Willy Seidel
Der Garten des Schuchân
Willy Seidel

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Utku

Der Schwiegersohn Utkus, des Korjäken, war eines Tages verunglückt, und die Tochter Utkus fieberte im Kindbett. Da der Stamm nicht am Ort verweilen durfte, und Mawka bei jeder Berührung klagte, tötete man sie und hätte auch das Kind mit ihr zusammen begraben, wenn nicht Utku so mächtig gewesen wäre. Er besaß eine Herde von fünftausend Ren, war trotz seiner siebzig Jahre zäh und behende und legte seine Hand auf das hilflose Wesen. So ließ man es in Utkus Jurte; und Utku betreute es.

Der Stamm pendelte schon Jahrhunderte lang zwischen dem 58. und 63. Breitengrad im Norden Kamtschatkas auf den grenzenlosen Tundren hin und her. So waren die Leute ein Spielball widrigster Gewalten, stumpf und verwittert; ihr Heimatslaut war das unaufhörliche Trampeln zottiger Hufe, das weiche Gegröhl malmender Mäuler und Klappern von Geweihstangen; ihr heimatlicher Duft kam vom Dung ihrer Tiere und vom Brodem ihrer Jurten. – Es war ein altes Volk; alt wie die Welt.

Utku, der Angesehenste unter diesen fünfhundert Seelen, war einsam und ohne Verwandten. Er hatte alles miterlitten; hatte ererbten Reichtum, Pelze, Schlitten, bemalte Häute und sechs Kessel. In den Pologs seiner Jurte hielt er Schätze versteckt; Waffen, in Petropawlowsk gegen Zobelfelle eingetauscht; einen Topf 176 voll Rubel und einen Rasiernapf, dessen Bedeutung ihm verborgen war und den er in Ehren hielt. Auch silberne Rosenkränze waren darunter mit großen Bernsteinkugeln, Spiegel und seidene Tücher, sogar ein scharlachrotes Uniformstück, das Alexander I. für einen Führerdienst seinem Vater hatte überweisen lassen. Dies alles lag aufeinandergestapelt hinter dichten Schutzwänden bemalter Häute und stand hoch im Preis.

Als Mawka, seine sechzehnjährige Tochter, von dem Schamán, dem Priester, in öffentlicher Zeremonie mit sachlichem Ritual getötet wurde, hatte der siebzigjährige Utku ihrem Tode beigewohnt und die Hand, die das Messer führte, selbst gelenkt, so daß jenes halb besinnungslose Weib eines schnellen Todes starb. Sie war damit zufrieden gewesen; aus ihrem kleinen, finsteren Gesicht ließ sich ein dumpfes Einverständnis mit dem Ende lesen: das Einverständnis von vielen Generationen ihrer Stammschwestern, die dem Priestermesser ein Leben voll Stumpfheit und tierischer Schwermut geopfert hatten. Alsdann, während das gurgelnde Geschrei und das Dröhnen der Trommeln ihn verfolgte, hatte er den Kreis verlassen, sich zu den Rentieren gesetzt und das Kind mit Milch genährt, wie eine Mutter besorgt und ohne Erregung, nur ein wenig matt, als ob er gefastet habe. Dann war er in seiner Jurte verschwunden und hatte sie erst verlassen, als 177 man weiterzog. Die Tundra war im Umkreis vieler Meilen abgeäst, und man wollte die Zelte bei den Bergen bauen, weiter im Süden.

Denn der Herbst neigte sich allgemach. Man hatte noch keinen Schnee verspürt; hatte, als der Wind ein wenig in Nordost umsprang, zwanzig Hunde geopfert, ihnen Graskränze um die Hälse gewickelt und sie an Stangen aufgehängt. Die Zeit drängte; man zog den Samankabergen entgegen, um Zobelfallen zu legen – wie seit einem Menschenalter, als die Leute, die jetzt eigene Herden trieben und Weiber besaßen, noch als kreischende Knaben auf ihren Hirschen geritten kamen.

So ging es weiter, eine wogende, dunstige Wolke zottiger Rücken, über denen die Jurtengerüste schwankten, von zusammengekoppelten Tieren geschleppt; eine mißtönende Lautwelle aus unzähligen Hundekehlen, wie ein Geräusch fröhlich drängenden Lebens, in einen einzigen rauhen Ton gepreßt. Das Opfer war nicht umsonst gebracht, denn in diesem Jahr, da Utku seine Hand auf das hilflose Enkelkind legte, war der Herbst noch bis in den September voll blauflimmernden Himmels, mit Vogelschwärmen und üppigem Tundra-Moos. Und als man an die südliche Streifgrenze gelangt war, verblieb man am Fuß der Berge und erwartete den Winter. Und plötzlich war er da; in einer Nacht kam er.

Den Tag über war die Fernsicht seltsam klar gewesen, 178 bis ans Behring-Meer hinüber. Auf dem Eiland Karagin hatte sich der Winter um ein weniges versäumt; er hatte sich damit vergnügt, in Brandungen zu plätschern und die ersten Eisblöcke an den Küsten zu zersplittern. Nun hatte er seine Kraft gestärkt; der Sturm aus seinen Nüstern ließ seinen Bart flattern, wie Wolkenfetzen; er gürtete sich die Lenden und riß die hart knirschende Pforte der schlimmen Monate auf. Und dann sprang er mit einem Satz über den wild kochenden Wassergürtel von Kitschiginsk und begann seine Steppentänze. Wie ein Raubtier überfiel er die Länderstrecken, mit einem Vortrab von Reif und erbarmungslosen Winden.

Utku spürte ihn um Mitternacht. Sein Nomadenblut hatte in den Adern geprickelt, noch bevor er sich niederlegte. Die Schnauze eines Fuchses hatte an seinen Zeltwänden geschnopert; die bösen Geister waren draußen geschäftig. Sie rannten auf Wind-Füßen um die Zelte und flüsterten hohl. Utku entstieg seinem Pelzsack, entzündete das Moos, das in dem Seehundsöl eines Holzgefäßes schwamm, und stellte die Leiter auf, um aus dem Eingang der Jurte, dem Kamin, zu blicken. Der Wind peitschte, als er den Kopf hinausstreckte, sein gelöstes eisgraues Haar und zerrte es aus der Vielfraßboa, die dreimal um seinen Leib geschlungen war. Seine Nüstern nahmen kleine Kostproben aus der Luft: das war Schnee. Eine Säule von schwachem Licht 179 brach aus dem Qualm, der ihn umspülte, und zitterte in der Luft gleich einer stiebenden Wand von unerschöpflich quellenden Flocken. Utku glitt zurück und nahm die Leiter sorgsam wieder herab. Der beizende Rauch hatte seine Lider mit Tränen gefüllt; er schloß sie und hantierte, blind und gelassen, in dem Raum umher.

Dann setzte er sich nieder, immer noch mit geschlossenen Augen, zog alles Erreichbare um seine Schultern und begann zu grübeln. Er hatte, als er die Leiter herabhob, eine seltsame Schwäche seiner Handgelenke gespürt, eine Schwäche, derethalben er in dumpfes Erstaunen versank. Sonst hatte er beim Empfang des Winters die Flocken mit einer Art neuer Bereitschaft zu trotzigem Widerstand auf den breiten Wangenknochen verspürt, hatte sich gegen die eisige Feuchtigkeit gewappnet, um einen Zoll aufrechter; aus einem gesammelten Schatz vieler zäh überwundener Winter heraus hatte er frisches Mark gewonnen – und nun hatte ihn diese Schwäche angewandelt, die ihn erschreckte und ihm einige mutlose Minuten bereitete. – Während er, tiefe Furchen in der Stirn, seinen spärlichen Gedanken eine unwillige Wanderschaft gewährte, dachte er plötzlich des Augenblicks, da er half, des Priesters Messer auf Mawka zu richten . . . Warum er gerade jetzt daran dachte, das entzog sich ihm; denn flugs kamen die altgewohnten Bilder wieder, die sonst 180 in seinem Hirne zu nisten pflegten; Vorstellungen, die in Nichts zerflossen, wie die Steppe und ihr Horizont –: wie es mit dem Winterfutter bestellt sei, ob die gelegten Fallen nicht verweht würden, oder ob da und dort, auf den russischen Niederlassungen, ein Tauschprofitchen sich machen ließe . . . Nach einiger Zeit machten die müden, schwerfälligen Gedanken Halt und starben ab. Utku schlief wiederum.

Draußen war ein grobes Sausen, gleichsam ein Lärm von Flocken, ein unablässiges Prasseln gegen die schwankenden Häute. Ein monotoner Singsang von Wind, ein steter Wirbel von haarfeinen Kristallen erfüllte den Raum. Das Feuer blakte und schickte seinen schwarzen Qualm an den Wänden entlang – und doch, trotz Wind und Geächz, war eine Totenstille unter dem allen, die Stille von Utkus stumpfem Schlaf, der mit pfeifenden Atemzügen die Stunden zerbröckeln ließ.

Auf einmal ertönte ein heller, feiner Schrei, der in ein ersticktes, hilfloses Husten überging. Utku öffnete seine schiefgeschnittenen Lider und blinzelte in den schwach erhellten Raum, ohne sich zu rühren. Das Husten wurde hoch und zornig, und dann machte es einem leisen Gewimmer Platz. Es kam aus einem Berg von Pelzen und gehörte Jamuk, Utkus Enkelkind.

Dieses Wesen war kaum sichtbar; nur sein runder Kopf stand heraus. Es arbeite sich in seiner Atemnot unter den Häuten hervor, mit kleinen gelben 181 Fäustchen; die Augäpfel, mit brombeerschwarzen Pupillen, waren etwas hervorgetreten und schimmerten emailweiß. Der Großvater kroch bedächtig herüber und blinzelte den kleinen Jamuk an, der alsbald sein Wimmern einstellte und befriedigt die Finger in den Mund bohrte.

Der Sturm verstärkte sich. Er pfiff aus allen Registern und warf ganze Klumpen Schnee an die Pfosten. Und in all dem Aufruhr lag der kleine Jamuk ruhig da und fühlte sich geborgen – wenn er nicht vier Monate alt gewesen wäre, hätte er wohl einen zierlichen Dank für so viel treue Behütung abgestattet. Sein pechschwarzes Haar war wie ein kleiner Wust, ein Kissen für seinen Kopf; er sah aus wie ein Wechselbalg und mißgeschaffener Bastard, und war doch nur ein mongolisches Nomadenkind, das schrie, Milch sog und sich anwärmen wollte, wie irgend eines auf der weiten Erde.

Und Milch bekam es, soviel in seinem elfenbeinfarbenen Bäuchlein Platz hatte; Utku war geschäftig und sehr bedacht auf die Bedürfnisse des Kindleins. Und nachdem Jamuk sich kullernd gesättigt hatte und ganz eingewickelt war, verstummte er völlig. Gleichzeitig gab es ein sprühendes Knistern, und die Schatten ballten sich hexenhaft schnell zusammen. Der Moosdocht war erloschen, und die Hütte tintenschwarz.

Man sah nichts mehr; man hörte nur die tiefen 182 Kehllaute Utkus. Er sang. Er saß in dieser erbarmungslosen Schlucht von Schwärze und urweltlichen Kälte, in seinen Pelzen geborgen, und sang Großvaterlieder; sang den kleinen Jamuk in den Schlaf. Er schleppte eine große Last von Schwermut in diesen primitiven Versen einher und brach in einem hoffnungslosen Refrain traurig unter ihr nieder; er raffte sich wieder auf, klagte den Winter an, der das Moos vergrub, beschimpfte die Schneeteufel in hastigen Rhythmen, versöhnte die Drula, die Hundeblut leckte, mit schmeichlerischem Wohllaut, und beschwor die Frostgeister in leierndem Tonfall. Alte Sagen fielen ihm ein; buddhistische Götter, von Aberglauben und allen Schrecknissen eines öden Daseinskampfes ins Riesenhafte verzerrt, grinsten ihn an, mit glanzlosen Augen, tückisch vor Einsamkeit, herz- und blutlos. Und diese Schemen besuchten zur Stunde jede Jurte, wie sie es seit Jahrhunderten getan; und die Herzen zitterten wie in der Todesstunde.

Der Schnee war draußen versiegt; einen Fuß hoch hatte er die unendlichen Strecken überschüttet; nun war sein Maß erfüllt, und die Wolken erschlafften. Ein fahler Schein machte sich breit, und der eisige Nordwind lag gleichmäßig sausend in den Zeltwänden. Utku hatte eine halbe Stunde lang geschwiegen; nun hörte er deutlich von draußen die Morgenschreie der Rentiere, ein unendliches, bald traumfernes, bald 183 nahes Gegröhl, und vernahm aus dem Zelt des Schamán, das dem seinen gegenüberstand, das taktmäßige, dumpfe Trommeln von Füßen, das ziehende Kreischen einer Weidenflöte und Geklirr vieler Glasketten.

Das war der religiöse Akt, der die Bitte begleitete, das Flehen von vielen Menschen, von Alt und Jung einer heimatlosen Gemeinschaft, die kopflos wurde und doch verzweifelten Trotz bewahrte:

»Der Winter ist da! – Laßt ihn kommen.

Wir haben unsre Herden, wir haben Hunde, warme Pologs und gedörrtes Fleisch. Wir haben Seehundsöl, Reis, Talg und geronnenes Blut, das wir backen. Wir haben Weiber und wachsame Kinder . . . wir sind bereit!

Laßt den Winter kommen, wir fürchten ihn nicht . . .«

Utku war müde geworden. Sein Haupt sank hernieder, und die Bilder der nächtlichen Schrecknisse verließen ihn; sie wanderten als verblaßte Schatten in den Nebel, in dem die Sonne wie eine Blutlache schwamm.

II.

Tage rannen und Monate rannen, bis ein Punkt kam, wo alle Winde aufhörten und alles verstummte und erstarrte. Der Himmel war an den Tagen ganz blaß, schier weiß, und in den Nächten, die sich endlos 184 dehnten, tiefblau, wie poliert, von grellen Sternbildern erfüllt, so daß er wie ausgeschüttetes Geschmeide funkelte. Die Kälte kroch in alle Winkel; der Rauch von zweihundert Jurten stieg wie ein Wald von grauen Säulen in die Höhe, und das unablässig genährte Feuer fraß am Öl des Stammes, so daß die Familien, deren Vorräte knapp bemessen waren, eingewickelt in der Dämmerung verweilten und die Tage hindurch schliefen.

Und als ein weiterer Monat vergangen war, drängten sich die Rentiere mit angstvollen, durchsichtig grauen Augen bis in die Hütten. Sie glichen hochbeinigen, weißen Igeln, denn jedes Haar ihrer Pelze hatte einen Panzer von Reif, so daß sie aufgebauscht erschienen; an ihren Stangen flimmerten dicke Krusten, und um ihre Nüstern, die plump nach der Wärme stießen, lagen ganze Maulkörbe von Kristallen, von steingewordenem Odem. Manche brachen in die Kniee, bevor sie das Futter erreichten, oder rannten sich sinnlos die Stangen in die Leiber. Andere erhielten sich, indem sie sich auf einen großen Klumpen zusammendrängten und eine gemeinsame Schutzwand von feuchtem Dunst errichteten, die Kälber in der Mitte tief in den Flaum der Muttertiere vergraben. Utku hatte ein Rudel von hundert Hunden für seine gewaltige Herde, die hielten die Masse zusammen, indem sie tagsüber mit klagendem Gebell die langen Kolonnen 185 gesenkter Geweihe hinunterflogen. Die Moosvorräte von Utkus flachen Schobern begannen einzuschrumpfen, und der harte Schnee ließ den Hufen keinen Eingang mehr.

Und die Kälte wuchs.

Sie wurde erbarmungslos, lähmend. Die Stimmen der Leute tönten einsamer. Sie lagen überall in der von Kohlensäure belasteten Luft ihrer geschlossenen Jurten, wie Tiere zusammengedrängt, und schnarchten mit rasselnden Kehlen. Auch Utku kam selten hervor. Er war abgemagert, schlafsüchtig und hatte das Hirn voll Träume. Ein stilles Fieber hatte ihn ergriffen, das er in sich hineinwüten ließ. Er saß zusammengezogen in einem Winkel, und man sah es seinem Gesicht kaum an, daß ihm ein Frostschauer nach dem andern über den Leib ging.

Seine ledernen, zerknitterten Wangen hatten einen Wachsglanz, und die Schlitze seiner Augen schienen erweitert. Den breiten Mund hatte er zusammengepreßt, gleichsam gespitzt vor Unbehagen, und sein Gesang war verstummt. So hatte er Muße, dem Sausen und Quirlen des eigenen Blutes zu lauschen; gewaltsame Mühe kostete es ihn, dem kleinen Jamuk die Rasierschale voll Milch zu reichen, ohne sie auszuschütten. Utku sagte es niemanden, daß er krank sei; er wollte nicht. Er hatte die Vorstellung, daß er es allein überwinden müsse.

186 Da die Luft still war, so konnte er ungehindert mehrere Moosdochte entzünden, ohne daß der Qualm ihn belästigte. Drei bläuliche Flammen, von roten Funken gesprenkelt, schwammen lautlos in den Holzgefäßen und schickten ihren schwarzen Ruß gleichmäßig aus dem Kamin. Eine feuchte Wärme füllte die Jurte. Der beizende Geruch des frischgegerbten Leders, das die Nähte doppelt überspannt hielt, vermengte sich mit dem säuerlichen Duft von schwarzem Mandallabrot und dem Dunst zweier Lebewesen, die seit Wochen eingeschlossen waren.

Es war eine Nacht am Ende des Februar.

In dieser Nacht hatte Utkus Fieber seinen Höhepunkt erreicht.

Er bewegte sich rhythmisch in hockender Stellung von einer Seite zur andern, und seine Augen waren blind. Sein Gesicht glich dem eines alten, geängstigten Weibes, und sein Atem kam wie der Laut eines Ventils über seine gespitzten Lippen. Denn er träumte, und konnte seinen Träumen nicht wehren.

Er sah ein unendlich großes Nordlicht, einen zackigen Kranz von drei untereinander gehängten Glanzbändern, die wie die Reifen eines entsetzlich großen Kegels in einer fremden, frostweißen Luft hingen. Von diesem Nordlicht gingen Strahlen aus, die alles mit einer Verwesungsfarbe badeten; ein Gefühl größter Einsamkeit ging von diesen eiszapfenähnlichen, violetten, 187 zitternden Ringen aus, die aus Eisregionen, vom Wrangel-Land und den Alëuten, herüberwuchsen und ihren Ausgang dort hatten, wo jene wahnwitzige Stille ist, die keines Menschen Ohr je erlauscht hat.

Und das Nordlicht wuchs und schob Quadern von rosigem Quarz vor sich her, die ihn zu zermalmen drohten. Er stand allein auf der Tundra und fürchtete sich sehr.

Seine Herde war gestorben, die Jurten waren abgebrochen: das Ende aller Dinge nahte. Sieben Regenbogenfarben, unerträglich flimmernd, nahten sich in schweigsamem Pomp; und als sie dicht über ihm waren, wurden sie zu einem Chaos schreiender Töne. Das Rot gewann die Oberhand und blendete ihn stark.

Er bewegte sich hastig und erwachte halb. Er blickte in das Innere der eigenen Jurte, das sich wirbelnd um ihn drehte . . . Nur die Ölflammen lohten in stiller Beständigkeit.

Utkus Arme lagen schwer wie Blei in den Pelzen; und das Nordlicht kam wieder auf ihn zu und bedrängte ihn. Da sah er sich nach Jamuk um und sah ihn nicht; er wußte, daß Jamuk in allernächster Nähe ruhen müsse und nach ihm verlange. Er rief und lockte ihn; er irrte ratlos umher; er mußte ihn finden . . . Er riß die Augen gewaltsam auf und fiel nach vorn. Da schnellte das Nordlicht wieder zurück, es ward 188 dunkel und traulich, und Jamuk lag in seinem Kinderschlaf mit einem halb trotzigen, halb friedlichen Gesichtchen im Bereich seiner Hände.

Doch ein neues Traumbild erwachte: ein Dritter war in der Jurte, der Schamán, der Priester.

Er trug eine Mitra auf dem kahlen Schädel und über seinen dicken Pelzen eine Stola, mit Vögeln bestickt, die bis zu seinen gegerbten, perlbesetzten Stiefeln reichte. Ein großer Rosenkranz aus Jaspissteinen hing um seinen Hals. Sein gelbes, rundes Gesicht mit der breiten Geiernase war vorgestreckt, und in den Händen hielt er ein großes Messer, das Messer, mit dem er Mawka getötet hatte. Blut tropfte von diesem Messer, und Blut war an den Händen des Schamán, deren Finger wie Krallen aus dem Otterbesatz der Ärmel hervorschlichen.

Utku beugte sein Haupt und wartete voll Ehrfurcht, bis der Schamán beginnen werde. Dieser trat dicht an ihn heran und sprach mit heiserer Stimme: »Es ist kalt, Utku; es ist bitter kalt. Nie noch hatten wir einen solchen Winter. Du bist krank, Utku; ich weiß es, wenn du dich auch versteckst. Du wirst sterben müssen, und es ist gut, daß du geopfert werdest. Hängst du am Leben?«

Utku neigte sich tiefer, ganz in Demut und Bereitschaft. Er starrte auf die bunten Vögel und hörte das Rascheln der langsam bewegten Seide. Er war bereit 189 zu sterben. Alle mußten sterben. Er war alt und nutzlos. Schon vor Monaten hatten seine Handgelenke gezittert.

Der Schamán begann seine Beschwörungen. Da aber ertönte ein heller, trotziger Schrei, und Jamuk war erwacht.

Utku fuhr zusammen. Er machte einige ratlose Bewegungen mit dem Kopf nach der Ecke hin, als wolle er den Schamán bitten, darauf zu achten, daß das Kind schreie; denn das Kind brauche ihn doch!

Der Priester wandte sein gelbes Gesicht und machte runde Augen. »Es ist Mawkas Kind,« sprach er. »Wir haben es nicht begraben. Wir haben es den Göttern vorenthalten. Es ist an der Kälte schuld. Wir wollen es opfern, Utku. Wir haben schon fünfzig Hunde geopfert; es war fruchtlos. Gibst du es uns, dann darfst du leben. Der alte Puginik kaufte sich mit seiner Herde los. Das Kind ist groß und fett; ein gutes Kind; es wiegt eine Herde auf. Gib es mir, Utku!«

Utku stand auf und ging in der Hütte umher. In der Not seines Herzens wiegte er den Kopf wie einen Pendel. »Laßt das Kind leben,« sagte er in tiefen Kehllauten zu den gefräßigen Göttern, die die Kälte schicken. »Laßt es leben. Ich will sterben. Ich bin ein alter, nutzloser Mann.«

»Das Kind ist ein beßres Opfer als du,« flüsterte der 190 Priester und spielte mit dem Messer. »Du bist weise und rüstig. Sieh! schon gehst du frank umher, und das Feuer aus deinen Adern ist gewichen. Was soll dir das Kind? Es ist eine Last. Sein Tod wird die Götter versöhnen.«

Und Utku neigte sich über das Kind und sah in seine brombeerschwarzen Augen. Die gelben Fäustchen griffen nach ihm, und er grinste. Da sah er das Messer des Schamán, der wie ein böser Geist über dem Kinde schwebte, funkeln: und wurde irr und wild. Er hockte sich dicht neben das kleine Wesen, beide dürren braunen Arme darübergestreckt, und heulte vor Angst und Schrecken. Dann erhob er sich taumelnd und ging dem Priester zu Leibe; er tastete nach dem Polog, wo die Waffen lagen, und vertrieb ihn Schritt um Schritt; er sah, wie er sich hob, durch den Kamin entschwand, mit hämischem Gesicht und wackelnder Mitra, wie seine perlbesetzten Stiefel durch den Qualm entglitten – – und Utku nahm die lange Flinte und schoß blind hinter ihm drein. Der Schuß krachte wie ein Donner von tausend Kartaunen; es war ein schneidender Krach, ein Bersten, eine flammende Explosion mit einem Getümmel von nachspringendem Echo – – Und Utku erwachte mit zitterndem Herzen.

Nichts in der Jurte war verändert. Es war totenstill. Utku sah sich erstaunt und atemlos um; sein Kopf war frei, und ein fernes Läuten war in seinen Ohren. Ein 191 wohliges Gefühl hatte ihn ergriffen; es war warm und traut ringsum. Und draußen hatte sich ein Sausen erhoben.

Die Flammen erloschen knisternd; und Utku begann zu singen. Er sang im Tremolo; es waren liebliche Dinge, an die er dachte. Und wenn es auch wieder dunkel um ihn war – er wußte, daß draußen etwas im Werk sei: – Der Frost war gebrochen!

Utku wußte: nun ist der Südsturm da; endlich ist er da. Er kommt vom Ganaltal und vom Fuße des Kljutschew. Und der Alte dachte während dieser Nacht mit ihrem weichen Wind und ihren Tropfen an den Garten Kamtschatkas; dachte an Fünffingerkraut, an blauen Rittersporn und hohe Doldenstauden mit gezackten Blättern. Sein Lied wurde weich und zu einer einzigen trillernden Passage, die er sich zum Vergnügen unzählige Male wiederholte – – so feierte der alte Utku die gehobene Last, die weggeblasene Schwermut, den Einzug des März und die gesprengten Ketten des Frostes. Nun keimt der Roggen, nun blüht das Moos . . . und wir werden östlich ziehn, ans ochotskische Meer, und die laichenden Lachse mit den Händen greifen!

Und als der Morgen graute, stieg die Sonne nicht mehr blutig, sondern rosenfarbig aus dem Nebel. Die Kälte war gesunken, und Utku verließ mit dem Kind das Zelt.

Alles war auf den Beinen. Knaben balgten sich 192 kreischend. Die jungen Leute hatten ihre schlafwirren blauschwarzen Haare in manierlichen Frisuren unter den eckigen Mützen versteckt. – Gestern waren noch viele Tiere erfroren, und Rudel von Hunden wühlten jauchzend in dem Fraß.

Der Schamán trat heraus. Sein gedunsenes Gesicht hob sich blinzelnd in den Wind; er war friedfertig, in graue Felle gehüllt, und war so klein und so unscheinbar wie jeder Korjäke. Er hatte – mit Eßpausen – an die siebzig Stunden geschlummert; sein Tamtam hatte geschwiegen, sein Rosenkranz hatte geruht. Nun stimmte er seinen langgedehnten Ruf an.

Der Horizont glich einem üppigen Schwall von Rosen.

Und Utku, sein Enkelkind auf den Armen, ging zu seiner Herde, drängte sich durch die feuchten Pelze, streichelte, hieb und stieß mit Besitzerwonne und versteckter Schelmerei; er hatte allerlei Flausen im Kopf, rosenfarben wie der Morgen, und war sehr vergnügt. Die Tiere schoben ihre Nasen an seinen Nacken und rieben sich an dem quarrenden Bündel, das er im Arme trug.

Der Märzsturm blies wie eine Orgel, und alle Götter waren versöhnt; sie hatten keine glanzlosen, hungrigen Augen mehr: sie waren satt und lenzhaft heiter. Sie plauderten im Wind mit dem kleinen Jamuk. Dieser schrie, hoch und schrill; und Utku freute sich der Musik.


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