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Ums liebe Brot.


I.
Auf dem Ozean. Betrachtungen. Sturm. Ankunft

Stürmisch bewegte sich das deutsche Schiff »Blücher« auf den breiten Fluten des Ozeans während der Fahrt von Hamburg nach New York.

Seit vier Tagen war er schon unterwegs, vor zwei Tagen an den grünen Gestaden Irlands vorbeigekommen und an die offene See gelangt. Vom Verdeck aus sah man, so weit das Auge reichte, nur die graugrüne, gleichsam von Furchen durchschnittene und in Ackerfelde geteilte Wasserfläche, schwerfällig sich schaukelnd, hier und dort aufschäumend, in der Ferne immer dunkler werdend und mit dem von weißen Wolken bedeckten Horizont zusammenfließend.

Ein Glanz von diesen Wolken fiel stellenweise auf das Wasser, und von diesem Perlengrunde zeichnete sich klar und deutlich der schwarze Rumpf des Schiffes ab. Dieser Rumpf, mit dem Schnabel nach Westen gerichtet, hob sich bald mühsam aus den Wogen empor, bald versank er in der Tiefe, als ob er unterginge; zuweilen entschwand er dem Auge, um bald wieder, von dem Rücken einer Woge getragen, so hoch emporzutauchen, daß man seinen Boden sah. Trotz dieser Hindernisse durchschnitt er eilig den Ozean. Die Wogen kamen ihm entgegen, aber bald stürzte auch er sich auf die Wogen und durchschnitt sie mit seiner Brust. Hinter ihm her schlängelte sich wie eine Riesenschlange das weiße, schäumende Fahrwasser. Einige Möven folgten dem Steuerruder, schossen Purzelbäume in der Luft und kreischten wie polnische Vögel. Der Wind stand gut, das Schiff brauchte nur halben Dampf, hatte aber dafür die Segel aufgespannt.

Das Wetter klärte sich immer mehr. Hier und dort blickte aus dem zerrissenen Gewölk ein Stück blauen Himmels hervor, dessen Form sich fortwährend veränderte.

Seitdem der »Blücher« den Hafen von Hamburg verlassen hatte, war es windig, aber nicht stürmisch. Der Wind blies nach Westen und setzte zuweilen ganz aus: dann fielen die Segel geräuschvoll herab, um sich bald wieder, gleichsam wie eine Schwanenbrust, aufzublähen.

Die Matrosen in ihren enganliegenden wollenen Jacken zogen das Tau der unteren Rahe am großen Mast und riefen klagend: »Ho, ho!« Sie bückten und richteten sich auf, im Takt zu ihrem Gesang, und ihre Rufe vermischten sich mit den grellen Klängen der Dampferpfeifen und dem keuchenden Atem des Rauchfanges, welcher abwechselnd zerrissene Knäuel oder Riesenringe schwarzen Rauches hinauswarf.

Infolge des schönen Wetters strömten die Passagiere auf das Verdeck. Hinten auf dem Schiffe sah man eine Menge schwarzer Mäntel und Hüte der Reisenden erster Kajüte, vorn wimmelte das bunte Durcheinander von Auswanderern, den Zwischendeckreisenden. Manche von ihnen saßen auf den Bänken und rauchten ihre kurzen Pfeifen, andere hatten sich hingelegt, noch andere lehnten am Bord und schauten in die Flut hinab.

Unter ihnen befanden sich auch einige Frauen mit Kindern auf dem Arm und Blechgeschirr, welches sie um die Taille gebunden hatten.

Mehrere junge Leute gingen auf und ab, vom Schnabel des Schiffes bis zum Verdeck, wobei sie nur mit Mühe das Gleichgewicht erhielten und jeden Augenblick taumelten; sie sangen dabei: »Was ist des Deutschen Vaterland« und dachten vielleicht, daß sie dieses »Vaterland« nie mehr sehen sollten. Trotzdem sahen sie vergnügt aus, und der Frohsinn wich nicht von ihrer Stirn.

Unter allen diesen Leuten waren zwei die traurigsten und von allen übrigen vollständig abgesondert. Es war dies ein alter Mann und ein junges Mädchen. Beide verstanden kein Deutsch und fühlten sich unter den Fremden um so einsamer. Wer sie waren, konnte jeder auf den ersten Augenblick erkennen: polnische Bauern.

Der Bauer hieß Wawrschon Toporek und das Mädchen, Marysja, war seine Tochter. Sie reisten nach Amerika und hatten sich in diesem Augenblick auf das Verdeck hinausgewagt. Auf ihren von Krankheit abgehärmten Gesichtern malte sich zugleich Schrecken und Verwunderung. Mit furchtsamen Augen betrachteten sie ihre Reisegefährten, die Matrosen, das Schiff, den mächtig keuchenden Rauchfang und die gewaltigen Wassermauern, die ihren Gischt wie eine Mähne an den Bord des Schiffes schleuderten.

Sie wagten nicht, miteinander zu sprechen. Wawrschon stützte sich mit einer Hand auf das Geländer, mit der anderen hielt er die eckige Mütze fest, damit der Wind sie ihm nicht fortreiße. Marysja wich nicht von der Seite ihres alten Vaters, und je unruhiger sich das Schiff bewegte, um so fester schmiegte sie sich an ihn, oftmals vor Schreck aufschreiend.

Nach einiger Zeit unterbrach der Alte das Schweigen: »Marysja!«

»War denn?«

»Siehst du?«

»Ja, ich sehe.«

»Und staunst du?«

»Ja, ich staune.«

Aber sie fürchtete sich mehr, als sie staunte, und ebenso ging es dem alten Toporek. Glücklicherweise wurde das Meer ruhiger, der Wind ließ nach, und aus den Wolken lugte die Sonne. Als sie die liebe Sonne erblickten, wurde ihnen leichter ums Herz, denn sie dachten sich: »Genau so sieht die Sonne in Lipinze aus.« Alles war für sie neu und fremd, nur diese strahlende, helle Sonnenscheibe erschien ihnen als ein alter Freund und Beschützer.

Inzwischen wurde das Meer immer glatter. Nach einiger Zeit hingen die Segel schlaff herab, von der hohen Brücke erschallte der grelle Pfiff des Kapitäns, und die Matrosen strömten herbei, die Segel einzuziehen.

Der Anblick dieser, gleichsam über einem Abgrund in der Luft schwebenden Menschen erfüllte Toporek und Marysja wieder mit Staunen.

»Das brächten unsere Jungens nicht fertig,« sagte der Alte.

»Wenn die Deutschen hinaufkriechen, so würde Jasko es auch können,« entgegnete Marysja.

»Welcher Jasko? Von Sobeks!?«

»Ach wo denn! Ich meine den Smolak, den Stallknecht.«

»Der ist ein kecker Bursche, aber du schlag ihn dir aus dem Kopf. Er ist nicht für dich, und du paßt nicht für ihn! Du wirst eine große Dame werden, er aber wird sein Lebenlang bleiben, was er ist, ein Stallknecht.«

»Er besitzt auch eine Kolonie.«

»Jawohl, aber in Lipinze.«

Marysja antwortete nicht, dachte sich nur, daß niemand seiner Bestimmung entgeht und seufzte tief.

Unterdessen waren die Segel bereits eingezogen, und nun begann die Schraube das Wasser so kräftig aufzuwühlen, daß das ganze Schiff von ihren Bewegungen erzitterte. Das Schaukeln hörte jedoch fast gänzlich auf. In der Ferne erschien das Wasser sogar schon glatt und blau.

Immer neue Gestalten tauchten auf dem Verdeck auf: Arbeiter, deutsche Bauern, Müßiggänger aus verschiedenen Küstenstädten, die nach Amerika reisten, um Glück, nicht aber Arbeit zu suchen. Auf dem Verdeck herrschte jetzt ein völliges Gedränge, so daß Wawrschon und Marysja sich auf ein zusammengelegtes Schiffstau in einem Winkel, an der Spitze des Schiffes niedersetzten, um niemand aufzufallen.

»Väterlein, werden wir noch lange auf dem Wasser fahren?« fragte Marysja.

»Weiß ich's denn? Wenn du auch fragst, es antwortet dir niemand auf katholisch.«

»Wie werden wir aber in Amerika sprechen?«

»Sagten sie uns denn nicht, daß wir dort Landsleute in Menge treffen werden?«

»Väterlein! …«

»Was denn?«

»Zu staunen gibt es hier genug, aber in Lipinze war es dennoch besser.«

»Du solltest nicht ohne Grund lästern.«

Nach einer Weile fügte jedoch Wawrschon hinzu, wie zu sich selber sprechend:

»Es war so Gottes Wille.«

Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen, und bald wandten sich die Gedanken der beiden nach Lipinze.

Wawrschon Toporek dachte darüber nach, weshalb er nach Amerika reiste, und wie das alles gekommen war.

Wie kam er auf diesen Gedanken?

Vor einem halben Jahr hatten sie ihm die Kuh im Klee gepfändet. Der Wirt, der sie pfändete, verlangte drei Rubel Schadenersatz. Wawrschon wollte nicht zahlen. Sie gingen vor Gericht. Der Prozeß zog sich hin nach dem Gerichtsspruch. Der geschädigte Wirt forderte jetzt nicht nur Auslösungsgeld für die Kuh, sondern auch für den Unterhalt, und die Kosten wuchsen mit jedem Tag. Wawrschon weigerte sich zu zahlen, denn es war ihm schade, dafür sein Geld herzugeben. Der Prozeß hatte ihn ohnehin schon genug gekostet, und da er sich immer länger hinzog, wurden die Prozeßgebühren immer größer. Endlich verlor Wawrschon den Prozeß. Für die Kuh wurde schon Gott weiß wieviel verlangt, da er aber kein Geld hatte, pfändete man ihm auch das Pferd und verurteilte ihn für den Widerstand zu einer Gefängnisstrafe.

Toporek wand sich wie eine Schlange: denn die Ernte stand vor der Tür, so daß er sowohl seine Hände, wie das Gespann zur Arbeit brauchte. Er verspätete sich mit der Einfuhr, dann begann es in Strömen zu regnen. Das Getreide war ihm in den Halmen ausgewachsen. Er dachte also fortwährend daran, daß er durch einen einzigen Schaden im Klee sein ganzes Hab und Gut verlieren würde, daß er bereits seine ganze Barschaft, einen Teil des Inventars und den ganzen Jahresertrag geopfert hatte und daß er im Frühjahr mit der Tochter entweder am Hungertuch beißen oder den Bettelstab werde ergreifen müssen.

Da er bis jetzt ein wohlhabender Bauer war, der stets in Wohlstand lebte, faßte ihn Verzweiflung, und er begann zu trinken. In der Schenke lernte er einen Deutschen kennen, der angeblich im Dorfe Flachs ankaufte, aber in Wirklichkeit die Leute über das Meer expedierte. Der Deutsche erzählte ihm Wunder von Amerika. Er versprach ihm soviel Land umsonst, wie es in ganz Lipinze nicht gab, mit Wald und Wiesen, so daß des Bauern Augen lachten.

Er glaubte und mißtraute ihm zugleich, aber der jüdische Pächter bestätigte, was der Deutsche erzählte und meinte ebenfalls, daß dort die Regierung jedem so viel Land gab, wie er haben wollte.

Der Jude wußte das von seinem Schwiegersohn. Der Deutsche zeigte so viel Geld, wie es nicht nur die Bauern, sondern selbst die Herrenaugen hier niemals gesehen. Sie lockten den Bauern so lange, bis sie ihn schließlich überrumpelten.

Wozu sollte er auch hier bleiben? Bei einem einzigen Schaden verlor er so viel, daß er sich dafür hätte einen Knecht halten können. Sollte er sich ganz dem Verderben preisgeben? Sollte er den Wanderstab ergreifen und vor der Kirche singen?

»Nein, daraus wird nichts,« dachte er. Er schlug in die dargebotene Hand des Deutschen, verkaufte bis zu Michaelis sein Besitztum, nahm die Tochter und befand sich jetzt auf der Reise nach Amerika.

Die Reise ging aber nicht so gut von statten, wie er gedacht hatte. In Hamburg hatte man ihnen eine Menge Geld abgenommen. Auf dem Schiff saßen sie in der gemeinschaftlichen Zwischendeckskajüte. Das Schaukeln des Schiffes und die endlose Meeresferne erfüllte sie mit Angst. Niemand verstand ihn, und er verstand nicht, was die anderen sprachen. Man behandelte sie wie eine Sache, man stieß sie zur Seite wie einen Stein am Wege. Die deutschen Reisegefährten machten sich sogar über den Alten und Marysja lustig.

Zur Mittagszeit, wenn alle mit ihren Geräten zum Koch drängten, der die Speisen verteilte, stieß man sie an das äußerste Ende zurück, so daß sie oft beinahe vor Hunger vergingen. Schlecht ging es ihnen hier auf diesem Schiff, sie fühlten sich vereinsamt und fremd und wußten außer Gottes Schutz keinen anderen über sich.

Vor der Tochter setzte der Alte eine vergnügte Miene auf, rückte die Mütze aufs Ohr und hieß Marysja, über alles staunen; auch er wunderte sich über das, was er sah, aber er hatte kein Vertrauen mehr. Zuweilen ergriff ihn die Furcht, daß diese »Heiden«, wie er seine Reisegenossen nannte, sie ins Wasser werfen oder vielleicht zwingen werden, ihren Glauben zu wechseln oder irgendein Papier zu unterschreiben, womöglich eine Teufelsverschreibung.

Auch dieses Schiff, das Tag und Nacht rastlos über den unbegrenzten Ozean dahineilte, fortwährend zitterte und sauste, das Wasser aufwirbelte, wie ein Drache atmete und in der Nacht einen Funkenstreifen hinter sich herzog, erschien ihm wie eine verdächtige, unsaubere Macht. Kindliche Angst preßte ihm das Herz zusammen, obgleich er es nicht zugeben wollte. Denn dieser polnische Bauer, von seinem Heimatsnest losgerissen, war in der Tat ein hilfloses, dem Willen Gottes preisgegebenes Kind.

Was er hier vor sich sah, was ihn umgab, vermochte sein Geist nicht zu fassen. Kein Wunder also, wenn er jetzt, als er auf dem Schiffstau saß, seinen Kopf unter der Last der schweren Zukunft tief über die Brust hängen ließ.

Der Seewind heulte in seinen Ohren und schien ihm unentwegt das eine Wort zu wiederholen: »Lipinze, Lipinze!« Manchmal pfiff er auch wie die Querpfeifen in Lipinze. Die Sonne schien zu sagen: »Wie geht es dir, Wawrschon, ich war soeben in Lipinze!«

Aber die Schraube wühlte das Wasser immer heftiger auf, und der Schornstein atmete immer lauter und schneller, gleichsam zwei böse Geister, die das Schiff immer weiter und weiter von Lipinze fortschleppten. Inzwischen wogten hinter Marysja andere Gedanken und Erinnerungen her, die ihr folgten, wie die schäumenden Wasserstreifen oder die Möwen dem Schiffe.

Sie gedachte jenes Herbstabends, als sie zu später Stunde kurz vor ihrer Abreise in Lipinze am Brunnen Wasser holte.

Schon blinkten die ersten Sterne am Himmel, während sie den Schwengel zog und ihr Liedchen sang: »Jasjo tränkte die Pferde – Kasja holte Wasser.« Es war ihr so schwer ums Herz, wie einem Schwälbchen, das vor seinem Herbstfluge traurig zwitscherte … Da erschallten vom dunklen Walde her die langen Töne eines Hornes. Jasjo Smolak, der Stallknecht, gab ihr ein Zeichen, daß er sah, wie der Schwengel sich bewegte, und daß er aus dem Grummet bald hinüberkommen werde. Kurz darauf vernahm sie das Rasseln der Räder, er fuhr vor, sprang vom Pferde, schüttelte seinen Flachskopf, und was er ihr sagte, das klang noch heute wie Musik in ihren Ohren. Sie schloß die Augen, und es schien ihr, als flüstere er ihr wieder mit zitternder Stimme ins Ohr:

»Wenn dein Vater darauf besteht, so gebe auch ich das Mietgeld zurück, verkaufe meine Hütte und meine Kolonie und fahre mit … Wo du hinziehst, Marysja, mein Mädchen, da geh' ich mit dir, wie ein Kranich in der Luft, oder wie ein Enterich auf dem Wasser, oder wie ein goldener Ring, der über die Landstraße rollt. So lange werde ich dir folgen, bis ich dich finde, mein einziges Mädchen! Was ist mein Leben ohne dich? Wo du wandelst, will auch ich sein! Was du erlebst, will auch ich erleben! Vereint sind wir im Leben, wie im Tod. Und wie ich dir hier über dem Brunnenwasser meine Liebe schwor, so soll mich Gott verlassen, wenn ich dich jemals verlasse, meine einzige Marysja!«

Als sie jetzt dieser Worte gedachte, sah sie jenen Brunnen, den großen, roten Mond über dem Walde und Jasjo lebendig vor sich stehen. Dieses Grübeln und Erinnern brachte ihr Trost und Linderung. Jasjo war ein Bursche mit festem Charakter, dem man glauben konnte, was er versprochen. Wenn er nur jetzt neben ihr wäre und mit ihr zusammen das Rauschen des Meeres vernehmen könnte! Sie würde froher und zuversichtlicher sein, denn er fürchtete sich vor keinem und wußte sich stets zu helfen.

Was mochte er wohl jetzt in Lipinze anfangen, wo schon der erste Schnee gefallen sein muß? Ritt er mit der Axt nach dem Walde oder schirrte er die Pferde an? Vielleicht schickte man ihn vom Hofe irgendwo mit dem Schlitten hin? Oder spaltete er das Eis auf dem Teich? Wo weilt er jetzt, der Vielgeliebte?

Mit einem Male sah das Mädchen ganz Lipinze vor ihrem geistigen Auge. Der Schnee knarrte auf dem Wege, die Morgenröte drang durch die schwarzen Zweige der entblätterten Bäume, Krähenschwärme zogen krächzend vom Walde ins Dorf. Aus dem Schornstein flog der Rauch kerzengerade auf, am Brunnen war der Schwengel angefroren, und in der Ferne schimmerte der Wald im Morgenrot, und die Bäume glitzerten vom Schnee.

Ach, und wo befand sie sich jetzt! Wo hatte sie des Vaters Wille hingeschleppt! So weit das Auge reichte, sah man nichts als Wasser, nur Wasser, grünliche Furchen und schäumende Felder, und auf jenen unermeßlichen Wasserfeldern dieses eine Schiff, wie ein verirrter Vogel! In der Höhe der Himmel, drunten die Wüste mit ihrem Brausen, den klagenden Wellen, dem heulenden Wind! Und dort von der Spitze des Schiffes aus sah man nichts, als Wasser, das wohl zum Ende der Welt führte.

Armer Jasko! Wirst du den Weg zu mir finden, ob du als Falke durch die Luft fliegst, oder als ein Fischlein durch das Wasser schwimmst? Gedenkst du ihrer noch in Lipinze?

Langsam sank die Sonne gen Westen hinab und tauchte im Ozean unter. Auf der gekräuselten Flut breitete sich ein breiter, sonniger Lichtstreifen aus, auf dem sich ein Muster von goldenen Schuppen bildete, bald glänzend und schillernd, bald flammend und leuchtend, bis er irgendwo in der Ferne verschwand. Als das Schiff auf diesem flammenden Streifen dahineilte, schien es, als ob es die fliehende Sonne verfolgte. Der aus dem Schlote dringende Rauch wurde rot, die Segel und feuchten Taue schillerten rosig. Die Matrosen begannen zu singen, und der strahlende Feuerball wurde immer größer und sank immer tiefer in die Flut hinab. Bald sah man nur noch die Hälfte der Scheibe über dem Wasser, dann nur noch seine Strahlen, und zuletzt ergoß sich das große Morgenrot über den ganzen Westen. In dem Glanze konnte man nicht mehr unterscheiden, wo die hellen Fluten aufhörten und der Himmel begann, denn Luft und Wasser waren gleichmäßig von dem hellen Licht durchtränkt, das nur allmählich erlosch. Auf dem Ozean erhob sich ein durchdringendes, aber sanftes Rauschen, als murmelte er sein Abendgebet.

In solchen Augenblicken beflügelt sich die Seele des Menschen! Alle ihre Erinnerungen erwachen zu neuem Leben; was sie lieb gewonnen, liebt sie um so heißer, wonach sie sich sehnt, dem schwebt sie entgegen!

Wawrschon und Marysja fühlten beide, daß der Baum ihres Volkes nicht in dem Land stand, wohin sie der Wind wie welkes Laub trug, sondern in jenem Land, das sie verlassen, auf polnischem Boden. Das war ihre Heimat, jenes von Gott so reich gesegnete Land, mit wogenden Kornfeldern, mit dichtem Wald, geschmückt mit Strohhütten, voller Wiesen, auf denen gelbe Entchen und klares Wasser goldig glitzerten. Voll Schwalben und Störche, mit Kreuzen am Wege und weißen Gehöften unter alten Linden! Jenes Land, wo jeder seine eckige Mütze vom Kopfe zieht und den Vorübergehenden mit den Worten begrüßt: »Gelobt sei Jesus Christus« und zur Antwort erhält: »In Ewigkeit, Amen!« – jenes reiche Land, das ihnen eine süße, gute, über alles in der Welt geliebte Mutter war …

Was ihre Bauernherzen vorher nicht fühlten, empfanden sie jetzt um so inniger. Wawrschon zog die Mütze vom Kopfe.

Von Westen fiel ein Licht auf sein graues Haupt, aber seine Gedanken arbeiteten, denn der Ärmste wußte nicht, wie er zu Marysja von dem, was er dachte, sprechen sollte. Endlich sagte er:

»Marysja, es ist mir, als ob dort hinter dem Meere etwas zurückgeblieben wäre.«

»Das Glück und die Liebe sind zu Hause geblieben,« antwortete das Mädchen, die Augen wie zum Gebet erhebend.

Inzwischen war es dunkel geworden. Die Reisenden begannen, das Verdeck zu verlassen. Auf dem Schiff herrschte ungewöhnliches Leben.

Einem so schönen Sonnenuntergang pflegt nicht immer eine ruhige Nacht zu folgen, daher erschallten beständig die Pfeifen der Offiziere, und die Matrosen zogen an den Tauen.

Der letzte Purpurglanz verlosch auf dem Meer, und gleichzeitig stieg ein dichter Nebel aus dem Wasser auf. Am Himmel blinkten die Sterne auf und verschwanden wieder. Der Nebel wurde zusehends dichter und verhüllte den Himmel, den Horizont und auch das Schiff. Man sah nur noch den Schlot und den großen Hauptmast. Die Gestalten der Matrosen sahen von weitem wie Schatten aus.

Eine Stunde später verschwand alles in einer weißlichen Wolke, sogar die Laterne, die man an der Spitze des Mastes befestigt hatte und die Funken, welche der speiende Schlot hinauswarf.

Das Schiff schaukelte gar nicht. Es schien, als wäre die Flut erschlafft und von der Last des Meeres erdrückt.

Eine finstere, stille Nacht sank hernieder. Plötzlich erhob sich von den fernsten Grenzen des Horizontes inmitten dieser Stille ein sonderbares Geräusch. Es war der schwere Atem einer Riesenbrust, die immer näher zu rücken schien. Zuweilen schien es, als ob jemand in der Finsternis riefe, dann erschallten in der Ferne ganze Chöre von jammernden und wimmernden Stimmen. Diese Rufe drangen aus der Finsternis und der Unendlichkeit dem Schiffe entgegen.

Als die Matrosen dieses Rauschen vernahmen, meinten sie, dies bedeute einen Sturm, der die Winde aus der Hölle zusammenrief. Die Anzeichen wurden immer deutlicher. Der Kapitän stand in einem Gummimantel mit Kapuze auf der höchsten Brücke; der Offizier nahm seinen gewöhnlichen Platz vor dem beleuchteten Kompaß ein. Auf dem Verdeck war von den Reisenden niemand mehr zu sehen. Auch Wawrschon und Marysja waren in die gemeinschaftliche Kajüte des Zwischendecks hinuntergegangen. Hier herrschte vollständige Stille. Das Licht der im tiefen Gewölbe angebrachten Lampen erleuchtete nur schwach das Innere und die Gruppen der neben ihren Betten an den Wänden kauernden Auswanderer.

Das Zimmer war groß, aber düster, wie gewöhnlich in den Kajüten der vierten Klasse. Ihre Decke reichte fast bis zu den Planken des Schiffes, deshalb glichen jene Betten an den äußersten Enden, durch Bretterwände getrennt, eher dunklen Höhlen, als Lagerstätten, und auch das ganze Zimmer machte den Eindruck einer großen Zelle.

Die Luft war mit den Gerüchen von geteerter Leinwand, Tauen, Schiffspech und Feuchtigkeit durchtränkt. Wie könnte man diesen Raum mit den luxuriösen Salons der ersten Klasse vergleichen!

Eine, wenn auch nur zweiwöchige Überfahrt in diesen Zimmern, vergiftet die Lungen mit ungesunder Luft, bedeckt die Haut der Menschen mit durchsichtiger Blässe und führt nicht selten Skorbut herbei.

Wawrschon und das Mädchen reisten erst seit vier Tagen, und doch hätte jemand die frühere, frische, rotwangige Marysja aus Lipinze mit dem heutigen, von Krankheit abgehärmten Mädchen verglichen, so würde er sie nicht erkannt haben.

Auch der alte Wawrschon war gelb wie Wachs geworden, um so mehr, da sie in den ersten Tagen gar nicht auf Deck gegangen waren. Sie glaubten, es wäre nicht erlaubt. Wußten sie übrigens, was erlaubt war oder nicht? Sie wagten sich kaum von der Stelle zu rühren, und sie fürchteten sich, ihr Gepäck allein zu lassen.

Jetzt saßen nicht nur sie allein, sondern alle übrigen bei ihren Sachen. Der ganze Saal war mit solchen Auswandererbündeln angefüllt, was seine Unordnung und den traurigen Anblick noch vermehrte. Betten, Kleidung, Nahrungsmittel, verschiedene Gerätschaften und Blechgeschirr lagen in größeren und kleineren Häufchen in buntem Durcheinander auf dem Boden umhergestreut. Auf ihnen saßen die Auswanderer, fast lauter Deutsche. Die einen kauten Tabak, andere rauchten aus ihren Pfeifen; die Rauchwolken stiegen zu der niedrigen Decke auf, legten sich in lange Streifen und verdunkelten das Licht der Lampen.

Einige Kinder weinten in den Ecken, aber der gewöhnliche Lärm und das lebhafte Geschwätz war verstummt, denn der Nebel erfüllte jeden mit Angst, Sorge und Unruhe. Die erfahrenen Auswanderer wußten, daß ein Unwetter in Sicht war. Übrigens war es für niemand mehr ein Geheimnis, daß eine Gefahr oder vielleicht der Tod herannahte. Nur Wawrschon und Marysja hatten noch nichts Auffälliges bemerkt, obgleich man, sobald jemand die Tür für einen Augenblick öffnete, deutlich jene fernen, verhängnisvollen Stimmen aus der Unendlichkeit vernahm.

Beide saßen im Hintergrund der Kajüte an der schmalsten Seite, in der Nähe des Schiffsschnabels. Das Schaukeln war dort am empfindlichsten, weshalb sie auch von den Reisegefährten auf diesen Platz hingedrängt wurden. Der Alte aß noch immer von seinem Brot aus Lipinze. Das Mädchen, dem das Nichtstun langweilig wurde, flocht sich das Haar zur Nacht.

Allmählich jedoch begann sie sich über das allgemeine, nur von dem Kindergeschrei unterbrochene Schweigen zu wundern und sie fragte: »Weshalb sitzen die Deutschen heute so still?«

»Weiß ich's,« antwortete Wawrschon wie gewöhnlich, »sie müssen wohl einen Festtag haben … oder sonst was.«

Plötzlich schüttelte sich das Schiff so gewaltig, als wäre es vor etwas Entsetzlichem zurückgeschreckt. Das Blechgeschirr klirrte düster, die Flammen in den Lampen flackerten auf und leuchteten heller. Einige erschrockene Stimmen riefen:

»Was ist das, was ist das?«

Aber es erfolgte keine Antwort. Eine zweite Erschütterung, noch heftiger als die erste, warf das Schiff hin und her, der Schnabel hob sich plötzlich und senkte sich ebenso jäh, und gleichzeitig schlugen die Wellen dumpf an die runden Fenster der einen Seite.

»Ein Unwetter kommt,« flüsterte Marysja mit erschrockener Stimme.

Inzwischen rauschte es um das Schiff wie im Walde, durch den ein Sturmwind daherfliegt. Dann heulte es dumpf wie ein Rudel Wölfe. Ein Windstoß kam nach dem andern, legte das Schiff ganz schräg auf die Seite, drehte es im Kreise, riß es in die Höhe und schleuderte es wieder in die Tiefe. Nun krachte es in den Fugen, Blechgeschirre, Bündel mit Sachen, Gepäckstücke und Gerätschaften flogen auf dem Boden umher, aus einer Ecke in die andere. Einige Leute fielen zu Boden, die Federn aus den Kissen begannen in der Luft umherzufliegen, und das Glas auf den Lampen klirrte traurig.

Lauter und lauter wurde der Lärm, das Gepolter und das Rauschen des über Deck strömenden Wassers, das Knarren der Schiffsplanken, das Geschrei der Frauen und Kinder, und die Jagd nach den Sachen. Und inmitten dieser allgemeinen Verwirrung und des Chaos hörte man nur den schrillen Pfiff und von Zeit zu Zeit das dumpfe Fußgestampf der auf dem Oberdeck hin und her laufenden Matrosen.

»Heilige Jungfrau von Tschenstochau!« flüsterte Marysja.

Der Schiffsschnabel, in welchem die beiden untergebracht waren, flog bald in die Höhe, bald stürzte er wie rasend hinab. Obgleich sie sich an den Bettkanten festhielten, wurden sie dermaßen hin und her geschleudert, daß sie von Zeit zu Zeit an die Wand flogen. Das Wogengeheul nahm immer zu, und das Knarren der Decke wurde so beängstigend, daß es schien, als müßten die Balken und die Bretter jeden Augenblick mit Gepolter bersten.

»Halte dich fest, Marysja,« rief Wawrschon aus ganzer Kraft, um das Sturmgeheul zu übertönen. Bald aber preßte auch ihm die Angst die Kehle zusammen, ebenso wie den anderen. Die Kinder hörten auf zu weinen, die Frauen zu schreien; jede Brust atmete hastiger, und die Hände umklammerten mit äußerster Anspannung verschiedene unbewegliche Gegenstände.

Die Wut des Sturmes wuchs immer noch. Die Elemente waren entfesselt, der Nebel wurde mit der zunehmenden Finsternis dichter, die Wolken mischten sich mit dem Wasser, der Wind mit dem Wogenschaum. Wie Kanonenschüsse schlugen die Wellen gegen das Schiff und schleuderten es nach rechts und nach links, von den Wolken bis zu dem Meeresgrund hinab. Von Zeit zu Zeit glitten die weißen Schaummähnen über seine ganze Länge dahin, und riesige Wassermengen umbrausten es in fürchterlichem Aufruhr.

Die Öllampen begannen in der Kajüte zu erlöschen. Es wurde immer dunkler, Wawrschon und Marysja glaubten also, daß die Finsternis des Todes nahte.

»Marysja,« begann der Bauer mit stammelnder Stimme, da ihm der Atem ausging, »Marysja, vergib mir, daß ich dich dem Verderben preisgab. Schon naht unsere letzte Stunde, wir werden die Welt mit unseren sündigen Augen nicht mehr schauen. Für uns gibt es keine Beichte, keine Ölung, nicht in der Erde werden wir ruhen! Aus dem Wasser müssen wir zum jüngsten Gericht gehen, armes Kind!«

Als er so sprach, wurde es Marysja klar, daß es keine Rettung mehr gab. Verschiedene Gedanken flogen ihr durch den Kopf, und in der Seele schrie es:

»Jasko, Jasko! Herzliebster Jasko, hörst du mich in Lipinze?«

Fürchterliche Sehnsucht preßte ihr das Herz so zusammen, daß sie laut zu schluchzen begann, ihr Weinen und Klagen ertönte weithin in diesem Raum, wo alle Leute schwiegen, wie bei einem Begräbnisse. Eine Stimme rief aus einer Ecke:

»Still!«

Aber bald verstummte sie wieder, wie von ihrem eigenen Klang erschreckt. Inzwischen waren auch die Lampengläser zu Boden gefallen und die Flammen erloschen. Es wurde noch finsterer. Die Leute drängten sich in einer Ecke zusammen, um ganz nahe beieinander zu sein. Überall herrschte banges Schweigen, als plötzlich inmitten der Stille Wawrschons Stimme erklang:

»Kyrie Eleison!«

»Christe Eleison!« antwortete Marysja schluchzend.

»Vater vom Himmel, erbarme dich unser!« flüsterten beide und sagten die Litanei her.

In dem finsteren Saal hallte die Stimme des Alten und die durch das Schluchzen unterbrochene Antwort des Mädchens mit sonderbarer Feierlichkeit wieder. Manche Auswanderer enthüllten ihre Häupter. Allmählich verstummte das Weinen des Mädchens, die Stimmen der beiden wurden ruhiger und reiner. Draußen aber heulte der Sturm als Begleitung.

Plötzlich erschallte ein lauter Schrei unter den in der Nähe des Eingangs Stehenden. Eine Sturzwelle hatte die Tür gesprengt, drang in die Kajüte und überschwemmte brausend das Zimmer bis in die äußersten Ecken. Die Frauen fingen an zu kreischen und auf ihren Betten Zuflucht zu suchen. Allen schien das Ende nahe zu sein.

Nach einer Weile trat der Offizier vom Dienst mit einer Laterne in der Hand, ganz durchnäßt und mit rotem Gesicht ein. Mit einigen Worten beruhigte er die Frauen, daß das Wasser nur zufällig hereingeraten sei, dann fügte er hinzu, daß keine große Gefahr drohe, da das Schiff sich auf hoher See befand.

Es vergingen einige Stunden.

Der Sturm wütete immer heftiger. Das Schiff krachte, hob und senkte sich, legte sich auf die Seite, aber es ging nicht unter. Die Leute beruhigten sich ein wenig. Einige legten sich sogar schlafen. Wieder verflossen mehrere Stunden. In den finsteren Saal drang durch das vergitterte Oberfenster ein grauer Lichtschimmer. Auf dem Ozean war der Tag angebrochen, ein bleicher, trauriger, dunkler, geängstigter Tag, der aber dennoch Hoffnung und Mut brachte. Nachdem Wawrschon und Marysja alle Gebete hergesagt hatten, die sie auswendig kannten, krochen sie auch auf ihr Lager und schliefen fest ein.

Erst die Glocke, die zum Frühstück rief, erweckte sie wieder. Aber sie konnten nichts essen, denn ihre Köpfe waren so schwer wie Blei. Der Alte fühlte sich noch schlechter als das Mädchen. Er war nicht imstande, mit seinem zerschlagenen Kopf etwas zu fassen.

Der Deutsche, der ihm zugeredet hatte, nach Amerika zu reisen, hatte ihm zwar gesagt, daß er über Wasser fahren müsse, aber niemals hätte er gedacht, daß dieses Wasser so groß sei, und daß man so viele Tage und Nächte unterwegs wäre. Er glaubte auf der Fähre überzusetzen, wie er es schon oft in seinem Leben getan. Hätte er gewußt, daß das Meer so groß ist, so wäre er in Lipinze geblieben.

Außerdem peinigte ihn noch der Gedanke, ob er seine und des Mädchens Seele nicht dem Verderben preisgegeben hatte. War es für einen Katholiken aus Lipinze keine Sünde, den Herrgott zu versuchen und sich auf ein so großes Wasser zu begeben, auf dem man bereits 5 Tage fuhr, bevor man das andere Ufer erreichte, wenn es überhaupt ein solches gab. Seine Zweifel und seine Angst sollten noch sieben Tage lang andauern. Der Sturm wütete noch 48 Stunden, dann klärte sich das Wetter ein wenig auf. Sie wagten es wieder, das Deck zu besteigen, als sie aber die schwarzen noch immer wogenden und zornigen Wassermassen sahen, jene schäumenden, an das Schiff anprallenden Berge und die abgrundtiefen, beweglichen Täler, da glaubten sie wieder, daß sie nur die Hand Gottes oder irgendeine andere Kraft, niemals jedoch eine menschliche Macht aus diesen Abgründen erretten könnte. Endlich klärte es sich ganz auf, aber Tag um Tag verrann, und noch immer sah man vom Schiffe aus nichts, als die unbegrenzte, manchmal grün, manchmal blau schimmernde Flut, die sich mit dem Himmel vereinigte. Zuweilen zogen dort droben am Himmel kleine helle Wolken vorüber, die sich am Abend rot färbten und im fernen Westen schlafen gingen. Das Schiff schien ihnen nachzueilen.

Wawrschon glaubte wirklich, das Meer habe überhaupt kein Ende, aber er faßte seinen Mut zusammen und beschloß, sich zu erkundigen.

Eines Tages zog er seine eckige Mütze, hielt sie demütig einem vorübergehenden Matrosen vor die Füße und sagte in seiner Muttersprache:

»Gnädiger Herr, kommen wir bald ans Land?«

O Wunder, der Matrose brach nicht in Gelächter aus, sondern blieb stehen und hörte ihn an. Seinem, vom Winde gepeitschten, wettergebräunten Gesicht, sah man es an, daß sein Gedächtnis arbeitete und eine Erinnerung weckte, die er aber nicht sogleich zu einem bewußten Gedanken zusammenfassen vermochte. Nach einer Weile fragte er:

»Was?«

»Kommen wir bald ans Land?«

»Noch zwei Tage, zwei Tage,« wiederholte mit Mühe der Matrose, indem er gleichzeitig zwei Finger zeigte.

»Ich danke ergebenst.«

»Woher seid Ihr?«

»Aus Lipinze.«

»Was ist das, Lipinze?«

Marysja, die während der Unterhaltung herbeigekommen war, errötete, aber sie hob ihre Augen schüchtern zu dem Matrosen und sagte mit einem dünnen Stimmchen, wie die Landmädchen zu sprechen pflegen:

»Wir sind aus dem Posenschen, mein Herr.«

Der Matrose starrte gedankenvoll auf die Messingnägel am Schiffbord, dann blickte er das Mädchen an mit dem flachsblonden Haar, und etwas wie Rührung malte sich auf seinem aufgesprungenen Gesicht.

Nach einer Weile sagte er ernst:

»Ich war in Danzig … ich verstehe polnisch … bin ein Kaschube, euer Bruder, aber das ist schon lange her! Jetzt bin ich deutsch!«

Nach diesen Worten erhob er das Tauende, das er schon vorher in der Hand gehalten, wandte sich um, schrie nach Seemannsart: »Ho, ho!« und zog das Tau heran.

Seit dieser Zeit lächelte er Marysja, sobald er sie mit dem Vater auf dem Deck bemerkte, freundlich zu.

Auch sie freuten sich, eine wohlwollende Menschenseele auf diesem deutschen Schiff zu haben. Übrigens sollte die Reise nicht mehr lange dauern.

Am zweiten Tag, als sie frühmorgens auf Deck gingen, bot sich ihren Augen ein seltsamer Anblick. Von weitem sahen sie auf dem Meer etwas schaukeln, und als das Schiff sich diesem Gegenstand näherte, erkannten sie, daß es eine rote Tonne war, die von den Wellen leicht bewegt wurde; in der Ferne sah man eine zweite, dritte und vierte. Die Luft und das Wasser waren ein wenig in Nebel gehüllt, dabei aber silbern und mild. Die Flut war spiegelglatt und schäumte nicht, aber so weit das Auge reichte, sah man immer mehr Tonnen auf dem Wasser. Auch folgten ganze Wolken von Vögeln mit weißen und schwarzen Flügeln krächzend und lärmend dem Schiff.

Auf Deck herrschte ungewöhnliches Leben. Die Matrosen hatten neue Jacken angezogen, die einen scheuerten das Deck, andere die Messingkugeln am Bord und an den Fenstern; am Mast hatte man eine Fahne angebracht, eine zweite, größere, am Steuerbord. Ungeduld und Freude erfüllten alle Reisenden. Was nur lebte, ging auf Deck. Manche hatten ihre Bündel hinausgeschleppt und umschnürten sie mit Riemen. Als Marysja das sah, sagte sie:

»Wahrscheinlich kommen wir bald ans Land.«

Neuer Mut beseelte sie und den Vater. Da zeigte sich aber im Westen zuerst die Insel Sandy-Hook und eine zweite mit einem großen Gebäude in der Mitte, und weiterhin dehnten sich auf dem Meer, gleichsam dichte Nebelwolken und bange, gestaltlose, trübe, langgezogene Streifen von Rauch aus. –

Bei diesem Anblick erhob sich großer Lärm. Alles zeigte mit den Fingern dahin, und auch das Schiff ließ die Dampfpfeife wie vor Freude noch schriller ertönen.

»Was ist das?« fragte Wawrschon.

»Neuyork,« antwortete der neben ihm stehende Kaschube.

Nun begannen jene Wolken sich zu teilen und zu verschwinden, und auf ihrem Grunde traten, je näher das Schiff auf der silbernen Flut nahte, die Umrisse der Häuser, der Dächer und Schornsteine hervor. Spitze Türme zeichneten sich immer deutlicher am blauen Horizont, neben ihnen hohe Fabrikschlote und hoch über diesen Rauchsäulen, die sich oben in kleines Gewölk auflösten.

Unten, vor der Stadt lag ein Wald von Masten, mit tausenden von bunten Wimpeln geschmückt, mit denen der Wind spielte, wie mit den Blumen auf der Wiese. Das Schiff kam immer näher und näher, und die wunderbare Stadt schien gleichsam aus den Wassern emporgetaucht. Große Freude und Staunen erfüllten das Herz des Bauern. Er nahm die Mütze ab, öffnete vor Staunen den Mund und blickte, blickte immerzu, endlich sagte er zu dem Mädchen:

»Marysja!«

»Was denn, um Gotteswillen?«

»Siehst du?«

»Ja, ich sehe.«

»Und staunst du?«

»Ja, ich staune.«

Wawrschon staunte nicht nur, sondern verging vor Verlangen. Als er den grünen Strand zu beiden Seiten der Stadt und die dunklen Parkanlagen sah, fuhr er fort:

»Gepriesen sei Gott! Wenn sie mir nur ein solches Stück Land dicht bei der Stadt geben, so hätten wir es nahe zum Wochenmarkt. Kommt der Jahrmarkt, so treibt man die Kuh und die Schweine hin und verkauft sie. Menschen gibt's hier, wie ich sehe, soviel, wie Mohnkörner. In Polen war ich Bauer, hier werde ich ein Herr sein.«

In diesem Augenblick breitete sich der Nationalpark in seiner ganzen Ausdehnung vor seinen Blicken aus. Als Wawrschon die Baumgruppen und die Bosketts sah, sagte er wieder:

»Ich werde mich vor dem Herrn Regierungskommissar tief verbeugen und ihm geschickt zu verstehen geben, er möchte mir doch wenigstens zwei Hufen von diesem Walde schenken. Wenn es schon eine Erbschaft sein soll, so mag sie schön ausfallen. Des Morgens werde ich den Knecht mit Holz in die Stadt schicken. Gelobt sei der Allmächtige, denn ich sehe, daß der Deutsche mich nicht betrogen hat.«

Auch Marysja lächelte der neuen Herrschaft schon entgegen. Sie wußte selbst nicht, weshalb ihr das Liedchen in den Sinn kam, das die Braut in Lipinze dem Bräutigam auf der Hochzeit vorsang.

»Was bist du für ein Herr?
Was bist du für ein Herr?
Hast nichts als einen Kittel
Und eine Mütz' dazu …«

Hatte sie vielleicht schon die Absicht, ein solches Liedchen dem armen Jasko vorzusingen, wenn er ihr nachkommen würde und sie bereits eine Erbherrin war?

Inzwischen hatte sich von der Quarantäne her ein kleines Schiff genähert, vier oder fünf Mann betraten das Deck und begannen, dort laut zu sprechen und zu rufen. Bald kam ein zweites Fahrzeug aus der Stadt und brachte Agenten aus den Hotels und Boarding-Häusern, Fremdenführer, Eisenbahnagenten und Geldwechsler. Alles schrie durcheinander und drängte sich auf dem Verdeck.

Wawrschon und Marysja glaubten in eine Mühle geraten zu sein und wußten nicht, was sie beginnen sollten.

Der Kaschube riet dem Alten, sich Geld zu wechseln und versprach ihm aufzupassen, daß er nicht betrogen werde. Wawrschon tat es also. Für alles Geld, das er hatte, bekam er 47 Dollars in Silber.

Bevor das alles erledigt wurde, hatte sich das Schiff der Stadt so genähert, daß man nicht nur die Häuser, sondern auch die am Bollwerk stehenden Menschen sah; dann fuhren sie an verschiedenen größeren und kleineren Fahrzeugen vorüber, endlich erreichte es die Werft und fuhr in das schmale Hafendock hinein.

Die Reise war beendet.

Die Menschen strömten von dem Schiffe heraus, wie Bienen aus dem Stock. Über die schmale Brücke, die vom Bord zum Ufer führte, bewegte sich die bunte Menge: die erste Klasse, dann die zweite und zuletzt die Zwischendeckreisenden, mit ihrem Gepäck beladen.

Als Wawrschon und Marysja, von der Menge gedrängt, sich der Bordöffnung näherten, begegneten sie dem Kaschuben. Er drückte Wawrschon die Hand und sagte:

»Bruder, ich wünsche dir Glück und dir auch, Mädchen. Gott helfe euch.«

»Gott vergelt's Euch!« antworteten beide, aber zu einem längern Abschied war keine Zeit mehr. Die Menge drängte sie über die schräge Brücke, und nach einer Weile befanden sie sich in dem geräumigen Zollgebäude. Der Zollbeamte, in grauem Überrock mit silbernem Stern, rief dann: » All right!« und zeigte ihnen den Ausgang.

Sie gingen hinaus und befanden sich auf der Straße.

»Väterchen, was fangen wir jetzt an?« fragte Marysja.

»Wir müssen warten. Der Deutsche sagte, daß der Regierungs-Kommissar bald herkommen und nach uns fragen wird.«

Sie stellten sich also an die Mauer und warteten auf den Kommissar. Inzwischen umbrauste sie der Lärm der fremden Riesenstadt. Sie hatten nie etwas Ähnliches gesehen: die breiten, schnurgerade gehenden Straßen, auf denen sich die Menschen wie zum Jahrmarkt drängten; in der Mitte eilten Kutschen, Omnibusse und Lastwagen. Ringsumher erklang eine seltsame und unbekannte Sprache, und das Geschrei der Arbeiter und Straßenverkäufer dröhnte ihnen in den Ohren. Jeden Augenblick gingen Schwarze mit krausem Haar an ihnen vorüber, bei deren Anblick Wawrschon und Marysja sich bekreuzigten. Seltsam erschien ihnen diese geräuschvolle, lärmende Stadt mit den pfeifenden Lokomotiven, dem Wagengerassel und den schreienden Menschen. Alles hastete hier, als ob sie jemand verfolgten oder vor jemand flohen, und es wimmelte von Menschen wie in einem Ameisenhaufen. Und wie sonderbar sahen die Gesichter aus, bald schwarz, bald olivengrün, bald rötlich. Gerade dort, wo sie standen, am Hafen, herrschte die größte Bewegung. Von den Schiffen wurden die Waren ausgeladen und auf andere Schiffe getragen. Jeden Augenblick fuhren Wagen vor, auf den Brücken knarrten die Schubkarren; ein Lärm und ein Durcheinander herrschte hier, wie in einer Sägemühle.

So verrannen zwei Stunden. Noch immer standen sie an der Wand und warteten auf den Kommissar.

Einen seltsamen Anblick bot auf dem amerikanischen Strande zu Neuyork dieser polnische Bauer mit dem langen grauen Haar und der viereckigen, pelzverbrämten Mütze und dieses Mädchen aus Lipinze in der blauen Jacke und der Korallenkette am Halse.

Die Leute gingen jedoch an ihnen vorüber, ohne sie auch nur anzusehen. Hier wunderte man sich über kein Gesicht und keine Tracht.

Wieder verfloß eine Stunde. Der Himmel bewölkte sich, es begann zu regnen, und bald wechselte der Regen mit Schnee ab. Vom Meer wehte ein kalter feuchter Wind …

Sie standen und warteten auf den Kommissar.

Die Bauernnatur ist geduldig, aber schließlich begann es auch ihnen unheimlich zu werden.

Einsam genug war es ihnen auf dem Schiffe gewesen, unter fremden Menschen, unheimlich und bange auf der weiten Wasseröde. Sie hatten zu Gott gefleht, daß er sie wie verirrte Kinder über die weite Meeresflut hinüberführen möge. Sie glaubten, ihre Not sei vorüber, sobald sie den Fuß auf trockenes Land gesetzt hatten.

Nun waren sie angelangt. Sie befanden sich inmitten der großen Stadt, aber in dieser Riesenstadt, unter dem Menschengewühl fühlten sie sich plötzlich noch einsamer und verlassener, als auf dem Schiff. Der Kommissar kam nicht.

Was werden sie anfangen, wenn er gar nicht erschien, wenn der Deutsche sie betrogen hatte? Die armen Bauernherzen erbebten vor Angst an einen solchen Gedanken. Was werden sie anfangen? Einfach untergehen?

Inzwischen blies der Wind durch ihre Kleider, und der Regen durchnäßte sie.

»Marysja, ist dir nicht kalt?« fragte Wawrschon.

»Ja, Vater, ich friere.«

Noch eine Stunde schlugen die Uhren der Stadt. Schon wurde es dunkel auf der Welt, der Verkehr im Hafen hörte auf. Auf der Straße wurden die Laternen angezündet. Ein Meer von Lichtern überflutete die ganze Stadt. Die Hafenarbeiter sangen mit heiseren Stimmen: »Yankee Dudle« und zogen in größeren und kleineren Gruppen in die Stadt. Allmählich wurde das Bollwerk ganz leer. Das Zollgebäude wurde geschlossen.

Sie aber standen noch immer da und warteten auf den Kommissar.

Endlich brach die Nacht herein, und im Hafen wurde es ganz still. Nur von Zeit zu Zeit warfen die Dampfschlote zischend dichte Funkengarben hinaus, die in der Finsternis erloschen, oder es plätscherte eine Welle, die sich an dem steinernen Bollwerk zerschlug. Zuweilen erklang das Lied eines betrunkenen Matrosen, der auf das Schiff zurückkehrte. Die Lichter der Laternen erstarben im Nebel. Noch immer warteten sie. Und hätten sie auch nicht warten sollen, wohin sollten sie gehen, was beginnen, wohin sich wenden, wo ihre müden Häupter niederlegen? Immer mehr quälte sie die Kälte, und auch Hunger verspürten sie. Wenn man ihnen wenigstens ein Dach gegeben hätte! Denn sie waren schon bis auf die Haut durchnäßt.

Ach! Der Kommissar war nicht erschienen und wird auch nicht kommen, denn solche Kommissare gibt es überhaupt nicht. Der Deutsche war ein Agent einer Überfahrtsgesellschaft, nahm Prozente für jeden Passagier und kümmerte sich um das Weitere nicht. Wawrschon fühlte, daß seine Füße unter ihm schwankten, als ob eine Riesenkraft ihn in den Boden hineindrängte und glaubte, daß Gottes Zorn über ihm schwebte.

Er litt und wartete, wie nur ein Bauer es vermag. Die Stimme des vor Kälte zitternden Mädchens weckte ihn endlich aus seiner Betäubung.

»Väterchen!«

»Sei still, für uns gibt es kein Erbarmen.«

»Kehren wir nach Lipinze zurück!«

»So geh lieber ins Wasser!«

»Gott, mein Gott!« flüsterte Marysja leise.

Wawrschon tat nun das Kind leid.

»Du arme Waise! Hätte Gott sich doch wenigstens deiner erbarmt.«

Aber sie hörte ihn nicht mehr. Den Kopf an die Wand gelehnt, schloß sie die Augen. Da übermannte sie der Schlaf, zwar ein unruhiger, schwerer, fieberhafter Schlaf, aber im Traume sah sie Lipinze, wie ein Bildchen im Rahmen, und sie schien das Lied des Stallknechts Jasko zu vernehmen:

»Was bist du für eine Herrin?
Was bist du für eine Herrin?
Deine ganze Hab'
Ist ein welker Kranz.«

Das erste Morgengrau im Hafen von Neuyork fiel auf das Wasser, die Masten und das Zollgebäude. In dem grauen Licht konnte man nur mit Mühe die beiden an der Wand schlafenden Gestalten unterscheiden, mit den bleichen, fahlen Gesichtern, von Schnee überschüttet und regungslos, wie erstarrt.

Und dennoch waren erst die ersten Blätter im Buche ihres Mißgeschicks umgewendet. Über die weiteren werden wir noch berichten.


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