Mendele Moicher Sfurim
Die Mähre
Mendele Moicher Sfurim

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Siebentes Kapitel

Ssrulik will noch immer ein Mensch werden

Wegen dreier Sünden war ich in der Stadt sehr verrufen: Daß ich ein Bursch von über zwanzig Jahren und noch unverheiratet war; daß ich das »Lernen« verraten und den Talmud verlassen und daß ich mich mit allen Sinnen auf die »Bücher« geworfen hatte. Die Leute meiner Stadt hielten mich für einen Ketzer, sahen mich scheel an und mieden meine Nähe.

Schlimm ist die Lage dessen, der in der Fremde einsam ist, aber noch viel schlimmer für den, der es in seiner Heimat ist. In der Fremde kennt der Einsame niemanden und niemand kennt ihn. Das ist sicher ein Herzeleid, aber es steckt keine Schande darin. In der Heimat, unter Angehörigen, fremd zu sein – das ist ein Zustand, in dem Herzeleid und Schande zugleich stecken. Das bedrückte Herz eines solchen armen Menschen kann bloß jemand nachfühlen, den man unter den Gästen einer Versammlung oder eines Festes zum Beispiel allein sitzen läßt, um den sich mit oder ohne Absicht niemand kümmert. Er scheint eine Tarnkappe aufzuhaben, er sieht jeden – ihn sieht niemand. Sagt er ein Wort, so hört man nicht, was er sagt, und seine Worte kommen zu seinen Ohren zurück. Antwortet ihm einer schon mal eine halbe Silbe, die er in den Bart brummt, so sieht das aus, als ob er ihm eine Gnade erwiese und dazu bei sich dächte: »Da hast du und geh zu allen Teufeln!«

Wäre ich wie früher Tag und Nacht in meinem Zimmer über meinen Büchern eingesperrt gesessen, so hätte ich vielleicht nicht so sehr gefühlt, daß mich die Leute haßten. Jetzt aber, da ich infolge meiner Krankheit gezwungen war, weniger zu lernen und manchmal eine Zeitlang das Lernen ganz zu lassen, jetzt fühlte ich sehr, wie schrecklich und schwer es für mich war, daß ich von den Meinen und von Fremden losgerissen war, weder dahin noch dorthin gehörte.

Meine Mutter kränkte sich sehr, daß ich mit meinem Tun und Treiben andere Wege als alle anderen in der Stadt ging. Doch nahm sie sich in acht und sagte mir kein scheeles Wort, da sie ihrem einzigen Sohn nicht weh tun wollte. Darum wurde meine Liebe zu ihr noch stärker, und wenn mir nicht wohl zumute war, so trieb es mich ungeheuer, ihr mein bedrücktes Herz auszuschütten.

»Ach Mutter, es ist schlimm«, klagte ich ihr einmal in einer schweren Minute, »es ist schlimm für den Menschen, allein zu sein.«

Meine Mutter fuhr auf, als sie das hörte und sagte mit freudestrahlendem Gesicht:

»Du hast mir neues Leben gegeben, mein liebes Kind! Soeben sprach man darüber. Hätte man den Messias erwähnt, so wäre er gekommen. Ich sehe darin offensichtlich das beste Vorzeichen, daß das, was ich dir jetzt zu sagen habe, von Gott kommt. Ich bin überzeugt, daß du mich heute gern anhören wirst. Dein Glück möge von heute an – o gib's, Herrgott! – wie der helle Morgenstern zu leuchten anfangen. Höre zu, mein Sohn! Heute hat man mir eine Heirat für dich vorgeschlagen, eine herrliche Sache. Die Braut – was Wunderbares! Schön, reich, auch – –«

»Genug! Genug!« bat ich meine Mutter. Sie hörte mich nicht an.

»– auch viel Geld, Geschenke, Schmuck, Gold und Silber, Brillanten, schöne Kleider, Kest, alles wie bei reichen Leuten.«

»Alles wie in Israel, alles wie bei den Juden!« rief ich aus und fiel meiner Mutter ins Wort. »Alte Geschichten! Anfangen tut es wie bei reichen Leuten und der Schluß ist wie gewöhnlich nach Schnorrerweise: Ein Packen Kinder, Armut, bitteres Leben, Lehrerei, Luftmenschentum, Maklerei, gebeugter Rücken, Bücken, Knien, Dankschönsagen, Untertänigkeit, Loben und Preisen – pfui! – Preisen, Preisen, Preisen und Preisen . . .«

»Genug, höre schon auf!« sagte die Mutter und fuhr erschrocken zurück. »Eine Sintflut von Worten, daß Gott einen schütze! Sscht, sscht, ich werde nichts mehr reden. Hättest du nicht angefangen, so hätte ich kein Wort gesagt, Du hast ja mit deinem eigenen Mund soeben erst gesagt, wie es in der Schrift steht: Es ist für den Menschen nicht gut, allein zu sein. Das heißt, es ist für den Menschen nicht gut, ohne Frau zu sein.«

»Ach, ach, Mutter! Ich habe damit gemeint, daß ich hier ganz einsam und von allen Menschen entfernt bin.«

»Du, Ssrulik, du selber hast dich von den Leuten entfernt, du gehst doch nicht ihren Weg. Wenn du willst, kannst du ja die Sache in Ordnung bringen.«

»Soll ich Buße tun, rätst du mir das vielleicht, Mutter, soll ich wieder ein Luftmensch werden, mit allen Bräuchen unserer Luftmenschen? Gegen meinen Verstand und meinen Willen handeln und mein Leben lang ein Narr sein, damit Narren mit mir zufrieden seien? Nein, Mutter, dadurch werde ich mir's noch schlimmer machen: Ein Mensch, der im Gegensatz zu seinem Verstand und seinem Willen handelt – ist ein Nichts, schlechter als ein Aas. Das gilt nicht nur für Juden, sondern für die Menschen überhaupt.«

Meine Mutter schwieg, schüttelte den Kopf, sah mich sorgenvoll an und seufzte. Mein Herz war bitter, und ich klagte vor ihr in großem Leid:

»Wehe, Mutter, daß du mich geboren hast, um unglücklich und den Menschen verhaßt zu sein. Schlimm habe ich es bei den Meinigen, bei den Juden, und schlimm habe ich es bei ›ihnen‹, den Nicht-Meinigen. Die einen hassen mich, weil ich kein solcher Jude bin, wie sie wollen, und für die anderen bin ich wie alle Juden zum Unglück der Jude. Für diese Sünde, mit der ich und meine Väter auf die Welt gekommen sind, die wir seit unserem Vater Abraham als Erbe haben, werden wir mit großer Not, Unterdrückungen, Verhängnissen, Leid und Qual und jeder möglichen Pein bestraft. Ich halte es für die gewichtigste Pflicht, alles, was nur möglich ist, gegen ein solches Unglück anzuwenden. Ein Mensch, den man aus der Gemeinschaft ausschließt; in dem man die menschliche Würde, die Gabe Gottes, erniedrigt; den man zusammenpfercht, so wie die Vögel in den Käfig, daß er sich gar nicht rühren kann – und dem das alles ganz wurst ist –, für den wäre es besser, gar nicht geboren zu sein. Ich bin ein Mensch, Mutter! Ich lebe und will leben, ich verlange danach, aus der Enge herauszukommen und menschlich in Gottes großer Welt zu leben, alles zu tun, was nur möglich ist, damit mir das Judentum nicht schade, und ich meine Lage verbessere.«

»Ach, was sprichst du, mein Kind!« rief meine Mutter und wurde totenblaß, als ob sie ohnmächtig werden wollte.

»Beruhige dich, Mutter«, redete ich ihr herzlich zu. »Ssruul, dein Sohn, ist Ssruul und wird ewig Ssrulik bleiben. Meine Lage verbessern will ich durch Bildung. Dadurch, daß ich die Universität besuche, werde ich besondere Rechte bekommen, darunter auch das Recht, die Enge, den Rayon zu verlassen und mich frank und frei auf der ganzen Welt zu bewegen.«

»Du willst also anscheinend, mein Kind, wieder zu deinen Geschichten, willst Tag und Nacht über deinen Büchern schwitzen«, sagte meine Mutter mit Sorge um die Gesundheit meines Körpers und die Ruhe meiner Seele. »Ach, deine Bücher, deine Bücher! Nur Leid und Not bringen sie uns, Ssruul. Eine einfache Frau bin ich, und ich verstehe überhaupt nicht, was dir diese Welt ist, von der du so oft sprichst und die dich so sehr anzieht. Bleibe bei deiner Mutter, du hast bei mir, Gott sei Dank, alles, was du brauchst. Und für wen placke und rackere ich mich mein ganzes Leben lang? Doch bloß für dich, mein teures Kind.«

»Ein Müßiggänger zu sein und der Mutter auf dem Halse zu hocken, o wie häßlich das ist! Ein erwachsener Bursch wie ich, der an Mutters Schürze hängt, ißt und nichts tut – für ihn, für sie und für die Welt wäre es besser, daß er gar nicht da wäre. Nein, nein, ein Luftmensch will ich nicht sein, es gibt bei den Juden Luftmenschen genug!«

»Ich bitte dich, lass' deine Bücher, Ssruul; und das Recht, dort zu wohnen, wo es verboten ist, von dem du sprichst, ach, dafür gibt es ja ein Mittel – Geld und ein Handwerkerzeugnis.«

»Was heißt ›Geld‹?!«

»Ach, man bezahlt für ein Kaufmannszeugnis einer beliebigen Gilde, und das gibt dem Juden das Recht, in der Welt zu wohnen, nach der es dich so sehr hinzieht.«

»Ach, traurig, wenn einem Menschen das Geld hilft und nicht er selber. Ein Recht, das vom Geld stammt, ist eine Schande, sowohl für den, der es gibt, wie für den, der es bekommt. Pfui, ich will das nicht, und Handel hasse ich überhaupt. Ich hasse ihn wegen der Kaufleute, deren Mehrheit, von den Trödlern bis zu den Krämern und Bankiers, alle Schüler Labans sind, und die Kaufleute wieder hasse ich wegen des Neides und der Konkurrenz und des großen Durcheinanders in der ganzen Weise der Handelswelt, die mit oder ohne Willen schlecht auf sie wirkt. Trödler und Händler gibt es bei den Juden auch ohne mich genügend! Und was du sagst – ein Handwerkerzeugnis – aber Mutter! Was habe ich mit Handwerk zu tun? Ich kann keines und kenn' keines.«

»Das Handwerk ist nicht so notwendig«, flüsterte mir meine Mutter zu, »die Hauptsache ist das Handwerkerzeugnis, verstehst du?«

Ich verzog zur Antwort die Nase, da mir die Worte meiner Mutter nicht behagten. Allerdings ist es eigentlich erlaubt, wenn es sich um lebenswichtige Dinge handelt, einen klugen Ausweg zu finden, wie zum Beispiel: einen Ejrew, daß man tragen kann, einen Dispens, daß man Zinsen nehmen kann usw.

Eine ziemliche Weile schwieg ich und rümpfte die Nase, dann kam ich mit der Sprache heraus, kurz und bündig:

»Ich will von nichts anderem wissen als vom Doktordiplom, und das Diplom werde ich mit allen meinen Kräften zu bekommen trachten. Ich werde nicht eher ruhen, als bis ich es habe. Einmal für allemal, ich will lernen!«

»Lernen – deine ›Lehre‹, daß ich nicht lache! Ach, deine Lehre, sie raubt dir ja deine ganze Kraft, Ssruul.«

»Müßiggang schwächt die Kraft noch mehr, und man ist gar kein Mensch mehr.«

Was sollte meine arme Mutter tun? Sie gab mir nach, aber unter der Bedingung, daß ich mir eine Zeit fürs Lernen, eine Zeit fürs Spazierengehen, fürs Schlafen und ähnliche Dinge bestimme, um meine Gesundheit zu schonen: In einem gesunden Körper ist eine gesunde Seele.

So ging ich in glücklicher Stunde wieder an meine Bücher, lernte tüchtig und geordnet, genau so wie früher, bis die Zeit der Examina kam.


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