreitet, ist seiner allgemeinsten Bedeutung nach damit zu formulieren, daß er die moderne Identifizierung von Gesellschaft und Menschheit durchbrochen hat; daß er im Leben der Menschheit, als solcher, Werte erkannt hat, die von der gesellschaftlichen Formung der Menschheit prinzipiell und ihrer Bedeutung nach unabhängig sind, obgleich sie selbstverständlich sich nur in einer auch gesellschaftlich geformten Existenz realisieren. Mit der gleichen Stimmung hat Goethe den ethischen Hauptproblemen gegenübergestanden. Ihn interessiert ausschließlich das »Allgemein-Menschliche«; dieses Einheitliche, das alle Gegensätze und Abgrenzungen der Menschenwelt durchzieht, gilt es zu fördern und zum Ausdruck zu bringen; so daß die ethisch-soziale Aufgabe, die sich immer über irgendwelchen Gegensätzen zwischen dem Ich und seiner Gruppe oder den Gruppen untereinander erhebt, ihm etwas Vorläufiges und eigentlich Gleichgültiges ist. Darum ist es doch nicht so banal, wie es uns heute scheint, wenn er gegen die Saint-Simonisten bemerkt, es solle doch jeder bei sich anfangen und sein eignes Glück machen, woraus dann das Glück des Ganzen sich unfehlbar ergeben würde! Der Zusammenschluß in den mannigfaltigen Formen der Gesellschaft, mit ihren Werten wie ihren Konflikten, tritt vor den beiden andern Fundamentalbegriffen ganz zurück: vor der Menschheit und vor dem Individuum. Denn durch die ganze höhere Geschichte des Geistes hindurch, von den Zynikern und Stoikern bis zu Rousseau und dem modernen Kosmopolitismus, hängen diese beiden zusammen, als gegenseitig sich fordernde, und so in gemeinsamem Gegensatz zu dem gleichsam mittleren Gebilde der Gesellschaft stehende. So lebt für Nietzsche die Menschheit, der seine ganze Leidenschaft gilt, nur an den Individuen, er befreit die menschheitlichen Werte und Interessen von denjenigen Grenzen und Besonderheiten, die durch ihre ausschließliche Bindung an die Existenz in der Form der Gesellschaft gegeben sind; wobei er allerdings vielleicht die Bedeutung unterschätzt hat, die die sozialen Formungen auch für die Herausbildung jener rein individuellen Werte haben. Die Menschheit freilich besteht nur aus Individuen, als ihren definitiven Realitäten; die Gesellschaften dagegen sind so selbstgenugsame Gebilde, daß man vom sozialethischen Standpunkt her behaupten konnte, das Individuum sei überhaupt nur eine Fiktion, wie das Atom. Es ist sehr belehrend, durch welche entwicklungsgeschichtliche Synthese auch Nietzsche dem Individuum eine weitere Bedeutung gibt, die seine reine Isoliertheit überwindet. Auch ihm ist »der Einzelne, das Individuum ein Irrtum, es ist nichts für sich, kein Atom«. Aber nun nicht so, daß es in soziale Wechselwirkungen aufgelöst würde, in den Funktionen des Empfangens und Gebens innerhalb seiner Gruppe aufginge; sondern: »es ist die ganze Eine Linie Mensch bis zu ihm selber hin«. Die Gesellschaft kann nicht als ganze im Einzelnen sein, sie ist, für die soziale Auffassung, etwas für sich, der Einzelne kann nur in ihr sein; die Menschheit aber kann im Einzelnen sein, so daß Nietzsche nun fortfährt: »Stellt er die aufsteigende Linie dar, so tut das Gesamtleben mit ihm einen Schritt weiter«. Aus diesem tiefen Unterschiede im Seins-Sinne des Individuums ergiebt sich kein geringerer seines Wert-Sinnes. Der soziale Begriff des Individuums pflegt auf Ausgleichung zu drängen, das eine wie das andre ist nur ein Schnittpunkt gesellschaftlicher Fäden, und da diese Punkte für sich nichts sind und darum von sich aus und innerlich keinerlei Verschiedenheit der an ihnen sich vollziehenden gesellschaftlichen Konfiguration begründen, so fordert die Gerechtigkeit, daß diese Konfigurationen in allen wesentlichen und Werthinsichten die gleichen seien. Und daraus folgt weiterhin die unbedingte Herrschaft der Vielen über den Einzelnen. Denn sind alle prinzipiell gleich, so sind Viele wertvoller und bedeutender als einer, so sind die Vielen, die »Gesellschaft« das Ziel und das Wesentliche und der Einzelne das an sich Irrelevante, das nur als einer unter Vielen, als einer für Viele existieren kann und existieren soll – ein Gegenüber, das für das Ideal des Menschheitsbegriffes gar nicht besteht, weil die Menschheit keine Sonderform jenseits der Individuen ist, die sie bilden, sondern ein jedes unmittelbar die ganze Entwicklungsreihe »bis zu ihm selber hin« darstellt. Das ist die Verbindung zwischen jener von Nietzsche konstruierten Wertkurve der Geschichte und seiner Vorstellung über Menschheit und Individuum. Die Menschheit verfällt, sobald nicht mehr die Qualität des Individuums – die eben ihre Qualität ausmacht – das Interessenzentrum bildet, sondern die ethische, soziale, altruistische Wendung des Individuums von sich weg zu den Andern, den Vielen. Und dies eben muß eintreten, sobald statt der menschheitlichen Synthese im Begriff des Individuums der Gesellschaftsbegriff die Führung übernimmt, jene Formung des Menschenmaterials, das über die Einzelnen selbst Herr wird, sie in sich auflöst und durch die so zustande gekommene ideelle Gleichheit unter ihnen logischerweise die Vielen zum Sollens- und Wertinhalt des Einzelnen macht.

Aber ersichtlich ist dieser Individualismus Nietzsches durchaus nicht der des Liberalismus. Denn dieser ist ein durchaus soziales Ideal – nur daß er, als Technik der sozialen Zweckstrebungen die Freiheit des Einzelnen, die Akzentuierung des individuellen Befindens setzt. Der Einzelne als solcher – der mit andern zu einer bloßen Summe vereint die Gesellschaft ergibt –, seine Vervollkommnung, Stärkung, Beglückung ist hier der Inhalt der Normen. Für Nietzsche aber kommt es auf den Einzelnen überhaupt, der als solcher das Element der Gesellschaft bildet, gar nicht an, sondern nur auf bestimmte Einzelne, die den andern nicht, wie es der Liberalismus will, mindestens a priori gleich, sondern gerade a priori ungleich sind. Es handelt sich für Nietzsche durchaus nicht um eine Parteinahme zwischen Sozialismus und individualistischem Liberalismus, sondern um einen Standpunkt jenseits dieses Gegensatzes. Weder die Gesellschaft als solche noch der Einzelne, bloß weil er ein Individuum ist, geht ihn an; er will den Einzelnen weder als Einzelnen – und damit also jeden Einzelnen – noch als Element der Gesellschaft akzentuieren, sondern ausschließlich diejenigen Einzelnen, durch deren Wertqualitäten der menschliche Gattungstypus eine höhere als die bisher erreichten Stufen gewinnt.

Noch aber ist nicht deutlich, warum zwischen beiden Idealbildungen ein inhaltlicher Gegensatz bestehen muß, weshalb das altruistisch-soziale Ideal nicht die Vollendung des Individuums im Sinne der Menschheitsentwicklung tragen sollte. Darüber entscheidet nun eine weitere grundlegende Voraussetzung Nietzsches: die Überzeugung von der natürlichen Distanz der Menschen untereinander. Es ist eine naturgegebene Tatsache, daß zwischen den Individuen Unterschiede bestehen, die für ihn alle sittlichen Ideale demokratischer und sozialistischer Art zu Widernatürlichkeiten machen und die – dies ist der Drehpunkt der Gedankenentwicklung – eine entsprechende Verschiedenheit unter dem Sollen der so unterschiedenen Individuen stiften. Es ist der äußerste Gegensatz zu der sokratischen Auffassung, für die es nur eine Tugend gibt, die für alle die gleiche ist. Vielmehr, dies eben sei die Perversität der christlich-sozialen Entwicklung, daß zur Tugend für alle geworden ist, was nur Klassentugend ist: Demut und Gehorsam, Hingebung und Selbstlosigkeit. Das Durcheinandermengen der Forderungen, die an die verschiedenen Menschen zu stellen sind, ist ihm so widrig, wie wenn ein Organismus aus Gliedern, die ganz verschiedenen Arten angehören, zusammengesetzt würde. Und offenbar hat sich ihm die Erfahrung aufgedrängt, daß, was die Stärke der Schwachen ist, sehr oft die Schwäche der Starken ist. Die Verschiedenheit unter den Menschen besteht doch nicht nur in dem Sachgehalt ihrer Beanlagungen und Betätigungen, sondern auch in dem Werte dieser; nicht nur andre, sondern wertvollere Qualitäten hat der eine als der andre. Und diese tatsächliche Distanz bildet die große Chance, auf der die Hoffnung der Entwicklungslehre steht. Daß die ganze Menschheit in gleichem Schritt und Tritt aufwärts schreite, ist ein utopistisch-unsinniger Gedanke; nur indem sie in sich nach Werten differenziert ist, so daß einer oder wenige können, was alle zugleich nicht können – kann eine Entwicklung nach oben stattfinden. Von jener Tatsache der Distanz aus gibt es zwei Wege. Der demokratisch-altruistische verneint ihre Berechtigung; sie ist zwar, aber sie soll nicht sein, die sittliche Aufgabe geht auf Nivellierung, sei es in den groben Formen eines mechanischen Kommunismus, sei es in den feineren: daß jedem die gleichen Chancen für die Gewinnung der Lebenswerte geboten werden, daß die gleiche Leistung auch den gleichen Lohn erhalte, daß die Arbeit nur nach ihrer Quantität, nicht mehr nach den Unterschieden ihrer Qualität gewertet werde, daß die Verschiedenheiten des Könnens entweder aus dem Vorrat sozialer Erwerbungen oder durch den Altruismus der bevorzugten Persönlichkeiten in ihrem Effekte ausgeglichen werden. Auf der andern Seite nun wird die Distanz zwischen den Individuen als der Sinn und der Träger aller menschheitlichen Entwicklung angesprochen, weil der große Troß so langsam vorwärts kommt, daß nur die Pioniere der Menschheit, die sich an das Tempo jenes nicht binden, auf ihrem Wege bemerkbar vorschreiten und ihre Grenzen weiter hinausrücken können. Und unvermeidlich wird, je energischer und erfolgreicher dies geschieht, der Abstand zwischen den jeweilig höchsten Exemplaren und dem Gros der Menschheit ein um so größerer. Wie für den rein sozialethischen Standpunkt jede individuelle Entfaltung, die nicht zugleich ein Sehen nach rückwärts, ein Mitnehmen der Zurückgebliebenen, ein Sich-richten nach den Möglichkeiten der Vielen ein Vergehen ist, so muß umgekehrt der Entwicklungslehre, für die die höchsten Exemplare der Menschheit die Länge ihrer Entwicklungslinie überhaupt markieren – ihr muß jedes Hintanhalten der Steigerung individueller Qualitäten, jede Verlangsamung des Weges nach aufwärts durch die Rücksicht auf die Zurückgebliebenen als eine Sünde gegen die Menschheit gelten. Dort soll der Mensch jedes gegebenen Stadiums zugunsten eines Höheren überwunden werden, hier soll sich der Mensch zugunsten der Tieferen, die zeitlich neben ihm sind, selbst überwinden. Daß »der Mensch überwunden werde«, gehört zu den fundamentalen Sehnsüchten des Menschen; in einem tiefsten Punkt in uns wohnt eine Feindseligkeit gegen alle Wirklichkeit unsres Daseins. Der Kampf gegen uns selbst, zu dem wir von diesem her, dumpfer oder deutlicher, aufgerufen werden, hat ein Ideal von im allgemeinen negativer Färbung wachsen lassen. Durch Ausrottung der Sinnlichkeit, durch Demut gegen Gott, durch Vernichtung des empirischen Ich durch das reine, durch Verneinung des Willens zum Leben habe der Mensch sich selbst zu überwinden. Erst Nietzsche versucht diese Überwindung durch eine Kraftbewährung, welche sich auch im Menschen selbst nicht auf seine niederen Elemente zurückwendet – so wenig wie sozial zu den unter ihm Stehenden – sondern ausschließlich durch Steigerung der positiven Lebenselemente. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll – aber nicht, weil er zu viel ist, weil er etwas in sich birgt, das ihm abgezüchtet werden muß, sondern weil er zu wenig ist, weil das Positive in ihm so gesteigert werden soll, daß er sich selbst, jedes gegebene Stadium seiner, hinter sich läßt. Auch für Schopenhauer ist der Mensch etwas, das überwunden werden muß: aber für ihn ist er dabei der Überwundene, für Nietzsche der Überwindende.

Der ganze Gegensatz der Schopenhauerschen und der Nietzscheschen Moral sammelt sich in einem Punkte: das Mitleid, das für Schopenhauer die Substanz aller Sittlichkeit trägt, weil es die innerlich unmittelbare Form der Solidarität aller Menschen ist, wird aus eben demselben Grunde von Nietzsche aufs heftigste verworfen. Soziale Ethik ist, von ganz seltenen, vertieften Formen ihrer abgesehen, durchgängig eudämonistisch, sie erwächst an dem Elend, den Entbehrungen, der sonnenlosen Existenz der ungeheuren Majorität, sie ist der praktische Erfolg des Leidens der unteren Massen, oder vielleicht des Leidens überhaupt. Für Nietzsche aber ist, wie nachher noch auszuführen sein wird, das Leiden überhaupt kein ethisches Element, so wenig wie das Glück, da vielmehr nur das Sein des Menschen, nicht der subjektive eudämonistische Reflex dieses und der Schicksale Wert und ethisches Interesse besitzt; ja, das Leiden ist höchstens ein Mittel, durch Reaktion, Empörung und Kampf das Sein zu steigern. Er klagt den Mitleidigen an, daß er das Leid in seiner tiefen innern Notwendigkeit für die Entwicklung der Menschheit am liebsten abschaffen möchte. Vor allem aber ist ihm jene Solidarität der Wesen verhaßt, in der das Mitleid wächst und die mit ihm, auf der Seite des Gebenden wie des Empfangenden, das Fürsichsein der Persönlichkeiten und ihren Abstand nivelliert. Der Mitleidige entkleide das fremde Leid des eigentlich Persönlichen, er mache sich den Leidenden zur leichten Beute; es sei die Tugend, in der erfahrungsgemäß die Dirnen exzellieren – die Wesen also, für die das Aufsichhalten, die Reserve der Persönlichkeit am vollständigsten der Promiskuität, der wahllosen Hingabe gewichen ist. Das Mitleid bringt den Menschen am tiefsten zum andern herunter und zwar, in der Mehrzahl aller Fälle, zu dem Schwachen, dem Verkommenen, dem Besiegten. Während dies gerade die an sich selbst wertvolle Aufgabe des sozial-ethisch gestimmten Menschen ist, gilt es für Nietzsche als die radikalste Verneinung der Distanz zwischen den Menschen, an der das Ideal der Entwicklung zu Kraft und Schönheit, zu Freiheit und Strenge lebt.

Diese gegensätzlichen Überzeugungen können sich gegenseitig nicht widerlegen, weil jede dies nur durch Berufung auf axiomatische Forderungen vermöchte, deren Entscheidungskraft die andre Partei gerade in Abrede stellt. Die Humanität, die Sorge für die Vielen, die Hingebung an die Mühseligen und Beladenen wird von der Nietzscheschen Lehre aus dem Punkte der letzten Wertentscheidung herausgerückt; und daß dies das Böse und Verurteilenswerte schlechthin ist, fordert für den andern Standpunkt so wenig noch einen Beweis, wie daß man, den logischen Widerspruch in einem Satze aufzeigend, noch beweisen müßte, daß er falsch ist. Wird andrerseits behauptet, die Qualität eines Individuums als solchen, die an irgendeinem einzelnen Punkt erreichte Höhe der Menschheitsentwicklung sei gleichgültig gegenüber dem Elend der Massen, der Unentwickeltheit des Durchschnittes der Menschen, der Ungerechtigkeit in der Verteilung der Güter – so hört für Nietzsche die Diskussion auf, weil ihm eben nur jene der absolute Wert des Daseins ist. Beweis und Gegenbeweis ist eben nur möglich, wo gewisse gemeinsame Wahrheiten anerkannt werden und die aufgezeigte Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit diesen von beiden Parteien als entscheidend anerkannt wird. In solchem Falle ist der Streit schließlich theoretisch-intellektueller Natur und muß prinzipiell geschlichtet werden können, weil es auf Grund feststehender Axiome nur eine Wahrheit geben kann. Zwischen der sozialethischen und der Nietzscheschen Wertlehre aber geht die Spaltung bis auf den Grund, es fehlt das gemeinsame letzte Prinzip, dessen nachgewiesene Harmonie mit der Lehre des einen auch den andern überzeugen würde; und darum stehen sich in ihnen nicht Gründe und Gegengründe gegenüber, nicht Meinungen, sondern Tatsachen, zwei menschliche Seins-Arten, die sich nicht mehr logisch überzeugen, sondern nur noch psychologisch überreden oder praktisch überwältigen können. Der Haß Nietzsches gegen das Christentum richtet sich prinzipiell gegen den Gedanken der Gleichheit vor Gott, als dessen Konsequenz erst man die Wendung der praktischen Interessen zu den geistig Armen, den Mittelmäßigen, den Zukurzgekommenen ansehen kann. Daß die Seele jedes armen Schachers, jedes kleinen Lumpen und Dummkopfs denselben metaphysischen Wert haben soll, wie die Michelangelos und Beethovens – das ist der Scheidepunkt der Weltanschauungen. Und so wenig beiderlei Wertung einem Beweise unterliegt, so ist doch leicht ersichtlich, wieso jene Gleichheit gerade einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung völlig zuwiderlaufen muß. Wenn eine kontinuierliche Reihe vom Tier zum Menschen aufwärtsführt, zum mindesten in irgendeiner Weltperiode einmal aufwärtsgeführt hat, so ist die Grenze, wo die »Seele« beginnt, nicht zu bezeichnen; und selbst wenn diese festlegbar wäre, so doch nicht die zwischen der Tierseele und der Menschenseele; und wenn nun auch über diese kein Zweifel wäre, so würde doch, sobald überhaupt die Menschenseele ein Entwicklungsprodukt ist, diesseits jener Grenze erst die tiefste Stufe der Menschheit liegen, eine Seele, die der Tierheit näher liegt, als spätere, entwickeltere Staffeln der Seele. Gibt es eine Entwicklung bis zur Menschheit, so ist es unvermeidlich, auch eine Entwicklung innerhalb der Menschheit zu statuieren. Es ist doch das Wesen der Evolution, im Gegensatz zu der ein für allemal erfolgten Fixierung der Arten, daß jedes einzelne Wesen sozusagen eine Entwicklungsstufe für sich darstellt, daß, was man Art nennt, nur eine praktisch zweckmäßige Zusammenfassung einander nahe stehender Wesen ist, die durch Mischung und Gegensätze, Fortschritt und Rückschlag unendlich gegeneinander variieren. Dies ist der tiefere Grund, weshalb ein Fanatiker der Entwicklung, wie Nietzsche, Individualist ist und weshalb er der unversöhnliche Feind der »Gleichheit vor Gott« sein muß, die der Verneinung gerade jenes Gedankens die transzendente Weihe gibt.

Vielleicht ist die Gleichheit vor Gott ein ungeheures Übersteigern der Tatsache der Seele überhaupt, der gegenüber alle Unterschiede ihrer Inhalte und singulären Modifikationen so unbedeutend sind, wie es vor der Zweckmäßigkeit und Kulturbedeutung der Schrift, die in jeglichem Schriftstück liegt, ein verschwindender Unterschied ist, ob ein solches Schriftstück etwas deutlicher oder etwas »schlechter« geschrieben ist. Vielleicht also spiegelt sich ein Größenwahn des Seelenprinzips in der Idee, daß schließlich jede Seele als solche zur Seligkeit berufen ist; und wenn die Höllenstrafen und die Gnadenwahl dies einzuschränken und zu balancieren scheinen, so erheben sich doch auch diese Ideen auf der Basis ebenderselben grenzenlosen Bedeutung der Seele, sie zeigen deren gleiche Akzentuierung, ja Einzigkeit innerhalb aller Werte überhaupt, nur mit negativem Vorzeichen, wie die Größe einer Summe dieselbe bleibt, ob sie hier als Besitz oder dort als Schuld besteht. Ihren vollständigsten philosophischen Ausdruck hat diese absolute Wertung der Seele im Idealismus Fichtes gewonnen, für den das Ich nicht nur die Welt, die nichts als seine Vorstellung ist, aus sich erzeugt, ohne für ein Ding-an-sich, das nicht Vorstellung wäre, Raum zu lassen; sondern das Ich erzeugt diese Welt, weil es Tätigkeit ist und Tätigkeit nur an einem Objekt, d. h. an der Formung, Durchdringung, Überwindung eines Objekts wirklich werden kann. Das Christentum spricht zwar auch von dem Überwinden der Welt, das mit jener Schätzung der Seele, bloß weil sie Seele ist, eigentlich gefordert ist; allein ganz vollständig wird es doch mit der Frage nicht fertig: wozu erst der Umweg über die Welt? warum hat Gott die Seelen nicht unmittelbar zur Seligkeit berufen? Die Welt bleibt hier der Seele gegenüber als eine dunkle und im Grunde unverstandene Notwendigkeit bestehen. Erst indem Fichte das Wesen der Seele in Tätigkeit und Produktivität gesetzt hat und diese ein Objekt fordert, wird begreiflich, weshalb es eine Welt gibt: die Seele muß sie schaffen, um etwas zu haben, woran sie sei, genauer: sich betätige, das sie mit sich durchdringen, d. h. überwinden und in seinem Eigenbestand vernichtigen könne. Diesem Absolutismus des Seelenwertes, dessen Konsequenz die Gleichheit vor Gott ist – denn im Absoluten gibt es keine Unterschiede – ist die Entwicklunglehre feindlich, weil sie den Menschen eng in die ganze übrige Natur verflicht, statt ihn ihr gegenüberzustellen. Schon daraus entstehen Relativitäten und Mischungen, die eine Gegendisposition gegen die fundamentale Gleichheit der Seelen schaffen, so daß ganz von selbst der Akzent auf die Höhepunkte der Seelenreihe statt auf ihre Gleichheit rückt.

Hier liegt die ganz tiefe Scheidung zwischen den entgegengesetzten Wertungsweisen: daß auf der einen Seite der Wert des Menschentums auf der Gleichheit seiner Exemplare beruht – sei es ihrer Wirklichkeit, sei es dem Ideal und Sollen nach –, für Nietzsche dagegen darauf, daß es Höhepunkte der Menschheit gibt, daß ihre innere Distanzierung dem Einzelnen einen Aufschwung und Entwicklungsmaß über alles sonst bestehende Niveau hinaus gestattet. Man könnte das letztere für eine Steigerung des psychologischen Unterschiedsbedürfnisses halten. Unsre körperlich-seelische Struktur ist darauf angewiesen, daß uns dauernd Reize treffen, welche von den eben zuvor wirksamen irgendwie abweichen. Wenn eine Reihe von Sinnesreizen in uns Empfindungen auslöst, so wachsen die Empfindungen viel langsamer als die Reize, d. h. um die Empfindungen zu doppelt starken anwachsen zu lassen, müssen die äußeren Veranlassungen unter sich in viel rascherer Proportion als der der einfachen Verdopplung wachsen. Wir sind also nicht für die absolute Größe des Reizes empfindlich, sondern für den Unterschied, den der jetzige gegen den früheren aufweist. Alles, was wir Abstumpfung nennen, und was z. B., im einfachsten Fall, bewirkt, daß wir in der Stille der Nacht unzählige Geräusche wahrnehmen, die uns in dem uns ganz unbewußten dumpfen Lärm des Tages, der sie nicht weniger enthält, völlig entgehen – weist auf diese Eigenart unsrer Anlage hin, daß jegliche Beeindruckung uns nicht nach dem absoluten Maße ihrer Ursache oder ihres Inhaltes affiziert, sondern nach dem Zustand, in dem sie uns vorfindet, nach dem Hintergrund, auf dem sie sich malt; auf etwas höherem Gebiet ist die alltägliche Beobachtung längst fruchtbar gemacht worden, daß ein Vermögensgewinn, der den Armen schon beglückt, den Reichen noch völlig gleichgültig lassen kann. Ein je komplizierterer und übersinnlicherer seelischer Inhalt in Frage steht, desto mehr wird das Maß von Unterschied und Abgehobenheit, das ihm zu seinem inneren Erfolge verhilft, von der persönlichen Empfindlichkeit oder Abgestumpftheit abhängen. Mit der Steigerung der letztern steigt die Forderung immer entschiedeneren Andersseins und Sich-Heraushebens, damit es überhaupt zu einem Eindruck komme; wobei aber die Stumpfheit keineswegs nur einen natürlichen oder kulturellen Primitivzustand bedeutet – dieser enthält sogar eine manchmal besonders leicht ansprechende Empfindlichkeit –, sondern gerade das Ergebnis einer höchst verfeinerten, aber in ihren Verfeinerungen sich verbrauchenden Sensibilität ist. Die moderne Differenzierung der Persönlichkeiten, die arbeitsteilige Individualisierung des Tuns und Seins steht, was ohne weiteres einleuchten wird, mit einem Anwachsen der Unterschiedsempfindlichkeit in Bezug auf die Bilder der umgebenden Menschenwelt in Wechselwirkung. Indem nun in gewissen Schichten unsrer Kultur diese Besonderung und Individualisierung einen äußersten Grad erlangt hat – bis zu einer Zuspitzung zum Umbrechen, zu einem Gefühl der völligen Isoliertheit, zu einem Fürsichsein, in dem einer sozusagen die Sprache des andern nicht mehr versteht – entstehen daraufhin zwei völlig divergierende psychologische Erfolge. Die Unterschiedsempfindlichkeit kann durch dieses Verhalten, das eigne wie das der sozialen Umwelt, gesättigt und überreizt sein, so daß das Bedürfnis nach einer entgegengesetzten Verfassung auftaucht, nach einem Herabsetzen der übersteigerten und unerträglich gewordenen Individualisiertheit; die mehr oder weniger ernsthafte Tendenz zum Sozialismus in den hier fraglichen Kreisen wäre dann, psychologisch ausgedrückt, das Ruhebedürfnis der Unterschiedsempfindlichkeit, die Sehnsucht nach einer Verfassung, in der das eigne Lebensgefühl und das Bild der Menschenwelt keine so gewaltsame Anspannung der Unterschiedswahrnehmung mehr fordert. Umgekehrt: gerade weil die Unterschiedsempfindlichkeit eine so reichliche Nahrung erhalten hat, von so weit distanten Reizen zu äußerster Leistung veranlaßt worden ist – gerade darum bedürfen wir immer zugespitzterer, immer weiter auseinandergetriebener Reize, um überhaupt noch zu empfinden. Die Nietzschesche Pointierung der einzelnen Höhenerscheinungen der Menschheit, seine Forderung immer wachsender Distanzen innerhalb ihrer ist so der Ausdruck der Abstumpfung eines, in der Richtung der modernen Individualisierung verwöhnten Empfindens, das zu immer gewalttätigeren Unterschiedsreizen greifen muß, wenn es sein eignes Leben fühlen soll. Die radikalen Gegensätzlichkeiten des Sozialismus und Nietzsches stellen sich hier als die Antworten zweier entgegengesetzter seelischer Dispositionen auf eine und dieselbe kulturpsychologische Tatsache dar; wie – wenn ein Gleichnis aus niedrigstem Gebiete erlaubt ist – ein durch gastronomische Reize abgestumpfter Geschmackssinn sich entweder zu ganz primitiver, rustikaler Kost oder zu unerhörten, alles bisher Genossene überbietenden Raffinements flüchten wird.

Wie sehr es sich hier um Gegensätze des sozusagen formalen Lebensgefühles handelt, die jeglichen Lebensinhalt unter sich aufteilen, wird recht daran ersichtlich, wie bei dem vielleicht eigenartigsten Antipoden Nietzsches, bei Maeterlinck, die demokratische Wertungsweise in die Elemente der individuellen Seele hinabsteigt. Wie für Nietzsche der Wert der Menschheit in den einzelnen herausragenden Persönlichkeiten liegt, so betont er auch innerhalb des Einzellebens oft den Wert der einzelnen Stunde; auch hier sind es die Aufgipfelungen des Lebens, die Ausschlagspole unsres Pendelns zwischen Himmel und Hölle, in denen unsre Existenz ihren Sinn findet. Ganz umgekehrt leben bei Maeterlinck die höchsten Werte des Daseins in dem alltäglichen Dasein und jedem seiner Momente und bedürfen nicht des Heroischen, des Katastrophenhaften, der exzeptionellen Taten und Erlebnisse. Mit außerordentlicher Feinfühligkeit bemerkt er, daß gerade diese, das Ungewöhnliche und Exzessive, auch wenn sich eine Grandiosität der Moral, der Temperamentswerte, der Leistungen darin ausdrückt, immer etwas Zufälliges und Äußerliches haben, nie ohne Zusatz aus dem Material von Welt und Schicksal zustandekommen. Das wirkliche Ich aber, die sichere Ganzheit der Seele liegt in dem Dauernden, in den tausend Elementen des ununterbrochenen Daseins. Alle großen Leidenschaften, unerhörten Aufschwünge, wilden Genüsse mögen wir durchkosten; aber ihr Ertrag ist doch nur, was sie für die stillen, namenlosen, gleichmäßigen Stunden zurücklassen, und daß sie uns die Augen für deren Tiefen und Schönheiten öffnen, die wir nur ohne diese exaggerierende Interpretation nicht wahrgenommen hätten. Diese Herabsetzung des Ungewöhnlichen zu einem Mittel, das Gewöhnliche zu vergeistigen, diese Wertung des Alltäglichen, in welchem allein die dauernde, alle Zufälle überlebende Innerlichkeit des Menschen sich dokumentiere – ist die tiefste philosophische Wendung der demokratischen Tendenz. Unser Glück und unsre Würde haben ihren eigentlichen Platz auf dem beharrenden Niveau unsres Lebens, in dem, was allen unsern Erlebnissen und Taten gemeinsam ist – wie dem Sozialismus das das Wesentliche ist, was allen Menschen gemeinsam ist –, nicht in dem Außerordentlichen, sondern in dem Gewöhnten, nicht in dem Unwahrscheinlichen, sondern in dem Zuverlässigen; denn hier allein wohnt eigentlich unsre Seele, insofern sie von allem Äußeren, allen Chancen des Zufalls, allen bloß momentanen Erregungen unabhängig ist. In die moderne Bemühung, das Leben seinem Werte nach zu verstehen, um deretwillen diese Darstellung Schopenhauers und Nietzsches unternommen wurde, ist dieser Nietzsche-Gegner deshalb hier eingestellt worden, weil die Demokratisierung des inneren – und, als deren Folge und Erscheinung, auch des äußeren – Lebens bei ihm durchaus keinen Verzicht auf jene besonderen Qualitäten, Vertiefungen, Entwicklungen bedeutet, die Nietzsche nur durch die aristokratische Differenzierung und Distanzierung der Elemente, nur in den Unvergleichlichkeiten der Pioniermission erblickt. Es ist dasselbe, was gleichzeitig die Arbeiter-Plastik Meuniers anschaulich gemacht hat: den individuellen, aristokratischen, ästhetischen Wert und Reiz des Einzelnen, der doch gerade nur als ein Gleicher aus einer Menge hingestellt ist. Maeterlinck und Meunier haben – mindestens ihrer Absicht nach – in der Form der Metaphysik und der Kunst das erreicht, was in der Form der sozialdemokratischen Praxis nur durch den Verzicht auf diejenigen Lebenswerte erreichbar ist, die für Nietzsche dem Leben seine Bedeutung geben.

Man kann den fundamentalen Gegensatz zwischen den sozialen und den menschheitlichen Werten in der Form, die Nietzsche diesen gegeben hat, nun prinzipiell so ausdrücken. Den Wert des Zustandes einer gegebenen Menschengruppe hat man im allgemeinen der Summe der Werte eudämonistischer, kultureller, charakterologischer Art gleichgesetzt, die im Nebeneinander und im Nacheinander den einzelnen Wesen zuteil werden; die Bedeutung einer Existenzform, Handlung oder Institution ergab sich sozusagen durch Multiplikation der Breitendimension mit der durchschnittlichen Höhendimension der Werte, die sie enthielt oder bewirkte. Demgegenüber entscheidet für Nietzsche ganz allein die Höhe des höchsten, in einer Menschengruppe überhaupt erreichten Punktes über den Wert, den sie darstellt. Nicht daß tausend Menschen ein mittleres Maß von Glück, Freiheit, Kultur, Stärke besitzen, erscheint ihm wertvoll; sondern daß wenige, oder allenfalls nur ein einziger ein exzessives Maß dieser Werte und Kräfte in sich verwirklicht, sei es selbst um den Preis, daß jene tausend im äußersten Tiefstand beharren – das ist ihm der Sinn, der ideale Endzweck unsrer Gattung. Wie hoch der Typus Mensch steht, wird für ihn nicht vermittels des Durchschnitts der jeweils betrachteten Individuen entschieden, sondern durch die jeweils höchste Spitze, die das Menschentum unter ihnen erreicht hat. Zwischen diesen Schätzungsweisen gibt es ersichtlich keine Verständigung und Vereinigung, weil der Gegensatz, genau angesehen, nicht den Wert dieser oder jener Wirklichkeit betrifft, sondern vielmehr den Maßstab, nach dem überhaupt Werte abzumessen sind. Es gibt kein logisch zu entscheidendes Recht und Unrecht zwischen zwei Gesinnungen, deren eine den Wert eines Elementenkomplexes aus dem Durchschnitt der Werte aller einzelnen Elemente gewinnt, die andre aus dem höchsten, innerhalb seiner dargestellten Werte, gleichviel, an wie vielen Elementen er sich findet. Auch lassen sich beide hier nicht etwa so zusammenbringen, daß die Struktur der Gesellschaft nach weiten Rangdistanzen, nach bedingungsloser Steigerung der zum Höchsten befähigten Elemente auch den sozialen Durchschnitt am wirkungsvollsten hebe; daß die Gesamtwerte einer Gruppe, selbst auf ihre Summe angesehen, bei der äußersten aristokratischen Differenzierung ihr Maximum erreichten. Dies wäre der Standpunkt einer Sozial-Aristokratie, in der die aristokratische Ordnung das Mittel zur Wohlfahrt des Ganzen ist; aber dies mit Nietzsches Prinzip zu verwechseln, wäre das gröbste Mißverständnis. Denn daß ein Höhepunkt menschlicher Qualitäten erreicht werde, ist für ihn absolut nicht Mittel zu irgendeinem sozialen Gut oder Fortschritt, sondern ist ihm schlechthin Selbstzweck – wenngleich nicht, was später noch zu behandeln sein wird, um des egoistischen Befindens der Personen willen, sondern weil der Typus Mensch sich damit gehoben hat; aber auch dazu ist jene Maximisierung der personalen Werte nicht etwa ein Mittel, wozu die Menschheit ihrem Werte nach etwas außerhalb dieser Erscheinungen sein müßte, sondern unmittelbar in und mit ihnen ist die Menschheit einen Schritt weiter entwickelt. Also auf dem Boden der Sozial-Aristokratie sind die beiden Wertmaßstäbe für einen Elementenkomplex: nach der Summe oder dem Durchschnitt und nach der Höhe ihres höchsten Elementes – nicht zu versöhnen.

Die Nietzschesche Schätzungsart ist gewissermaßen eine Umkehrung der Theorie des »Grenznutzens«. Wenn von einer Ware ein bestimmtes Quantum am Markte ist und für jeden Teil ihrer durch Angebot und Nachfrage ein bestimmter Preis bedingt wird, so wird ein neues, an den Markt gelangendes Quantum, da die dringendste Nachfrage bereits durch das schon vorhandene gedeckt ist, nun einen geringeren Preis erlangen. Es muß, wenn der Kaufprozeß ganz ungestört verläuft, das erste Quantum teurer sein als das zweite, das zweite teurer als das dritte usw. Und nun hat man beobachtet, daß der Preis für jedes Teilquantum einer gleichzeitig angebotenen Ware nicht höher ist, als ihrem, nach diesem Prinzip geschätzten letzten Teile zukäme. Ganz im allgemeinen kann man also sagen, daß die Gesamtheit einer Ware nicht mehr gilt, als denjenigen Preis, mit dem das billigste Teilquantum ihrer zufrieden sein muß. Auch hier wird also der Wert unsrer Elemente nicht von einem Durchschnitt, sondern von einem Extrem bestimmt, nur freilich von dem, das der Nietzscheschen Wertungsweise entgegengesetzt ist – weil in dem wirtschaftlichen Falle der Wunsch des Bewertenden – des Käufers – auf Niedrigkeit des Preises, in dem Fall des Menschheitswertes aber die Sehnsucht auf Höhe des Wertes geht.

In den religiösen, soziologischen, ethischen Wertreihen spielen die Bestimmungen von ihren Polen aus und die von ihrem Durchschnitt hergenommenen mannigfach durcheinander. Um eines Gerechten willen soll Israel verschont werden. Der Glanz, den eine Familie oder sonstige Gruppe durch ein sehr hervorragendes Mitglied erhält, besteht oft in merkwürdiger Unabhängigkeit von dem Wert und der Bedeutung, die sie im übrigen und im Durchschnitt besitzt. Andrerseits hat die Solidarität, die namentlich auf primitiveren Stufen verschiedenster Typen die gesellschaftlichen Gruppen vereinheitlicht, meistens eine nach der pessimistischen Seite hin gehende Folge: Strafe und Rache machen für die Missetat des einen Mitgliedes die Gesamtheit aller solidarisch haftbar, für die Praxis wie für die Gesinnung tritt das Ganze unter das Zeichen der Sünde seines Gliedes – sehr viel mehr, als eine Guttat des Einzelnen dem Ganzen angerechnet wird. Wo innerhalb des rein Ethischen die Elemente eines Einzelwesens in ihrer Bedeutung für den Wert seiner Ganzheit zum Problem werden, wird dieses in sehr mannigfaltiger Weise gelöst. Eine typische Empfindungsweise symbolisiert sich in der »Waage« des jüngsten Tages, auf der unsre guten und unsre bösen Taten gegeneinander abgewogen werden und das von den einen nicht ausgeglichene Gewicht der andern über Verwerfung oder Seligkeit entscheidet. Dies ist die Wertungsmaxime nach dem gesamten Fazit, dem »Durchschnitt«: das Ganze ist definitiv wert, was die Summe seiner – positiven und negativen – Elemente wert ist. Aber auch die von einem einzelnen gesteigertsten Element ausgehende Schätzung des Ganzen findet sich hier. In dem Urteil der Menschen über Menschen ist es nichts Seltenes, daß eine einzige sehr böse oder sehr gute Tat das Bild der Gesamtpersönlichkeit völlig unwiderruflich feststellt und jener gegenüber alle Gegeninstanzen eines guten oder bösen Tuns dieses Bild überhaupt nicht mitbestimmen, ja daß auch die niederen Faktoren der definitiven Wertrichtung eigentlich gar nicht steigernd mitgewirkt haben: daß ein Mensch dieses eine ganz Gute oder ganz Böse getan hat, reicht völlig aus, seine Gesamtpersönlichkeit in die damit bezeichnete Höhe oder Tiefe zu stellen, unabhängig von allem, was sie sonst noch an Rangierungsgründen enthalten mag. Und zwar tritt solche Schätzung des Ganzen ausschließlich nach dem zu äußerst erreichten Punkte der Wertskala keineswegs nur seitens Dritter ein, sondern das Subjekt selbst gewinnt oft genug an dem Besten oder an dem Bösesten, was es getan hat, eine überhaupt nicht mehr zu erschütternde Sicherheit oder eine nicht zu verlöschende Verzweiflung über sich selbst. Gewiß sind solche Wertungsreihen niemals prinzipiell oder gar abstrakt festgelegt; aber die wirklich vollzogenen Wertungen enthalten, reiner oder gemischter, immer diese Maximen: daß ein Ganzes wert ist, was die Summe seiner Elemente wert ist – und, vielleicht weniger häufig, weniger auf der Hand liegend, aber darum nicht weniger entschieden, daß es wert ist, was das zu äußerst, positiv oder negativ, wertvolle Element unter allen, die es bilden, wert ist.

Die zutreffendste Analogie der Nietzscheschen Wertungsmaxime findet sich auf dem Gebiete der Kunst. Den Wert einer kunstgeschichtlichen Epoche, in der sich ein Genie höchsten Ranges neben einer großen Anzahl völlig minderwertiger Begabungen erhebt, wird uns unvergleichlich über einer andern stehen, in der die »Durchschnittsbegabung« viel erheblicher ist, in der eine große Anzahl »achtbarer« Talente wirken. Und ebendieselbe Wertungsweise wenden wir an die Reihe der Produktionen eines einzelnen Künstlers. Was uns Tizian und Rubens, Shakespeare und Goethe, Bach und Beethoven sind, wird seiner Höhe nach keineswegs durch die Durchschnittshöhe der Leistungen auch dieser Großen bestimmt. Jeder von ihnen hat, im Laufe eines ungeheuer ausgedehnten Schaffens, eine große Anzahl ganz gleichgültiger, ja oft erstaunlich minderwertiger Produkte erzeugt, und wenn wir diese mit ihren höchsten Leistungen zu einem Gesamtresultate aufrechneten, so würde ihre tatsächliche Bedeutung für uns arg zu kurz kommen. Vielmehr, sie spielen ihre Rolle für uns ausschließlich als Schöpfer ihrer höchsten Werke, jeder von ihnen ist uns als Ganzes so viel wert, wie der Höhepunkt oder die Höhepunkte seiner Leistungen uns wert sind. Und so ist es schließlich mit den Persönlichkeiten jeder Art, deren Bedeutung in einer sachlichen, von ihrem subjektiven Leben getrennten Leistung, in einem Beitrag zum objektiven Geiste liegt. Geschichtliche Mächte von vielerlei Art sind dauernd an der Arbeit, das weniger Erhebliche aus den Lebensarbeiten solcher Menschen in Vergessenheit zu senken, und ihren Wert ausschließlich dem Wertvollsten dieser Arbeit, so gering sein Umfang sei, gleichzusetzen. – Ich habe hier auf diese Wertungsverfahren hingewiesen, damit klar werde, daß die Nietzschesche Verlegung des Wertakzents der Menschheit auf ihre höchsten Exemplare als Werttheorie keineswegs etwas Unerhörtes ist, sondern sich innerhalb einer auch sonst tatsächlich und in weitem Umfange geübten Methode hält, die nur bei ihm ihre erste reine Prinzipienmäßigkeit auf dem Gebiet des gesellschaftlichen oder menschheitlichen Seins gewonnen hat.

Ist aber diese Entscheidung gefallen, so leuchtet unmittelbar ein, daß Nietzsche die demokratisch-sozialisierende Richtung des 19. Jahrhunderts als den Weg zum Verfall der Menschheitswerte, als die Dekadenz schlechthin ansehen mußte. Seine Wertmaxime ist nichts als der leidenschaftlichste Ausdruck für das Sichemporstrecken der Menschheit, für den Fanatismus der Entwicklungshöhe, der gegen die Bedeutung der Breite, in der die Entwicklung stattfindet, völlig blind macht. Jede Akzentuierung dieser Breite also, die der reinen Höhenentfaltung irgendeine individuelle Energie entziehen könnte, ist ihm ein Verrat an der Menschheit. Die demokratische Bestrebung, die Distanz zwischen der tiefsten und der höchsten Schicht der Persönlichkeiten zu verringern, scheint ihm – wenn man es etwa ganz frei ausdrücken dürfte – nur durch eine Entwicklungshemmung der letzteren möglich zu sein: da die Vielen sich nie so schnell entwickeln können, wie die Wenigen und Erlesenen, so müssen diese sich zu jenen herunterbeugen oder mindestens sozusagen eine Weile stillstehen, um jene näher herankommen zu lassen. Das Zusammentreffen des Entwicklungsgedankens mit der axiomatischen Bestimmung jedes menschlichen Wertes nach dem höchsten Element in ihm – erzeugt als sein logisches Ergebnis die Beurteilung aller eigentlich sozialen Bewegung im demokratischen Sinn als einer Dekadenz, d. h. als einen Verlust der Instinkte für Wachstum und Erhöhung.

Was Nietzsche den »Willen zur Macht« nennt, in dessen Herabsinken sich für ihn alle Dekadenz zusammenfaßt, ist nichts andres als eine Zuspitzung dieser Wertlehre. Will man nämlich deren Besonderheit in eine abstrakte Formel fassen, so ist es diese: daß die absolute Höhe eines menschlichen Wesens durch seine relative Höhe bedingt ist; d. h. daß ein Mensch eine erhebliche Stufe auf der Skala der Menschheitsentwicklung nur so darstellt, daß er innerhalb der gesellschaftlichen Gruppe einen über andre wesentlich erhobenen – natürlich nicht oder nur sekundär in dem traditionellen, äußerlich-sozialen Sinne erhobenen – Rang einnimmt. Nach Nietzsches Überzeugung bedeutet die Steigerung des Lebens eine fortwährende Steigerung von Kräften, die sich unvermeidlich auf die Umwelt richten, sie ausnutzen, in sich einziehen, beherrschen; und umgekehrt ist dieses Ansammeln von Macht, dieser Aufschwung, der nur über beherrschten und unter den Fuß getretenen andren Wesen stattfinden kann, eben der Träger der individuellen Qualitäten der Kraft und des Adels, der Bedeutung und der Intensität der Persönlichkeit. Was bisher nur die sozusagen äußere Bedingung des aufsteigenden Lebens und Motiv der Distanzierung war: daß die Vielen, die unvermeidlich Mittelmäßigen und Schwachen, sich nicht in dem Tempo aufwärts entwickeln können, wie die Pioniere, die Genies, die zur Führerschaft Geborenen – das erhält damit seinen positiven und inneren Grund. Das Niveau der Masse oder der sozialistischen Gesellschaft mag stehen oder sich heben wie es will – es kann seiner Natur nach nicht die Werte des konzentrierten, immer nur in Aufgipfelungen über Andre sich steigernden Lebens besitzen. Leben ist unvermeidlicherweise, sozusagen seiner Form nach, Häufung von Kräften, Kämpfen und Siegen, Macht, die zehrt und verbraucht und in dem Maß, in dem es mehr Leben ist, steigert sich dieser Machtwille, diese äußerlich oder durch das innere Distanzbewußtsein ausnutzende Herrschaft seiner Höhepunkte, nach denen seine Wertstufe bemessen wird. Wenn man diesen Begriff über die brutalen Anwendungen, die ihn auf den ersten Blick exemplifizieren, hinaus zur Deutung der feineren und unaufhörlich spielenden Lebensprozesse, in denen er unzählige Male verhüllt und fragmentarisch wirkt, benutzt, so wird man seinen Tiefsinn nicht leugnen können. Wie es das Wesen der Liebe ist, solange ihr Fundament wirklich beharrt, dauernd in sich zu wachsen, so daß man mit paradoxer Kürze sagen könnte: Lieben ist mehr Lieben – so bedeutet für Nietzsche Leben: mehr Leben, und es erfüllt dadurch erst seinem tiefsten Sinne nach seine Form als »Entwicklung«. Aber dies ist ihm nur möglich, indem das Leben sozusagen auf seine eigenen Kosten lebt, und zwar in der Form, daß seine Höhe mit seiner Breite bezahlt werden muß; und dies nicht als eine leidige äußere Notwendigkeit, die unter günstigeren sozialgeschichtlichen Umständen anders sein könnte; sondern aus dem inneren Wesen des Lebens selbst heraus, das nur so oder gar nicht sein kann. Aus der unbedingten Solidarität des Lebens überhaupt mit diesem Begriff seiner erklärt es sich, daß Nietzsche das unsäglich Tragische gar nicht zu empfinden scheint, das für jede andre Empfindungsweise in dieser Vorstellung vom Leben liegt, in dieser logischen Notwendigkeit, das soziale Interesse durch das menschheitliche zerstören zu lassen, die Höhe des Individuums an die Distanz zu knüpfen, in der es beherrschend, aufsteigend, verbrauchend über andern steht.

Auch wird nur aus ebendemselben: daß es sich für Nietzsche um einen logischen Schluß aus axiomatischen Prämissen handelt – begreiflich, daß er die Unstimmigkeit dieses Gedankens mit dem Ideal der Vornehmheit, dessen überwiegende Bedeutung für ihn uns noch beschäftigen wird, gar nicht gewahr wird. Denn wenn das individuelle Leben soviel braucht, so zeigt es damit, daß es sich selbst nicht genug ist, daß es, als individuelles, nicht aus den eigenen Kräften leben kann. Nietzsche hätte wenigstens die Grenze seines Machtwillens gegen das gemeine Habenwollen deutlich ziehen müssen: indem er klarmachte, daß nicht die Herrschaft und Gewalt als äußere Wirklichkeit, sondern die Beschaffenheit der souveränen Seele, deren Erscheinung und Äußerung jenes soziologische Verhältnis ist, den Wert eben dieses trägt. Andrerseits würde den ethischen Widerständen gegen diese Vergewaltigungslehre nur ein metaphysischer Begriff des Lebens entgegenzusetzen sein; man müßte es als eine Einheit fassen, die ihr Wertmaximum in der Formung zur Pyramide gewinnt, die ihre Kräfte am vollendetsten ausgestaltet, wenn sie sie in eine Spitze einströmen läßt. Hier wären die Individuen nur die an sich bedeutungslosen Gefäße oder Formen, durch die hindurch oder an denen sich der allein wesentliche Prozeß des Gesamtlebens vollzieht. Bedenkt man die Einheit des organischen Lebens als solchen, das sich nur von Zeugung zu Zeugung fortpflanzt und dessen Ursprung aus einem einzigen ersten Keime mindestens nicht unmöglich ist, so wäre ein spekulatives Bild des Lebens wohl ausdenkbar, in dem es einheitlich durch alle Einzelwesen hindurchfließt, denen es nur, so lange es in ihnen verweilt, einen ihrer zufälligen Eigenform vorenthaltenen Sinn und Bedeutung gibt. Es würde dann mit metaphysischem Rechte in sich ein Ideal seiner Gestalt und Wertvollendung tragen, innerhalb dessen keine Sonderansprüche seiner einzelnen Träger zu Recht beständen.

Das Verhältnis des Nietzscheschen Ideales zu den sonst anerkannten macht ohne weiteres klar, daß er, im äußersten Gegensatz zu Kant und Schopenhauer, den Philosophen nicht auf die Aufgabe beschränken kann, die allgemein geübte oder wenigstens allgemein geforderte Moral zu kodifizieren, sondern ihn als den Gesetzgeber ansieht, der »neue Tafeln« aufzustellen hat. Ebenso klar aber ist, daß sein von ihm immer betonter »Immoralismus« nichts weniger als eine Verneinung der Moral, des Sollens ist. Nur mit einem andern Inhalt füllt er dies Sollen, während seine Form ebenso, ja eigentlich noch unmittelbarer und gewaltsamer besteht als bei Kant, dessen Imperativ doch nur ein »Faktum« der menschlichen Vernunft formulieren will, während Nietzsches Wertsetzungen an und für sich imperativischen Charakter haben. Denn Kant, der objektive Theoretiker, will mit seinem Imperativ nur ein »Faktum« der menschlichen Vernunft formulieren, das, tatsächlich befolgt oder nicht, doch zeitlos als Ideal besteht; Nietzsche dagegen, der praktische, predigende Moralist, will ein neues Ideal hinstellen, er fordert eine neue Forderung. Nur hat sich bei ihm die äußerst gefährliche und mißverständliche Assoziation zwischen dem bisherigen Inhalt der Moral und der Moral überhaupt so eng vollzogen, daß er seine Verneinung jenes Inhaltes als Immoralismus schlechthin bezeichnet; durch diese Lässigkeit des Ausdrucks, deren Ergänzung durch das positive und, wie sich noch zeigen wird, unerbittlich strenge Sollen ihm etwas ganz Selbstverständliches war, hat er freilich jene traurige Nachfolgerschaft gezüchtet, für die die Befreiung von der bisherigen Richtung der Moral nicht ein neues Gesetz, sondern Gesetzlosigkeit bedeutet. Ihm selbst wäre dies nicht weniger Dekadenz gewesen, wie die Demokratie und jegliche Richtung der Willenslinie nach abwärts. Denn der Instinkt für die großen Ziele der Menschheit fehlt nicht in höherem Maße, wenn er sich in perversen, lebenverneinenden, auf die Schwächung der Starken gehenden Gesetzen, als wenn er sich überhaupt in keinen Gesetzen niederschlägt. Mit leuchtender Klarheit wächst ihm über der Verneinung der historischen, altruistisch-demokratischen Moral, über dem »Immoralismus« die neue Moral:

»Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral: also nur, wie wir die Dinge verstehen, eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andre, vor allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten.«


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