Henryk Sienkiewicz
Die Jagd nach dem Glück und andere Novellen
Henryk Sienkiewicz

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Orso

Die letzten Herbsttage sind für Anaheim, einem Städtchen im südlichen Kalifornien gelegen, stets Tage der Freude, des Vergnügens und besonderer Festlichkeiten. Die Zeit der Weinlese ist dann vorüber, die Stadt wimmelt von Arbeitern und es ist ein über alle Beschreibung malerischer Anblick, welchen dann die Bevölkerung bietet. Sie besteht nur zum kleinsten Teile aus Mexikanern, hauptsächlich sind es Indianer vom Stamme der Cahuilla, welche des Broterwerbes wegen bis aus den zerklüfteten Felsenbergen des San Bernardino im Inneren des Landes herüberkamen. Die einen, wie die anderen, machen sich breit, auf Straßen und Plätzen, an Verkaufsläden und den sogenannten Lolen, wo sie unter Zelten oder unter dem freien, ewig heiteren Himmel Kaliforniens übernachten.

Anaheim ist ein liebliches Städtchen, umgeben von Eukalypten, Ryzinus und Pfefferbäumen. Wenn das Leben darin wogt und das bunte Jahrmarktleben es mit lautem Lärm und Geschrei erfüllt, bildet es einen seltsamen Kontrast zu der stillen, ernsten, mit dichten Kaktusgruppen bestandenen Einöde, welche dicht hinter den Weinbergen beginnt und sich lange hinstreckt. Abends, wenn die Sonne ihre Strahlenkrone in die Fluten des Oceans versenkt und an dem rosig überhauchten Firmament die Züge wilder Gänse, Enten und Pelikane dahinziehen, während Möven und Kraniche zu Tausenden vom Gebirge herfliegen, dann werden in der Stadt die Feuer angezündet und das Vergnügen nimmt seinen Anfang. Die Minnesänger, Mohren, schlagen die Kastagnetten, an jedem Feuer ertönen Trommeln und die brummenden Laute der Bandscha, die Mexikaner tanzen auf ausgebreiteten Teppichen ihren Bolero, während die Indianer ihren Bewegungen folgen, lange weiße Stäbe – die Miotte – in den Zähnen haltend, oder lebhaft »e viva«-Rufe ausstoßend, dieselben nachzuahmen suchen.

Die Feuerherde, immer von neuem mit Rotholz genährt, versenden knallend und sausend Funkenfontainen in die Luft; ihre rote Glut bescheint klagende, verkrüppelte und bettelnde Gestalten, die zudringlich ihren Platz behaupten. Ringsum in weitem Umkreise sitzen die Ansiedler mit ihren Frauen und Töchtern und sehen den Spielen und Tänzen zu.

Der Tag aber, an welchen die letzte Traube unter den Füßen der Indianer ihren Saft hergeben muß, wird besonders festlich begangen. An diesem Tage kommt der Wanderzirkus des Herrn Hirsch von Los Angeles her in die Stadt. Herr Hirsch ist ein geborner Deutscher und gleichzeitig Besitzer einer Menagerie, welche aus mehreren Affen, Jaguaren, afrikanischen Löwen, einem Elefanten und etlichen altersschwachen Papageien (the greatest Attraction of the World!) besteht.

Die Cahuillos geizen nicht, sie geben die letzten »Pesetas« hin, welche sie noch nicht vertrunken haben, um, weniger wohl die wilden Tiere, deren sie in San Bernardino genug haben, zu sehen, sondern die Künstler, einen Athleten, Clowns und alle jene Wunder des Zirkus, welche die Indianer als »große Medizin« – d. h. als Zauberei bezeichnen, Künste, die nur mit Hilfe des großen Geistes und anderer übernatürlicher Hilfsmittel zustande gebracht werden können.

Wer da aber auch nur ahnen ließe, daß er den Zirkus des Herrn Hirsch mit seinen Leistungen nur als Zugmittel für die Indianer und Neger, als einen Zirkus untergeordneten Ranges betrachte, der würde sich den gerechten und – weiß Gott gefährlichen Zorn des Herrn Hirsch zuziehen.

Die Ankunft des Zirkus hatte im Gegenteil zur Folge, daß nicht nur die Bewohner sämtlicher Hazienda's und Ansiedelungen der nahen und entfernteren Umgegend der Stadt, sondern auch die Bevölkerung der benachbarten kleineren Städte, wie Westminster, Orange und Los Nietos herbeieilten.

Die Straße »Pomeranze« ist zu dieser Zeit so mit Wagen, Wägelchen und Menschen angefüllt, daß es unmöglich ist sich durchzudrängen. Die ganze große Welt ist hier versammelt. Junge zierliche Missis, mit hellen Löckchen über den Augen, machen es sich zum Vergnügen, vom Bocke ihrer Wägelchen durch die bevölkerten Straßen zu kutschieren und lachen und plaudern laut über die durch ihre Ungestüm erschreckten Gesichter. Spanische Sennoritas aus Los Nietos werfen lange versteckte Blicke hinter ihren Schleiern hervor; verheiratete Damen aus der Umgegend, nach der neuesten Mode gekleidet, schreiten, stolz auf die Arme sonnengebräunter Farmer gestützt, deren einziger Schmuck abgetragene Hüte sind, im Uebrigen sind sie in Beinkleider aus Rips und wollene Hemden gekleidet, welche wegen Mangels eines Kragens und einer Krawatte nur mit Haken und Oese geschlossen wurden.

Alle diese Menschen begrüßen einander mit fröhlichen Zurufen, blicken verstohlen mit prüfenden Blicken um sich, zu ergründen ob sie »very fashionable« sind und beklatschen die anderen mehr oder weniger.

Zwischen den mit Blumen geschmückten Wägelchen der Damen reiten junge Männer auf Mustangs und geben sich Mühe, von den hohen mexikanischen Sätteln herab den jungen Mädchen unter die breiten Hüte zu blicken. Die halbwilden Pferde bäumen sich, geängstigt durch den ungewohnten Lärm und das Gedränge; schnaubend, quickend, mit rot unterlaufenen Augen drohen sie durchzugehen, aber die sichere, feste Hand der Reiter bändigt sie mit einem Druck und beachtet kaum ihre Anstrengungen.

Alles unterhält sich über »the greatest attraction«, oder über die Einzelnheiten des Programmes der heutigen Abendvorstellung, welche an Glanz und Mannigfaltigkeit alles bisher Dagewesene übertreffen soll. Riesenplakate berichten von wahrhaften Wunderdingen, die zur Darstellung kommen sollen. Direktor Hirsch selbst ist ein Künstler »mit der Peitsche«; er soll eine Vorstellung mit dem gefährlichsten aller Löwen, dem afrikanischen, geben. Laut Programm stürzt der Löwe dein Direktor wütend entgegen! er hat zu seinem Schutze nichts weiter in der Hand als seine Peitsche. Dieses kleine Werkzeug jedoch verwandelt sich in der Hand des Meisters in ein Wunderwerk. Das Programm verkündet: Das Ende der Peitsche soll stechen wie ein Dolch, und leuchten wie ein Blitz, krachen wie der Donner und auf diese Weise das Raubtier stets in angemessener Entfernung halten, so daß es vergeblich wütet und sich des Künstlers zu bemächtigen strebt.

Doch das ist nicht alles. Der sechzehnjährige »amerikanische Herkules«, Orso mit Namen, dessen Vater ein Weißer, die Mutter eine Indianerin ist, wird sechs Menschen tragen, je drei auf einem Arme, außerdem hat die Direktion einen Preis von hundert Dollars ausgesetzt für denjenigen, welcher den minderjährigen Athleten im Ringkampfe besiege, gleichviel ob er ein Farbiger oder Weißer ist.

Man munkelt, daß aus San Bernardino expreß ein Bärentöter hergekommen ist – Gryzli-Killer, um sich mit Orso zu messen; er ist berühmt wegen seiner Unerschrockenheit und Kraft, der Erste der Kalifornier, der es gewagt hat, den kalifornischen grauen Bären, nur mit Messer und Beil bewaffnet, anzugreifen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach beschäftigt der Sieg des Bärentöters über den sechzehnjährigen Athleten des Zirkus, bis zum Uebermaß die Gedanken aller Männer Anaheims. Sie sind alle überzeugt, daß Orso besiegt wird, denn wenn der junge Mann, welcher bisher überall vom atlantischen bis zum stillen Ozean die Gegner, welche mit ihm zu ringen sich anmaßten, zu Boden warf, wenn dieser Orso, der die stärksten Yankee's bezwungen, jetzt niedergeworfen wurde, so war Kalifornien mit unsterblichem Ruhme gekrönt.

Eine andere Nummer des Programms erhitzt nicht weniger die Köpfe der weiblichen Bevölkerung Anaheim's. Dieser selbe mächtige Orso wird auf einer dreißig Fuß hohen Stange die kleine Jenny herumtragen. Das Anschlagplakat nennt sie das schönste Mädchen, welches seit Christi Geburt auf Erden gewandelt: »ein Weltwunder«. Obgleich Jenny erst dreizehn Jahre zählt, hat der Direktor doch ebenfalls einen Preis von hundert Dollar's ausgesetzt für dasjenige Mädchen, ohne Unterschied der Farbe, welche in Bezug auf Schönheit mit ihr in die Schranken treten will.

Die kleinen und großen, die alten und jungen Missis aus Anaheim und der Umgegend rümpfen verächtlich die Nasen beim Lesen des Plakates und sind der Ansicht, daß es nicht sehr »ladylike« wäre, in solchen Wettbewerb einzutreten.

Ein jeder von ihnen hätte aber sicherlich lieber alles andere missen mögen, als auf den bereits im Zirkus belegten Platz verzichten. Die Abend-Vorstellung heute durfte um keinen Preis versäumt werden, die kleine kindliche Rivalin mußte gesehen und bekritelt werden, denn keine von allen den Damen, die so vergnügt auf den Straßen Anaheims herumwandelten und herumflirrten, glaubte an diese unvergleichliche Schönheit, die gewiß einen Vergleich z. B. mit den Schwestern Bimpa nicht aushalten würde.

Die beiden Schwestern Bimpa, die ältere Refugio, die jüngere Mercedes mit Namen, sitzen nachlässig in ihrem allerliebsten »buggy« und lesen soeben das Plakat.

Ihre schönen Züge verraten nicht die mindeste Bewegung, obgleich sie wissen und fühlen, daß die Augen von ganz Anaheim gegenwärtig auf sie gerichtet sind, bittend und bewundernd zugleich. Bittend, die Ehre der ganzen Grafschaft zu retten, welche auch in diesem Punkte den Sieg davonzutragen wünscht und mit der Bewunderung der echt patriotischen Ueberzeugung, daß kein Land der Welt so Schönes aufzuweisen habe, als diese Blumen Kaliforniens sind.

Ach! wie schön sind aber auch die Schwestern Refugio und Mercedes! Nicht umsonst fließt in ihren Adern rein kastilisches Blut, wie ihre Mutter fortwährend betont. Sie verbergen durchaus nicht ihre Verachtung sowohl aller Farbigen, wie auch für diejenigen, welche blondes Haar besitzen, für die Yankee's.

Die Schwestern sind schlank und zierlich. Ihre Bewegungen haben etwas seltsam schwerfälliges und dabei graziöses und wonniges, daß wer ihnen nahe kommt von einem ihm bisher unbekannten, unerklärbaren Gefühle gefesselt wird. Ein Zauber strahlt von ihnen aus, dem Jeder zum Opfer fällt; sie sind in eine Duftwolke von Magnolien und Tuberosen eingehüllt, welche die Sinne betäubt. Ihre Gesichter sind zart geformt, die Haut durchsichtig, leicht rosig gefärbt, wie vom Scheine der Morgenröte angehaucht, die Augenbrauen lang und schwarz, wie die Augen, die sie beschatten, ihr Blick kindlich, rein und voll Innigkeit.

In duftigen Musselin gehüllt, sitzen sie in ihrem blumengeschmückten Buggy so voll jungfräulicher Reinheit, ruhig und so schön, daß man ihnen anmerkt, wie sie selbst nicht einmal ahnen, daß sie schön sind. Aber Anaheim sieht es, man verschlingt sie fast mit den Augen, ist stolz auf sie und verliebt bis über die Ohren.

Wie muß nun diese Jenny aussehen, wenn sie über diese beiden den Sieg der Schönheit davontragen soll?

»Saturday Weekly Review« hatte zwar geschrieben: »Wenn die kleine Jenny oben auf der Spitze des Mastes, welchen Orso auf der Schulter trägt, angelangt ist und in größter Lebensgefahr über der Erde schwebend ihre Aermchen ausbreitet, um die Bewegungen eines Schmetterlings nachzuahmen, wird es totenstill im Zirkus und nicht nur die Augen der Zuschauer, sondern ihre Herzen folgen in angstvoller Spannung jeder Bewegung dieses Wunderkindes. Wer sie einmal auf dem Mast, oder dem Pferde gesehen, schließt der »Saturday Review«, der vergißt sie niemals wieder, denn selbst der größte Maler der Welt, der Mister Harvay aus San Francisko, welcher das Palace Hôtel gemalt hat, wäre nicht imstande, sie zu malen.

Die skeptische oder verliebte Jugend Anaheim's, welche in die Schwestern Bimpa total vernarrt war, behauptet, das alles sei Humbug. Doch das muß die Abendvorstellung erst entscheiden.

Das Gedränge in der Nähe des Zirkus wird von Minute zu Minute größer. Aus dem Inneren der den Zirkus mit seinem Leinenzelt umgebenden Schuppen ertönt das Brüllen der Löwen und der häßliche Schrei des Elefanten. Die Papageien, welche an und in den rings um das Zelt angebrachten Ringen hängen, schreien aus vollem Halse wild durcheinander, während die Affen sich an ihren eigenen Schwänzen schaukeln oder sich mit dem Publikum necken, welches durch ein rings um die Gebäude gezogenes Tau in angemessener Entfernung gehalten ward.

Endlich bewegt sich aus dem größten der Schuppen eine Prozession hervor, welche den Zweck hat, die Neugier des Publikums auf das höchste zu steigern. Die Menschen sollen starr werden vor Staunen; das will Direktor Hirsch erreichen, indem er ihnen dieses Schaustück vorführt.

Den Zug eröffnet ein ungeheuer großer Wagen, welcher mit sechs Pferden bespannt ist, deren Köpfe mit Straußenfedern geschmückt sind. Rosselenker im Kostüm französischer Postillone lenken die Pferde vom Sattel herab. Der Wagen trägt die Käfige mit den Löwen, an jedem derselben sitzt eine Lady, mit einem Oelzweig in der Hand. Hinter dem Wagen schreitet der Elefant. Sein Rücken ist mit einem Teppich bedeckt; er trägt einen Turm, in welchem Bogenschützen aufgestellt sind. Trompeten werden geblasen, Trommeln geschlagen, Peitschen knallen, die Löwen brüllen, kurz, die ganze Karawane bewegt sich mit ungeheuerem Geräusch und Geschrei vorwärts, aber nicht zufrieden damit, läßt der Direktor dem Elefanten eine Maschine mit Schornstein folgen, ähnlich einer Lokomotive, welche mittels Dampf ein Musikinstrument in Bewegung setzt, das pfeifend und quiekend – eine wahre Höllenmusik – das Nationallied, den »Yankee Doodle« spielt. Zuweilen verfängt sich der Dampf im Sack, dann kommt aus demselben der ganz gewöhnliche Pfiff einer Lokomotive, doch das beeinträchtigt den Enthusiasmus der Menge nicht, welche sich vor Vergnügen über dieses Dampfinstrument kaum zu fassen vermag. Die Amerikaner schreien »Hurrah«, die Deutschen »Hoch«, die Mexikaner »e viva«, die Cahuilla's heulen und brüllen zufrieden mit der Produktion wie wilde Tiere, die von Bremsen gestochen werden.

Die Volksmenge folgt dem Zuge, es wird still auf dem Platze um den Zirkus und menschenleer.

Die Papageien haben aufgehört zu schreien, die Affen Purzelbäume zu schießen: »The greatest Attraction« nimmt nicht Teil an dem Umzuge. Weder der unvergleichliche Künstler mit »der Peitsche«, noch der unbesiegbare »Orso«, noch Jenny, »der Engel der Luft«, befinden sich im Zuge. Sie bleiben unsichtbar, um am Abend dann um so größeren Eindruck machen zu können.

Der Direktor sitzt irgendwo im Schuppen, oder wirft einen Blick in die Kasematte, wo die Neger ihre weißen Zähne unter grinsendem Lachen zeigen – er hält hier und dort Revision und ist wütend über jeden Quark, der ihm in den Weg kommt. Orso und Jenny aber halten soeben Probe im Zirkus. Unter dem Dache von Segelleinen herrscht Dämmerlicht und tiefe Ruhe. In der Tiefe des Raumes, da, wo die Sitzplätze bis unter das Dach reichen, ist es fast finster. Am hellsten beleuchtet ist der abgegrenzte und mit Sägespreu ausgestreute Raum der Arena, wo durch die obere Oeffnung im Zeltdach das Licht in grellem Strahl hereinleuchtet. In dem im Halbdunkel liegenden Teil des Zirkus steht an einem Trapez ein Pferd; es ist niemand bei ihm. Das breitrückige Tier scheint Langeweile zu haben; es scheucht mit dem Schwanze die Fliegen fort, während es, so weit das die strammen Zügel erlauben, den Kopf auf und nieder bewegt. Nachdem sich das Auge allmählich an das Dunkel gewöhnt hat, erblickt es auch noch andere Gegenstände, wie z. B. die im Sande liegende Stange, auf welcher Orso gewöhnlich Jenny trägt, und einige mit Seidenpapier überklebte Reifen, durch welche Jenny springen soll – das alles liegt achtlos und unordentlich hingeworfen, der ganze dämmerige Raum macht den Eindruck eines längst von den Bewohnern verlassenen Hauses, in welchem die Fensterläden vernagelt sind. Die Reihen der Bänke, nur an einzelnen Stellen von einem Lichtschimmer übergossen, gleichen einem Trümmerhaufen, selbst das jetzt mit gesenktem Kopfe dastehende Pferd vermag dem Raum kein Leben zu geben.

Wo sind denn Orso und Jenny? Ein Streifen des durch einen Spalt scheinenden Lichtes fällt wie ein goldener Fleck in die Tiefe auf eine Stelle der Bänke unter dem Dach. Wie die Sonne ihren Lauf fortsetzt, bewegt auch er sich, hüpft von Stelle zu Stelle, bis er plötzlich an einer Gruppe haften bleibt, welche aus Orso und Jenny besteht.

Orso sitzt auf einer der oberen Bänke, neben ihm das Mädchen. Sie hat ihr reizendes Kinderköpfchen an die Schulter des Athleten gedrückt; die eine ihrer Hände liegt um seinen Hals geschlungen auf seiner anderen Schulter. Die Augen des Kindes sind nach oben gerichtet; sie horcht aufmerksam auf das, was Orso ihr sagt. Er sitzt etwas über sie gebeugt, während er zuweilen, den Kopf tiefer herabneigend, eindringlich zu ihr spricht, ihr etwas erklärend.

Wie sie so aneinander geschmiegt sitzen, könnte man sie für ein Liebespaar halten, wenn nicht die noch nicht bis zur Erde reichenden, in hellrosa Trikot gekleideten Beinchen Jennys in echt kindischer Weise hin und her baumelten und ihr nach oben gekehrtes Gesichtchen weit mehr den Ausdruck gespannten Zuhörens und angestrengten Denkens tragen würde, als denjenigen irgend eines anderen Gefühles.

Im Ganzen ist eben Jenny noch ein Kind, aber ein so entzückend anmutiges, daß auch Herr Harvay in San Francisko, ohne seiner Kunst zu nahe treten zu wollen, gewiß etwas so Süßes in seiner Phantasie nicht zu schaffen vermöchte. Ihr kleines zartes Gesichtchen ist das eines Engels, die mächtigen, traurig blickenden blauen Augen haben einen tiefen, süßen, vertrauensvollen Ausdruck; die dunklen Brauen wölben sich in tadelloser Form auf der reinen, weißen, gedankenvollen Stirne und das aschblonde, seidenweiche Haar, welches etwas unordentlich herabfällt, wirft einen leichten Schatten auf dieselbe, so decent und schleierhaft, daß nicht nur Meister Harvay, sondern noch ein anderer berühmter Maler, Namens Rembrandt, Mühe haben würde, es zu malen. Das Mädchen erinnert gleichzeitig an Aschenbrödel und an Gretchen. Die Stellung, welche sie augenblicklich einnimmt, verrät Furcht, Schüchternheit, Hilflosigkeit und das Verlangen nach Schutz und Stütze. Das Bewußtsein, vereinsamt und allein in der Welt dazustehen, drückt sich in ihrer ganzen Haltung aus.

Seltsam nimmt sich diese Gestalt – eine Figur im Stile des Bildhauers Greuz – in der Zirkustracht aus. Ein kurzes Gazeröckchen, mit Silberflittern reich benäht, so kurz, daß es noch die Kniee freiläßt und die rosafarbenen Trikots – das ist der ganze Staat.

Uebergossen von dem Streifen Sonnenlicht, der sie soeben getroffen, hebt sie sich von dem dunklen Hintergrunde ab, wie eine aus Sommerfäden gewebte Lichtgestalt, zart und durchsichtig, ein schroffer Gegensatz zu der vierschrötigen, derben Gestalt des Jünglings neben ihr.

Orso, im fleischfarbenen Trikot, sieht von Ferne aus, als wären seine Glieder völlig unbedeckt. Derselbe Sonnenstrahl, der die Elfengestalt neben ihm beleuchtet, bescheint auch seine unverhältnismäßig breiten Schultern, die fast zu stark gewölbte Brust, den eingefallenen Leib und die im Verhältnis zum Oberkörper zu kurzen Beine. Die kraftvollen Gliedmaßen erscheinen plump, wie mit der Holzaxt zugehauen; Orso trägt alle Abzeichen eines Zirkusathleten an sich vereint, sie sind so kräftig zur Entwickelung gelangt, daß er fast zur Karikatur herabsinkt. Dazu ist er häßlich. Zuweilen, wenn er den Kopf etwas aufrichtet, kann man sein Gesicht sehen, es ist regelmäßig, vielleicht sogar sehr regelmäßig, aber die Züge sind starr, wie in Eis gehauen, und ebenfalls plump. Die Stirne ist niedrig. Die tiefschwarzen, dem Pferdehaar ähnelnden Haare, wahrscheinlich ein Erbteil seiner Mutter, einer Squaw, fallen bis auf die Nase herab und geben dem Gesichte einen düsteren, fast drohenden Ausdruck.

Er ist gleichzeitig dem Büffel und dem Bären ähnlich; im ganzen personifiziert er eine außergewöhnliche Kraft, aber eine böse. Er ist auch nicht gut.

Wenn Jenny an den Verschlägen vorüber geht, in welchen die Pferde stehen, so drehen die braven Tiere ihre Köpfe ihr zu, sehen sie mit den klugen Augen an und wiehern leise, als wollten sie sagen »How do you do darling« Beim Anblick Orso's gehen sie hoch vor Angst, steigen in die Krippen und zittern am ganzen Leibe. Er ist ein verschlossener Mensch, brummig und schwermütig. Die Mohren des Herrn Hirsch, welche als Pferdeknechte, Clowns, Minnesänger und Seiltänzer ihr Tagewerk verrichten, mögen ihn nicht leiden; sie quälen ihn, wo und wie sie können, und da er ein Mestize ist, machen sie sich nichts aus ihm und zeigen ihm bei jeder Gelegenheit, wie sehr sie ihn verachten. Der Direktor, welcher, die Wahrheit zu sagen, nicht viel riskiert, indem er einen Preis von hundert Dollar aussetzt für denjenigen, welcher ihn im Kampfe besiegt, mißachtet und fürchtet ihn gleichzeitig, etwa so, wie der Tierbändiger den Löwen fürchtet, d. h. er dressiert ihn bei jeder beliebigen Veranlassung.

Er thut das auch noch aus einem besonderen Grunde, weil Herr Hirsch der Ansicht ist, daß, wenn er den Orso nicht schlägt, dieser ihn schlagen würde; im übrigen huldigt er gleich einer Kreolin dem Grundsatze, daß Schlagen eine Strafe, Nichtschlagen eine Belohnung ist.

Das ist Orso. Seit einiger Zeit hat er sich sehr zu seinem Vorteil geändert und das ist, seit er angefangen hat, die kleine Jenny mit der ganzen Inbrunst seiner Seele zu lieben.

Es war vor etwa einem Jahre, da war es geschehen, daß Orso, welcher auch die Aufsicht über die Tiere hatte, eines Tages den Käfig des Jaguar reinigen wollte. Die Bestie steckte ihre Pranke durch das Gitter und verletzte ihn stark am Kopfe. Da trat der Athlet in den Käfig, – aus dem Kampfe, welcher sich nun entspann, ging er allein lebend hervor. Das Tier war erlegen. Der Jaguar hatte ihn aber so schwer verletzt, daß er ohnmächtig wurde und lange krank lag, wozu die Schläge, welche der Direktor aus Aerger über den Verlust des Tieres seinem wunden Körper versetzte, noch vollends verhalfen.

Während der Dauer seiner Krankheit hatte die kleine Jenny ihm viel Barmherzigkeit erwiesen; sie hatte in Ermangelung eines Arztes seine Wunden verbunden, ihm Wasser gereicht und jede freie Minute bei ihm verbracht, um ihm aus der Bibel, dem »guten Buche« vorzulesen, welches nur von Liebe, Vergebung und Barmherzigkeit sagt, kurz von Dingen, von welchen im Zirkus Hirsch kein Mensch sonst wußte, deren Namen selbst hier jedermann unbekannt waren und von welchen niemand hier sprach.

Jenny hatte das Buch von ihrer Mutter geerbt, es immer bei sich gehabt. Orso zergrübelte sich seinen schwerfälligen Indianerkopf, während er aufmerksam zuhörte, und gelangte endlich zu der Ueberzeugung, daß er niemals ein solcher Bösewicht geworden wäre, wenn es im Zirkus so wäre, wie es dieses Buch lehrte. Er reflektierte: »wenn man hier diesen Lehren nach lebte, dann würde man mich nicht immer nur schlagen, ja vielleicht fände sich sogar jemand, der mich ein wenig lieb hätte.« Aber wer? Die Mohren nicht, Herr Hirsch erst recht nicht, wer also sonst, wenn nicht die kleine Jenny, deren Stimme ihm so süß in die Ohren klang wie der Ton der Mundharmonika.

Eine Folge dieses Grübelns war, daß er eines Abends herzerschütternd zu weinen anfing; er küßte die kleinen Hände Jenny's und von diesem Augenblicke an liebte er sie sehr.

Von da an war er immer in der Arena, wenn sie während der Abendvorstellungen reiten mußte und verfolgte mit besorgten Blicken jede ihrer Bewegungen. Während er ihr die mit Papier beklebten Reifen hielt, lächelte er sie an, und wenn er unter den Klängen des Liedes »Ach, der Tod ist nahe!« sie zum Entsetzen aller Zuschauer auf der Spitze des Mastes herumtrug, dann war er selbst voll entsetzlicher Angst. Wußte er doch sehr gut, – wenn sie herunterfiel, dann gab es niemanden mehr im Zirkus aus dem »guten Buche«. Die ängstliche Besorgnis in seinen Bewegungen erfüllte die Zuschauer oft mit Grausen. Wenn sie, den Beifallsrufen der Menge folgend, beide nach beendeter Vorstellung in der Arena erscheinen mußten, dann schob er sie immer ein wenig vor, auf daß der Hauptanteil der Bravo's ihr zufalle, und brummte vergnügt, wenn dieselben recht stürmisch ausfielen.

Orso, der Brummbär, verstand auch nur mit ihr allein zu plaudern, ihr allein öffnete er sein ganzes Herz. Er verachtete die Zirkusleute und Herrn Hirsch, welche so ganz anders waren als die Menschen im »guten Buch.« Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es ihn fortwährend hinaus in die Ferne, in Steppen und Wälder. Wenn die Truppe auf ihren Wanderungen zufällig wüste, unbevölkerte Länderstrecken zu durchziehen hatte, so erwachten in ihm die Instinkte der Natur wie beim Wolfe, der, in der Gefangenschaft geboren und aufgewachsen, zum ersten Mal den Wald erblickt. Vielleicht war ihm diese Sehnsucht nicht nur von der Mutter vererbt, vielleicht war auch der Weiße, welcher sein Vater war, ein Kind der Steppe gewesen.

Er machte die kleine Jenny zur Vertrauten dieser Freiheitssehnsucht und erzählte ihr dabei, wie man in der Steppe lebt. Zum größten Teil mutmaßte er nur, wie sich das Leben dort gestaltete, denn nur wenig hatte er darüber von den Steppenjägern gehört, welche zuweilen in den Zirkus kommen, teils um Herrn Hirsch mit wilden Tieren zu versorgen, teils um der Versuchung, den Ringkampf mit Orso zu wagen, nachzugeben.

Die kleine Jenny horchte seinen Erzählungen meist mit weit geöffneten Augen sehr nachdenklich zu. O, daß doch Orso niemals diesem Drange folgen und allein in die Steppen ziehen wollte! Sie wollte mit; es würde ihnen gut gehen, alle Tage gibt es Neues zu sehen, ihre kleine Wirtschaft wird ihnen genug zu thun geben, sie werden beide an etwas zu denken haben.

Gegenwärtig sitzen sie beide in dem Sonnenlicht, sie unterhalten sich, anstatt die neuen Sprünge zu proben. Das Pferd steht in der Arena und langweilt sich.

Die kleine Jenny, dicht an die Schulter Orso's geschmiegt, läßt den Blick in die Ferne schweifen, so sehnsüchtig und gedankenvoll, während die kleinen Beinchen unablässig hin und her pendeln. Sie überlegt, wie es in der Steppe aussehen kann, zuweilen wirft sie eine Frage ein; sie will ganz genau erfahren, wie das werden soll.

»Wo wohnt man da?« frägt sie, die Augen zu dem Gefährten aufschlagend.

»O, dort gibt es auch Wälder mit unzähligen Eichenbäumen« antwortet er. »Man schlägt sie mit der Axt um und baut ein Blockhaus davon.«

»Well,« sagt Jenny, »aber ehe es fertig ist?«

»Es ist dort immer warm,« bemerkt Orso ausweichend. »Gryzli-Killer sagt, es ist sehr warm dort.«

Jenny's Beinchen pendeln noch lebhafter und das ist ein Zeichen, daß sie mit allem einverstanden ist, wenn es nur warm ist. Dann wird sie wieder nachdenklich. Sie besitzt im Zirkus einen Hund und eine Katze. Diese sind ihr ausschließliches Eigentum; sie nennt sie »Herr Hund« und »Frau Katze«. In Bezug auf diese beiden möchte sie sich vergewissern. »Dürfen der ›Herr Hund‹ und die ›Frau Katze‹ mit uns gehen?« fragt sie wieder.

»Freilich dürfen sie!« antwortet Orso und knurrt vor Freude. »Wir nehmen auch das ›gute Buch‹ mit!«

»Das wollen wir!« sagt Orso noch vergnügter.

»Well,« plaudert das Mädchen. »Frau Katze soll uns Vögel fangen und Herr Hund muß bellen, sobald jemand kommt, der Böses im Schilde führt; Du bist der Mann, ich Deine Frau und sie sind unsere Kinder.«

Orso fühlt sich so glücklich, daß er kein Wort mehr hervorbringen kann, Jenny fährt daher fort: »Und Herr Hirsch wird nicht dort sein, und der Zirkus wird nicht dort sein, und wir werden immer nur nichts thun, basta! Aber wie?« – setzt sie nach einer Weile hinzu – »das gute Buch sagt, der Mensch müsse arbeiten; ich werde ab und zu durch einen Reifen springen, durch zwei, drei, vier Reifen, damit ich nicht vergesse, wie es gemacht wird!«

Noch nie hatte sich Jenny unter dem Worte »Arbeit« etwas anderes vorgestellt, als durch Reifen zu springen, verschiedene Kunststücke auf dem Pferde zu machen, die hohe Maststange hinauf zu klettern und auf ihrer Spitze zu balancieren. Das arme Mädchen ahnte nicht einmal, wie gefährlich und mühevoll die Arbeit war, welche sie tagtäglich ausübte; langjährige Gewohnheit hatte sie die Gefahren übersehen gelehrt, in denen sie bei jeder Vorstellung schwebte, aber sie wußte ebensowenig von den tausendfältigen Mühen, mit welchen sich andere Sterbliche ihr tägliches Brot verdienen mußten.

Nach einer Weile frug sie wieder: »Orso, werde ich wirklich immer bei Dir bleiben?«

»Freilich, Elfe! ich liebe Dich ja so sehr.«

Dabei erhellen sich seine Züge, er sieht fast schön aus.

Er weiß aber selbst gar nicht einmal, wie sehr er dieses hellblonde Köpfchen liebt; wie der Hund seine Herrin und auf der ganzen weiten Welt nur sie, einzig und allein. Er sieht neben ihr aus wie eine Bulldogge, häßlich wie ein Drachen, doch was ficht ihn – sie beide das an. Nichts! gar nichts!

»Elfe!« spricht er nach einem Weilchen. – »Höre zu, ich will Dir etwas sagen.«

Jenny, welche schon aufgestanden war, um nach dem Pferde zu sehen, kniete nun vor Orso nieder, weil sie keines seiner Worte überhören möchte. Sie stützt beide Ellbogen auf seine Kniee, legt das Kinn in die Handflächen und schickt sich eben an, ihm aufmerksam zuzuhören.

Da, zum Unglück für die beiden Kinder, betritt in diesem Augenblick der Künstler »mit der Peitsche« die Arena. Er ist in schlimmster Laune, denn seine Probe mit dem Löwen ist vollständig mißlungen.

Das altersschwache, fast mähnenlose Tier, welches zufrieden wäre, wenn man ihm endlich etwas Ruhe gönnte, will durchaus nicht auf die Reizmittel des Direktors reagieren; es schreitet nicht zum Angriff vor, flüchtet stattdessen vor den Peitschenhieben des wütenden Künstlers in den äußersten Winkel des Käfigs. Wenn der Löwe seine sanfte Laune bis zum Abend nicht aufgibt, kann die Vorstellung mit »der Peitsche« nicht stattfinden, denn einen flüchtenden Löwen zu schlagen, ist ebensowenig ein Kunststück, als das Verzehren eines Krebses, bei dem man vom Schwanz zu essen anfängt.

Die Laune des Direktors hat sich noch verschlimmert, als er erfahren, daß die Cahuilla's ihr Geld schon zum größten Teil vertrunken haben müssen. Der Mohr, welcher den Billetverkauf versehen hat, berichtet, daß eine große Menge derselben sich wohl zur Kasse drängt und Billets verlangt; statt des Geldes aber bieten sie ihre mit U. S. gezeichneten Schlafdecken, oder gar ihre Frauen, meist die alten, an. Der Mangel an Geld bei den Cahuilla's ist ein großer Verlust für den Direktor, welcher mit Sicherheit auf ein ausverkauftes Haus gerechnet hat, deshalb hat er augenblicklich keinen sehnlicheren Wunsch, als daß alle Indianer zusammen nur einen Rücken hätten, auf welchem er mit der Peitsche eine Vorstellung geben könnte, in Gegenwart von ganz Anaheim. So mißlaunig betritt er jetzt den Zirkus. Das erste, was er erblickt, ist das Pferd, welches unthätig und gelangweilt unter dem Trapez steht und Lust bezeigt, einen vor ihm stehenden Holzblock mit den Vorderhufen zum Umfallen zu bringen.

Wo mag Orso und Jenny sein? Er legt schirmend die Hand über die Augen, damit das von oben hereinfallende Licht ihn nicht blendet, und blickt scharf in den im Dunkel liegenden Zirkus hinein: Da sieht er, beleuchtet von dem grellen schmalen Lichtstreifen, Orso und Jenny, wie sie vor ihm kniet und ihre Aermchen auf seine Kniee aufgestützt hat. Bei diesem Anblick entfällt dem Zornigen die Peitsche zur Erde. »Orso!« – schreit er wild.

Ein plötzlicher, unvermuteter Donnerschlag hätte die beiden Kinder nicht so erschrecken können wie diese Stimme. Orso springt auf, mit beiden Füßen zugleich setzt er über die Bankreihen hinweg, der Arena zu, mit jener Eile des Hundes, welcher behende dem Rufe seines Herrn folgt. Ihm nach eilt die kleine Jenny, die Augen weit aufgerissen, mit entsetztem, starrem Blick, während sie beim Ueberspringen der Bänke sich an diese anklammert, um nicht zu fallen.

Als Orso die Arena erreicht hat, bleibt er neben dem Trapez stehen, schweigend und mürrisch blickt er in's Leere. Das von oben hereinfallende Dämmerlicht beleuchtet jetzt vollständig seinen herkulischen Oberkörper, welcher für die zu kurz geratenen Beine fast zu kolossal erscheint.

»Näher! hierher!« ruft der Direktor mit vor Wut heiserer Stimme, während das Ende der Peitsche, die er bereits wieder in der Hand hält, unheilverkündende Kurven im Sande der Arena beschreibt, wie der Tiger vor dem Angriffe mit dem Schweife peitscht, den geeigneten Moment zum Sprunge erspähend.

Orso tritt einige Schritte vor. Eine Zeit lang sehen sich beide, der Gebieter und der Untergeordnete, fest in die Augen, als wollten sie einander messen, wer wohl der Stärkere von ihnen ist. Der Direktor hat vollständig das Aussehen eines Tierbändigers, welcher den Käfig betreten hat, um an einem wilden Tiere eine Dressur vorzunehmen. Er will es zwingen, traut ihm aber nicht und beobachtet jede seiner Bewegungen, weil er es gleichzeitig mißachtet und fürchtet.

Endlich siegt seine Wut über seine Besorgnis. Seine dünnen, in Wildlederhose und hohen Schaftstiefeln steckenden Beine zappeln erregt hin und her. Aller seit einer Stunde angesammelte Aerger ergießt sich jetzt über die Häupter der armen Sünder, deren Pflichtversäumnis nicht allein die Schuld an seinem Zorne trägt. Oben zwischen den Bänken ist Jenny stehen geblieben; bebend vor Angst sieht sie auf die beiden, wie das unschuldige Reh dem Kampfe zweier aufeinander stoßender Büffel zuschauen würde.

»Lump! Hund Du fremder, hergelaufener!« – zischt der Direktor zwischen den Zähnen hervor. Die Peitsche beschreibt mit Blitzesschnelle einen Kreis und trifft den Knaben. Orso zuckt lautlos etwas in die Höhe; springt einen Schritt vor, doch ein zweiter Schlag hält ihn auf, ein dritter, vierter, zehnter folgt. Der erhobene Arm des Peitschenkünstlers zuckt kaum, nur das Handgelenk bewegt sich, wie der Teil einer Maschine, die mit Schrauben zusammengefügt ist, und jeder Bewegung folgt das Klatschen der niederfallenden Peitsche auf dem Leibe Orso's.

Die Vorstellung hat ohne Zuschauer begonnen, nur daß nicht der Löwe, sondern der Knabe vor dem Bändiger stand. Die Peitsche sauste mit einer Geschwindigkeit hin und her, daß es schien, als fülle sie den ganzen Raum zwischen den beiden mit ihren Schwingungen aus. Der Direktor arbeitete sich stufenweise immer mehr in eine zuletzt erkünstelte Wut hinein, der Meister improvisierte geradezu.

Schon zwei Mal hatte die Kugel am Ende der Peitsche blutige Male auf den Nacken des Knaben gezeichnet. Zur Abendvorstellung mußten die Blutstriemen mit Puder verdeckt werden.

Orso blieb stumm. Nach jedem Hiebe aber machte er einen Schritt vorwärts, – der Direktor einen rückwärts. Auf diese Weise hatten sie die ganze Arena umschritten. Jetzt fing der Direktor an, sich nach dem Ausgange zurückzuziehen, genau wie der Tierbändiger den Ausgang des Käfigs zu erreichen sucht, in welchem er die Dressur eines Raubtieres vorgenommen, und plötzlich verschwand er am Eingange zu den Ställen, wie der Tierbändiger außerhalb des Fallgitters, aus dem Käfig.

Schon im Verschwinden begriffen, fiel sein Blick auf Jenny.

»Auf!« – schrie er – »hinauf auf das Pferd. Wir rechnen später ab.«

Seine Stimme war noch nicht verklungen, als das weiße Röckchen Jenny's auch schon in der Luft flatterte. Mit affenartiger Behendigkeit war sie auf den Rücken des Pferdes gesprungen. Der Direktor verschwand hinter dem Vorhang; das Pferd fing an, immer im Kreise herum zu galoppieren, zuweilen mit den Vorderhufen die Umrandung der Arena treffend.

»Hep! Hep!« rief das dünne Stimmchen Jenny's, »Hep! Hep!« aber dieses »Hep! Hep!« klang wie unterdrücktes Schluchzen. Das Pferd schlug ein immer schnelleres Tempo an, öfter wiederholte sich das Klappern der Hufe, der Kopf des Tieres beugte sich immer gewaltiger abwärts. Das Mädchen stand auf dem Sattel, die Füßchen dicht nebeneinander gedrückt, schien sie denselben kaum mit den Fußspitzen zu berühren. Die bloßen rosigen Aermchen suchten mit hastigen Bewegungen das Gleichgewicht zu halten und das von der Bewegung der Luft rückwärts geworfene Haar sowie die Falten des Gazeröckchens flatterten hinter ihr her. Sie sah aus wie ein in der Luft kreisender Vogel.

»Hep! Hep!« – rief sie noch einmal – aber zugleich stürzten die so lange zurückgehaltenen Thränen unaufhaltsam über ihre Wangen herab, die Augen verschleiernd, so daß sie den Kopf vorbeugen mußte, um sehen zu können. Die Bewegung des Pferdes verwirrte sie, die amphitheatralisch emporsteigenden Bänkereihen, die Zeltwand, zuletzt die Einfassung der Arena begannen vor ihren Blicken einen Wirbeltanz. Sie wankte, einmal, zweimal, endlich stürzte sie vom Pferde herab in die Arme Orso's, der ihren Bewegungen unablässig gefolgt war.

»Ach Orso! armer Orso!« rief das Kind schluchzend.

»Was ist Dir Elfe,« flüsterte der Knabe. »Warum weinst Du? O weine nicht! Elfe, weine nicht! Es thut mir nicht sehr wehe, gar nicht sehr.«

Jenny warf ihre beiden Arme um seinen Hals und küßte seine Wangen. Ihr ganzer Körper bebte vor Aufregung, das Schluchzen wurde krampfhaft. Sie konnte sich gar nicht helfen, das eben Erlebte hatte sie zu sehr erschüttert.

»Orso! Orso!« das waren die einzigen Worte, welche sie hervorzubringen vermochte, während ihre Aermchen krampfhaft seinen Hals umklammerten. Noch mehrmals wiederholt sie seinen Namen, denn wenn sie selbst die Schläge erhalten hätte, heftiger hätte sie auch nicht weinen können.

Endlich vermag er durch Zureden und Liebkosungen sie zu trösten . . . seinen Schmerz verbeißend, nimmt er sie auf seine Arme und drückt sie wiederholt an seine Brust. Zum ersten Mal, in der furchtbaren Erregung seiner gepeinigten Nerven, fühlt er wohl, wie sehr er sie liebt, nicht wie der Pudel seine Herrin, ach nein, ganz anders. Er atmet hastig und tief, während seine Lippen in kurzen abgerissenen Sätzen flüstern:

»Ich fühle keine Schmerzen . . . Wenn Du bei mir bist, fühle ich mich wohl . . . Jenny . . . liebe Jenny!«

Unterdessen schreitet der Direktor wutschnaubend in den Ställen umher. Sein Herz ist voll Eifersucht. Er hat das Mädchen knieend vor Orso gesehen und er selbst trägt seit einiger Zeit ein unbestimmbares, noch in der Entwicklung begriffenes Verlangen nach diesem lieblichen Kinde. Bei der Unlauterkeit seiner Denkungsart hält er die beiden für ein Liebespaar. Es würde ihm eine große Genugthuung, ja eine Wonne sein, sie tüchtig durchzupeitschen, rächen mußte er sich, diesem Verlangen konnte er nicht widerstehen. Eine Weile später rief er nach ihr.

Sie riß sich augenblicklich aus den Armen des Athleten und verschwand in dem dunklen Eingang zu den Stallungen. Orso blieb ganz betäubt zurück; anstatt ihr zum Schutze zu folgen, ging er auf die nächste Bankreihe zu, schwankenden Schrittes und mit schmerzverzerrten Zügen und setzt sich stöhnend und schwer aufatmend darauf nieder.

Das Mädchen war inzwischen eiligst in den Pferdestall getreten. Zuerst sah sie niemanden, da es dort noch dunkler war als in der Arena. Eine ängstliche Beklommenheit hemmte ihren Schritt, doch fürchtend, der Meister könne glauben, sie habe seinem Rufe nicht sofort Folge geleistet, rief sie weiter vortretend mit leiser, ängstlicher Stimme:

»Ich komme schon, Herr, da bin ich!«

In diesem Augenblick fühlte sie ihre kleine Hand von der Hand des Direktors erfaßt und seine heisere Stimme sagte rauh:

»Komm!«

Hätte er gescholten, geschrieen, getobt, sie wäre nicht so erschrocken und entsetzt gewesen, wie über sein Stillschweigen, während er sie nach jener Seite hinführte, wo die Garderobe des Zirkus sich befand. Sie stemmte sich rückwärts aus allen Kräften und wiederholte hastig ein über das andere Mal:

»Herr Hirsch! lieber, teurer, bester Herr Hirsch, lassen Sie mich, ich will ja nie wieder – faul sein« wollte sie sagen, doch er ließ sie nicht ausreden.

Mit der ganzen Gewalt seiner überlegenen Körperkraft zog er sie vorwärts nach der langen verschließbaren Kammer, in welcher die Kostüme des Zirkuspersonals sich befanden, stieß sie vor sich hinein und verschloß hinter sich die Thüre.

Jenny fiel vor ihm in die Kniee. Die Händchen gefaltet, die Augen zu ihm erhoben, mit von Thränen überströmtem Gesichtchen, zitternd wie Espenlaub, bemühte sie sich, ihn um Verzeihung zu bitten. Er aber nahm gelassen die Reitpeitsche vom Nagel und indem er sie am Gürtel ihres Röckchens packte, warf er die zarte Gestalt, sie wie ein leichtes Bündelchen emporhebend, auf einen Stoß Kleider, welche auf dem Tische lagen. Dann hatte er noch eine Weile Mühe, ihre strampelnden Füße mit der einen Hand festzuhalten und nun fiel der erste Schlag.

»Orso! Orso!« schrie das Mädchen.

Im selben Augenblick zitterte die Kammerthüre in ihren Angeln. Ein gewaltiger Krach – sie spaltete sich von oben bis unten, mit Riesenkraft zersprengt stürzte die eine Hälfte derselben mit fürchterlichem Gerassel zu Boden.

In der entstandenen Oeffnung stand Orso.

Die Reitpeitsche entfiel der Hand des Direktors. Sein Gesicht wurde kreideweiß, aber Orso sah auch zum Erschrecken aus. Von den Augen des Athleten war nur das Weiße sichtbar, sein breiter, mit aufgeworfenen Lippen ausgestatteter Mund war mit Schaum bedeckt, der Kopf vorgeneigt, wie bei einem Büffel, der zum Stoß sich anschickt, der ganze Körper zusammengezogen, zum Sprunge bereit.

»Fort!« brüllte der Direktor, indem er sich Mühe gab, seine Angst so gut als möglich unter der Maske der Strenge zu verbergen.

Aber die Wut Orso's war einmal entfesselt. Er, der sonst so gehorsam wie ein Hund jedem Winke des Direktors Folge geleistet, er gehorchte dieses Mal nicht nur nicht – nein, sein Kopf neigte sich ein wenig tiefer, während er drohend dem Künstler »mit der Peitsche« die muskulösen Arme entgegenstreckte.

»Hilfe! Hilfe!« schrie der Direktor.

Man hatte den Ruf gehört.

Vier kolossale Mohren stürzten durch die zerbrochene Thüre in eiligen Laufe herein und warfen sich auf den Athleten.

Es begann ein schrecklicher Kampf, welchem der Direktor zähneklappernd zusah. Eine Zeit lang konnte man nichts sehen als einen Klumpen dunkler, ineinander geballter Leiber, welche in konvulsivischen, hastigen und verrenkten Bewegungen sich hin und her wanden. Durch die tiefe Stille, welche plötzlich eingetreten war, drang nur zuweilen ein leises Stöhnen, Schnarchen oder Schnauben. Nach einer kleinen Weile aber flog einer der Mohren wie von übernatürlicher Kraft geworfen aus dem Menschenknäuel heraus, überschlug sich einige Male in der Luft und fiel mit dumpfem Knall neben dem Direktor nieder. Er war mit dem Schädel auf die Diele der Kammer so heftig aufgeschlagen, daß er liegen blieb. Ihm folgte bald ein Zweiter und endlich erhob sich über dem Knäuel Kämpfender nur noch Orso, fürchterlicher anzusehen als vordem, blutend, mit zerzausten, sich sträubenden Haaren. Die beiden noch bei ihm befindlichen Neger preßte er soeben zwischen seinen Knieen, bis er sie ohnmächtig fallen ließ. Darauf richtete er sich hoch empor und schritt auf den Direktor zu.

Der schloß die Augen, noch ehe der Athlet ihn erreicht.

In der nächsten Sekunde fühlte er sich emporgehoben, seine Füße baumelten, dann flog sein ganzer Körper durch die Luft und noch eine Sekunde später fühlte er nichts mehr, denn er war mit der Wucht seines ganzen Körpers gegen die noch im Rahmen befindliche zweite Hälfte der zerbrochenen Thüre geflogen und lag nun bewußtlos am Boden.

Orso trocknete sich den Schweiß ab, während er sich Jenny näherte. »Komm!« sagte er kurz. Er nahm ihre Hand und führte sie hinaus.

Die ganze Stadt war auf den Füßen, den Umzug des Zirkus zu begleiten und der Dampfmaschine, welche unaufhörlich: »Yankee Doodlee« spielte, zuzujubeln. Es war daher um den Zirkus selbst ganz menschenleer, nur die Papageien, welche sich in ihren Ringen schaukelten, erhoben ein fürchterliches Geschrei beim Anblick der beiden Kinder, welche Hand in Hand davongingen, ziellos, aber der Freiheit entgegen. Da draußen irgendwo am Ende der Straße mußte hinter der Stadt die unendliche Kaktussteppe liegen. Schweigend schritten sie an von Eukalypten beschatteten Häusern vorüber, dann kamen sie an dem städtischen Schlachtviehhofe vorbei, um welchen eine Anzahl Spechte mit schwarzen Bäuchen und roten Flügeln beutesuchend kreisten, zuletzt übersprangen sie einen Ableitungsgraben und betraten ein Orangenwäldchen. Als sie dieses, hinter sich hatten, befanden sie sich zwischen Kaktusstauden. Hier begann die Wüste.

Soweit das Auge reichte, türmten sich höher und höher die stacheligen Büsche. Verkrüppelte, untereinander geschlungene Blätter, welche den anderen Blättern entsprossen, versperrten den Weg und hielten Jenny's Kleid fest. Zuweilen erhoben sich die Kakteen so hoch, daß die Kinder wie in einem Walde wandelten, aber in diesem Walde würde sie niemand suchen, noch viel weniger finden. Sie gingen daher bald nach links, bald nach rechts, nur vorwärts wollten sie, fort von der Stätte des Elends und der Qual. An Stellen, wo die Büsche niedriger waren, konnte man weit hinten, am Horizont, die bläulich leuchtenden Berge Santa-Ana sehen.

Sie gingen den Bergen zu. Die Hitze war groß. Graue Heuschrecken zirpten in den Büschen, die Sonne versandte ganze Strahlenbündel auf die Erde und der ausgedorrte Boden hatte ein dichtes Netz von breiten Rissen aufzuweisen. Die breiten, steifen Kaktusblätter schienen in der Sonnenglut weich zu werden, die Blüten hingen schlaff und welk von den Stengeln.

Nachdenklich und schweigsam gingen die Kinder weiter. Denn alles, was sie hier umgab, war ihnen so neu und ungewöhnlich, daß sie sich den neuen Eindrücken ganz hingaben und bald sogar ihre vorausgegangene Aufregung und alle Müdigkeit vergaßen. Jenny ließ ihre Blicke von einem Busche zum anderen schweifen, dann wieder spähte sie forschend in das Innere der Stauden und nur von Zeit zu Zeit wagte sie leise flüsternd den Gefährten zu fragen:

»Das also Orso, das ist die Wüste?«

Die Wüste schien aber nicht stumm zu sein, denn von weiter her vernahm man die Rufe der Hähne der Rebhuhnvölker und überall in der Runde tönte das Klatschen, Zischen und Summen der verschiedenen kleinen Tiere, welche die Kaktusbüsche bewohnten, gar seltsam an das Ohr Jenny's. Zuweilen flog ein Volk Rebhühner auf, langbeinige Läufer mit beschopften Köpfen flüchteten eiligst vor den Wandernden, schwarze Eichhörnchen versteckten sich in ihre Erdlöcher und Hasen und Kaninchen sprangen nach allen Richtungen davon, von dem Schall ihrer Tritte aufgeschreckt, während fette Zieselmäuse auf ihren Hinterbeinchen ruhig vor ihren Höhlen sitzen blieben. Sie sahen behäbigen Farmern nicht unähnlich, wenn diese in den Thüren ihrer Häuser sitzen und ruhen.

Nachdem sie eine kleine Stunde geruht hatten, gingen die Kinder weiter. Jenny wurde bald nachher durstig und Orso, welcher von seiner Mutter wohl die erfinderische Gabe der Indianer geerbt hatte, suchte ihn zu stillen, indem er einige Früchte der Kaktuspflanze pflückte. Sie waren in Menge vorhanden und wuchsen zugleich mit den Blüten aus denselben Blättern hervor. Zwar zerstachen sich beide beim Abnehmen der Früchte an den langen, feinen Stacheln die Finger, aber dafür schmecken ihnen dieselben auch vortrefflich. Ihr säuerlich süßer Geschmack stillte gleichzeitig ihren Hunger und Durst, die Wüste hatte sie genährt wie eine Mutter, sie konnten gestärkt weiter wandern. Die Kaktussträucher schienen immer höher sich übereinander zu türmen, denn das Terrain, auf welchem die Kinder fortschritten, stieg allmählich aber andauernd. Noch einmal sandten sie von einer kleinen Anhöhe aus ihre Blicke rückwärts und erblickten Anaheim mit seinen Häusern und Hütten nur noch ganz verschwommen in der Ferne, wie einen Ameisenhaufen oder einen Kaktusstrauch winzig, in der Steppe liegen. Von dem Cirkus war keine Spur zu entdecken.

Sie gingen nun mit großer Ausdauer stundenlang den Bergen zu, welche in immer deutlicheren Umrissen ihnen entgegen traten. Die Gegend fing an eine neue Gestalt anzunehmen. Zwischen den Kaktusbüschen fanden sich immer häufiger andere Straucharten, zuweilen auch schon vereinzelt Bäume. Sie betraten den bewaldeten Teil des Vorgebirges von Santa-Ana. Orso brach einen kleineren Baum mitten durch, befreite die obere Hälfte von ihren Aesten und schuf sich auf diese Weise eine mit Knorren besetzte Keule, welche in seiner Hand zu einer gefährlichen Waffe werden konnte. Der angeborene Instinkt des Indianers lehrte ihn, daß selbst eine solche Waffe besser sei als nichts, besonders da die Sonne bald untergehen mußte. Sie schwebte, nur noch eine große feuerige Kugel, weit drunten hinter Anaheim und mußte gleich im Ocean versinken.

Einen Augenblick später versank sie in der That und hinterließ von ihrem Glanze nur rote, goldene und rosige Schimmer, welche sich in allen Farbennuancen wie herrliche breite und lange Bänder am ganzen Himmel heraufzogen. Die Berge vergrößerten sich in diesem Glanze und die Kaktussträucher nahmen in dem beginnenden Dämmerlicht verschiedene Menschen- und Tiergestalten an.

Jenny fühlte sich ermüdet und schläfrig. Trotzdem schritten sie rüstig den Bergen zu, ohne daß sie es selbst wußten, rein mechanisch. Endlich hatten sie steile Felsen vor sich, und als sie dieselben erreicht, entdeckten sie einen sprudelnden Quell. Nachdem sie davon getrunken, gingen sie seinem Laufe nach. Die Felsen, welche anfangs vereinzelt dagestanden, nahmen allmählich die Formen fortlaufender Mauern an. Die Wände wurden immer höher, zuletzt betraten die Kinder einen Engpaß.

Das Abendrot war erloschen; vollständige Dämmerung hüllte die Erde ein. Stellenweise, wo die Stämme und Kronen der Lianen sich von einer Seite des Engpasses zur anderen hinüberwarfen und über dem Bach eine grüne Wölbung bildeten, war es ganz finster und unheimlich. Man hörte unten das Rauschen der Blätter in den Bäumen oben, welche von unten nicht gesehen werden konnten.

Orso erriet, daß sie jetzt in demjenigen Teile der Wüste sich befanden, wo wilde Tiere und Raubvögel ihre Wohnungen aufzuschlagen pflegen. Von Zeit zu Zeit drangen bereits verdächtige Laute an sein Ohr und als die Nacht herabgesunken war, unterschied er deutlich das heisere Gebell des Luchses, das Brüllen des Kuguar und das weinerliche Gewinsel der Kujoten.

»Fürchtest Du dich, Elfe?« frug Orso.

»Nein!« antwortete das Mädchen.

Aber sie war sehr müde und konnte nicht mehr weiter gehen. Orso nahm sie auf seine Arme und trug sie. Ihn trieb die Hoffnung vorwärts, daß er endlich doch zu irgend einem Ansiedler oder an mexikanische Zelte gelangen würde. Einige Male war ihm, als sähe er die funkelnden Augen eines Raubtieres in der Ferne vor sich. Er drückte dann Jenny, welche schon eingeschlafen war, mit einer Hand fester an seine Brust, während die andere die Keule in Kampfbereitschaft hielt. Aber auch er wurde müde. Trotz seiner Riesenstärke wurde Jenny ihm schwer, besonders, da er sie auf dem linken Arme trug, um den rechten Arm zum Schutz frei zu halten. Er geriet außer Atem, mußte Minuten lang stehen bleiben um Luft zu bekommen, die Beine zitterten ihm und drohten, ihre Dienste zu versagen. Trotz alledem raffte er sich auf, schritt weiter, weil er fürchtete, daß auch er einschlafen werde, wenn er sich setzte, und dann leicht mit Jenny von einem wilden Tiere angegriffen werden könne.

Plötzlich hielt er wieder an und horchte aufmerksam in die Finsternis hinein. Es war ihm, als hätte er das Klingen von Glocken gehört, wie die Ansiedler sie ihren Rindern und Ziegen zur Nacht umzuhängen pflegen, damit sie sich nicht verlaufen.

Als er jetzt eilig vorwärts strebte, gelangte er bald an eine Biegung des Baches. Das Klingen der Glocken wurde immer vernehmlicher, endlich gesellte sich ihm auch das Gebelle von Hunden zu. Jetzt war Orso sicher, daß sie sich ganz in der Nähe einer Ansiedelung befanden. Es war für ihn die höchste Zeit, denn nach den Aufregungen, Leiden und Kämpfen des vergangenen Tages waren seine Kräfte vollständig erschöpft.

Noch eine Biegung des Baches, da sah er Lichtschimmer vor sich. Im Vorwärtsschreiten konnte sein scharfes Auge bald auch Gegenstände unterscheiden. Unweit brannte ein Feldfeuer, neben welchem ein Hund, dessen Kette an einem Pfahl befestigt war, in wilden Sprüngen hin und her sich bewegend laut bellte und endlich neben dem Hunde und dem Feuer ein Mann, auf einem Steine sitzend.

Wolle Gott, daß dieser ein Mann aus »dem guten Buche« Jenny's sei, dachte er. Nun beschloß er, das Mädchen zu wecken. »Elfe« – rief er – »erwache, wir wollen essen.«

»Was gibt es?« fragte Jenny schlaftrunken, »wo sind wir Orso?«

»In der Steppe«, antwortete er.

Sie ermunterte sich völlig. »Was ist das dort für ein Licht?« frug sie wieder.

»Dort wohnt irgend ein Mensch. Er wird uns zu essen geben.« Der arme Orso war sehr hungerig geworden.

Inzwischen waren sie dem Feuer ganz nahe gekommen. Der Hund riß immer heftiger an seiner Kette und bellte immer lauter. Der Mann, welcher am Feuer saß, legte die Hand über die Augen und sah scharf in die Finsternis. Nach einer Weile frug er: »Wer ist da?«

»Wir sind es« – antwortete Jenny mit ihrem feinen Stimmchen – »und wir sind sehr hungrig.«

»Tretet näher!« – sagte der Alte.

Als sie beide aus dem Dunkel, in welches sie bisher gehüllt gewesen, Hand in Hand heraus in den Lichtkreis des Feuers traten, war ihr Anblick dem alten Hirten so seltsam und überraschend, daß er sie erstaunt erst eine Weile anstarrte und dann aufspringend ausrief:

»What is that

Das, was er sah, war in den fast menschenleeren Bergen Santa-Ana's thatsächlich so merkwürdig, daß ein jeder sich über die Erscheinungen der beiden gewundert haben würde. Orso und Jenny, sie beide waren ja in ihren Cirkuskostümen.

Das schöne, liebliche Mädchen, in rosa Trikot und kurzem Röckchen, welches da im Scheine des Feuers so plötzlich vor dem Alten stand, sah aus wie ein Phantasiegebilde, eine Elfe im wahren Sinne des Wortes. Hinter ihr der Knabe mit den außergewöhnlichen quadratischen Formen, ebenfalls in fleischfarbenen Trikot gekleidet, aus welchem die Muskeln wie Knorren an einer Eiche hervortraten, bildete den schroffsten Gegensatz zu der Elfe.

Der alte Hirt starrte sie noch immer mit weit aufgerissenen Augen an.

»Wer seid ihr denn?« – frug er endlich verwirrt.

Die kleine Frauengestalt hielt es für angemessen an Orso's Stelle zu antworten, da sie die Gewandtere im Reden war. Sie begann also zu plaudern:

»Wir sind aus dem Cirkus, lieber Herr!« – sagte sie. »Herr Hirsch hat den armen Orso so sehr geschlagen, dann wollte er mich schlagen. Das duldete Orso natürlich nicht, er schlug dann den Herrn Hirsch und seine vier Mohren ganz kurz, aber jämmerlich und dann sind wir entflohen in die Wüste und sind lange durch die Kaktusfelder gegangen. Ich schlief ein und Orso trug mich auf seinen Armen und dann sind wir hierher gekommen und wir haben großen Hunger.«

Das Gesicht des alten Einsiedlers erhellte sich allmählich; die gutmütigen Augen ruhten mit gütigem Blick auf den Ankömmlingen. Mit väterlichem Wohlwollen streichelte er das Haar des Mädchens, welches so anmutig und schön, sich beeilt hatte, fast in einem Atemzuge ihre und des Gefährten Schicksale zu erzählen.

»Wie heißest Du, Kleine?« – frug er.

»Ich heiße Jenny« – antwortete sie zutraulich.

»Also, sei willkommen Jenny! und auch Du, Orso! Ich sehe sehr selten Menschen.«

»Komm zu mir Jenny«, – sagte er weiter.

Die kleine, zierliche Gestalt besann sich nicht lange; sie legte beide Arme um den Hals des Greises und küßte ihn herzlich. Er kam ihr vor wie Einer aus dem »guten Buche.«

»Und wird Herr Hirsch uns hier auch nicht finden?« frug sie, ihn loslassend.

»Er findet höchstens eine Kugel bei mir!« entgegnete der Alte. Und nach einer Weile setzte er hinzu: »Ihr sagtet, daß ihr Hunger habt?«

»O, großen Hunger!«

Der Hirte ging zum Feuer, wühlte einen Augenblick in der Asche und zog bald eine prächtige Hirschkeule aus derselben, deren Duft sich sofort ringsum verbreitete. Dann setzten sich alle Dreie zum Essen.

Die Nacht war herrlich. Hoch über dem Engpaß zog der Mond am Himmel herauf, im Dickicht begannen die Vögel in süßen Tönen ihr Lied zu singen, das Feuer knisterte fröhlich und Orso knurrte vor Freude. Er und Jenny, sie aßen beide, als würden sie bezahlt dafür. Nur der alte Einsiedler konnte nichts essen. – Wer weiß warum, – aber wenn er Jenny ansah, standen ihm die Augen voll Thränen.

Vielleicht hatte er früher auch eine Tochter gehabt, die von ihm fort in die Welt gegangen: er sah so selten Menschen in dem öden Berglande – vielleicht erblickte er in Jenny das Ebenbild einer lieben Toten, – sein Enkelkind.

* * *

Von da ab lebten die drei Menschen zusammen.

 

Ende.

 


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