Mendele Moicher Sfurim
Die Mähre
Mendele Moicher Sfurim

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Daß sie alle der Teufel hole!

Ich öffnete die Augen und sah, wie ich auf dem Fußboden neben meinem Bette in meinem Zimmer ausgestreckt dalag. Meine Mutter weinte und half ein paar Leuten, mich aufzuheben. Als ich schon im Bette lag, begann ich nachzusinnen, was mit mir geschehen, wie ich da plötzlich hergekommen wäre. Ich sah mich verwundert nach allen Seiten um. In meinem Zimmer erblickte ich wieder den Wundermann und die alte Hexe, die da herumschafften und ihre Sprüchlein sagten. Meine Mutter befühlte meinen Kopf und weinte.

»Warum weinst du, Mutter?« fragte ich und küßte sie voll Mitleid und Liebe.

»Ach, Ssrulik, Ssrulik«, schluchzte sie. »Ach, wieviel habe ich deinetwegen gelitten! Gelobt und gepriesen sei der Herr Gott, daß du schon die Augen aufgemacht hast. – Tat es sehr weh, als du aus dem Bett fielst?«

»Mutter!« fragte ich. »Was ist denn schon wieder geschehen?«

»Frag nicht, frag lieber nicht! Das kommt alles von Deinen Büchern.«

»Büchern? Meinen Büchern?«

»Die dummen Geschichten, mit denen du dir den Kopf vollgestopft hast«, sagte meine Mutter und nickte. »Nun, du hast darauf bestanden, du mußt und du mußt die Medizin studieren – was hätte ich da mit dir anfangen sollen? Ich hatte keine Wahl. Aber wozu noch solche Bücher, solche Geschichten, solcher Schmarren, was haben die mit der Medizin zu tun? Will einer die Medizin lernen, so soll er hingehen und es nach Herzenslust tun. Wenn man es erlernt hat und kann, ganz richtig kann, kriegt man einen Wisch, daß man heilen kann, auch wenn man mit jenen Märchen gar nichts zu tun hat. Sonst helfen einem alle diese Märchen nichts. Mir scheint, so müßte es sein nach meinem Weiberverstand, so faßt es mein Weibergehirn auf. Was behaupteten sie aber? Was antworteten sie, als ich zu jedem einzelnen laufen und rennen mußte? ›Nein! Du magst einen großen Verstand haben, es ist wohl möglich, daß du ein großer Mann und berühmter Arzt wirst, aber wenn du dich in den Geschichten und ›Historien‹, wie sie es nennen, nicht gut auskennst, dann gilt es nichts!‹ ›Historien‹ und Geschichten zu meiner Qual! Ach hätte sie bloß der Teufel geholt, lieber Herrgott, dann wäre mir soviel Leid erspart geblieben. Ach und wehe, was für Leid sie mir angetan haben, als ich sie anweinte und anflehte!«

»Wen flehtest du an, Mutter?«

Und als ich in meine Mutter drang, erzählte sie mir mit weinender Stimme folgendes:

»Als ich deinen Brief aus Dnjepperstadt erhielt, daß du beim Examen jener Geschichten nicht gut geantwortet hast und es darum mit deiner Doktorei aus wäre, da meinte ich, daß du bald heimkommen und alle deine dummen Pläne zum Teufel schicken, lieber heiraten und so leben würdest, wie es Gott befohlen hat, so wie Juden zu leben haben. Ich wartete acht Tage – du kamst nicht, noch acht Tage – du warst nicht da, du schriebst nicht einmal einen Buchstaben. Mein Kopf wollte mir auseinandergehen vor Nachsinnen, was das bedeuten sollte. Ich hatte keine Ruhe, ich schlief nicht, das Essen wollte mir nicht zum Munde hineingehen, du bist ja mein einziges Kind, Ssrulik, mein einziger Augapfel! Was nützt mir mein ganzes Leben ohne dich? In der Stadt gingen inzwischen verschiedene Gerüchte über dich herum. Einige sagten, du wärest gestorben; andere sagten – daß ihr Mund die Sprache verliere! –, du hättest dich getauft, und was weiß ich noch für Dinge, die die Feinde erdachten. Ich konnte es nicht mehr ertragen und fuhr selbst nach Dnjepperstadt. Als ich hinkam, o weh, o weh, traf ich dich in furchtbarer Verfassung! Dein Gesicht war grau, du warst mager und verdorrt, hattest kein Lot Fleisch an dir, warst bloß Haut und Knochen. Ich fragte dich, wie es dir ging, und du antwortetest mir, o weh, von böhmischen Dörfern. Ich sprach vernünftig zu dir und du erzähltest mir Unsinn und Ammenmärchen. Wenn ich dich ansah, wollte mein Herz brechen, ich glaubte, ich müßte gleich hinfallen und tot sein. Die Leute rieten mir, zu den Lehrern zu gehen und sie zu bitten, die kleinen Fehler zu übersehen und dich nach deinen Fähigkeiten zu beurteilen. Vielleicht würde es mir gelingen und die gute Nachricht würde auf dich wirken und dich zu Bewußtsein bringen. Ich ging natürlich hin, weinte und flehte, aber umsonst! Sie antworteten mir: ›Nein, es ist unmöglich!‹ Ich mietete einen Wagen und brachte dich nach Hause. Mit jedem Tage wurdest du trübsinniger, immer warst du in Gedanken. Du hast wie ein Wasserfall gesprochen – daß sich Gott erbarm! – hast alle feinen Leute verwünscht, alle unsere angesehenen und ehrbaren Männer in der Stadt. Es war noch gut – wahrhaftig, ein Wunder –, daß ich außer guten Bekannten niemanden zu dir hineinließ. So haben die Menschen wenigstens nichts gehört und wissen nicht, was du über sie gesprochen hast. Du bist immer schwächer und kränker geworden und hast dich schließlich ins Bett legen müssen. Zwei Wochen bist du wie im Sterben gelegen, mit geschlossenen Augen, fast ohne Spur von Leben, nur von Zeit zu Zeit hast du aus dem Fieber gesprochen und schreckliche Geschichten erzählt. Ach, Ssrulik, mein teurer Ssrulik, was deine Bücher, deine Geschichten angerichtet haben! Mach schon Schluß, ja! Ach, hättest du früher der Mutter gefolgt und geheiratet, nach dem Lauf der Welt, so wie es bei uns Juden üblich ist, dann wären wir beide vor solchen Qualen behütet gewesen. Ach deine Geschichten, deine Geschichten! Ach deine Historien, deine Historien!«

»Das kommt alles von ihnen, von ihnen, von den Bösen meine ich!« sagte der Wundermann. »Neulich erst hatte ich mit ihnen genau dieselbe Sache. Die Alte weiß auch von der Geschichte, die ich mit ihnen hatte. Na, wie, war's schön?« fragte er die Bäuerin.

»Natürlich«, antwortete sie gähnend, mit Besprechen beschäftigt. »Er hat Recht, das haben sie angestellt – daß sie alle der Teufel hole!«

 


 


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