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II.
In Neuyork.

Wenn man in Neuyork auf der breiten Straße »Broadway« nach dem Hafen hinuntergeht, in der Richtung von Chattam-Square, und einige Nebenstraßen passiert, gelangt man in einen immer ärmlicheren, öderen und verlasseneren Stadtteil. Die Gassen werden immer enger. Die vielleicht noch von holländischen Ansiedlern erbauten Häuser sind mit tiefen Rissen bedeckt und mit der Zeit schief und krumm geworden. Ihre Dächer sind zerfallen, die Tünche von den Mauern abgebröckelt und die Mauern selbst so tief in die Erde gesunken, daß die Fenster des ersten Stockes kaum mit dem oberen Rande das Straßenpflaster überragen. Seltsame Krümmungen treten hier an die Stelle der in Amerika so beliebten geraden Linien. Die nicht an einer Schnur sich anreihenden Dächer und Mauern drängen und türmen sich übereinander, wie aufgeworfene Dachziegel.

Infolge der Lage am Strande trocknen die Pfützen auf den Straßen fast niemals aus, und die kleinen, dicht umbauten Plätze gleichen kleinen Teichen, die das ganze Jahr hindurch mit dickem, schwarzem, stagnierendem Wasser gefüllt sind. Die Fenster der vernachlässigten Häuser spiegeln sich traurig in diesem Wasser, dessen schmutzige Oberfläche ganz bunt ist von Papierschnitzeln, Pappdeckeln, Glasscherben, Holzstücken und Blechsplittern, die von dem Schiffsgepäck herrühren. Ähnlicher Kehricht ist auf den Straßen oder vielmehr über die sie bedeckenden Schmutzschichten ausgestreut. Überall sieht man hier nichts als Schmutz, Unordnung und menschliches Elend.

In diesem Stadtteil befinden sich Boardinghäuser oder jene Gasthäuser, wo man für zwei Dollars wöchentlich eine Schlafstelle und vollständige Verpflegung erhält; hier auch waren die Schenken oder Bar-Rooms zu finden, in denen die Walfischfänger allerlei Gesindel für ihre Schiffe werben; ferner Winkelagenten für Venezuela, Brasilien und die Äquatorgegenden, zwecks Kolonisierung dieser Gegenden und um eine genügende Anzahl von Opfern dem gelben Fieber zu liefern; Garküchen, die ihre Gäste mit Salzfleisch, halb verwesten Austern und Fischen ernährten, die das Meer von selbst auf den Sand hinauswirft; geheime Spielhöllen, chinesische Waschhäuser und verschiedene Schlupfwinkel für die Matrosen; und endlich alle Höhlen des Verbrechens, des Hungers und der Tränen.

Dennoch herrscht in diesem Stadtteil großer Verkehr, denn die ganze Auswandererschaft, welche augenblicklich selbst in den Kasernen von Castle-Garden kein Unterkommen findet und in die sogenannten »Working-Houses« oder Arbeitshäuser nicht gehen will oder kann, drängt sich hier zusammen, lebt und stirbt hier.

Andererseits kann man sagen, daß, wenn die Auswandererschaft den Abschaum der europäischen Gesellschaft bildet, die Bewohner dieser Hintergassen der Abschaum der Emigranten überhaupt sind. Diese Menschen faulenzen teils aus Mangel an Arbeit, teils aus Liebhaberei.

Hier erschallen auch nachts ziemlich oft Revolverschüsse, Hilferufe, heiseres Wutgeschrei, irländische Lieder von betrunkenen Zechern oder das Geheul der mit den Köpfen aneinanderschlagenden Neger.

Am Tage bilden sich jeden Augenblick Gruppen von Landstreichern mit zerfetzten Hüten und Pfeifen irrt Mund und schauen den Faustkämpfen zu, wobei sie für jedes ausgeschlagene Auge um einen bis fünf Cents wetten. Weiße Kinder und kleine Negerinnen mit Krausköpfen treiben sich hier, anstatt die Zeit in der Schule zu verbringen, auf den Straßen umher, klappern mit kleinen Ochsenrippen oder suchen im Kot nach Überresten von Gemüse, Apfelsinen und Bananen. Hagere, irische Weiber strecken die Hände zu jedem besser gekleideten Vorübergehenden, der sich hier verirrt, aus.

In solch einer menschlichen »Gehenna« finden wir unsere beiden Bekannten wieder: Wawrschon Toporek und seine Tochter Marysja.

Die erwartete Erbherrschaft war ein Traum und entschwand auch wie ein Traum, während die Wirklichkeit in Gestalt eines engen, tief in die Erde versunkenen Stübchens erschien, mit einem einzigen Fenster, dessen Scheiben ausgeschlagen waren. An den Wänden der Stube klebte unsauberer Schimmel, und schwarze von Feuchtigkeit herrührende Streifen zogen sich an ihnen entlang. In einer Ecke stand ein kleiner, verrosteter, durchlöcherter Ofen und ein Stuhl auf drei Beinen. Im Winkel lag ein wenig Gerstenstroh, welches das Bett vertreten sollte.

Das war alles. Der alte Wawrschon kniete vor dem Ofen und suchte, ob in der kalten Asche nicht eine Kartoffel zurückgeblieben war … schon seit zwei Tagen suchte er vergeblich danach. Marysja saß auf dem Stroh, umfaßte die Knie mit den Armen und starrte wie abwesend auf den Boden. Das Mädchen ist krank und elend geworden. Es ist dieselbe Marysja, aber ihre einst so roten Wangen sind tief eingefallen, ihre Gesichtshaut ist bleich und kränklich, das ganze Gesicht wie zusammengefallen, nur die Augen erschienen größer und in die Ferne gerichtet.

Deutlich ist auf diesem Antlitz der Einfluß der schlechten Luft, des Elends und der ungenügenden Ernährung zu erkennen.

Sie hatten nur von Kartoffeln gelebt, aber seit zwei Tagen war auch dieser Vorrat ausgegangen. Nun wußten sie nicht mehr, was sie beginnen und wovon sie weiter leben sollten. Der dritte Monat verging, seitdem sie hier auf dem Pflaster wohnten und in dieser Höhle saßen, so daß ihr kleiner Geldvorrat ausgegangen war.

Der alte Wawrschon versuchte wiederholt Arbeit zu finden, aber man verstand nicht einmal, was er wollte. Er ging nach dem Hafen, um Gepäck zu tragen oder Kohlen auf das Schiff zu laden, aber er besaß keinen Karren, und die Irländer schlugen ihm das Gesicht blau. Er wollte sich mit der Axt am Bau der Docks beteiligen, aber wieder schlug man ihm beinahe die Augen aus. Übrigens, was war das für ein Arbeiter, der nicht einmal verstand, was man zu ihm sprach! Wo er auch immer die Hand anlegte, was er auch beginnen wollte, wohin er sich auch begab, überall wurde er ausgelacht, zurückgestoßen, abgewiesen oder geschlagen.

Er hatte also nichts gefunden, womit er das geringste hätte verdienen oder erbitten können. Das Haar war ihm vor Gram weiß geworden, seine Hoffnung erschöpft, sein Geld ausgegangen, und nun begann der Hunger.

Wenn er in der Heimat, unter den Seinen, selbst alles verloren hätte, von Krankheit gepeinigt, von seinen eigenen Kindern aus der Hütte verjagt wäre, so hätte er nur den Wanderstock in die Hand zu nehmen, sich unter ein Kreuz am Scheidewege oder an der Tür einer Kirche hinzustellen und zu singen brauchen: »Gnädiger Herr, vernimm die blutigen Tränen« … Ein reicher Herr wäre vorübergekommen und hätte ihm ein Zehngroschenstück gegeben, die gnädige Frau würde eins der Kinder mit einem Geldstück im rosigen Händchen aus dem Wagen geschickt haben, während sie selbst den alten Bettler mit ihren großen schönen Augen ansah; jeder Bauer hätte ihm ein Stück Brot, jedes alte Weib ein Stück Speck gegeben, und er hätte sich durch das Leben geschleppt und gelebt, wenn auch nur wie ein Vogel, der weder säet, noch erntet.

Und wenn er so unter dem Kreuze stände, würde er dessen Arme über sich gehabt haben und hoch droben den Himmel, ringsumher die Felder, und in der Stille des Dorfes würde der Herrgott seinen Gesang vernommen haben.

Hier aber in dieser Stadt dröhnte es fürchterlich, wie in einer Riesenmaschine, jeder drängte nur vorwärts und blickte nur vor sich hin, so daß er fremdes Unglück nicht bemerken konnte. Hier schwindelte ihm völlig der Kopf, die Hände fielen ihm schlaff herab, die Augen vermochten nicht alles zu fassen, was sich ihren Blicken bot, und ein Gedanke vertrieb den andren. Hier war alles so seltsam fremd, abstoßend und zerfahren, daß jeder, der nicht imstande war, sich in diesem Wirbel mitzudrehen, aus diesem vollen Kreise hinausfliegen und infolge der Wucht des Strudels zerschellen mußte, wie ein irdener Topf.

O, was war das für ein Unterschied! Dort in dem ruhigen Lipinze war Wawrschon ein Wirt und sogar ein Schöffe, besaß eine Kolonie, die Achtung der Leute und sein tägliches Mahl. Am Sonntag trat er mit einer Kerze vor den Altar. Hier aber war er der letzte unter allen, wie ein hergelaufener Hund auf fremdem Gehöft, scheu, zitternd, zusammengekauert und halb verhungert.

In den ersten Tagen des Unglücks gedachte er oft der früheren Zeiten und sagte sich: »In Lipinze ging es dir besser« und sein Gewissen schrie: »Wawrschon, warum hast du Lipinze verlassen?«

Warum? Weil Gott ihn verließ! Er, der Bauer, hätte sein Kreuz getragen und sein trauriges Los erduldet, wenn ein Ende seines Leidensweges vorauszusehen wäre. Doch wußte er genau, daß jeder Tag sein Unglück vergrößerte und jeder Morgen sein und seiner Tochter Elend immer heller erleuchten würde. Was sollte er also beginnen? Sich einen Strick um den Hals legen, ein Gebet sprechen und sich aufhängen? Ein Bauer zuckt nicht mit den Augen vor dem Tode, – was sollte aber aus dem Mädchen werden?

Dachte er an dies alles, so fühlte er, daß nicht nur Gott, sondern auch der Verstand ihn verließ. Kein Lichtschimmer fiel in diese Finsternis, die vor ihm gähnte, und dem allergrößten Schmerz vermochte er nicht einmal einen Namen zu geben. Dieser größte Schmerz war die Sehnsucht nach Lipinze! Tag und Nacht quälte sie ihn, und zwar um so fürchterlicher, als er nicht wußte, was es war, wonach er verlangte, wonach seine Bauernseele rang und warum sie sich vor Qual krümmte … Er aber sehnte sich nach dem Fichtenwald, nach den Feldern und den Hütten mit den Strohdächern, nach den Herren, den Bauern und Priestern und all dem anderen, worüber ein Stück des heimatlichen Himmels hängt und das mit dem Herzen so fest verwachsen ist, daß es sich nur blutig und mit Schmerz von ihm losreißt.

Der Bauer fühlte, daß ihn etwas gleichsam in den Boden hineinsinken ließ. Zuweilen hätte er sich am liebsten an den Haaren gerauft, den Kopf gegen die Mauer gestoßen oder sich zu Boden geworfen, oder geheult wie ein Kettenhund, oder wie im Wahnsinn jemand gerufen, – wen aber, das wußte er selber nicht.

Schon sinkt er unter diesem dröhnenden Lärm zusammen, – aber die fremde Großstadt lärmt und schwirrt ruhig weiter; er jammert und ruft Jesus zu Hilfe, aber nirgends ist ein Kreuz, niemand antwortet ihm, und die Stadt lärmt und schwirrt ruhig weiter …

Auf dem Strohlager kauert das Mädchen, die Augen starr auf den Boden gerichtet, hungrig und regungslos.

Wie seltsam! Tagelang saßen sie oft nebeneinander, ohne ein Wort zu tauschen. So lebten sie, als hegten sie einen tiefen Groll füreinander. Unheimlich war ein solches Leben. Aber wovon sollten sie sprechen? Schlimme Wunden läßt man lieber unberührt. Sollten sie sich etwa erzählen, daß sie kein Geld mehr in den Taschen, keine Kartoffeln im Ofen und keinen Rat mehr im Kopfe hatten? Auch Hilfe hatten sie von keinem Menschen erfahren. Es leben zwar sehr viele Polen in Neuyork, aber kein vermögender wohnt in der Gegend von Chattam-Square.

In der zweiten Woche nach ihrer Ankunft hatten sie zwar zwei polnische Familien kennen gelernt, die eine aus Schlesien, die andere aus der nächsten Nähe von Posen, aber auch diese litten hier wohl längst Hunger.

In der schlesischen Familie waren schon zwei Kinder gestorben, das dritte war krank, aber dennoch schlief es mit den Eltern unter dem Brückenpfeiler. Sie lebten alle nur davon, was sie auf den Straßen fanden. Später wurden sie ins Krankenhaus aufgenommen, und ihr weiteres Schicksal war dem Bauer nicht bekannt.

Der zweiten Familie ging es nicht minder schlecht, oder eigentlich noch schlimmer, denn der Vater trank. Marysja half der Frau, solange sie konnte, aber jetzt bedurfte sie selber der Stütze.

Zwar hätten sie sich beide nach der polnischen Kirche nach Hoboken begeben können, vielleicht würde der Pfarrer den anderen Leuten von ihnen erzählen. Aber wußten sie denn, ob es eine Kirche oder einen polnischen Priester gab, konnten sie sich mit jemand verständigen oder jemand danach fragen?

Auf diese Weise wurde jeder Cent, den sie ausgaben, für sie gleichsam eine Stufe jener Treppe, welche in den Abgrund des Elends führt. Jetzt saßen sie alle beide da, er am Ofen, sie auf dem Stroh. Stunde nach Stunde verrann, in der Stube wurde es immer dunkler, denn obgleich es Mittag war, stieg, wie gewöhnlich zur Frühlingszeit, schwerer, durchdringender Nebel vom Wasser auf. Obgleich es draußen schon warm war, zitterten sie beide vor Kälte in der Stube. Endlich gab Wawrschon alle Hoffnung auf, daß in der Asche noch etwas zu finden sei und sagte:

»Marysja, ich halte es länger nicht aus, und auch du kannst nicht länger hier sitzen; ich gehe jetzt an das Ufer nach Holz, damit wir wenigstens einheizen können, vielleicht finde ich auch etwas zu essen.«

Sie antworte nichts, er ging also. Er hatte gelernt, nach dem Hafen zu gehen, um abgebrochene Bretter von den Kisten und Schiffspaketen, die das Wasser an das Ufer wirft, aufzuheben. So machen es alle, die kein Geld haben, um Kohlen zu kaufen. Oft wurde er bei diesem Fang hin und her gestoßen, manchmal aber auch nicht. Zuweilen war es ihm schon gelungen, auch etwas Eßbares zu finden, elende Überreste verdorbenen Gemüses, das von den Schiffen herunter geworfen wurde …

Und wenn er so im Nebel herumstreifte und suchte, was er nicht verloren, vergaß er für einen Augenblick sein Elend und sein Heimweh, das am allermeisten an ihm zehrte.

Endlich gelangte er an den Strand. Da es um die Frühstückszeit war, trieben sich dort nur einige kleine Burschen umher, die ihn zwar sogleich anschrieen, mit Kot und Muscheln nach ihm warfen, aber mit ihm nicht fertig wurden.

Auf dem Wasser schwammen eine ganze Menge verschiedener Bretter; die eine Welle brachte sie ans Ufer, die andere trug sie wieder davon. Bald hatte er einen genügenden Vorrat. Auch kleine Häufchen bewegten sich oft auf den Wellen. Womöglich enthielten sie etwas Eßbares; da sie aber zu leicht waren, erreichten sie den Strand nicht, und er vermochte daher nicht, sie zu fassen.

Die Knaben warfen Stricke aus und zogen sie auf diese Weise zu sich heran. Da er keine Schnur besaß, sah er begierig zu und wartete, bis die Knaben fortgingen, dann durchsuchte er die Reste noch einmal und verzehrte, was ihm eßbar erschien. Daß seine Tochter noch nichts gegessen, daran dachte er nicht.

Aber das Glück sollte ihm noch lächeln. Auf dem Heimwege begegnete er einem großen Wagen mit Kartoffeln, der auf der Fahrt nach dem Hafen in einer Furche stecken geblieben war und nicht von der Stelle konnte. Wawrschon packte sofort die Speichen und stieß mit dem Fuhrmann die Räder. Es war eine große Anstrengung, so daß ihm das Kreuz weh tat, aber endlich zogen die Pferde an, der Wagen wurde herausgezogen, und da er vollbeladen war, fielen eine Menge Kartoffeln in den Schmutz hinunter.

Der Fuhrmann dachte nicht daran, sie aufzulesen, dankte dem Bauern für die Hilfe, trieb die Pferde an und fuhr davon.

Wawrschon stürzte sich sofort auf die Kartoffeln, sammelte sie mit zitternden Händen gierig auf und steckte sie in die Taschen.

Das erfüllte ihn mit neuem Mut. Ein Stückchen Brot, das der hungernde Mensch findet, erscheint ihm als ein gefundenes Glück. Als der Bauer daher den Heimweg antrat, murmelte er leise:

»Dank dem allerhöchsten Gott, daß er unser Elend gesehen. Holz haben wir genügend, das Mädchen wird einheizen, und Kartoffeln so viel, daß sie auf zweimal ausreichen. Gott ist barmherzig! Nun wird es in der Stube bald gemütlicher werden! Das Mädchen hat seit anderthalb Tagen nichts gegessen. Wie wird sie sich freuen! Der liebe Gott ist doch barmherzig!«

Während er so vor sich hin sprach, schleppte er mit der einen Hand das Holz, und mit der anderen betastete er sich jeden Augenblick, um sich zu überzeugen, ob die Kartoffeln nicht herausgefallen seien. Er trug einen großen Schatz, und so erhob er seine Augen dankbar zum Himmel und murmelte weiter:

»Ich glaubte schon, ich würde stehlen müssen! Da aber fiel's ohne Diebstahl vom Wagen herunter, und nun haben wir auf zwei Tage wieder etwas zu essen. Der liebe Gott ist barmherzig! Wenn Marysja hört, daß ich Kartoffeln habe, wird sie sofort von ihrem Strohlager aufspringen.«

Inzwischen hatte sich Marysja, seitdem der Vater fortgegangen war, nicht von der Stelle gerührt. Wenn Wawrschon des Morgens Holz brachte, geschah es oft, daß sie einheizte, Wasser holte, kochte und aß, was da war, und dann stundenlang ins Feuer blickte.

Auch sie hatte sich seiner Zeit um Arbeit bemüht. Man hatte sie sogar in einem »Boarding-Hause« zum Abwaschen und Ausfegen gemietet. Da sie sich aber mit ihr nicht verständigen konnten, und da sie die Aufträge, die sie nicht verstand, schlecht ausführte, wurde sie schon nach zwei Tagen fortgejagt. Dann suchte und fand sie auch nichts mehr.

Tagelang saß sie zu Hause und fürchtete sich, auf die Straße zu gehen, weil sie dort von Irländern oder betrunkenen Matrosen angesprochen wurde. Durch dieses Faulenzen war sie noch unglücklicher. Das Heimweh zehrte an ihr, wie der Rost am Eisen. Sie war sogar noch unglücklicher als Wawrschon, denn zu dem Hunger, zu allen Qualen, die sie erduldet, zu der Überzeugung, daß es für sie weder Hilfe, noch einen Ausgang gab, zu dem schrecklichen Heimweh nach Lipinze, kam noch die schwere Last des Gedankens an Jasko, den Stallknecht, hinzu.

Zwar hatte er ihr geschworen und gesagt: »Wo du bist, dort werde auch ich sein,« aber damals reiste sie ab, um eine reiche Erbin und Herrin zu werden. Und wie ganz anders war alles gekommen!

Er war ein Knecht im Hofe, besaß seine Kolonie vom Vater her, während sie so arm und hungrig geworden war, wie eine Kirchenmaus in Lipinze. Wird er wohl kommen? Und käme er, würde er sie an sein Herz pressen und sagen: »Mein elendes Kind!« oder auch »Geh fort, du Bettlerstochter!«

Wie sah ihr Brautschatz jetzt aus! Nichts als Lumpen. Selbst die Hunde würden sie in Lipinze anbellen. Und dennoch zog sie etwas dorthin, so sehnsüchtig, daß das Herz ihr aus der Brust springen und gleich einer Schwalbe über das Meer fliegen möchte, zurück in die Heimat, wenn auch nur, um dort zu sterben. Dort war er, ihr Jasko, den sie so heiß liebte, ob er ihrer gedachte oder auch nicht. Nur bei ihm fände sie Frieden und Freude und Glück! Bei ihm allein von allen Menschen aus der Welt!

Wenn das Feuer im Ofen brannte und der Hunger sie nicht so plagte wie heute, dann erzählten die zischenden und flackernden Flammen, bald funkensprühend, bald schillernd, dem Mädchen von Lipinze und erinnerten sie daran, wie sie mit ihren Kameradinnen zu vieren am Spinnrade saß, und Jasko aus dem Erker hereinschaute und rief:

»Marysja! Wir wollen zum Priester gehen, denn ich habe dich lieb.«

Sie aber antwortete ihm: »Sei still, du Taugenichts.«

Und es war ihr so wohl zumute, so heiter ums Herz, wie auch damals, als er sie aus der Ecke mit Gewalt in die Mitte der Stube zog, so daß sie die Augen vor Scham mit den Händen bedeckte und flüsterte: »Geh doch fort, ich schäme mich.«

Wenn die Flammen jene Erinnerung in ihr wach riefen, rollten Tränen über ihre Wangen. Jetzt aber war im Ofen kein Feuer und in ihren Augen keine Träne; denn sie hatte schon alle Tränen ausgeweint. Zuweilen schien es ihr auch, als ob sie in die Brust zurückströmten und ihr die Kehle zusammenpreßten. Sie fühlte sich entkräftet und ermattet, und selbst zum Nachdenken fehlte ihr die Kraft. Übrigens aber duldete sie mit Ergebung und starrte nur mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin, wie ein Vögelchen, das man marterte.

So saß sie auch jetzt mit regungslosem Blick auf dem Strohlager. Da bewegte jemand die Tür. In der Meinung, es sei der Vater, erhob sie nicht einmal den Kopf, bald aber vernahm sie eine fremde Stimme: »Look here!«

Es war der Eigentümer des elenden Loches, das sie bewohnten, ein alter schmutziger, zerlumpter Mulatte, mit düstrem Gesicht, die Backen mit Tabak ausgestopft.

Als das Mädchen ihn erblickte, erschrak es sehr. Sie schuldeten ihm einen Dollar für die nächste Woche und besaßen nicht einen Cent mehr. Nur mit Demut konnte sie etwas erreichen. Sie näherte sich ihm also, umfaßte leise seine Füße und küßte seine Hand.

»Ich komme nach meinem Dollar,« sagte er.

Sie verstand das Wort Dollar, schüttelte den Kopf, mischte losgerissene Worte durcheinander, und während sie ihn flehentlich ansah, bemühte sie sich, ihm zu verstehen zu geben, daß sie bereits alles ausgegeben, seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, daß sie hungrig seien, und daß er mit ihnen Mitleid haben möge.

»Gott wird's dem gnädigen Herrn lohnen,« fügte sie auf polnisch hinzu, da sie nicht mehr wußte, was sie sagen und anfangen sollte.

Der »gnädige Herr« verstand zwar nicht, daß er gnädig genannt wurde, aber er erriet, daß er den Dollar nicht bekommen werde. Er war seiner Sache sogar so sicher, daß er mit einer Hand ihre Bündel mit den Sachen nahm, mit der anderen das Mädchen an der Schulter faßte, es leicht die Stufen hinaufstieß, auf die Straße führte und ihm die Sachen vor die Füße warf. Dann öffnete er ebenso phlegmatisch die Tür der benachbarten Schenke und rief:

»He, Paddy, hier ist eine Stube für dich!«

» Allright,« antwortete eine Stimme aus dem Inneren, »ich komme zur Nacht!«

Der Mulatte verschwand sodann im dunklen Flur, und das Mädchen blieb allein auf der Straße. Sie legte die Bündel in eine Nische des Hauses, damit sie sich nicht im Schmutze herumsielten, stellte sich daneben und wartete demütig und still, wie immer.

Die betrunkenen Irländer, die über die Straße gingen, sprachen sie heute nicht an. In der Stube war es dunkel gewesen, aber aus der Straße war es sehr hell, und in diesem Licht erschien das Gesicht des Mädchens so elend, wie nach einer langen, schweren Krankheit. Nur ihr helles Flachshaar war unverändert geblieben, ihre Lippen dagegen waren blau, die Augen eingefallen und schwarz umrändert, und aus dem Gesicht traten die Backenknochen hervor. Sie sah aus, wie eine Blume im Verwelken, oder wie ein Mädchen, das sterben mußte.

Die Vorübergehenden betrachteten sie mit einem gewissen Mitleid. Eine alte Negerin richtete sogar eine Frage an sie, als sie aber keine Antwort erhielt, ging sie beleidigt weiter.

Inzwischen eilte Wawrschon mit dem angenehmen Gefühl nach Hause, die in armen Leuten ein sichtbarer Beweis der Barmherzigkeit Gottes zu erwecken pflegt. Nun hatte er Kartoffeln. Er dachte daran, wie sie dieselben essen würden, wie er morgen wieder hinter dem Wagen gehen würde, und an übermorgen dachte er in diesem Augenblick nicht, denn er war zu hungrig.

Als er von weitem das Mädchen auf der Straße, vor dem Hause, stehen sah, wunderte er sich sehr und beschleunigte seine Schritte.

»Was stehst du denn hier?«

»Der Wirt hat uns hinausgetrieben.«

»Hinausgetrieben?«

Dem Bauer fiel das Holz aus der Hand. Das war zu viel. Fortgetrieben – in demselben Augenblick, da sie Holz und Kartoffeln hatten! Was sollten sie jetzt anfangen? Wo die Kartoffeln braten? Wo sie verzehren? Wohin sollten sie gehen?

Dem Holze schleuderte Wawrschon seine Mütze in den Schmutz nach: »Jesu! Jesu!« rief er, lief unruhig im Kreise herum, öffnete den Mund, blickte das Mädchen mit verwirrtem Blick an und wiederholte noch einmal: »Hinausgetrieben?«

Dann tat er, als wollte er irgend wohin gehen, aber er kehrte sofort wieder um, und seine Stimme wurde dumpf, heiser und drohend, als er fragte:

»Warum batest du ihn nicht, Tolpatsch?«

Sie seufzte.

»Ich bat ihn.«

»Umfaßtest du seine Füße?«

»Ja, ich tat es.«

Wawrschon wand sich auf einer Stelle wie ein Wurm, »Mögest du umkommen!« schrie er.

Das Mädchen blickte ihn schmerzlich an.

»Väterchen, kann ich dafür?«

»Bleib hier stehen und rühr' dich nicht von der Stelle. Ich werde ihn bitten, das er uns wenigstens erlaube, die Kartoffeln zu braten.«

Er ging.

Nach einer Weile hörte man Lärm im Flur, Fußgestampf, erhobene Stimmen und dann stürzte Wawrschon, von einer kräftigen Hand gestoßen, auf die Straße hinaus.

Einen Augenblick blieb er stehen, dann sagte er kurz zu dem Mädchen:

»Komm!«

Sie bückte sich nach den Bündeln, um sie mitzunehmen. Ihre erschöpften Kräfte reichten kaum, um sie zu tragen, aber der Alte half ihr nicht, als hätte er vergessen oder nicht gesehen, daß die Last für das Mädchen zu schwer war …

Sie traten ihren Weg an. Die zwei elenden Gestalten des Greises und des Mädchens würden die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden erregt haben, wenn diese Vorübergehenden an den Anblick der Not weniger gewöhnt wären. Wohin konnten sie gehen? In welche Finsternis und Folterqual oder Elend?

Das Mädchen atmete immer schwerer und lauter, sie taumelte das eine Mal über das andere, schließlich sagte sie mit flehender Stimme:

»Väterchen, nimm die Sachen, ich kann nicht mehr.«

Er erwachte wie aus dem Traum und rief:

»So wirf sie hin!«

»Wir können sie noch gebrauchen.«

»Wir gebrauchen sie nicht mehr.«

Als er sah, daß das Mädchen zögerte, schrie er mit Wut:

»Wirf die Lumpen fort, sonst schlage ich dich tot.«

Dieses Mal folgte sie erschreckt, und sie gingen weiter. Der Bauer wiederholte noch mehrere Male:

»Wenn es nicht anders ist, so mag's werden, wie's will.«

Dann verstummte er, aber aus seinen Augen blickte etwas Böses.

Durch immer schmutzigere Gäßchen näherten sie sich dem Ende des Hafens, gelangten zu den großen Pfahlbrücken, kamen an einem Gebäude mit der Inschrift: »Matrosenheim« vorüber und gingen dicht ans Wasser hinunter. An dieser Stelle wurde ein neues Dock gebaut. Hohe Gerüste zum Einrammen der Pfähle tauchten aus dem Wasser hervor, und zwischen den Brettern und Balken tummelten sich die Leute, die beim Bau beschäftigt waren.

Als Marysja einen Haufen Balken erreicht hatte, setzte sie sich, da sie nicht weiter gehen konnte. Wawrschon kniete schweigend neben ihr nieder.

Es war schon vier Uhr nachmittags. Der ganze Hafen voll Leben und Verkehr. Auch der Nebel war gefallen, und die hellen Sonnenstrahlen warfen ihr Licht auf die beiden Elenden und erwärmten sie barmherzig. Vom Wasser wehte der Hauch des Frühlings voll Frische, Leben und Heiterkeit an das Land. Ringsumher erglänzte so viel Ätherblau und Licht, daß ihre Augen von diesem Übermaß geblendet wurden. Die Meeresflut vereinte sich in der Ferne anmutig mit dem Himmel. In dieses Blau ragten näher am Hafen ruhig die Schiffsmasten, Schornsteine und Flaggen empor, die leicht im Winde flatterten.

Am Horizont schienen die Schiffe, die zum Hafen eilten, sich bald aufzurichten, bald unter dem Wasser hervorzutauchen. Ihre aufgespannten, sich aufblähenden Segel sahen aus, wie weiße Wölkchen und leuchteten lichtumstrahlt, blendend weiß auf dem Azur des Wassers. Andere Schiffe gingen ins Meer hinaus und zogen einen schäumenden Streifen hinter sich her.

Sie gingen in der Richtung, wo Lipinze lag, also für die beiden das verlorene Glück, ihr besseres Schicksal, ihr Trost.

Auch das Mädchen dachte daran, worin sie sich wohl so versündigt und sich gegen den Herrgott vergangen hatten, daß er, der Barmherzige, nur von ihnen allein sein Antlitz abgewandt, sie unter fremden Leuten vergessen und an diesen fremden Strand geworfen hatte. Von ihm hing es doch ab, ihnen das Glück wieder zu schenken. Gingen doch so viele Schiffe nach jener Richtung, und keines nahm sie mit.

Die müden, armen Gedanken des Mädchens entschwebten noch einmal nach Lipinze, zu Jasko, dem Stallknecht. Ob er wohl an sie dachte, ob er sie nicht vergessen hat? Sie dachte immer nur an ihn, denn nur im Glück vergißt man seine Nächsten, im Unglück aber und in der Einsamkeit schlingt sich der Gedanke um unsere Lieben, wie der Hopfen um die Pappel.

Wo aber seine Gedanken wohl weilten? Vielleicht hatte er seine alte Liebe schon längst aufgegeben und zu einem anderen Mädchen Brautwerber geschickt? Er würde sich sicherlich schämen, an so eine Elende zu denken, die außer ihrem welken Kränzchen nichts auf der Welt besaß, und um die nur der Tod allein noch werben konnte.

Da sie krank war, quälte sie der Hunger nicht so sehr, aber vor Müdigkeit und Schwäche umgarnte sie der Schlaf, ihre Augen fielen zu, und das bleiche Antlitz senkte sich auf die Brust. Von Zeit zu Zeit erwachte sie und öffnete die Augen, dann schloß sie dieselben wieder. Sie träumte, daß sie über Schluchten und Abgründe umherirrte und wie jene Kasja im Volksliede in den »Tiefen Dunajetz« fiel, und bald hörte sie deutlich singen:

Der Jasio saß auf hohem Berg
Er machte sich behend ans Werk,
Ließ sich hinab an einer Schnur,
Doch ach! gar kurz war diese nur.
Marysia drum, das arme Kind
Gibt ihren Zopf dazu geschwind.

Plötzlich erwachte sie, denn es schien ihr, als habe sie ihren Zopf nicht mehr, und als sei sie in den Abgrund gestürzt. Der Traum war verschwunden. Nicht Jasko, sondern Wawrschon saß bei ihr, und man sah nicht den Dunajetz, sondern den Hafen von Neuyork mit den Werften, den Gerüsten, Masten und Schloten. Wieder eilten einige Schiffe auf die See hinaus, und von ihnen schallte der Gesang herüber.

Ein stiller, warmer und klarer Frühlingsabend rötete den Himmel und das Wasser. Die Flut wurde so durchsichtig, daß jedes Schiff und jeder Pfahl sich in ihr spiegelten, als wenn alles doppelt wäre. Still und schön war's ringsumher. Glückseligkeit und Frieden schienen in der Luft ausgebreitet; es war, als ob die ganze Welt sich freute, nur sie beide waren unglücklich und vergessen. Die Arbeiter traten den Heimweg an, nur sie beide hatten kein Heim.

Immer heftiger zerrte der Hunger mit eiserner Hand an den Eingeweiden des Wawrschon. Der Bauer saß düster und in Gedanken versunken da, und auf seinem Gesicht begann sich ein schrecklicher Entschluß zu malen. Wer dies Antlitz betrachtet hätte, würde erschrocken zurückweichen, denn es hatte den Ausdruck eines Raubtieres oder eines Raubvogels und war trotzdem so verzweifelt ruhig und starr, wie das Gesicht eines Toten. Während der ganzen Zeit hatte er kein Wort zu dem Mädchen gesprochen; erst als die Nacht hereinbrach und der Hafen ganz leer wurde, sagte er mit seltsamer Stimme:

»Komm, Marysja!«

»Wohin wollen wir gehen?« fragte sie schlaftrunken.

»Nach jener Brücke am Wasser. Wir legen uns dort auf die Bretter und werden schlafen.«

Sie gingen. In der völligen Finsternis mußten sie sehr vorsichtig gehen, um nicht ins Wasser zu fallen.

Die amerikanischen Bretter- und Balkengebinde bildeten zahlreiche Krümmungen und gewissermaßen einen hölzernen Gang, an dessen Ende sich eine Plattform von Balken befand und dahinter ein Sturmbock zum Einrammen der Pfähle.

Auf dieser Plattform, die mit einem kleinen Dach zum Schutze gegen den Regen versehen war, standen die Leute, welche die Taue vom Sturmbock aus zogen; jetzt aber war niemand da.

Als sie bis zum äußersten Ende kamen, sagte Wawrschon: »Hier werden wir schlafen.«

Marysja legte sich oder fiel eher auf die Bretter, und obgleich sie sofort von einem Schwarm von Moskitos befallen wurden, schlief sie sehr bald fest ein.

Plötzlich erweckte sie in der tiefen Nacht Wawrschons Stimme:

»Marysja, stehe auf!«

Etwas derartiges lag in dieser Stimme, daß sie sofort erwachte.

»Was ist denn, Väterchen?«

Inmitten der nächtlichen Stille und Finsternis erklang die Stimme des alten Bauern dumpf, schauerlich, aber ruhig:

»Mädchen, du sollst nicht mehr länger Hunger leiden, sollst nicht fremde Menschen um Brot anbetteln und nicht mehr unter freiem Himmel schlafen. Die Menschen haben dich verlassen! Gott verließ dich, das Glück hat dich gemieden, so mag dich wenigstens der Tod an sich schmiegen; das Wasser ist hier tief, du wirst dich nicht lange quälen.«

Sie konnte ihn in der Finsternis nicht sehen, obgleich ihre Augen sich vor Schreck weit öffneten.

»Ich werde dich ertränken, Unglückliche, und gehe selber auch ins Wasser,« fuhr er fort, »es gibt keine Rettung, kein Erbarmen mehr für uns! Morgen wirst du nicht mehr Hunger leiden, morgen wird es dir besser gehen, als heute.«

Sie aber wollte nicht sterben. Sie war achtzehn Jahre alt und besaß jene Anhänglichkeit an das Leben und jene Furcht vor dem Tode, welche die Jugend gibt. Ihre ganze Seele erbebte bis zum Grunde bei dem Gedanken, daß sie morgen eine Wasserleiche sein wird und irgendwo in Finsternis versinken oder tief im Wasser unter Fischen und Gewürm auf dem schlammigen Grunde liegen sollte. Für nichts in der Welt! Unbeschreiblicher Ekel und Schrecken erfaßte sie in diesem Augenblick, und ihr leiblicher Vater, der so in der Finsternis sprach, erschien ihr als ein böser Geist.

Während dieser Zeit ruhten seine beiden Hände auf ihren hageren Schultern, und die Stimme sprach fortwährend mit jener entsetzlichen Ruhe:

»Wenn du auch schreist, hier hört dich niemand. Ich werde dir nur einen Stoß versetzen, und das ganze dauert nicht länger, als zwei Vaterunser …«

»Ich will nicht, Väterchen, ich will nicht,« rief Marysja, »fürchtet Ihr Gott nicht? Herziger, goldiger Vater, habt Erbarmen mit mir! Was habe ich Euch getan? Ich habe doch über mein Los nicht geklagt, ich habe doch mit Euch Hunger und Kälte gelitten, Väterchen!«

Sein Atem wurde hastig, die Hände preßten sich wie Kletten zusammen. Sie wehrte sich immer verzweifelter gegen den Tod.

»Habt Erbarmen! Habt Mitleid mit mir! Ich bin ja Euer Kind, bin krank und elend und werde ja ohnehin nicht mehr lange auf der Welt sein. Mir ist so schwer ums Herz, ich habe Angst.«

Indem sie so klagte, klammerte sie sich an seinen Rock und preßte ihren Mund flehend auf jene Hände, welche sie in den Abgrund stürzen wollten. Aber das schien ihn nur um so mehr anzuregen. Seine Ruhe verwandelte sich in Wahnsinn: er röchelte und schnarchte vor Erregung.

Zeitweise trat lautlose Stille zwischen ihnen ein, und wenn jemand am Ufer stände, so würde er nichts gehört haben, als lautes Atmen, ein stilles Ringen und das Knarren der Bretter.

Die Nacht war tief und finster, und nirgends konnte Hilfe kommen; denn hier war das äußerste Ende des Hafens, wohin sich selbst am Tage außer Arbeitern niemand verirrte.

»Erbarmen, Erbarmen!« rief Marysja verzweifelt.

In diesem Augenblick riß er sie mit einer Hand dicht an den Rand des Gerüstes und mit der anderen schlug er auf ihren Kopf, um ihr Schreien zu ersticken. Aber auch dieses Schreien erweckte nirgends ein Echo: nur ein Hund heulte in der Ferne.

Das Mädchen fühlte, daß sie ermattete. Jetzt schwebten ihre Füße in der Luft, nur die Hände klammerten sich noch an den Vater, aber auch sie ermatteten schon. Ihr Hilferuf wurde immer schwächer, schließlich ließen ihre Hände seinen Rockzipfel los, und Marysja fühlte, daß sie in den Abgrund flog. Sie fiel von der Plattform, aber im Fallen klammerte sie sich an die Bretter fest und blieb über dem Wasser hängen.

Der Bauer bückte sich über sie und – es ist schauerlich, es auszusprechen – versuchte, ihre Hände loszureißen. Verworrene Gedanken durchflogen, wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm, ihren Kopf in Gestalt von Bildern und Blitzen: Lipinze, der Brunnenschwengel, die Abreise, das Schiff, der Sturm, die Litanei, das Elend in Neuyork und endlich die Qual, was mit ihr vorging … Sie sah ein riesiges Schiff mit emporgerichteter Spitze, darauf eine Menge Menschen, und aus dem Gedränge sich zwei Arme zu ihr ausstrecken.

Bei Gott, Jasko ist es, der dort steht und die Hände zu ihr ausstreckt! Und über dem Schiff und über Jasko lächelt die Mutter Gottes lichtumstrahlt.

Bei diesem Anblick drängt sie die Leute am Ufer auseinander und ruft: »Heiligste Jungfrau, Jasko!«

Noch einen Augenblick, … zum letztenmal erhebt sie den Blick zum Vater:

»Väterchen, dort ist die Mutter Gottes! Sieh doch, die Mutter Gottes!«

Noch einen Augenblick, und dieselben Hände, die sie in das Wasser herabstießen, erfaßten jetzt ihre erschlaffenden Arme und ziehen sie mit übermenschlicher Kraft empor.

Wieder fühlt sie die Bretter der Gerüste unter den Füßen, wieder halten sie Arme umfangen, aber es sind die Arme des Vaters und nicht des Henkers, und ihr Kopf schmiegt sich an die väterliche Brust.

Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, sah sie, daß sie ruhig neben dem Vater lag, aber trotzdem es dunkel war, bemerkte sie, daß er wie gekreuzigt dalag, und daß ein dumpfes, klagendes Stöhnen ihn durchschüttelte und seine Brust zerwühlte.

»Marysja,« sagte er endlich mit schluchzender Stimme, »vergib mir, mein Kind …«

Das Mädchen suchte hastig nach seinen Händen, schmiegte diese an ihre bleichen Lippen und flüsterte:

»Väterchen, möge der Herr Jesus es Euch vergeben, wie ich Euch vergebe.«

Aus dem bleichen Licht, das seit einiger Zeit am Horizont schimmerte, tauchte der große, heitere Vollmond auf, und wieder geschah etwas Seltsames.

Marysja sah, wie ganze Scharen kleiner Engelchen sich vom Monde losrissen und gleichsam als goldene Bienen über helle Strahlen zu ihr niederschwebten, mit den Flügelchen rauschend, wie im Tanze kreisend und springend und mit Kinderstimmen singend:

»Gequältes Mädchen, Friede sei mit dir! Elendes Vöglein, Friede sei mit dir! Stilles, geduldiges Feldblümlein, Friede sei mit dir!«

Indem sie so sangen, schütteten sie weiße Lilienkelche und kleine silberne Glöckchen über sie aus und sangen, und es klang wieder:

»Schlummre, Mädchen! Schlafe still und sanft!«

Und ihr wurde so wohl, so hell und still ums Herz, daß sie wirklich einschlief.

Die Nacht schwand und es begann zu dämmern. Das erste Morgenlicht breitete sich schimmernd über das Wasser. Die Maste und Schlote begannen aus dem Schatten hervorzutauchen und schienen sich zu nähern. Wawrschon kniete über Marysja gebückt.

Er glaubt, sie sei tot. Ihre schlanke Gestalt lag regungslos da, ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht weiß wie Linnen, mit blauen Schatten, ruhig und starr. Vergeblich schüttelte der Alte das Mädchen an der Schulter: sie rührte sich nicht und öffnete nicht einmal die Augen. Wawrschon glaubte nun auch sterben zu müssen, als er aber seine Hand an ihre Lippen legte, fühlte er, daß sie atmete. Ihr Herz schlug, wenn auch so schwach, daß sie jeden Augenblick sterben konnte, Wawrschon fühlte es. Wenn der Tag aus dem Morgennebel auftauchte, wenn die Sonne sie erwärmte, würde sie vielleicht erwachen, sonst nicht.

Die Möwen kreisten besorgt um sie her; einzelne setzten sich auf die nächsten Pfähle.

Der Morgennebel verteilte sich allmählich – unter dem Wehen des Westwindes: es war ein warmer, sanfter Frühlingshauch.

Dann ging die Sonne auf. Ihre Strahlen fielen zuerst auf die Spitzen des Gerüstes, dann, als sie immer tiefer herabsanken, warfen sie ihr goldenes Licht auch auf Marysjas Antlitz und schienen es zu küssen und zu liebkosen. In diesem Glanze und von dem hellen Haar bekränzt, das von dem nächtlichen Kampfe und der Feuchtigkeit zwar zerzaust war, schien es fürwahr ein Engelsgesicht zu sein. Denn Marysja war ja durch all die erlittene Qual und Pein fast schon ein Engel geworden. Ein wundervoller, rosiger Tag entstieg dem Wasser, die Sonne wärmte immer kräftiger, der Wind wehte mitleidig über dem Mädchen, die Möwen kreisten um sie her und schrien, als ob sie sie wecken wollten. Wawrschon hatte seinen Rock ausgezogen und ihr die Füße bedeckt. Neue Hoffnung erfüllte sein Herz.

Die blauen Schatten wichen allmählich von ihrem Gesicht, die Wangen röteten sich leicht, sie lächelte und öffnete schließlich die Augen.

Da kniete dieser alte Bauer auf der Brücke nieder, erhob den Blick gen Himmel, und die Tränen quollen in zwei Strömen über seine gerunzelten Wangen.

Er fühlte ein für allemal, daß dieses Kind jetzt sein Augapfel sei, die Seele seiner Seele und sein über alles geliebtes Heiligtum.

Sie war nicht nur erwacht, sondern fühlte sich gesünder und frischer als gestern.

Die reine Hafenluft bekam ihr besser, als die vergiftete Stubenatmosphäre. Sie kehrte wirklich zum Leben zurück, denn, als sie sich auf den Balken niedergesetzt, rief sie sofort:

»Väterchen, ich bin furchtbar hungrig.«

»Komm ans Ufer, mein Töchterchen, vielleicht finden wir dort etwas,« sagte der Alte.

Sie stand ohne große Anstrengung auf, und sie gingen weiter. Jedenfalls sollte das ein außergewöhnlicher Tag in all der Zeit ihres Mißgeschicks sein, denn kaum waren sie einige Schritte gegangen, als sie dicht neben sich auf dem Gerüst, zwischen zwei Balken, ein Tuch bemerkten, in welches ein Weizenbrot, gekochter Mais und Pökelfleisch eingewickelt waren.

Das erklärte sich einfach auf die Weise, daß irgendein Werftarbeiter einen Teil seines Frühstücks von gestern für heute hier aufbewahrt hatte. Die Arbeiter pflegten das oft zu tun. Wawrschon und Marysja aber erklärten es sich noch einfacher. Wer hatte diese Nahrung hierher gelegt? Ihrer Meinung nach derjenige, welcher jedes Blümchens, jedes Vögleins, jedes Käfers und jeder Ameise gedenkt: Gott im Himmel. Sie sagten ein Gebet, aßen, obgleich es nicht viel war, und gingen über das Wasser nach dem Hauptdock. Sie waren wie neubelebt. Als sie das Zollhäuschen erreichten, bogen sie über die Anhöhe von Water-Street nach Broad-Way ein. Sie ruhten oft unterwegs aus und brauchten für den Weg mehrere Stunden. Von Zeit zu Zeit setzten sie sich auf einen Balken oder auf eine leere Schiffskiste. Sie gingen, ohne selber zu wissen, weshalb; Marysja schien es aber, als müßten sie durchaus nach der Stadt gehen.

Unterwegs begegneten sie einer Menge Lastwagen, die zum Hafen fuhren.

Auf der Water-Street herrschte bereits großes Leben. Aus den geöffneten Toren traten die Leute heraus und eilten zu ihrer alltäglichen Beschäftigung.

In einem solchen Tor erschien ein hochgewachsener Herr mit grauem Haar und großem Schnurrbart. Neben ihm stand ein junger Bursche. Als er heraustrat, betrachtete er die beiden Wanderer, musterte ihre polnische Tracht und bewegte den Schnurrbart. Staunen malte sich auf seinem Gesicht, er sah sie noch genauer an und lächelte. Ein menschliches Antlitz, welches sie in Neuyork freundlich anlächelte, – das war für sie ein Wunder, ein Zauber, bei dessen Anblick sie beide erstaunten. Inzwischen näherte sich der alte Herr und fragte sie in reinstem Polnisch:

»Von wo kommt ihr denn hierher, Leute?«

Sie waren wie vom Blitz getroffen. Anstatt zu antworten, wurde der Bauer blaß wie eine Wand, schwankte auf den Füßen und glaubte weder seinen Ohren, noch seinen Augen.

Marysja erholte sich zuerst wieder, umfaßte sofort die Knie des Herrn, kniete vor ihm nieder und rief:

»Aus dem Posenschen, gnädiger Herr! Aus dem Posenschen.«

»Was macht ihr denn jetzt hier?«

»Wir leben in Elend und Hunger und schwerer Not, teuerster Herr.«

Hier ging Marysja die Stimme aus, Wawrschon aber warf sich dem Herrn zu Füßen, küßte seinen Rockschoß und hielt ihn fest, als ob er ein Stück des Himmels ergriffen hätte.

Das war ja ein Herr, ein polnischer Herr, der wird ihn nicht sterben lassen, sondern retten aus der Not und dem Elend.

Der junge Bursche, der mit dem weißhaarigen Herrn war, sperrte die Augen weit auf; bald sammelte sich um sie eine Menge, die Leute standen mit offenem Munde da und sahen erstaunt, wie ein Mensch vor dem andern kniete und ihm die Füße küßte. In Amerika war das etwas Unerhörtes. Aber der alte Herr ärgerte sich über die Gaffer.

»Das ist nicht euer Geschäft,« rief er ihnen auf Englisch zu, »kümmert euch um eure Sachen!«

Dann wandte er sich zu Wawrschon und Marysja.

»Wir wollen nicht auf der Straße stehen! Kommt mit mir!«

Er führte sie in das nächste Wirtshaus; dort betraten sie ein besonderes Zimmer, wo er sich mit ihnen und dem Burschen einschloß.

Sie fielen ihm wieder zu Füßen, aber er wehrte sich dagegen und brummte ärgerlich:

»Hört damit auf, wir sind doch aus einer Gegend, wir sind Kinder einer Mutter!«

Hier schien der Rauch seiner Zigarre seine Augen zu kneifen, denn er rieb sie mit den Fäusten und fragte:

»Seid ihr hungrig?«

»Seit zwei Tagen haben wir nichts mehr gegessen, außer ein paar Brocken, die wir heute am Ufer fanden.«

»William, laß ihnen zu essen geben!«

Dann fragte er weiter:

»Wo wohnt ihr?«

»Nirgends, gnädiger Herr.«

»Wo habt ihr geschlafen?«

»Auf dem Wasser.«

»Hat man euch aus der Wohnung hinausgeworfen?«

»So ist's, gnädiger Herr.«

»Habt ihr keine anderen Sachen, als was ihr auf dem Leibe tragt?«

»Wir haben nichts.«

»Habt ihr kein Geld?«

»Nein, gnädiger Herr.«

»Was wollt ihr anfangen?«

»Wir wissen nicht.«

Der alte Herr fragte schnell, gleichsam ärgerlich und wandte sich plötzlich an Marysja:

»Wie alt bist du, Mädchen?«

»Ich werde achtzehn zu Mariä Himmelfahrt.«

»Hast viel in deinem Leben durchgemacht, nicht wahr?«

Sie antwortete nicht, neigte sich nur demütig zu seinen Füßen.

Dem alten Herrn schien wieder der Rauch die Augen zu kneifen.

In diesem Augenblick brachte man Bier und warmes Fleisch. Der Alte forderte sie auf zu essen, und als sie entgegneten, daß sie es in seiner Gegenwart nicht zu tun wagten, nannte er sie Dummköpfe. Aber trotz seines schroffen Wesens erschien er ihnen wie ein Engel vom Himmel.

Als er sie essen sah, freute er sich augenscheinlich darüber. Dann ließ er sich erzählen, wieso sie hierher gekommen waren, und was sie durchgemacht hatten. Wawrschon erzählte ihm alles, ohne das geringste zu verheimlichen, wie einem Priester bei der Beichte. Er ärgerte sich und schimpfte über ihn, und als Wawrschon ihm schilderte, daß er Marysja ertränken wollte, rief er:

»Dann hätte ich dir die Haut abgezogen!«

Sodann wandte er sich an Marysja:

»Komm her, Mädchen!«

Als sie zu ihm herankam, erfaßte er ihren Kopf mit beiden Händen und küßte sie auf die Stirn.

Dann sann er einen Augenblick nach und sagte:

»Ihr habt schlechte Zeiten hier durchgemacht, aber dieses Land ist gut, man muß sich nur zu helfen wissen.«

Wawrschon sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an: dieser herzensgute und kluge Herr nannte Amerika ein gutes Land.

»Es ist so, armer Wicht,« sagte er, als er Wawrschons Verwunderung bemerkte, »ein gutes Land. Als ich hierher kam, besaß ich nichts, jetzt aber habe ich mein Stück Brot. Ihr Bauern aber solltet lieber auf eurem Ackerboden bleiben und euch nicht in der Welt herumtreiben. Wer soll denn im Lande bleiben, wenn ihr auswandert? Hier seid ihr nicht zu gebrauchen und ihr seht, herkommen ist leicht, aber zurückkehren sehr schwer.«

Er schwieg eine Weile, dann sagte er, wie zu sich selbst:

»Seit vierzig Jahren sitze ich hier, da vergißt man sein eigenes Vaterland. Aber die Sehnsucht zehrt so manches Mal an einem … William muß hinüber, um das Land kennen zu lernen, wo seine Väter lebten … Das ist mein Sohn,« sagte er, indem er auf den Knaben zeigte.

»William, du wirst mir aus der Heimat eine Handvoll Erde holen und unter das Haupt im Sarge legen.«

»Ja, Vater,« antwortete der Bursche auf Englisch.

»Und auf die Brust, William, auf die Brust!«

»Ja, Vater!«

Dem Alten kniff der Rauch die Augen jetzt so sehr, daß sie wie verglast aussahen.

Er wurde wieder ärgerlich und sprach in barschem Ton:

»Der Bengel versteht Polnisch, aber er spricht lieber Englisch. So muß es hier sein! Was hierher kommt, ist für die alte Heimat verloren. William! Geh, sag deiner Schwester, daß wir Gäste zu Mittag und zur Nacht haben werden!«

Der Knabe eilte lebhaft davon. Der alte Herr sann eine Weile nach und schwieg lange; dann begann er wieder, wie zu sich selbst zu sprechen:

»Sie zurückzuschicken, wäre sehr kostspielig … und was sollten sie schließlich zu Hause anfangen? Was sie besaßen, haben sie verkauft; sie müßten den Bettelstab ergreifen! Wer weiß, was aus dem Mädchen im Dienst werden würde! Da sie einmal hier sind, müssen sie es noch mit der Arbeit versuchen. Ich schicke sie wohl am besten nach einer Ansiedlung … Das Mädchen wird über kurz oder lang heiraten. Wenn sie dann ihr Brot haben und in die Heimat zurückkehren wollen, so können sie auch den Alten mitnehmen.

Dann sagte er direkt zu Wawrschon:

»Hast du von den hiesigen Ansiedlungen gehört?«

»Ich habe nichts gehört, gnädiger Herr.«

»Aber Leute, wie ihr euch hierher wagt! Bei Gott, es ist ja kein Wunder, wenn ihr dann umkommt. In Chicago gibt es 20 000 von deiner Sorte, in Milwaukee ebenso viele, in Detroit und Buffalo auch eine Menge. Sie arbeiten in den Fabriken, aber der Bauer fühlt sich am wohlsten auf dem Acker. Nach Radom sollte man euch schicken! In Illinois ist es schwer um Grund und Boden. In den Steppen von Nebras wird jetzt ein Neu-Posen gegründet, aber das ist weit und die Reise ist teuer. Jungfrau Maria und Texas ist auch weit. Am besten für euch wäre Borowina, um so mehr, als ich euch dahin umsonst Fahrkarten besorgen kann, und was ich euch in die Hände gebe, könnt ihr für die Wirtschaft aufbewahren.«

Er versank noch tiefer in Gedanken.

»Höre Alter,« sagte er plötzlich: »Jetzt wird gerade eine neue Ansiedlung, Borowina, in Arkansas gegründet; es ist ein schönes, warmes Land und fast noch ganz leer. Dort bekommst du Boden mit Wald, etwa 160 Morgen, von der Regierung umsonst und von der Eisenbahn gegen eine kleine Abgabe, – verstehst du? Was du für die Wirtschaft brauchst, werde ich dir geben, die Fahrkarten ebenfalls, denn das kann ich. Ihr werdet nach der Stadt Little-Rock reisen, von dort aus mit dem Wagen. Dort werdet ihr auch andere finden, die mit euch reisen. Übrigens gebe ich euch Briefe mit. Ich will euch helfen, denn ich bin euer Bruder; aber dein Mädchen tut mir hundertmal mehr leid, als du, verstehst du? Dankt Gott, daß ihr mir begegnet seid.«

Hier wurde seine Stimme ganz weich.

»Höre, Kind,« sagte er zu Marysja, »hier hast du eine Karte von mir, hebe sie dir heilig auf. Sollte dich eines Tages die Not bedrücken, solltest du verlassen und schutzlos auf der Welt bleiben, so suche mich auf. Du bist ein gutes, armes Kind. Sollte ich sterben, so wird William sich deiner annehmen. Verliere die Karte nicht! Und jetzt kommt zu mir.«

Unterwegs kaufte er ihnen Wäsche und Kleidung, dann führte er sie in sein Haus und bewirtete sie.

Das ganze Haus war voll guter Leute; denn auch William und seine Schwester Jenny gingen mit ihnen um, wie mit Verwandten. Herr William behandelte Marysja sogar wie eine »Lady«, was sie sehr verlegen machte.

Abends kamen zu Fräulein Jenny einige junge Mädchen mit frisiertem Haar und in eleganter Kleidung. Sie waren sehr gut, nahmen Marysja in ihre Mitte und wunderten sich, daß sie so bleich und hübsch war, so helles Haar hatte, daß sie sich beständig vor ihnen tief verneigte und ihre Hände küßte, worüber sie furchtbar lachten.

Der alte Herr ging zwischen den Jungen her, schüttelte sein weißes Haupt, murrte etwas vor sich hin und war manchmal ärgerlich. Er sprach bald englisch, bald polnisch, unterhielt sich mit Marysja und Wawrschon über die ferne Heimat, rief alte Erinnerungen wach, und von Zeit zu Zeit störte ihn wohl der Zigarrenrauch, denn er rieb sich oft verstohlen die Augen.

Als alle schlafen gingen, konnte Marysja die Tränen nicht zurückhalten, als sie sah, daß Fräulein Jenny ihr eigenhändig das Bett zurecht machte. Ach, wie gut waren diese Menschen! Aber das war doch kein Wunder! Stammte doch der alte Herr auch aus dem Posenschen!

Am dritten Tag machten sich Wawrschon und das Mädchen bereits auf den Weg nach Little-Rock. Der Bauer fühlte 100 Dollars in der Tasche und vergaß das Mittag gänzlich. Marysja fühlte über sich deutlich die Hand Gottes und glaubte vertrauensvoll, daß diese Hand sie vor dem Untergang schützen werde; wie sie sie aus dem Elend herausgeführt, so werde sie auch Jasko nach Amerika leiten und über ihnen beiden wachen und mit der Zeit erlauben, nach Lipinze zurückzukehren.

Inzwischen huschten die Städte und die ländlichen Farmen draußen an den Waggonfenstern an ihnen vorbei. Das war ganz anders, als in Neuyork. So weit das Auge reichte, sah man nur Felder und Wälder, kleine Häuschen, vor denen Bäume wuchsen, große Getreidefelder, grüne Matten, – ganz wie in Polen.

Bei diesem Anblick schwellte Wawrschons Brust, so daß er am liebsten hinausgeschrien hätte: »He! Ihr Wälder und grüne Fluren!«

Auf den Wiesen weideten Rinder- und Schafherden; am Waldrande sah man Männer mit Äxten.

Der Zug sauste weiter und weiter. Allmählich wurde die Gegend immer menschenleerer, die Farmen verschwanden, und das Land verwandelte sich in eine weite, leere Steppe. Der Wind fegte über die Rasenflächen und bewegte die Blumen. Stellenweise schlängelten sich, gleich goldenen Bändern, mit gelben Blumen bedeckte Wege, – über die einstmals ein Wagen gefahren war. Hohe Stauden, Disteln und Wollkraut nickten mit den Köpfen, als grüßten sie die Wanderer. Adler schwebten auf breiten Flügeln über der Steppe, den Blick starr auf den Rasen gerichtet.

Der Zug jagte unaufhaltsam vorwärts, als ob er nach dort gelangen wollte, wo jene Steppen dem Blick entschwanden und sich mit dem Himmel vereinten. Aus den Wagenfenstern sah man ganze Scharen von Hasen und Erdmäusen. Hin und wieder huschte ein Hirschgeweih über das Gras. Nirgends ein Kirchturm, eine Stadt, ein Dorf oder auch ein Haus, nichts war zu sehen, außer den Bahnhofsgebäuden; aber zwischen den Stationen und zu beiden Seiten nicht eine lebendige Seele …

Wawrschon betrachtete das alles, schüttelte den Kopf und begriff nicht, daß soviel »Güte«, wie er den Grund und Boden nannte, brach liegen konnte.

Es verging ein Tag und eine Nacht. Am Morgen fuhren sie in den Wald hinein, dessen Bäume von Schlingpflanzen umrankt waren, so stark wie ein Mannesarm, was den Wald so dicht machte, daß man ihn nur wie eine Wand mit der Axt durchhauen konnte. Unbekannte Vögel zwitscherten in diesem grünen Dickicht.

Einmal schien es Wawrschon und Marysja, als hätten sie durch diese Wildnis Reiter sprengen sehen, mit Federn auf den Häuptern, und Gesichtern, so rot wie poliertes Kupfer. Als Wawrschon diese Wälder, die öden Steppen und die Wildnis, all diese fremdartigen Wunder und fremdartigen Menschen sah, konnte er sich nicht länger beherrschen und sagte:

»Marysja!«

»Was, Väterchen?«

»Siehst du?«

»Ja, ich sehe.«

»Und staunst du?«

»Ja, ich staune.«

Endlich fuhren sie über einen Fluß, der dreimal so breit war wie die Warthe, von dem sie später erfuhren, daß er Mississippi hieß.

In stockfinsterer Nacht kamen sie in Little-Rock an.

Von hier aus sollten sie sich nach dem Weg nach Borowina erkundigen.

In diesem Augenblick verlassen wir sie.

Der zweite Abschnitt ihrer Wanderschaft »ums liebe Brot« war beendigt. Der dritte sollte sich in den Wäldern abspielen, unter dem Dröhnen der Äxte und der schweren Arbeit des Ansiedlerlebens.

Ob es weniger reich war an Tränen, Leid und Kummer, – das sollen wir bald erfahren.


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