Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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7

Ich arbeitete sehr regelmässig, bevor ich Sibylle kannte. Ich stand um sieben Uhr auf, und wenn ich kein Kolleg zu hören hatte, ging ich um halb neun Uhr in die grosse Bibliothek. Am Morgen waren viele Plätze leer, ich bekam meine Bücher sehr rasch und begann zu lesen. Der Lesesaal ist halbrund und düster erleuchtet, und die Pulte sind im Halbkreis wie um den Platz eines Redners geordnet. Ich hatte immer die Vorstellung, dass dort, im Mittelpunkt des Saales, ein Redner stehen müsste, ein gewaltiger Mann, auf den wir unsere Augen unwillkürlich richten würden, und dass es uns eine Beruhigung sein würde, ihn dort zu wissen.

Mein Platz befand sich auf der linken Seite, nahe den Fenstern, die von schweren Vorhängen verhüllt waren. Nur an hellen Nachmittagen wurden die Vorhänge zurückgezogen, dann drang ein wenig Sonne in den Saal und glitt zögernd und farblos über den Boden. Ich konnte nicht hinaussehen, aber der Lärm der Strasse drang herauf und verlockte mich. Ich stellte mir vor, dass unten die Wagen hin und her fuhren und sich überholten, dass die Leute in die Restaurants eilten, Zeitungen lasen und sich behaglich fühlten, und ich packte meine Bücher zusammen und ging weg.

Niemand kümmerte sich darum. Jeder war hier 20 für sich und schenkte dem anderen keine Beachtung.

Ich ging dann in ein Restaurant und bestellte etwas zu essen. Und fast immer war ich sehr hungrig. 21

 


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