Henryk Sienkiewicz
Die Jagd nach dem Glück und andere Novellen
Henryk Sienkiewicz

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Der Organist von Ponikla

Der Schnee war trocken, hart gefroren, lag nicht zu hoch und Klen hatte lange Beine; er ging daher hurtigen Schrittes auf dem Wege dahin, welcher von Sagrabia nach Ponikla führte. Er ging umso schneller, als der Frost zur Nacht an Stärke zunahm und er leicht gekleidet war. Ein kurzes Röckchen, über diesem ein noch kürzeres Pelzjäckchen, dessen Felle schon stark abgenutzt waren, ein Paar schwarze Cort-Beinkleiderchen und ein Paar sehr dünne geflickte Stiefelchen, das war seine ganze Garderobe. Außerdem trug er in der Hand eine Oboe, auf dem Haupte einen mit Wind gefütterten Hut, sein Herz war erfüllt von einer großen Freude, im Magen hatte er einige Gläschen Arak und seine Seele suchte sich über die Ursachen der freudigen Gemütsbewegung klar zu werden. Denn, daß wir es nur erfahren – heute Morgen hatte er zusammen mit dem Herrn Kanonikus Krajewski seinen Kontrakt als künftiger Organist von Ponikla unterzeichnet. Er, der bis jetzt wie ein Zigeunerbube von Ort zu Ort, von Wirtshaus zu Wirtshaus, von Hochzeit zu Hochzeit und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen war, er, der kein Kirchweihfest und keinen Ablaß versäumte, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, ohne den Versuch, mit seiner Oboe oder durch sein Orgelspiel etwas zu verdienen, er war fest angestellter Organist geworden. Beinahe konnte er den Gedanken nicht fassen, daß er von nun an seßhaft werden sollte. Er durfte ein ruhiges geordnetes Leben beginnen, unter eigenem Dache wohnen, sein eigenes Gärtchen bebauen und – o Seligkeit, nach Herzenslust auf der Orgel, seinem Lieblingsinstrument, spielen. Ein Häuschen, ein Garten, hundertfünfzig Rubel Jahresgehalt, verschiedene Nebeneinnahmen, eine angesehene Stellung, denn er wurde fast schon zur Hälfte eine geistliche Person, ferner eine Thätigkeit, die ausschließlich der Ehre Gottes gewidmet war, – was hätte es für ihn noch Begehrenswerteres geben können? Er spielte die Orgel besser als alle Organisten in der Umgegend, das wußten alle, die ihn kannten. Trotzdem hatte bis vor ganz kurzem jeder erste beste Bauer in Sagrabia oder Ponikla, der ein paar Morgen Acker besah, ihn anmaßend über die Achseln angesehen, oft gar noch verhöhnt. Jetzt werden sie ihn freundlich grüßen, denn er war Organist geworden und noch dazu in einer so großen Parochie – in Ponikla – das war keine Kleinigkeit.

Lange schon hatte Herr Klen ein Gelüst auf diese Stelle gehabt, so lange aber der alte Mielnitzki lebte, war gar nicht daran zu denken, daß dieser Wunsch in Erfüllung gehen könnte. Der Alte konnte die steifen Finger kaum noch bewegen, er spielte erbärmlich, aber der Herr Kanonikus hätte ihn um alles in der Welt nicht vom Amte gebracht, denn sie hatten über zwanzig Jahre miteinander Gottesdienst gehalten.

Nun hatte die »Blässe« des Herrn Kanonikus den armen Alten mit dem Horn so schlimm in die Magengegend gestoßen, daß er drei Tage darauf gestorben war. Klen zögerte jetzt nicht länger; er bat den Herrn Kanonikus um die Stelle und dieser besann sich keinen Augenblick, sie ihm zu geben. Wußte er doch recht gut, daß er einen besseren Nachfolger für seinen guten Mielnizki nicht finden konnte, selbst der Organist in der nächsten Stadt konnte sich mit Klen nicht messen.

Wo mochte nur Klen seine Geschicklichkeit in der Behandlung der Oboe herhaben? Wie mochte er ein so tüchtiger Orgelspieler und ausübender Musiker auf so manchem anderen Instrumente geworden sein? Vom Vater hatte er sein Talent sicher nicht geerbt. Dieser stammte aus Sagrabia, hatte in jüngeren Jahren beim Militär gedient, aber nicht als Hautboist, im Alter hatte er Schnüre aus Hanf gedreht und dazu aus der Tabakspfeife geblasen, das einzige Instrument, das er unablässig im Munde hielt.

Der Junge hatte von Kindesbeinen an immer dort gesteckt, wo er musizieren hörte. Als Schulbube hat er sich bei Mielnizki in Ponikla als Balgtreter nützlich gemacht und der alte Organist, welcher seine Liebe zur Musik kannte und den gefälligen Burschen gerne um sich litt, hatte ihn die Orgel spielen gelehrt. Nach drei Jahren spielte Klen das Instrument besser als sein Lehrmeister.

Später, als in Sagrabia einmal wandernde Musikanten einige Tage Rast hielten, war der junge Musiker eines schönen Tages mit diesen spurlos verschwunden.

Lange Jahre war er mit ihnen, Gott weiß wo, überall umhergezogen; er spielte wie und wo es sich traf, auf Jahrmärkten, Hochzeiten, auf Ablässen in Kirchen.

Als dann die Wandergenossen teils gestorben, teils in alle Winde verstreut waren, kehrte er nach Sagrabia zurück – arm, abgemagert, wie eine Kirchenmaus, und wie der Vogel in der Luft suchte er sich weiter zu ernähren, indem er mit seinem Spiel abwechselnd bald Gott, bald den Menschen diente. Er wurde berühmt, obgleich die Menschen nach ihrer Art ihm seine Armut oft zum Vorwurf machten. Man sprach von ihm in Sagrabia, in Ponikla, in der ganzen Umgegend, und wenn einer ihn ob seines verlotterten Aussehens tadelte, fand sich immer doch ein anderer, ihn in Schutz zu nehmen und zu sagen: »Sei es, wie es sei! Wenn Klen zu spielen anfängt, dann muß ein Gott ihn beneiden um seine Kunst, denn er rührt die Menschen zu Thränen mit seinem Spiel!« Oftmals wurde er gefragt: »Sagen Sie nur, lieber Klen, Sie sind wohl von einem Geiste besessen, der Ihnen alle die schönen Melodieen eingibt?« Und wirklich! So schien es zu sein. Ein ganz besonderer Geist mußte von diesem langbeinigen Dürrländer Besitz ergriffen haben. Noch zu Lebzeiten des alten Mielnizki vertrat er diesen zuweilen an hohen Festtagen und bei Ablässen. Dann vergaß er sich und alles um sich her über dem Spiel. Das geschah jedes Mal so recht mitten im Gottesdienst, wenn die Herzen der Beter vollständig in Andacht versunken waren, wenn Weihrauchwolken das Gotteshaus durchzogen bis hoch hinaus unter das Gewölbe, wenn alle einstimmten in den Gesang, den der Organist intonierte. In solchen Momenten war Klen nicht mehr er selber. Die andächtige Stimmung, das Geläute der Glocken und Glöckchen, der Duft der Myrrhe, des Bernsteins und anderer wohlriechender Kräuter, das Blinken der Lichter und der Glanz, der von der goldenen Monstranz ausging, erhoben ihn hoch hinaus über die Sphäre alles Irdischen.

Ihm war zu Mute, als würde er, das Gotteshaus mit allen Andächtigen auf Flügeln zum Himmel emporgetragen. Der Herr Kanonikus schloß beim Emporheben der Monstranz die Augen, auch Klen schloß sie; er befand sich da oben auf dem Orgelchor in solchen Augenblicken in einem Zustand seelischer Verzückung, er vergaß dann, daß er es war, welcher spielte, er hörte nur die Töne den zinkenen Orgelpfeifen entströmen, sich wellenförmig fortpflanzen, im Raume der Kirche dahinströmen, wie einen Fluß, der bald leise murmelt gleich dem hervorsprudelnden Quell, sich erhebt zu lautem Rauschen und endlich brausend dahinstürzt im schäumenden Wogen des Wasserfalls, mit diesem Brausen jeden Winkel des Gotteshauses ausfüllend, sich vereinend zu einem die Sinne berückenden Ganzen, Heiligen, mit den von der Sonne golden durchleuchteten Weihrauchwolken und den menschlichen Stimmen, welche donnerähnlich bald, bald in lieblichen Tönen mit lebhaften, heiß aus dem Herzen quellenden Worten den Hymnus mitsangen. Wie das Schluchzen der Nachtigall in sommerlichen Nächten stieg der Gesang empor zu Himmelshöhen mit den Tönen der Orgel verschmelzend und zuletzt leise verklingend.

Nach der Messe stieg dann Klen die enge Stiege vom Orgelchor herunter, die Sinne noch ganz benommen, mit Augen, die ganz verträumt in die Welt blickten. Er vermochte seinen Zustand sich selbst nicht anders zu erklären, als daß er glaubte, müde zu sein. Der Herr Kanonikus drückte ihm für gewöhnlich in der Sakristei ein Geldstück in die Hand, flüsterte ihm ein Lob in das Ohr, dann ging Klen vor die Kirche und mischte sich unter die Kirchgänger, welche in gedrängter Menge aus dem Gotteshause kamen. Man hatte ihn dort schon immer achtungsvoll gegrüßt, obgleich er noch zur Miete wohnte. Von jetzt ab würde aber seine Stellung ihm noch mehr Ansehen verschaffen.

Aber Herr Klen ging nicht deswegen unter die Kirchgänger. Etwas ganz anderes zog ihn dorthin, etwas, das ihm das Liebste in Sagrabia, in Ponikla, ja in der ganzen Welt war und dieses Etwas war Olka, die Tochter des Ziegelstreichers aus Sagrabia. Die hatte sich ihm in's Herz gestohlen und sich darin festgesetzt, daß er ihr Bild selbst mit einer Zange nicht hätte wieder herausreißen können. Ihre Rehaugen, das freundliche rosige Gesichtchen mit den kirschroten Lippen standen ihm unaufhörlich vor Augen. Es gab zwar Augenblicke, wo er selbst sich sagte: »Du bekommst sie nicht, der Vater gibt sie dir nicht; es wäre besser, du schlägst sie dir aus dem Sinn.« Das waren Augenblicke, wo er aus der Welt seiner Träume herabstieg in die reale Welt, was sehr selten geschah; und immer gleich darauf befiel ihn ein furchtbares Angstgefühl, die Furcht, daß er nicht imstande sein würde, jemals zu entsagen. Sie war ihm eben zu sehr an's Herz gewachsen, wie gesagt – nicht mit der Zange loszureißen. Tief bekümmert ließ er dann seinen Kopf hängen und versank auf ganze Tage in schmerzliches Grübeln.

Er lebte nur in ihr, um ihretwillen hatte er sein Wanderleben aufgegeben, und wenn er die Orgel spielte, so spielte er nur für sie, denn sie hörte ihm ja zu.

Sie aber hatte sich zuerst wirklich in sein Spiel verliebt, seine große musikalische Begabung flößte ihr Respekt ein. Später gewann sie ihn lieb um seiner selbst willen, der arme Musikant wurde ihr bald der Liebste von allen, trotz seines merkwürdigen dunkelbraunen Gesichtes, seiner verträumten Augen, trotz seines schäbigen Röckleins, des kurzen Pelzchens und trotz seiner so überlangen dünnen Storchbeine. Anders dachte ihr Vater, der Ziegelstreicher, obgleich auch er oft genug leere Taschen hatte. Er wollte seine Tochter dem armen Musikanten nicht geben.

Das Mädel erregt die Aufmerksamkeit Aller, die Burschen verdrehen sich die Köpfe nach ihr, wozu soll sie sich an einen solchen binden, wie dieser Klen. Kaum, daß er ihn in das Haus ließ, zuweilen schlug er ihm sozusagen die Thüre vor der Nase zu.

Als aber der alte Mielnitzki gestorben war, änderte sich die Sache plötzlich. Klen war heute, nachdem er beim Kanonikus den Kontrakt unterschrieben hatte, stehenden Fußes zu dem Ziegelstreicher gegangen, hatte ihm den Sachverhalt erzählt und um die Hand Olka's gebeten.

»Ich will nicht sagen, daß sogleich etwas daraus werden soll,« hatte dieser geantwortet, »aber mit einem angestellten Organisten läßt sich eher darüber sprechen, als mit einem Landstreicher.«

Er lud ihn in's Haus, bewirtete ihn mit einem Gläschen Arak und behandelte ihn als Gast. Wie dann Olka dazugekommen war, freute er sich mit den jungen Leuten darüber, daß Klen ein Herr geworden war, daß er ein Häuschen und einen Garten haben und nach dem Herrn Kanonikus die vornehmste Person sein werde.

Der junge Organist hatte zu seiner eigenen und zu Olka's Freude von Mittag bis zum Abend dort bleiben dürfen. Eben jetzt war er auf dem Wege von Sagrabia nach Ponikla, seiner neuen Heimat. Der Abend war angebrochen, die Abendröte schmückte noch in breiten Streifen das westliche Himmelsgewölbe und warf einen rosigen Schimmer auf den Schnee, der unter den Füßen des Wandernden laut knirschte.

Es fror stark, aber er achtete es nicht, sondern schritt rüstig weiter, während er die Erlebnisse des heutigen Tages noch einmal in Gedanken an sich vorüberziehen ließ.

Einen Tag, so glücklich wie der heutige, hatte er noch nie erlebt. Bei dem Gedanken an Olka wurde ihm warm; er spürte die zunehmende Kälte kaum.

Wie eine helle, lichte Flamme beleuchtete das freudige Gefühl, welches ihn erfüllte, nicht nur seinen inneren Menschen, sondern warf sogar einen Widerschein auf seine äußere Umgebung, denn es ließ ihm den öden baumlosen Weg freundlicher erscheinen.

Noch einmal durchlebte er den vergangenen Tag. Jedes Wort, welches er mit dem Herrn Kanonikus gesprochen, hatte sich fest seinem Gedächtnis eingeprägt, die Unterzeichnung des Kontraktes, die Antwort des Ziegelstreichers, das was Olka zu ihm gesagt, – alles trat wieder lebhaft in seine Erinnerung, alles kam ihm deutlich zum Bewußtsein.

Als er einmal einen Augenblick mit ihr allein geblieben war, hatte Olka so zu ihm gesagt:

»Mir ist alles recht! Ich würde Ihnen ohne jedes Bedenken überall hin folgen, sei es auch über das Meer, aber Vaters wegen ist es schon besser so.«

Da hatte er ihr ehrfurchtsvoll die Hand geküßt. Er war ganz verlegen dabei geworden und in überströmendem Dankesgefühl flüsterte er ihr zu:

»Gott lohne es Ihnen, Olka, in alle Ewigkeit. Amen!«

Jetzt, in der Erinnerung, schämte er sich ein wenig, daß er nur ihre Hand geküßt und ihr so wenig gesagt hatte, denn er hatte das bestimmte Gefühl, daß es ihr ernst war mit dem, was sie gesagt, daß sie ihm wirklich folgen würde, bis über das Meer, an's Ende der Welt. Ach, sie war doch ein liebes, prächtiges Mädchen! Wie schön wäre es, wenn sie jetzt mit ihm auf dem öden, schneebedeckten Wege wandern würde.

»O Du mein goldenes Herz! Du meine Herrin!« murmelte Klen.

Und noch rüstiger schritt er vorwärts, daß der Schnee noch lauter unter seinen Tritten knirschte. Bald jedoch verfiel er in neues Grübeln.

»Ein solches Mädchen kann nicht täuschen,« dachte er.

Ein heißes Dankgefühl durchströmte sein Herz. Wenn Olka jetzt bei ihm wäre, würde er sich nicht länger beherrschen können; er würde die Oboe zur Erde werfen, sein Mädchen umarmen und festhalten, auf daß er sie nimmer zu lassen brauche. So und nicht anders hätte er es schon vor einer Stunde machen sollen – aber – ist es nicht immer so bei wichtigen Anlässen? Wo es gilt zu handeln, oder vom Herzen herunter zu reden, da – ja, da hat der Verstand ein Ende und die Zunge wird plötzlich steif. Es ist doch wahrlich leichter die Orgel zu spielen, als um ein Mädchen zu freien!

Während solche Gedanken Herrn Klen beschäftigten, hatten die purpurroten Streifen, welche bisher den Abend erhellt, sich allmählich in goldene Bänder, zuletzt in violette Schatten verwandelt. Die Dämmerung war eingetreten, Sterne blinkten erst vereinzelt, dann zahlreicher am Firmament auf und schauten mit kühler, trockener Strenge auf die Erde hernieder, wie das im Winter stets der Fall ist.

Die Kälte nahm zu. Den künftigen Organisten von Ponikla zwickte der Frost empfindlich in die Ohren. Er kannte den Weg genau; daher beschloß er denselben abzukürzen und quer über die Wiesen zu gehen, um eher nach seinem Hause zu gelangen.

Kaum gedacht, führte er sogleich den Entschluß aus. Gleich darauf konnte man seine lange dunkle Gestalt auf der weißen Fläche dahinschweben sehen. Lang und länger, fast lächerlich lang erschien seine Gestalt.

Nun fiel ihm ein, daß er, um die Zeit schneller zu vertreiben, etwas auf der Oboe spielen könne, auch um die Finger, die steif zu werden anfingen, durch die Bewegung wieder gelenkig zu machen. Seltsam und etwas zaghaft, als fürchteten sie sich vor der öden, weißen Fläche, zogen die Klänge über die schneeige Ebene; sie hörten sich um so seltsamer an, da es lauter fröhliche Melodieen waren, welche Klen blies.

Es waren dieselben Lieder, die er, angeregt vom Genuß des Arak, in der Wohnung des Ziegelstreichers gespielt hatte.

Olka hatte, fortgerissen von dem Glücksgefühl, das sich ihrer bemächtigt, zu seinem Spiel gesungen. Ihr feines liebliches Stimmchen tönte ihm wieder jetzt in den Ohren, Klen spielte der Reihenfolge nach alle die kleinen Lieder, die sie gesungen. Zuerst also:

Am frühen Morgen sende
Herr, meines Herzens Liebe.
Was ungleich ist, das wende,
Auf daß es gleich doch bliebe.

Dem Ziegelstreicher hatte das Liedchen nicht gefallen; es kam ihm zu bäuerisch vor. Er wollte etwas Feines hören, ein höfisches Lied. Da wählten sie ein anderes, welches Olka auf dem Gutshofe gelernt hatte. Es lautete:

Herr Ludwig ist zur Jagd hinaus,
Helenchen schön, die blieb zurück.
Herr Ludwig kehrte heim nach Haus,
Es schmetterten Trompeten, doch
Helenchen schlief zum Glück.

Das gefiel dem Ziegelstreicher besser. Am meisten aber lachten sie alle drei über das Lied vom »Grünen Krug«. In diesem Liede weint ein Mädchen zu Anfang und klagt betrübt, daß ihr Krug zerschlagen worden, zuletzt aber lacht sie.

»Du hast zerbrochen den grünen Krug, Herr!« klagt sie.

Der Herr aber beeilt sich, sie zu trösten:

Stille Jungfer weine nicht.
Den Krug bezahl' ich Dir –

Olka hatte die Worte so lang als möglich gedehnt und gesungen – »den grü–ü–ünen Krug« und hinterher herzlich gelacht. Klen aber hatte die Oboe abgesetzt und ihr sehr pathetisch geantwortet:

Stille Jungfer, weine nicht.

Noch jetzt in der Nacht lächelte er, so gut das beim Blasen ging, über die Lust und Freude des vergangenen Tages und vergnügt spielte er wieder und wieder – »den grünen Krug!«

Die zunehmende Kälte aber machte, daß seine Lippen an das Mundstück der Oboe anzufrieren drohten und die Finger statt gelenkiger zu werden, immer steifer wurden, so mußte er endlich aufhören zu spielen. Etwas außer Atem und das Gesicht in Dampf gehüllt, welchen sein ausströmender Atem verursachte, schritt er vorwärts.

Nach einer Weile überfiel ihn Müdigkeit. Klen hatte nicht bedacht, daß auf den Wiesen der Schnee tiefer liegt, als auf dem Wege. Nun wurde es ihm immer schwerer, seine langen Beine aus den Vertiefungen, die seine Tritte machten, herauszuziehen. Zudem zogen sich durch die Wiesen Furchen und seichte Gräben, welche der Schnee jetzt verdeckte und in welche er oft bis über die Kniee versank. Klen bedauerte, daß er den ausgetretenen Weg verlassen hatte. Dort wäre ihm doch möglicherweise eine Fahrgelegenheit nach Ponikla begegnet.

Die Sterne blinkten immer heller, der Frost nahm noch zu und Herr Klen schwitzte gewaltig. Ein scharfer Wind strich stoßweise über die Wiesen dem Flusse zu und machte ihn erschauern. Noch einmal versuchte er zu spielen, aber das Gehen mit geschlossenem Munde strengte ihn an.

Zuletzt überkam ihn ein Gefühl der Einsamkeit. Es war so totenstill, so öde ringsum, ihm war seltsam zu Mute. In Ponikla wartete seiner ein warmes Häuschen. Dennoch wanderten seine Gedanken zurück nach Sagrabia: »Olka wird jetzt schlafen gehen, sagte er vor sich hin – Gott sei Dank, sie hat ein warmes Stübchen!« Dieser Gedanke – Olka müsse es wohl und behaglich sein in der hellen warmen Stube, erfreute sein edles Herz desto mehr, je mehr er unter der Kälte im Dunkel litt.

Endlich lagen die Wiesen hinter ihm, er betrat den Weideacker des Dorfes, auf welchem hier und da ein Wacholderstrauch stand. Herr Klen war so ermüdet, daß er große Lust verspürte, im Schutze des nächsten dieser Sträucher auszuruhen. Aber er wehrte der Versuchung, denn er dachte: »Thu ich's, so erfrier' ich!«

Unglücklicherweise lagen um die Sträucher wie vor Zäunen Schneewehen. Nachdem Klen durch mehrere derselben sich hindurchgearbeitet hatte, waren seine Kräfte so erschöpft, daß er sich doch hinsetzen mußte.

Wenn ich nur nicht einschlafe, – dachte er – dann erfriere ich auch nicht.

Und um nicht einzuschlafen will ich noch einmal das Lied vom »grünen Krug« spielen.

Er spielte wieder und der bange Ton der Oboe klang ergreifend traurig durch die Stille der Nacht. Der Organist blies wacker aber immer abgerissener und leiser sein Lied vom »grünen Krug.« Er kämpfte verzweifelt gegen seine Müdigkeit. Alle seine Gedanken waren bei Olka. Die Augenlider wurden ihm bleischwer, eine entsetzliche Angst befiel ihn. Als wundere er sich, daß sein Liebstes nicht bei ihm sei, murmelte er:

»Olka wo bist Du?«

Und einen Augenblick später kam es angstvoll, als wolle er sie herbeirufen, aus seinem Munde:

»Olka! . . .«

Die Oboe entfiel seinen erstarrten Händen.

Das Morgengrauen beleuchtete die sitzende Gestalt Klens. Die Oboe lag zu seinen Füßen. Das blaugefrorene Gesicht war vorgeneigt, in lauschender Stellung, als horche der arme Tote noch aufmerksam auf die Melodie des Liedes vom:

»Grünen Krug!«

 

Ende.

 


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