Henryk Sienkiewicz
Auf dem »großen Wasser«
Henryk Sienkiewicz

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II.

In New York.

Wenn man von der breiten Broadwaystraße gegen den Hafen, in der Richtung von Chatham-Square herabsteigt und einige anstoßende Gassen passiert, gelangt man in ein immer ärmeres, öderes und düsteres Stadtviertel. Die Gäßchen werden immer enger, die von den holländischen Ansiedlern noch erbauten Häuser hatten im Laufe der Zeit Risse bekommen und wurden windschief, die Dächer waren gebeugt, von den Mauern war der Mörtel abgefallen, und die Mauern selbst waren so eingesunken, daß die Fenster der Kellerwohnungen kaum den oberen Rand des Straßenniveaus erreichten. An Stelle der in Amerika so beliebten geraden Linien sind hier krumme Winkel, die Dächer und Wände bilden hier ein chaotisches Gewirr. In diesem Stadtteil, am Meeresufer gelegen, trocknen die Pfützen in den Straßen beinahe nie aus und die kleinen verbauten Plätze sind Tiefen mit sumpfigem, schwarzem Wasser. Die Fenster der schäbigen Häuserfassaden spiegeln sich düster in diesem Gewässer, dessen schmutzige Oberfläche mit allerhand Abfällen bedeckt ist. Ähnlich sind die ganzen Straßen, sie sind mit einer Kotschicht bedeckt. Überall sieht man hier Schmutz, Unordnung und menschliches Elend.

In diesem Stadtviertel befinden sich die Herbergen, in denen man für zwei Dollar die Woche Quartier und Verpflegung bekommen kann, hier sind auch die Schenken, in denen die Walfischfänger allerhand Landstreicher für ihre Schiffe anwerben. Hier sind auch die südamerikanischen Winkelagenturen, die den Kolonien des Äquators und dem Fieber eine stattliche Anzahl von Opfern liefern; Garküchen, die ihre Gäste mit gesalzenem Fleisch, verfaulten Austern und Fischen, die das Wasser selbst wahrscheinlich auf den Sand gespült hat, ernähren. Geheime Spielhäuser für Würfelspiel, chinesische Wäschereien und verschiedene Matrosenschlupfwinkel. Hier sind schließlich die Höhlen des Verbrechens, des Elends, des Hungers und der Tränen.

Und doch ist dieser Stadtteil verkehrsreich, denn diejenigen Emigranten, die in den Kasernen von Castle Garden nicht einmal eine momentane Unterkunft finden und nicht in die sogenannten Arbeiterhäuser gehen wollen, finden sich da, wohnen, leben und sterben hier. Anderseits kann man sagen, daß, wie die Auswanderer der Abschaum der europäischen Völker sind, so sind die Bewohner dieser Winkelgassen der Abschaum der Einwanderer. Diese Leute sind teilweise aus Arbeitsmangel, teilweise aus Vorliebe Müßiggänger. Hier ertönen auch nachts häufig Revolverschüsse. Hilferufe, heiseres Wutgeschrei. Gesänge betrunkener Irländer oder das Geheul der sich blutig schlagenden Neger. Am Tage schauen ganze Gruppen Vagabunden in zerfetzten Hüten, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, Faustkämpfen zu und gehen dabei hohe Wetten ein für jedes ausgeschlagene Auge. Weiße und Negerkinder mit Krausköpfen, statt in der Schule zu sitzen, treiben sich in den Straßen umher und suchen im Kot die Überbleibsel von Gemüse, Pomeranzen und Bananen. Ausgemergelte irländische Weiber strecken die Hände einem besser gekleideten Passanten, wenn er sich dorthin verirrt, bettelnd entgegen.

In solch einem menschlichen Jammer finden mir unsere alten Bekannten Wawrzon Toporek und seine Tochter Maryscha. Die Domäne, die sie erhofften, war ein Traum und zerstob wie ein solcher, und die Wirklichkeit stellt sich uns jetzt in Gestalt eines engen, eingesunkenen, verfallenen Stübchens mit einem Fenster und ausgeschlagenen Scheiben dar. An den Stubenwänden ist Schimmel und Feuchtigkeit zu sehen. Bei der Wand steht ein verrosteter und defekter kleiner Eisenofen und ein Stuhl mit drei Füßen; in einer Ecke vertritt eine Schütte Gerstenstroh eine Lagerstätte – das ist alles.

Der alte Wawrzon kniet vor dem kleinen Ofen und sucht, ob sich in der erloschenen Asche nicht irgendwo eine Kartoffel versteckt hat, und dieses Suchen nimmt er schon den zweiten Tag vergebens vor. Maryscha sitzt auf dem Stroh, und die Knie mit den Händen umklammernd, starrt sie unbeweglich auf den Fußboden. Das Mädchen ist krank und ausgemergelt. Es ist wohl dieselbe Maryscha, aber ihre einst roten Backen sind tief eingefallen, die Gesichtsfarbe ist bleich und krankhaft, das ganze Gesicht klein und die Augen groß geworden; so stiert sie ins Leere. Auf ihrem Gesicht ist der Einfluß verdorbener Luft, Sorgen und einer elenden Ernährung zu erkennen. Sie nährten sich nur von Erdäpfeln, aber seit zwei Tagen waren auch diese ausgegangen. Jetzt wissen sie nicht mehr, was sie anfangen und wovon sie leben sollen. Es verstrich schon der dritte Monat, seit sie in dieser Höhle sitzen, und das Geld ist verbraucht. Der alte Wawrzon hat versucht, Arbeit zu erlangen, aber man verstand nicht einmal, was er wollte. Er ging nach dem Hafen, Lasten zu tragen und Kohlen auf die Schiffe zu laden, er hatte aber keine Karre, und überdies haben ihn die Irländer gleich tüchtig durchgebläut. Er wollte bei einem Dockbau mit seiner Hacke helfen, und wiederum wurde er verhauen. Außerdem, was ist das für ein Arbeiter, der nicht versteht, was man ihm sagt? Wo er die Hände rührte, was er auch angreifen wollte, wurde er gestoßen und geschlagen, und so fand er nichts und vermochte nirgends weder einen Pfennig zu verdienen noch zu erbetteln. Seine Haare wurden vor Gram weiß, die Hoffnung war erschöpft, das Geld war zu Ende und der Hunger stellte sich ein.

Zu Haus unter den Seinen, selbst wenn er alles verloren hätte, wenn eine Krankheit ihn befallen, oder wenn die Kinder ihn aus der Hütte gejagt hätten, nun, so würde er eben einen Stecken zur Hand genommen, sich an einem Kruzifix oder vor einer Kirchentür aufgestellt und gesungen haben. Manch vorüberfahrender Herr würde ein Zehnpfennigstück geben, oder eine gütige Dame eine kleine Gabe spenden. Manch Bauernweib würde etwas Speck geben, und man könnte leben wie ein Vogel, der weder säet noch erntet. Wenn er so unter den Seinen wäre, würde Gott sein Flehen erhören. Hier in dieser großen Stadt dröhnte alles wie in einer großen Maschine. Jeder raste nur so vorwärts, kümmerte sich nur um sich, so daß niemand fremdes Leid gewahrte. Hier wurde der Kopf schwindlig, die Hände wurden schwach, die Augen vermochten nicht alles, was auf sie eindrang, zu fassen. Hier war alles wunderlich fremd, verdrängend und auseinander treibend, so daß jeder, der sich in diesem Wirbel nicht mitzudrehen vermochte, aus dem Kreise flog und wie ein Tongefäß zerschellen mußte.

Ach, was für ein Unterschied! Im ruhigen Lipinze war Wawrzon ein Landwirt und Schöffenbeisitzer gewesen, besaß ein Gehöft, war geachtet und hatte jeden Tag sein Auskommen. Sonntags trat er vor den Altar mit einer Kerze, und hier war er der letzte von allen, war wie ein auf einen fremden Hof verirrter Hund, schüchtern, bebend, zusammengekauert und ausgehungert. In den ersten Tagen der Leidenszeit kamen oft die Erinnerungen, und sein Gewissen rief: »In Lipinze hast du es besser gehabt, warum hast du es verlassen?«

Warum, weil Gott ihn verlassen hatte.

Der Bauer hätte schließlich sein Kreuz geduldig getragen, wenn ein Ende seiner Leidenszeit abzusehen wäre. Er wußte aber, daß jeder Tag neue Prüfungen bringen und jeden Morgen die Sonne sein und des Mädchens Elend bescheinen würde. Also was beginnen?

Sollte er sich einen Strick drehen, ein Gebet hersagen und sich erhängen? Er hatte keine Furcht vor dem Tod, aber was wird mit der Dirne geschehen?

Wenn er an alles dies dachte, so fühlte er, daß er nicht nur Gott, sondern auch den Verstand verlieren wird. In dieser Finsternis gab es kein Licht, und den größten Schmerz vermochte er nicht einmal zu nennen. Der größte war das Heimweh nach Lipinze. Es plagte ihn Tag und Nacht, und um so schrecklicher, da er sich nicht erklären konnte, was es sei, was er vermißt und wonach seine Bauernseele sich so sehnt und sich vor Schmerz windet. Er brauchte, um leben zu können, seinen Kiefernforst, Felder und strohgedeckte Hütten, Herzen und Bauern, Geistliche und einen Streifen Heimatshimmel, der sich über ihm wölbte und womit das Herz so verwachsen war.

Der Bauer fühlte sein Elend, manchmal verspürte er Lust, sich beim Haar zu packen und mit dem Kopf gegen die Mauer zu rennen, oder sich zu Boden zu werfen und wie ein angeketteter Hund zu heulen, oder wie im Wahnsinn jemand zu rufen. Aber wen? das wußte er selbst nicht. Er duckte sich unter dieser unbekannten Bürde, und die fremde Stadt brauste über ihn hin. Er stöhnte und rief Jesus an, doch hier gab es nirgends ein Kreuz, wo er beten konnte, niemand antwortete, nur die Stadt tobte weiter; und auf der Pritsche saß die Dirne und heftete die Augen zu Boden, ausgehungert und lautlos leidend. Sonderbar! Sie saßen fortwährend zusammen und häufig sprach eins zum andern tagelang kein Wort. Sie lebten wie in einem großen Groll. Es wurde ihnen schwer, so zu leben, aber worüber sollten sie reden? Es ist besser, eiternde Wunden nicht zu berühren. Höchstens hätten sie darüber reden können, daß weder Geld in der Tasche, noch Erdäpfel im Ofen, noch ein Rat im Kopf vorhanden sei. Auf Hilfe konnten sie von niemand rechnen.

In New York leben sehr viele Polen, aber in der Gegend von Chatham-Square lebt kein wohlhabender Mensch. In der zweiten Woche nach ihrer Ankunft hatten sie zwar zwei polnische Familien kennen gelernt, eine aus Schlesien, die andere aus der Umgegend von Posen, aber auch sie nagten schon längst am Hungertuch. Den Schlesiern waren schon zwei Kinder gestorben, ein drittes war krank und trotzdem schlief es schon seit zwei Wochen mitsamt den Eltern unter einem Brückenbogen und alle ernährten sich nur davon, was sie auf den Straßen fanden. Später wurden sie auch ins Hospital genommen, und es war unbekannt, was mit ihnen geschehen war. Der zweiten Familie erging es gleichfalls schlecht und sogar noch schlimmer, denn der Vater ergab sich dem Trunk. Maryscha half der Frau solange sie konnte, aber jetzt war sie selbst hilfsbedürftig.

Sie hätte sich zwar mit dem Vater nach der polnischen Kirche in Hoboken begeben können und dem Geistlichen ihr Unglück mitteilen, aber wußten sie denn, ob irgendeine polnische Kirche oder ein polnischer Geistlicher vorhanden war? Konnten sie sich denn mit jemand verständigen? Auf diese Weise war für sie jeder verausgabte Cent eine neue Stufe, die in den Abgrund führte.

Jetzt saß Maryscha bei dem Öfchen auf dem Stroh, und die Stunden verstrichen. In der Stube wurde es immer dunkler, obgleich es Mittagszeit war, aber dem Wasser entstieg ein Nebel, wie gewöhnlich im Frühling, ein schwerer, durchdringender Nebel. Obwohl die Luft draußen schon warm war, zitterten beide in der Kammer vor Kälte.

Wawrzon verlor schließlich die Hoffnung, etwas in der Asche zu finden, und sagte zu Maryscha: »Ich kann es nicht mehr aushalten, ich werde ans Wasser gehen, Holz herauszufischen, damit wir wenigstens den Ofen heizen können, und vielleicht finde ich was zum Essen.«

Sie erwiderte nichts, und so ging er. Er hatte es schon gelernt, am Hafen Kisten und Bretter aufzufangen, die das Wasser ans Ufer schwemmt. So machten es alle, die kein Geld hatten, Kohlen zu kaufen. Oft kriegte er bei solchem Fange Rippenstöße, manchmal fand sich auch etwas Eßbares, Überreste, die von den Schiffen hinausgeworfenen Abfälle, und so vergaß er zeitweilig sein Unglück und das Heimweh, das am meisten an ihm zehrte.

Schließlich langte er beim Wasser an und da es die Lunchzeit war, trieben sich am Kai einige kleine Burschen herum, die ihn gleich anzuschreien begannen, ihn mit Kot und Muscheln bewarfen, aber schlagen konnten sie ihn schließlich nicht. Viele Brettchen schwammen auf dem Wasser, eine Welle brachte sie näher, eine andere entführte sie wieder, aber bald hatte er eine Anzahl herausgefischt.

Auch kleine grüne Häufchen schaukelten auf der Flut, es war vielleicht etwas Eßbares drin, aber wahrscheinlich kamen sie nicht ans Ufer und so konnte er ihrer nicht habhaft werden. Die Burschen warfen Schnüre danach aus und zogen sie auf diese Weise heran; da er aber keine Schnur hatte, schaute er nur gierig zu, wartete, bis die Buben fortgingen, und durchstöberte dann noch einmal die Überreste, und was ihm eßbar vorkam, verschlang er gierig.

Aber das Schicksal sollte ihm hold sein. Als er heimging, begegnete ihm ein großer Wagen mit Kartoffeln, der auf dem Wege nach dem Hafen in einem Straßenloch stecken geblieben war und sich nicht vom Fleck rühren konnte.

Wawrzon griff sogleich in die Speichen und begann mit dem Fuhrmann zusammen die Räder zu schieben. Es ging schwer, aber schließlich zogen die Pferde an, der Wagen ging vorwärts und da er übervoll befrachtet war, schüttete sich ein Teil der Erdäpfel aus und fiel in den Kot. Der Fuhrmann dachte nicht daran, sie aufzulesen, dankte Wawrzon für die Hilfe, schrie den Pferden »Get up« zu und fuhr davon. Wawrzon fiel gleich über die Kartoffeln her, las sie gierig mit zitternden Händen auf. barg sie zwischen Rock und Brust und sogleich zog Hoffnung in sein Herz, und so brummte der Bauer auf dem Heimweg leise: »Gott sei Lob und Dank, daß er mit unseren Leiden ein Ansehen hat. Holz ist da, das Mädel wird Feuer machen, und die Erdäpfel werden für zwei Mahlzeiten reichen. Der Herr ist barmherzig. In der Stube wird es bald gemütlicher werden. Das Mädel hat schon anderthalb Tage nichts gegessen, und so wird es sich freuen.«

So spintisierend, schleppte er mit einer Hand die Bretter und untersuchte alle Augenblicke mit der andern, ob die zwischen Hemd und Rock befindlichen Erdäpfel nicht hinausfielen. Er trug einen großen Schatz und so schlug er dankbar die Augen zum Himmel und sagte: »Ich glaubte schon, ich würde stehlen müssen und nun haben wir zu essen, der Herr ist barmherzig. Wenn Maryscha nur erfahren wird, daß ich Kartoffeln habe, wird sie gleich vom Stroh aufstehen.«

Mittlerweile hatte sich Maryscha nicht vom Fleck gerührt. So war es jeden Tag: wenn Wawrzon in der Frühe Holz brachte und sie Feuer gemacht hatte, saß sie dann stundenlang und starrte ins Feuer. Seinerzeit hatte sie ebenfalls Arbeit gesucht, sie war sogar einmal in einem Gasthaus zum Geschirrspülen und Scheuern angenommen worden, da man sich aber nicht mit ihr verständlich machen konnte, führte sie die Anordnungen schlecht aus, und man gab ihr nach zwei Tagen den Laufpaß. Dann fand sie auch nichts mehr zu tun. Sie hockte tagelang zu Haus, fürchtete sich auf die Gasse zu gehen, denn dort wurde sie von Irländern und betrunkenen Matrosen attackiert.

Dies Müßiggehen machte sie noch unglücklicher und das Heimweh verzehrte sie wie Rost das Eisen. Sie war sogar unglücklicher als Wawrzon; denn zum Hungern, zu all den Qualen, die sie ertrug, und zu der Überzeugung, daß es für sie weder eine Hilfe noch ein »morgen« gab, zum furchtbaren Heimweh nach Lipinze gesellte sich noch der niederdrückende Gedanke an Jaschko. Er hatte ihr zwar zugeschworen und gesagt: »Wohin Du Dich wenden wirst, werde ich mich auch wenden,« aber sie ging fort, um eine Gutsbesitzerin und große Herrin zu werden, und wie hat sich nun alles verändert.

Er war ein herrschaftlicher Knecht, hatte sein ererbtes Vermögen, und sie ist so arm und so hungrig wie eine Kirchenmaus in Lipinze. Wird er herkommen? Und selbst wenn er käme, wird er sie an die Brust drücken und sagen: »Du mein armes Täubchen!« oder »Schere Dich fort, Du Bettlertochter!« Was für eine Morgengabe hat sie jetzt? Lumpen! In Lipinze würden die Hunde sie jetzt anbellen, und doch zieht sie ein Etwas dahin, daß sie wie eine flinke Schwalbe über die Gewässer dahinfliegen möchte, wenn auch nur, um dort zu sterben. Ob Jaschko nun ihrer gedenkt – nur bei ihm wäre Freude und Glück!

Wenn im Öfchen das Feuer brannte und der Hunger nicht allzu groß war wie heute, so erzählten ihr die zischenden, emporschießenden Funken von Lipinze und brachten ihr in Erinnerung, wie sie vormals mit andern Mädchen bei der Lampe zu sitzen pflegte und Jaschko ihr zurief: »Maryscha, wir werden zum Geistlichen gehen, denn ich hab' Dich lieb!« Und sie antwortete ihm: »Still, Du Schalk!« Und ihr war so wohl, so lustig zumute wie damals, als er sie aus einer Ecke in die Mitte der Stube zum Tanz hinzog, und sie die Augen mit den Händen bedeckte und flüsterte: »Geh weg, denn ich schäme mich!« Wenn die Flammen sie daran erinnerten, so ergossen sich Tränen über ihr Gesicht. Aber jetzt gab es in den Augen ebensowenig Tränen wie im Öfchen ein Feuer, denn sie hatte bereits so viel Tränen vergossen, daß sie keine mehr hatte. Sie verspürte große Ermüdung und Erschöpfung, es fehlten ihr sogar die Gedanken und sie duldete demütig, mit großen Augen vor sich hinstierend, wie ein Vogel, den man peinigt.

Plötzlich rührte jemand an der Stubentür. Maryscha glaubte, es sei der Vater und richtete nicht einmal den Kopf empor, bis sich eine fremde Stimme vernehmen ließ: »Look here!« Es war der Eigentümer des baufälligen Hauses, in welchem sie wohnten, ein alter Mulatte mit einem unheimlichen Gesicht, schmutzig und schäbig, die Backen mit Kautabak ausgestopft.

Als sie seiner ansichtig wurde, erschrak das Mädchen sehr. Sie hatten für die folgende Woche einen Dollar zu zahlen und besaßen keinen Cent mehr. Nur mit Unterwürfigkeit konnte sie etwas ausrichten, und auf ihn zugehend, umfaßte sie leise seine Knie und drückte einen Kuß auf seine Hand.

»Ich komme wegen des Dollars,« sagte er.

Sie verstand das Wort Dollar und mit dem Haupte schüttelnd, die Ausdrücke verwechselnd und ihn gleichzeitig flehentlich anblickend, bemühte sie sich, ihm verständlich zu machen, daß sie nichts besäßen, daß sie schon den zweiten Tag nichts gegessen hätten, und daß er sich ihrer erbarmen möge, Gott werde es dem gnädigen Herrn vergelten, fügte sie auf polnisch hinzu, ohne zu wissen, was reden und tun.

Der gnädige Herr verstand zwar nicht, daß er gnädig sei, verstand aber, daß er den Dollar nicht bekomme. Er faßte mit einer Hand die Bündel mit ihren Sachen zusammen, mit der andern ergriff er das Mädchen am Arm, drängte es sachte die Stiege hinauf, auf die Gasse hinaus und warf die Sachen zu seinen Füßen nieder. Mit gleichem Phlegma öffnete er die Tür der anstoßenden Schenke und rief: »He, Paddy, es ist eine Stube für Dich da.«

»All right,« antwortete irgendeine Stimme aus dem Innern, »ich werde für die Nacht kommen.«

Der Mulatte verschwand dann im dunklen Hausflur, und das Mädel blieb allein auf der Straße. Es stapelte die Bündel in einer Wandnische auf, damit sie nicht im Kot herumliegen, und setzte sich daneben, demütig und still wie immer.

Die betrunkenen Irländer, die die Straße passierten, belästigten Maryscha diesmal nicht. In der Stube war es dunkel, auf der Straße aber sehr hell und in diesem Licht erschien das Gesicht des Mädchens so elend, wie nach einer schweren Krankheit. Nur das blonde Flachshaar war unverändert, aber die Lippen waren blau, die Augen eingefallen und umrändert, die Backenknochen ragten hervor und sie sah aus wie eine verwelkte Blume oder wie ein Mädchen, das im Sterben liegt.

Die Vorübergehenden blickten sie mit einem gewissen Mitleid an. Eine alte Negerin fragte sie etwas, aber da sie keine Antwort bekam, ging sie verletzt von dannen.

Mittlerweile eilte Wawrzon mit einem frohen Gefühl nach Haus. Er hatte Erdäpfel, und er dachte, wie sie essen würden, wie er morgen wiederum neben Frachtwagen einhergehen wollte, und weiter dachte er in diesem Augenblick noch nicht, denn er war zu hungrig. Von weitem sah er auf dem Straßenpflaster vor dem Hause die Dirne stehen, verwunderte sich sehr und beschleunigte seine Schritte.

»Was stehst Du hier?«

»Väterchen, der Wirt hat uns hinausgejagt.«

»Hinausgeworfen?«

Das Holz entfiel den Händen des Bauers. Das war zu viel. Jetzt, in diesem Augenblick, wo es Erdäpfel und Holz gab, sie hinauszuwerfen! Was sollen sie jetzt beginnen, wo die Kartoffeln braten, damit sie sich stärken, und wohin gehen? Wawrzon schleuderte die Mütze dem Holze nach in den Kot. »Jesus! Jesus!« Er drehte sich um sich selbst, machte den Mund auf, blickte das Mädchen irr an und wiederholte noch einmal: »Hinausgeworfen?«

Dann machte er Anstalt zu gehen, kehrte aber um und seine Stimme klang dumpf rasselnd und drohend, als er wieder das Wort ergriff: »Warum hast Du ihn nicht gebeten?«

Sie seufzte. »Ich habe ihn gebeten.«

»Hast Du seine Knie umfaßt?«

»Ja.«

Wawrzon drehte sich wieder wie ein aufgespießter Wurm auf dem Fleck herum. Vor den Augen wurde es ihm ganz dunkel. »Daß Du krepierst!« schrie er.

Das Mädchen schaute ihn schmerzlich an. »Väterchen, was bin ich schuld?«

»Bleib da stehen, rühr Dich nicht vom Fleck. Ich werde ihn bitten, daß er wenigstens erlaubt, die Erdäpfel zu braten.«

Er ging. Bald darauf ließ sich im Hausflur ein Lärm, Stampfen von Füßen und laute Stimmen vernehmen, und dann kam Wawrzon auf die Straße gestürzt, offenbar von einer starken Hand hinausgestoßen. Er stand ein Weilchen, dann sagte er zum Mädchen kurz: »Komm!«

Sie beugte sich, um die Bündel aufzuheben. Für ihre erschöpften Kräfte waren sie ziemlich schwer, aber er half ihr nicht, als hätte er sie vergessen, als sähe er nicht, daß das Mädchen sie kaum zu tragen vermochte. Sie gingen. Zwei solche elenden Gestalten wie die des Alten und des Mädchens hätten die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich gelenkt, wenn diese nicht an den Anblick von Elend gewöhnt wären. Wohin sollten sie gehen? Welcher Finsternis, welchem weiteren Unglück, welcher weiteren Marter entgegen?

Der Atem Maryschas wurde immer schwerer und keuchender, sie wankte einmal über das andere auf den Beinen. Schließlich sagte sie mit bittender Stimme: »Väterchen, nimm das Gelumpe, denn ich kann nicht mehr.«

Als erwache er aus einem tiefen Traume, sagte er: »So wirf die Fetzen weg.«

»Wir werden sie brauchen.«

»Nein, wir werden sie nicht brauchen.«

Plötzlich bemerkte er, daß das Mädchen zauderte. Er schrie wütend: »Wirf sie weg, denn ich schlage Dich tot!«

Erschreckt befolgte sie es jetzt, und sie gingen weiter. Der Bauer wiederholte noch einigemal: »Wenn es sein soll, wenn es sein soll!« Dann verstummte er, aber seine Augen funkelten unheimlich.

Durch immer kotigere Gäßchen näherten sie sich dann dem untersten Ende des Hafens und gelangten auf eine große, auf Pfählen ruhende Brücke. Sie gingen an einem Gebäude mit der Aufschrift: »Sailor's asylum« vorüber und gingen bis hart ans Wasser. An dieser Stelle wurde ein neues Dock gebaut. Die großen Gerüste zum Einrammen der Pfähle ragten weit über das Wasser hinaus, und zwischen den Brettern und Balken beeilten sich die Leute, beim Bau beschäftigt.

Maryscha setzte sich nieder, denn sie konnte nicht weiter gehen. Wawrzon setzte sich schweigend neben sie.

Es war schon vier Uhr nachmittags. Der ganze Hafen war voll Leben und Bewegung. Der Nebel hatte sich schon gelichtet und die hellen Sonnenstrahlen beschienen mit ihrem mitleidigen und warmen Lichte die beiden Elenden. Das Wasser strömte einen erfrischenden, heiteren Odem aus. Ringsum gab es so viel Himmelsbläue und Licht, daß die Augen unter dieser Fülle geblendet wurden. Die Meeresflut verschmolz in der Ferne harmonisch mit dem Horizont. In dem blauen Luftraum sah man Masten, Schlote und Fahnen, die von der Brise leicht bewegt wurden. Die Fahrzeuge erschienen am Horizont, als schwämmen sie in die Höhe oder tauchten aus dem Wasser empor. Ihre aufgeblähten, wolkenartig ganz in Strahlen getauchten Segel hoben sich mit blendender Weiße vom blauen Wasserspiegel ab. Andere Schiffe fuhren ins offene Meer hinaus, das Fahrwasser hinter sich mit dem Kiel aufwühlend. Sie nahmen den Weg in der Richtung von Lipinze, für sie beide also ein verlorenes Glück.

Das Mädchen dachte darüber nach, womit sie so sehr gesündigt, wodurch sie sich an Gott vergangen haben könnte, daß er so ohne Erbarmen sein Antlitz abgewandt, sie unter fremden Menschen vergessen und an diese ferne Küste geschleudert hatte. Lag es doch in seiner Hand, ihnen das Glück wiederzugeben. Viele Schiffe fuhren nach jener Seite in die See, aber alle ohne sie. Maryschas müder armer Gedanke flog noch einmal nach der Richtung von Lipinze und zu dem Pferdeknecht Jaschko. Denkt er noch an sie? Im Glück vergißt man, aber nicht im Unglück, in der Verlassenheit. Da rankt sich der Gedanke um die geliebten Gestalten, wie der Hopfen um eine Pappel. Aber er? Vielleicht hat er die alte Liebe schon verschmäht und Brautwerber schon nach einer anderen Hütte geschickt. Er würde sich einer so armen Dirn doch nur schämen, die außer einem Rautenkranz nichts ihr eigen nennt, und um welche der Tod höchstens noch Bewerber schickt. Da sie krank war, merkte sie nichts vom Hunger, aber vor Schwäche bemächtigte sich ihrer der Schlaf, die Lider schlossen sich und das bleiche Gesicht senkte sich auf die Brust.

Zeitweilig erwachte sie und machte die Augen auf, dann schloß sie sie wieder. Sie träumte, daß sie über Klüfte und Abgründe streifte, wie jene Kathi im Volksliede falle, daß Jaschko ihr vom hohen Berg eine seidene Schnur reiche, die aber nicht auslangt, und die Arme den Haarzopf verliert. Hier erwachte sie jäh, denn es schien ihr, daß sie in einen Abgrund stürzt.

Der Traum verflüchtigte sich. Nicht Jaschko saß neben ihr, sondern Wawrzon, und nicht der Dunajecfluß war zu sehen, sondern der New Yorker Hafen mit seinen Werften, Gerüsten, Masten und Schiffsschloten. Wiederum stachen etliche Schiffs in die offene See und von ihnen scholl Gesang herüber. Der stille, warme, klare Frühlingsabend begann Wasser und Himmel in Purpur zu tauchen. Die Meeresflut ward spiegelglatt, jedes Schiff, jeder Pfahl spiegelte sich so wider, als wäre unten am Boden derselbe Gegenstand noch einmal, und ringsum war es wunderschön. Eine Glückseligkeit und Besänftigung durchströmte die Luft, es schien, daß die ganze Welt sich freue, nur sie beide waren die Unglückseligen und Vergessenen.

Die Arbeiter begannen nach Haus zu gehen, nur sie beide hatten kein Heim. Immer stärkerer Hunger begann mit eiserner Hand Wawrzons Eingeweide aufzuwühlen. Der Bauer saß finster und trübselig, aber ein schrecklicher Entschluß prägte sich auf seinem Gesicht aus. Der Hunger hatte einen tierischen und verzweifelten Ausdruck hervorgerufen, wie bei einem Gestorbenen. Er redete kein Wort, erst als die Nacht anbrach, als der Hafen ganz verödet war, sagte er mit wunderlicher Stimme: »Maryscha, gehen wir!«

»Wohin werden wir gehen?« fragte sie schlaftrunken.

»Nach den Brücken über dem Wasser, wir wollen uns auf die Bretter legen und schlafen.«

Sie gingen. In der großen Dunkelheit mußten sie sehr vorsichtig gehen, um nicht ins Wasser zu fallen. Die Hängewerke aus Planken und Balken bildeten durch zahlreiche Krümmungen und Windungen einen schmalen Gang, an dessen Ende sich eine Plattform befand und dahinter ein Rammbock zum Einlassen der Pfähle. Auf dieser Plattform standen die Leute beim Ziehen der Seile, jetzt aber war sie leer.

»Hier werden wir schlafen,« sagte Wawrzon.

Maryscha warf sich sofort auf die Bretter und obgleich sie von Moskitoschwärmen überfallen wurde, schlief sie sofort ein.

Mitten in der Nacht weckte sie der Vater jäh auf. »Maryscha, steh auf!«

Es lag etwas in dem Ruf, das sie sofort wach machte. »Was willst Du. Väterchen?«

In der Stille der Nacht klang die Stimme des alten Bauern dumpf und schrecklich, aber ruhig: »Mädel, Du sollst nicht Hungers sterben. Du sollst nicht betteln gehen, Du sollst nicht im Freien schlafen. Gott und die Menschen haben Dich verlassen, das Elend hat Dich zugrunde gerichtet, so soll der Tod sich Deiner erbarmen. Das Wasser ist hier tief, Du wirst Dich nicht quälen.«

In der Dunkelheit konnte sie den Vater nicht sehen, obgleich sich ihre Augen vor Entsetzen weit aufrissen.

»Ich werde erst Dich, Arme, dann mich selbst ertränken,« fuhr er fort, »für uns gibt es keine Rettung, über uns kein Erbarmen, morgen wirst Du keinen Hunger mehr haben, morgen wird Dir besser sein als heute . . .«

Nein, sie wollte nicht sterben! Sie war achtzehn Jahre alt und hing am Leben, wie die Jugend es mit sich bringt. Ihre ganze Seele sträubte sich bis in die Tiefe bei dem Gedanken, daß sie morgen eine Ertrunkene sein, daß sie in irgendeine Finsternis kommen und im Wasser unter Fischen und Reptilien auf schlammigen Grund liegen solle. Unbeschreiblicher Ekel und Schrecken bemächtigten sich ihrer und der leibliche Vater, der so in der Dunkelheit redete, erschien ihr wie ein böser Geist.

Während dieser Zeit ruhten seine beiden Hände auf ihren abgemagerten Armen und er redete in einem fort mit schrecklichster Ruhe: »Selbst wenn Du schreien solltest, wird Dich niemand hören, ich werde Dich nur hinunterstoßen und es wird nicht solange dauern, wie zweimal das Vaterunser zu beten.«

»Ich will nicht, Väterchen, ich will nicht!« rief Maryscha. »Fürchtest Du denn nicht Gottes Strafe, liebes, goldenes Väterchen? Erbarmt Euch meiner! Was habe ich Euch getan? Ich murrte doch nicht über mein Unglück, ich habe doch mit Dir Hunger und Kälte ertragen, Väterchen!« Ihr Atem begann rasch zu gehen, ihre Hände krallten sich wie Zangen zusammen, sie bat sich immer verzweifelter vom Tod los: »Erbarmt Euch! Habt Erbarmen, Erbarmen! Ich bin doch Euer Kind, ich bin arm und krank, ich habe ohnehin nicht mehr lange zu leben, ich fürchte mich so!«

So stöhnend, klammerte sie sich an seinen Bauernkittel und drückte flehentlich den Mund auf seine Hände, die sie in den Abgrund stoßen wollten. Aber das alles schien ihn nur noch anzutreiben. Seine Ruhe ging in Wahnsinn über. Er begann zu keuchen und zu röcheln, dann trat zwischen ihnen wieder Stille ein, und wer am Ufer stände, hätte nur ein Herumzerren und ein Brettergekrache vernommen. Es war tieffinstere Nacht und Hilfe konnte von nirgends kommen, denn hier war das äußerste Hafenende und selbst am Tag gab es hier außer den beim Dockbau beschäftigten Arbeitern niemand.

»Erbarmen! Erbarmen!« rief Maryscha markerschütternd.

In demselben Augenblick zog er sie mit der einen Hand gewaltsam an den äußersten Rand des Gerüstes und mit der andern begann er sie auf den Kopf zu schlagen, um ihre Hilferufe zu unterdrücken. Aber auch so erweckte dieses Schreien kein Echo, nur ein Hund heulte in der Ferne.

Das Mädchen fühlte, daß es schwach wurde, schließlich stießen seine Füße auf einen leeren Raum, nur die Hände hielten sich noch am Vater fest, wurden aber kraftlos. Die Hilferufe wurden immer leiser, die Hände rissen ein Stück des Bauernkittels los, und Maryscha fühlte, daß sie in den Abgrund stürzte. Sie stürzte auch wirklich von der Plattform herunter, aber unterwegs klammerte sie sich an den Bohlen fest und blieb über dem Wasser hängen. Der Bauer beugte sich hinüber und, o Graus! begann ihre Hand loszumachen. Die Gedanken zogen wie ein Schwarm aufgestöberter Vögel durch ihr Haupt, ihr blitzartig Bilder von Lipinze vorspiegelnd: Der Ziehbrunnen, die Abreise, das Schiff, der Sturm, die Litanei, das New-Yorker Elend, und schließlich, was geht denn mit ihr vor? Sie sieht ein ungeheures Schiff mit hoch geschwungenem Bugspriet, darauf eine Menschenmenge, und aus dieser Menge strecken sich ihr zwei Hände entgegen: Um Gottes willen! dort steht ja Jaschko. Jaschko streckt die Hände aus, und über dem Schiff und über Jaschko schwebt die lächelnde Mutter Gottes in großem Glanz. Bei diesem Anblick drängt sie durch die Menschenmenge am Ufer. Heiligste Jungfrau! Jaschko! Jaschko! Noch eine Weile . . . zum letztenmal schlägt sie die Augen zum Vater auf: »Väterchen! Dort ist die Mutter Gottes! Dort ist die Mutter Gottes!«

Dieselben Hände, die sie ins Wasser stießen, erfassen jetzt ihre erschlaffenden Hände und ziehen sie mit einer übermenschlichen Kraft empor. Sie fühlt wieder unter ihren Füßen die Bretter des Gerüstes, wiederum umfassen sie die Arme eines Vaters und nicht eines Henkers, und ihr Haupt sinkt an die väterliche Brust.

Aus der Ohnmacht erwachend, bemerkte sie, daß sie ruhig neben dem Vater lag, aber obwohl es dunkel war, sah sie, daß auch er ausgestreckt lag, und daß ein dumpfes, klägliches Schluchzen ihn erschütterte und seine Brust zerriß.

»Maryscha,« ließ er sich schließlich mit einer von Schluchzen unterbrochenen Stimme vernehmen, »vergib mir, mein Kind . . .«

Das Mädchen faßte im Dunkeln nach seinen Händen, und die Lippen darauf drückend, sagte sie: »Väterchen, der Herr Jesus möge Euch so vergeben, wie ich vergebe.«

Am Horizont kam die große, volle, klare Mondscheibe zum Vorschein, und wiederum geschah etwas Seltsames. Maryscha erblickte wie im Traume ganze Schwärme kleiner Engel, goldigen Bienen ähnlich, auf den Strahlen zu ihr niederschwebend; mit den Fittichen rauschend und sich windend, sangen sie mit Kinderstimmen: »Du gemartertes Mädchen, Friede mit Dir, armes Vöglein. Friede Dir, Du geduldiges, ergebenes Feldblümlein! Friede mit Dir!« So singend, bestreuten sie sie mit weißen Lilienkelchen und mit weißen silbernen Glockenblümlein: »Schlaf, Mädchen, schlafe, schlafe.« Und ihr ward so gut und ruhig ums Gemüt, daß sie tatsächlich einschlief.

Die Nacht verstrich und es tagte. Die Morgenröte erhellte das Wasser. Die Maste und Schlote begannen aus dem Schatten emporzutauchen und wie näher zu kommen, Wawrzon kniete schon gebeugt über Maryscha.

Er dachte, sie sei gestorben. Ihre schlanke Gestalt lag unbeweglich, ihre Augen waren geschlossen, und ihr Gesicht war so bleich wie ein Linnentuch, mit bläulichen Schatten, ruhig, wie leblos. Der Alte rüttelte sie vergeblich am Arm, sie rührte sich nicht. Wawrzon glaubte, daß er wohl auch sterben würde, aber als er die Hand an ihren Mund führte, merkte er, daß sie noch atme. Ihr Herz schlug nur noch schwach, und er meinte, daß sie jeden Moment sterben könne. Vielleicht, wenn die Sonne sie erwärmt, wird sie sich erholen, sonst nicht.

Die Möwen begannen, wie um sie besorgt, über ihr zu schweben, manche ließen sich auf die in der Nähe befindlichen Pfähle nieder. Allmählich lichtete sich der Nebel, der Windhauch war lenzlich warm und würzig. Dann ging die Sonne auf, und ihre Strahlen fielen zuerst auf die Spitze des Gerüstes, dann warf sie ihr goldiges Licht auf Maryschas lebloses Gesicht. Sie schien sie zu küssen, zu liebkosen und zu besänftigen. In diesen Reflexen mit dem Kranze hellblonden Haares, das vom nächtlichen Kampfe und der Feuchtigkeit aufgelöst war, sah Maryscha aus wie ein Engel.

Ein herrlicher rosiger Tag stieg aus dem Wasser empor. Die Sonne leuchtete immer stärker, der Wind hauchte mitleidig über das Mädchen hin, die Möwen, sich im Kreise drehend, kreischten, als wollten sie sie aufwecken. Wawrzon zog seinen Bauernrock aus und deckte damit ihre Füße zu, und Hoffnung begann in sein Herz einzuziehen.

Die bläuliche Farbe wich allmählich aus ihrem Gesicht, die Wangen wurden von einer leichten Röte überzogen, sie lächelte ein über das andere Mal, und schließlich schlug sie die Augen auf.

Da kniete der alte Bauer auf der Brücke nieder, heftete die Augen gen Himmel, und die Tränen rannen über sein gerunzeltes Gesicht. Er fühlte, daß dieses Kind jetzt sein Augapfel und seine Seele und wie ein Heiligtum über alles von ihm geliebt sei.

Sie erwachte gesünder und frischer als gestern. Die reine Hafenluft war für sie gesünder als die vergiftete Stubenatmosphäre. Sie kehrte tatsächlich zum Leben zurück, denn sie rief: »Väterchen, ich habe starken Hunger!«

»Komm, Töchterchen, ans Wasser, vielleicht findet sich dort etwas,« sagte der Alte.

Sie erhob sich ohne Anstrengung und ging mit.

Aber dieser Tag sollte augenscheinlich eine Ausnahme in ihrer Leidenszeit sein, denn kaum hatten sie einige Schritte zurückgelegt, erblickten sie knapp neben sich auf dem Gerüste ein zwischen zwei Balken eingeschobenes Tuch und darin eingewickelt Brot, gekochten Mais und gesalzenes Fleisch. Einer der Werftarbeiter hatte sich gestern einen Teil seines Frühstücks für heute aufgehoben. Die dortigen Arbeiter haben diese Gewohnheit, aber Wawrzon und Maryscha erklärten sich das noch einfacher. Wer hat diese Nahrung hingelegt? Nach ihrer Meinung derjenige, der an jedes Blümlein, Vöglein, Graspferdchen und Ameise denkt, Gott! Sie verrichteten das Morgengebet, aßen, obwohl nicht viel da war, und gingen am Wasser entlang bis zu dem Hauptdock. Neue Kräfte kehrten bei ihnen ein.

Als sie das Zollgebäude erreichten, bogen sie in die Water Street gegen Broadway zu ein. Die Rastpausen eingerechnet, brauchten sie dazu mehrere Stunden, denn der Weg war weit. Zeitweilig setzten sie sich auf Bretter oder auf leere Schiffskisten. Sie gingen, ohne selbst zu wissen weshalb, aber Maryscha hatte den Einfall, durchaus nach der Stadt zu gehen. Unterwegs begegneten sie vielen nach dem Hafen fahrenden Wagen. In der Water Street herrschte schon ein lebhafter Verkehr. Die Leute kamen aus den Häusern und gingen eilig an ihre Tagesbeschäftigungen. An einem Tor erschien ein hoher, grauhaariger schnurrbärtiger Herr mit einem Jüngling. Er blickte sie und ihre Kleider an, und auf seinem Gesicht prägte sich Verwunderung aus, dann betrachtete er sie noch aufmerksamer und lächelte.

Ein in New York ihnen freundlich zulächelndes Gesicht war ein Wunder, so daß beide bei diesem Anblick erstaunten.

Unterdessen kam der grauhaarige Herr näher und fragte im reinsten Polnisch: »Leute, woher seid Ihr?«

Es war, als hätte sie ein Donner gerührt, und statt zu antworten, wurde der Bauer blaß wie eine Wand und schwankte auf den Beinen, weder seinen Ohren noch seinen Augen trauend.

Maryscha faßte sich zuerst, umfaßte die Knie des alten Herrn mit den Händen und begann zu rufen: »Aus der Gegend von Posen, gnädiger Herr, aus der Gegend von Posen!«

»Was macht Ihr hier?«

»Teurer Herr, wir leben in großem Elend und hungern.«

Hier ging Maryscha die Stimme aus, und Wawrzon warf sich gleichfalls zu den Füßen des Herrn nieder und begann seinen Rockschoß zu küssen, wähnend, ein Stückchen Himmel erwischt zu haben. Dies ist ein großer Herr und obendrein ein Einheimischer, er wird sie nicht Hungers sterben lassen, er wird helfen.

Der Junge, der mit dem grauhaarigen Herrn war, riß die Augen weit auf; Leute begannen sich auf der Gasse anzusammeln und sich zu wundern, daß ein Mensch vor dem andern kniet und die Füße küßt, in Amerika ist das eine unbekannte Sache. Aber der alte Herr begann sich über die Gaffer zu ärgern. »Das ist nicht Euer Geschäft,« sagte er zu ihnen auf englisch, »geht an Eure Geschäfte.« Dann wendete er sich an Wawrzon und Maryscha: »Wir wollen nicht auf der Straße stehen bleiben, folgt mir.«

Er führte sie in das nächstgelegene Speisehaus und schloß sich mit ihnen und dem Jüngling ein. Sie begannen wieder ihm zu Füßen zu fallen, er aber wehrte sich dagegen und brummte ärgerlich: »Hört mit diesen Sachen auf! Wir sind doch aus einer Gegend, wir sind die Kinder einer . . . Mutter.«

Hier begann offenbar der Rauch einer Zigarre, die er rauchte, ihm in den Augen zu beißen, denn er wischte sich die Augen.

»Seid Ihr hungrig?«

»Wir haben zwei Tage nichts gegessen, nur das, was wir heute am Wasser gefunden haben.«

»William,« sagte er zum Jungen, »laß ihnen zu essen geben.« Dann fragte er weiter: »Wo wohnt Ihr?«

»Nirgends, gnädiger Herr.«

»Wo habt Ihr geschlafen?«

»Am Wasser.«

»Man hat Euch aus der Wohnung gejagt?«

»Ja.«

»Habt Ihr außer den Sachen, die Ihr anhabt, keine Kleidung?«

»Keine.«

»Habt Ihr Geld?«

»Wir haben keins.«

»Was wollt Ihr tun?«

»Wir wissen nicht.«

Der alte Herr wandte sich ärgerlich fragend an Maryscha: »Mädel, wie alt bist Du?«

»Zu Maria Himmelfahrt werde ich achtzehn Jahre alt.«

»Hast Du viel gelitten?«

Sie antwortete nichts, beugte sich nur unterwürfig zu seinen Füßen.

Dem alten Herrn begann offenbar der Zigarrenrauch neuerdings in den Augen zu beißen.

In diesem Moment brachte man Bier und warmes Fleisch. Der alte Herr befahl ihnen, gleich zu essen, und als sie erwiderten, daß sie dies in seinem Beisein nicht wagten, sagte er, daß sie töricht wären. Aber trotz seiner Verdrießlichkeit erschien er ihnen wie ein Engel vom Himmel.

Als sie gegessen hatten, ließ er sich erzählen, wie sie hergekommen sind und was sie durchgemacht hatten; und so erzählte Wawrzon ihm alles und verheimlichte nichts, wie vor einem Geistlichen in der Beichte.

Der alte Herr schalt ihn aus, und als Wawrzon sagte, daß er Maryscha habe ertränken wollen, schrie er auf: »Ich hätte Dir das Fell über die Ohren gezogen!« Dann wandte er sich an Maryscha: »Mädel, komm her!«

Als sie herankam, nahm er ihren Kopf in beide Hände und küßte sie auf die Stirn. Dann dachte er eine Weile nach und sagte: »Ihr habt viel Elend durchgemacht, aber hier ist ein gutes Land, nur muß man sich zu raten wissen.«

Wawrzon sah ihn erstaunt an. Dieser wackere und kluge Herr nannte Amerika ein gutes Land.

»Es ist so, Du unbeholfener Mensch,« sagte er, Wawrzons Verwunderung gewahrend, »ein gutes Land. Als ich herkam, hatte ich nichts, und jetzt habe ich viel Geld. Aber Ihr Bauern habt auf Eurem Grund und Boden zu bleiben, nicht aber in der Welt herumzustreifen. Hier seid Ihr zu nichts brauchbar, und es ist leicht herzukommen, aber schwer heimzukehren.«

Er schwieg eine Weile, dann fügte er wie zu sich selbst hinzu: »Ich lebe hier seit einigen vierzig Jahren, und so vergißt man die Heimat; manchmal aber überfällt einen ein Heimweh, was? William soll herüberfahren. Er soll das Land, wo seine Väter gelebt haben, kennen lernen. Das ist mein Sohn,« sagte er, auf den Jungen weisend. »William, Du wirst mir aus der Heimat eine Handvoll Erde mitbringen und unters Haupt in den Sarg legen.«

»Yes, father,« antwortete der halbwüchsige Bursche englisch.

»Und auf die Brust, William, und auf die Brust!«

»Yes, father!«

Dem alten Herrn begann der Zigarrenrauch wieder in den Augen zu beißen, daß seine Pupillen wie von einem Nebel überzogen wurden. Er ärgerte sich, daß sein Sohn Englisch sprach, und sagte: »Der Gelbschnabel versteht Polnisch, will aber lieber Englisch sprechen. So ist es hier. Wer hier lebt, ist für die alte Heimat verloren. William, geh heim, sage der Schwester, daß wir zu Mittag und für die Nacht Gäste haben werden.«

Der Junge eilte flink davon. Der alte Herr schwieg lange, dann begann er wie zu sich selbst zu sprechen: »Selbst wenn man sie zurückschicken wollte, wäre es mit großen Kosten verbunden und wozu heimkehren? Was sie hatten, haben sie veräußert, dort werden sie auch Bettler sein. Gott weiß, was mit dem Mädel im Dienst geschähe. Da sie nun hier sind, muß man eine Arbeit für sie suchen. Man muß sie nach irgendeiner Kolonie schicken, das Mädel wird im Handumdrehen einen Mann bekommen.« Dann sagte er direkt zu Wawrzon: »Hast Du von unseren hiesigen Ansiedlungen gehört?«

»Nein, gnädiger Herr.«

»Leute, wie konntet Ihr Euch nur auf die Reise machen! Ihr müßt ja zugrunde gehen. In Chicago gibt es solche wie Du wohl zwanzigtausend, in Milwaukee gleichfalls, ebenso in Detroit und Buffalo eine stattliche Anzahl. Sie arbeiten in Fabriken, aber für einen Bauern ist am besten Grund und Boden. Soll man Euch nach Radom oder nach Illinois schicken, he? Dort ist der Boden schon knapp und man gründet neue Kolonien. Aber das ist weit, die Bahn kostet viel, Jungfrau. Texas ist ebenfalls weit, Borowina wäre am besten, um so mehr, als ich Euch umsonst Fahrkarten dorthin geben könnte, und was ich Euch außerdem geben werde, das werdet Ihr für die Wirtschaft aufheben.«

Er verfiel in Nachdenken.

»Höre, Alter,« sagte er plötzlich, »man gründet jetzt eine neue Ansiedlung Borowina in Arkansas. Es ist dies ein schönes und warmes Land und der Boden noch beinahe wüst. Dort wirst Du von der Regierung hundertundsechzig Morgen Grund mit Wald umsonst bekommen und ebenso von der Bahn gegen eine kleine Abgabe, verstehst Du? Für die Wirtschaft werde ich Dir Geld geben, auch Eisenbahnbilletts. Dann werdet Ihr nach der Stadt Little Rock fahren. Ihr werdet auch noch andere finden, die mit Euch fahren werden. Übrigens werde ich Euch Briefe mitgeben. Ich will Euch helfen, denn ich bin Euer Bruder, aber das Mädchen tut mir hundertmal mehr leid als Du. Danket Gott, daß Ihr mir begegnet seid.« Hier wurde seine Stimme ganz weich. »Kind, höre,« sagte er zu Maryscha, »hier hast Du meine Karte, hebe sie gut auf. Wenn Dir je Unglück zustoßen wird, wenn Du allein und schutzlos auf der Welt bleiben wirst, dann suche mich auf. Du bist ein armes und gutes Kind. Sollte ich sterben, wird William sich Deiner annehmen. Die Karte verliere niemals, und jetzt kommt zu mir.«

Unterwegs kaufte er ihnen Wäsche und Kleidungsstücke: schließlich führte er sie zu sich und bewirtete sie. Es waren gute Menschen, denn sowohl William wie auch seine Schwester Jenny beschäftigten sich mit beiden, als wären sie Verwandte. Herr William benahm sich Maryscha gegenüber so, als wäre sie eine Lady, worüber sie in großer Beschämung war.

Abends kamen zu Fräulein Jenny junge Mädchen, schön gekleidet, und nahmen Maryscha in ihre Mitte. Sie wunderten sich, daß sie so bleich und so schön sei, daß sie so lichtes Haar hätte und sich in einem fort zu ihren Füßen beugte und ihre Hände küßte, worüber sie sehr lachten.

Der alte Herr mengte sich unter die Jugend, schüttelte das weiße Haupt und ärgerte sich darüber. Er sprach bald Englisch, bald Polnisch und unterhielt sich mit Maryscha und Wawrzon über das ferne Geburtsland, er erinnerte sich, stellte Betrachtungen an, und von Zeit zu Zeit biß ihm der Zigarrenrauch augenscheinlich sehr in den Augen, denn er wischte sie häufig verstohlen aus.

Als alle schlafen gingen, bereitete Fräulein Jenny Maryscha eigenhändig eine Lagerstätte, und letztere konnte sich der Tränen nicht erwehren. Ach, was für gute Menschen waren dies; aber schließlich welches Wunder, stammte doch der alte Herr ebenfalls aus der Posener Gegend.

Am dritten Tag fuhren Wawrzon und das Mädchen nach Little Rock. Der Bauer hatte hundert Dollar in der Tasche und vergaß sein Elend. Maryscha fühlte die sichtbare Hand Gottes über sich und glaubte, daß diese Hand sie nicht untergehen lassen wird und daß Gott, da er sie von den Leiden erlöst hat, er auch Jaschko nach Amerika führen werde, um über ihnen zu wachen und sie nach Lipinze heimzubringen.

Unterdessen huschten vor den Waggonfenstern die Städte und Farmen vorüber. Das war ganz anders als in New York. Hier gab es Felder, Wald und Häuschen, hier wuchsen grüne Bäume, Getreide bedeckte weite Strecken, ganz so wie in Polen. Bei diesem Anblick weitete sich Wawrzons Brust so, daß er vor Lust ausrief: »O, ihr grünen Forste und Felder!«

Auf den Wiesen weideten Kühe und Schafherden, am Waldsaum sah man Leute mit Beilen bei der Arbeit.

Der Eisenbahnzug sauste unaufhaltsam dahin. Allmählich wurde die Gegend immer weniger bewohnt. Die Ansiedlungen verschwanden und das Land sah aus wie eine weite öde Steppe. Der Wind bewegte das Gras auf den Wiesen, auf denen früher die Ziegen geweidet hatten, und die Wege schlängelten sich wie goldige Bänder mit gelben Blüten bedeckt dazwischen. Hohe Koloquintenstauden, Königskerzen und Disteln neigten ihre Häupter, als hießen sie die Wanderer willkommen. Adler schwebten auf breiten Schwingen über die Steppe hin. Der Bahnzug raste vorwärts, als wollte er dorthin stürmen, wo die Steppen mit dem Horizont zusammenstießen. Von den Waggonfenstern sah man ganze Rudel Wild, und manchmal huschte der gehörnte Kopf eines Hirsches über das Gras hin. Nirgends war weder eine Stadt, noch ein Dorf, noch ein Haus, nur Eisenbahnstationen, und nirgends eine lebendige Seele.

Wawrzon sah sich dies alles an, schüttelte den Kopf und konnte nicht verstehen, daß so viel »Güter«, wie er die Grundstücke nannte, verlassen und öde liegen.

Ein Tag und eine Nacht verstrichen. Frühmorgens fuhren sie in einen Forst ein, dessen Bäume von armdicken, rankenden Gewächsen umschlungen waren und den Wald so dicht machten, daß man nur mit einer Axt sich Bahn brechen konnte. Unbekanntes Gevögel zwitscherte in diesem grünen Gestrüpp.

Einmal schien es Wawrzon und Maryscha, daß sie zwischen den Krümmungen im Dickicht Reiter mit Federn auf den Köpfen sähen, deren Gesichter so rot waren wie poliertes Kupfer. Diese Wälder, diese öden Steppen und Forste, all diese unbekannten Wunder und fremdartigen Menschen sehend, konnte Wawrzon schließlich nicht mehr schweigen und sagte: »Maryscha.«

»Väterchen?«

»Siehst Du die wunderbare Gegend?«

»Ich sehe alles.«

»Wunderst Du Dich nicht?«

»Ich staune über alles.«

Sie passierten schließlich einen Fluß, der dreimal so breit war wie die Warte; später erfuhren sie, daß er Mississippi heiße, und endlich in später Nacht langten sie in Little Rock an. Hier sollten sie sich nach dem Weg nach Borowina erkundigen.

Jetzt wollen wir unsere Reisenden verlassen, der zweite Abschnitt ihrer Irrfahrten war zu Ende, der dritte sollte sich in Wäldern unter dem Krachen der Äxte und der schweren Arbeit des Kolonistenlebens abspielen. Ob in diesem weniger Tränen, Leiden und Ungemach war, werden wir recht bald erfahren.


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