Eugen Schuyler
Erinnerungen an den Grafen Leo Tolstoi
Eugen Schuyler

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Nachwort.

Nach dem Vorhergehenden zu urteilen, schien es mir niemals, daß Grund zur Annahme vorhanden sei, daß die jetzige Phasis mystisch-religiöser Verzückung, welche Graf Tolstoi durchmacht, sein ganzes Leben lang anhalten werde, oder daß er für immer für die Litteratur verloren sei. Ein großer Teil der Fremden, die ihn besucht und ihre Eindrücke beschrieben haben, interessierten sich mehr für seine socialen und religiösen Theorien, als für die russische Litteratur. Deshalb war es mir angenehm, in einer Erzählung des Roman-Schriftstellers G. P. Danilewsky, der Jasnaja Poljana im Herbst 1886 besucht hatte, zu finden, daß Graf Tolstoi sich gegen früher im ganzen wenig verändert habe und daß er gegen seinen alten Freund dasselbe Interesse für Kunst und Litteratur aussprach, das ihn immer beherrschte. Ich führe einige Bruchstücke an:

Die Unterhaltung mit dem Grafen über die Vergangenheit und Gegenwart wurde unterbrochen durch einen schönen fuchsroten Hühnerhund, welcher hereinkam und sich zu den Füßen seines Herrn niederlegte.

»Ist das nicht Laska?« fragte ich, indem ich mich an Tolstois Roman »Anna Karenina« erinnerte.

»Nein, Laska ist tot; dies ist der Jagdhund meines älteren Sohnes.«

»Und Sie gehen auch auf die Jagd?«

»Das habe ich schon lange aufgegeben, obgleich ich jeden Tag auf das Feld und in die benachbarten Wälder gehe. Welcher Genuß, sich von geistiger Beschäftigung durch einfache, physische Arbeit zu erholen! Jeden Tag, je nach der Jahreszeit, grabe ich in der Erde, hacke Holz und säge es, arbeite mit der Sense, mit dem Hobel, oder einem anderen Werkzeug.«

Ich erinnerte mich einer Kiste mit Schuhmacherleisten im Empfangszimmer des Grafen.

»Ah! die Arbeit mit dem Pflug!« fuhr der Graf fort. »Sie glauben nicht, was für ein Vergnügen es ist, zu pflügen. Es ist keine schwere Kunst, wie es vielen scheint – ein reines Vergnügen! Man geht dahin, indem man den Pflug lenkt, und bemerkt nicht, wie eine Stunde und die zweite und die dritte vergeht. Das Blut strömt lebhaft durch die Adern, der Kopf wird hell, man fühlt die Füße nicht mehr unter sich. Und dann der Appetit und der Schlaf! Wenn Sie nicht zu müde sind, wollen Sie nicht vor Tisch einen Spaziergang machen und Pilze suchen? Vor kurzem sind hier Strichregen gefallen, jetzt muß es schöne, weiße Pilze geben.«

»Mit Vergnügen!« erwiderte ich.

Der Graf setzte seinen runden, weichen Hut auf und nahm ein Körbchen. Ich setzte auch den Hut auf und nahm einen der Stöcke hinter der Etagere. Wir gingen ohne Paletot durch die Hausthür; nicht weit von derselben, bei der Pforte in dem Hinterhof, standen Turngeräte.

»Das ist auch für Sie?« fragte ich den Grafen.

»Nein, das ist für meine jüngeren Kinder. Ich habe hier andere Übungen,« antwortete er mit einem Blick nach der Hofpforte, wo ein Haufen von frisch gesägtem Holz lag.

Es ist nicht zu verwundern, daß der Graf bei beständiger, physischer Arbeit seine Gesundheit so gut erhalten hat. Dazu verhalf ihm auch sehr der Umstand, daß Tolstoi einen großen Teil seines Lebens auf dem Lande zugebracht hat. Nachdem er schon in frühen Jahren seine Mutter, eine geborene Fürstin Wolkowsky, verloren hatte, wurde er im Jahre 1837, neun Jahre alt, nach Moskau in das Haus seiner Großmutter gebracht, dann lebte er wieder auf dem Lande. Im Jahre 1840 bezog er die Universität Kasan, wo er orientalische und dann juristische Studien machte. 1851–1855 stand er im Militärdienst an der Donau und in Sewastopol und seit 1860 lebte er fast ununterbrochen in Jasnaja Poljana. Von seinen siebenundfünfzig Jahren hat er also mehr als fünfunddreißig auf dem Lande zugebracht.

Durch einen kleinen Obstgarten, welchen der Graf selbst angelegt hatte, kamen wir auf das Feld hinaus und wandten uns dem nahen Walde zu. Von diesem Wald aus erblickten wir jenseits eines kleinen Flüßchens andere Wälder und Felder. Von einem Dickicht gingen wir bald bergauf, bald bergab in ein anderes, indem wir uns unterhielten und zuweilen Halt machten. Die Sonne kam hervor und verbarg sich wieder hinter leichten Wolken, die frische Luft war mit feuchtem Wohlgeruch erfüllt, gelbe Blätter fielen langsam von den Bäumen, kein Zweig schwankte in der stillen Luft.

Ich ging neben dem Grafen, bewunderte seinen leichten Gang, die Lebhaftigkeit seiner Reden, die Einfachheit und Lebenslust seiner so wohlerhaltenen, starken Natur.

»Mein Gott,« dachte ich, indem ich ihn ansah und anhörte, »man hielt ihn für verloren für die Kunst, für einen finsteren, trockenen Einsiedler und Mystiker. Man sehe diesen Mystiker an!« –

Der Graf sprach mit Interesse von der Kunst, von der heimatlichen Litteratur und den besten Vertretern derselben. Nachdem er Gogol erwähnt hatte, welchen der Graf in seinem Leben niemals gesehen hatte, sowie die noch lebenden Schriftsteller, Gontscharow und Grigorowitsch und jüngere, sprach der Graf von der Volkslitteratur.

»Vor mehr als dreißig Jahren,« sagte der Graf, »als einige der Schriftsteller, und unter ihnen auch ich, eben zu arbeiten anfingen, gab es in dem russischen Hundertmillionenreich nur Zehntausende welche schriftkundig waren, jetzt aber, nach der Vermehrung der ländlichen und städtischen Schulen, zählen sie wahrscheinlich nach Millionen und diese Million russischer Schriftkundiger stehen vor uns wie hungrige Dohlen mit offenen Schnäbeln und sagen uns: ›Ihr Herren, geborene Schriftsteller, werft uns eine geistige Speise zu, die Eurer und unserer würdig ist, schreibt für uns, die wir nach dem lebendigen Wort der Litteratur dürsten, erlöst uns von jener rohen Marktware!‹ Das einfache und ehrliche russische Volk ist es wert, daß wir diesem Ruf seiner guten, aufrichtigen Seele Folge leisten. Ich habe viel daran gedacht und beschlossen, nach meinen Kräften mich diesem Ziel zu widmen.«

* * *

Wir kehrten um aus dem Wald, wo der Graf viele schöne, weiße Pilze zu finden geglaubt hatte, wo sie aber schon verschwunden waren.

»Wie warm und welcher Duft!« sagte er, indem er sich einer alten, halb zerfallenen kleinen Brücke über einem schmalen Bach näherte. »Welche wunderbare Kraft der unmittelbaren Eindrücke von seiten der Natur und wie sehr liebe und schätze ich die Künstler, welche alle ihre Inspirationen aus dieser mächtigen und ewigen Quelle schöpfen! Darin allein liegt Kraft und Wahrheit.«

Wir sprachen von verschiedenen künstlerischen Zügen in der Litteratur, Malerei und Musik.

»Kürzlich habe ich ein Buch gelesen,« sagte Tolstoi unter anderem, indem er vor dem Balken stehen blieb, welcher über den Bach führte: »Das waren Gedichte eines verstorbenen noch jungen, spanischen Poeten. Außer der bemerkenswerten Begabung dieses Schriftstellers interessierte mich auch seine Lebensbeschreibung. Sein Biograph führte die Erzählung seiner alten Amme von ihm an. Sie bemerkte einmal mit Besorgnis, daß ihr Zögling nicht selten die Nächte schlaflos zubrachte, seufzte, laut einige Worte sprach, bei Mondschein auf das Feld zu den Bäumen ging und dort ganze Stunden blieb. In einer Nacht schien es ihr sogar einmal, daß er wahnsinnig geworden sei. Der junge Mann stand auf, kleidete sich in der Finsternis an und ging zum nächsten Brunnen; die Amme eilte ihm nach. Sie sah, wie er mit dem Eimer Wasser heraufzog und es nach und nach auf das Feld ausgoß, dann wieder Wasser schöpfte und es wieder ausgoß. Die Amme rief unter Thränen: ›der Kleine hat den Verstand verloren!‹ Aber der junge Mensch that das nur in der Absicht, in der Nähe zu sehen und zu hören, wie in der dunklen Nacht beim Licht des Mondes ein Wasserstrahl plätschernd wegfließt. Das brauchte er zu einem neuen Gedicht. In diesem Fall berichtigte er sein Gedächtnis und die entschwindenden, poetischen Eindrücke durch diese selbe Natur, wie die Maler in gewissen Fällen sich eines Modells bedienen, das sie in die richtige Stellung bringen und mit der nötigen Kleidung behängen.

»Indem ich unsere und fremde Schriftsteller lese, fühle ich unwillkürlich, welcher von ihnen der Natur und seiner übernommenen Aufgabe getreu ist und welcher den Weg verfehlt. Manche vielgelobte Modeschriftsteller würde man mich, wie ich glaube, auch durch Androhung von Leibesstrafe nicht zu lesen veranlassen können.

»Hier ist das Haus!« Unser Spaziergang hatte ungefähr dreieinhalb Stunden gedauert und wir hatten nicht weniger als sechs ober sieben Werst zurückgelegt. Der Graf sah nach dieser Bewegung noch rüstiger aus und schien ganz bereit dazu zu sein, noch weiter zu gehen. Aber es war schon sechs Uhr. Sophia Andrejewna war von Tula zurückgekehrt, wohin sie gefahren war, um die von ihr und dem Grafen gelesene Korrektur eines neuen Bandes seiner gesammelten Werke auf die Post zu bringen und erwartete uns zu Tisch.

»Sind Sie nicht ermüdet?« fragte Tolstoi, indem er mich vergnügt ansah und lebhaft die Treppe hinaufstieg in den ersten Stock seines Hauses. »Für mich ist die tägliche Bewegung und körperliche Arbeit unentbehrlich wie die Luft. Im Sommer finde ich dazu auf dem Land freien Spielraum, ich pflüge auf dem Feld und mähe Heu; im Herbst aber, zur Regenszeit, ist's schlimm. In den Dörfern giebt's keine Trottoire und Fahrwege; bei schlechtem Wetter verfertige ich Stiefel. In der Stadt ist das Spazierengehen auch langweilig und dort kann man nicht pflügen und mähen. Dann hacke und säge ich Holz. Bei sitzender, geistiger Arbeit ohne körperliche Bewegung ist es ein wirklicher Jammer. Wenn ich mehrere Tage lang nicht gehen und nicht mit Füßen und Armen arbeiten kann, bin ich am Abend zu nichts mehr tauglich, weder zum Lesen, noch zum Schreiben und kann nicht einmal andere aufmerksam anhören; mein Kopf schwindelt, vor den Augen flimmern Funken und die Nacht wird schlaflos.«

Zum Schluß sagt Danilewsky: »Nach dieser unserer neuen Begegnung blieb Graf L. N. Tolstoi in meinen Gedanken derselbe mächtige, große Künstler, wie ihn ganz Rußland kennt. Er ist vollkommen gesund, rüstig, im Besitz aller seiner künstlerischen Kräfte und kann ohne allen Zweifel sein Vaterland noch mit manchem Produkt wie ›Krieg und Frieden‹ oder ›Anna Karenina‹ beschenken, ebenso wie sein Schweigen und die Pause nach seinen Erstlingswerken ›Die Kindheit‹, ›Das Jugendalter‹ und ›Sewastopol‹, während er sich mit pädagogischen Fragen beschäftigte und das Journal von Jasnaja Poljana herausgab, nicht die Folge von Apathie oder Abschwächung seiner künstlerischen Kräfte war, sondern nur eine unwillkürliche Erholungspause, während welcher in seiner Seele die Bilder von ›Krieg und Frieden‹ reiften. – So verwendet auch jetzt Graf L. N. Tolstoi seine Mußezeit zu Erzählungen für das Volk, nachdem er das Alte und Neue Testament im Original und das Leben der Heiligen gelesen hatte, und augenscheinlich bereitet er sich zu neuen, künstlerischen Schöpfungen vor und seine jetzige Stimmung ist nur eine neue Stufe, die ihn höheren Proben seiner Schöpferkraft zuführt.«

 


 


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