Eugen Schuyler
Erinnerungen an den Grafen Leo Tolstoi
Eugen Schuyler

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III.

Da wir die Abende und einen Teil des Morgens in dem mit Büchern erfüllten Kabinett des Grafen verbrachten, so berührte unser Gespräch natürlicherweise auch oft die Litteratur. Mehrmals half ich ihm, seine Bibliothek in Ordnung zu bringen, welche zum größten Teil aus französischen Büchern bestand, die von seinem Vater oder Großvater auf ihn gekommen waren. Die Bibliothek enthielt aber auch die besten Produkte der Litteratur Englands, Frankreichs, Deutschlands und Italiens, abgesehen von den russischen Büchern und einer bedeutenden Sammlung von Werken über Napoleon und seine Zeit, die er für seinen Roman »Krieg und Frieden« benutzte.

Von diesen letzteren habe ich späterhin einige erhalten; um andere beneide ich ihn noch. Zum Unglück habe ich einen großen Teil meiner Aufzeichnungen über unsere literarischen Gespräche nicht aufbewahrt, einige aber machten einen starken Eindruck auf mich.

Tolstoi hatte eine sehr hohe Meinung von den englischen Romanen, nicht nur in künstlerischer Beziehung, sondern besonders wegen ihres Naturalismus, ein Wort, das damals sehr in Mode war.

»In der französischen Litteratur,« sagte er, »schätze ich am höchsten die Romane von Dumas und von Paul de Kock.« Ich sah ihn verwundert an, da ich damals streng zu den herrschenden Schulen hielt. »Nein,« rief er, »sprechen Sie nicht von diesem Unsinn, Paul de Kock sei unsittlich. Nach englischen Begriffen ist er allerdings etwas unanständig; er ist mehr oder weniger das, was die Franzosen ›leste et gaulois‹ (leicht und gallisch) nennen, aber niemals unsittlich. Was er auch in seinen Werken sagt und ungeachtet seiner kleinen, etwas freien Scherze, ist doch seine Richtung vollkommen sittlich. Er ist der französische Dickens. Seine Charaktere sind alle aus dem Leben genommen und vorzüglich. Als ich in Paris war, verbrachte ich gewöhnlich die Hälfte des Tages in den Omnibussen und amüsierte mich ganz einfach mit der Beobachtung des Volks. Ich kann Ihnen versichern, daß ich jeden der Passagiere in einem der Romane Paul de Kocks wiedergefunden habe. Aber was Dumas betrifft, sollte jeder Romanschriftsteller ihn auswendig wissen. Seine Intriguen sind wundervoll, auch schon abgesehen von der Ausarbeitung. Ich kann ihn immer wieder lesen; aber die Verwicklungen und Intriguen bilden seinen hauptsächlichen Vorzug.«

Um Balzac kümmerte sich Tolstoi weniger. Von anderen Schriftstellern kann ich mich nur noch Schopenhauers erinnern, dessen deutschen Stil er besonders schätzte.

Wir sprachen von den heutigen russischen Schriftstellern und natürlicherweise kam unser Gespräch auf seine eigenen Werke, über welche er sich mit großer Aufrichtigkeit aussprach. Der Roman »Krieg und Frieden«, welcher damals gedruckt wurde, war der Gegenstand einer langen Unterhaltung, von der ich aber nur den Schluß wiedergeben kann, und auch diesen nicht in denselben Worten, welche Tolstoi anwandte.

»Krieg und Frieden« erschien zuerst in sechs Bänden von 1863 an und nicht im »Russischen Boten« Katkows, wie immer. Vier Bände wurden in einer großen Anzahl Exemplaren verkauft und von allen gelesen. In diesen wurde die Geschichte bis zur Schlacht von Borodino fortgeführt; die letzten Bände erschienen erst etwa ein Jahr nachher. Es waren einige feindliche Kritiken erschienen, auf welche Tolstoi in der historischen Zeitschrift »Das russische Archiv« antwortete und gerade um diese Zeit sprach er in demselben Sinn mit mir über das Werk.

Ich muß bemerken, daß Tolstoi vor »Krieg und Frieden« einen Roman »Die Dezembristen«Die Dezember-Männer. begonnen hatte, welcher den Aufstand vom 24. Dezember 1825 bei der Thronbesteigung des Kaisers Nikolai I. behandelte. An diesem Aufstande nahmen viele russische Adlige teil, darunter auch einige seiner Verwandten. Zu jener Zeit beschäftigte die Geschichte dieses Aufstandes das russische Publikum sehr. Es war von der Entwickelung des verderblichen Nihilismus die Rede, welcher zum Teil der Rückkehr einiger Dezembristen (Teilnehmer am Aufstand) zuzuschreiben ist, welche von Kaiser Alexander II. nach mehr als dreißigjähriger Verbannung begnadigt worden waren. Aber bei der Schilderung der Periode der Dezembristen war Tolstoi genötigt, noch weiter zurückzugehen, zu der den Dezembristen vorausgehenden Periode. Er vertiefte sich nach und nach immer mehr in die Ursachen der Erscheinung, die er schildern wollte, in das Familienleben, die Erziehung, die socialen Umstände der von ihm gewählten Charaktere. So kam er noch weiter zurück, bis zu den napoleonischen Kriegen, und schilderte das, was uns allen bekannt ist.

Die Idee der Dezembristen wurde nicht aus dem Gesichtskreis verloren und der Leser, der sich der letzten Kapitel aus »Krieg und Frieden« erinnert, in welchen das häusliche Leben von Peter und Nikolai beschrieben ist, wird finden, wenn er mit der russischen Geschichte bekannt ist, wie kunstvoll der Boden für einen neuen epischen Roman gleicher Art vorbereitet wurde. Vor 1878 hat Tolstoi noch zweimal die Verwirklichung des Projekts wieder begonnen und die ersten Kapitel wurden umgearbeitet, dann aber wieder aufgegeben. In der ersten Abschrift tritt Peter mit seiner Familie in Moskau auf, nach der Rückkehr aus langer Verbannung in Sibirien.

Über den Roman »Krieg und Frieden« sprach sich Tolstoi selbst aus, wie folgt:

1. »Was ist ›Krieg und Frieden‹? Es ist kein Roman, noch weniger eine Dichtung und am wenigsten eine historische Chronik. ›Krieg und Frieden‹ ist das, was der Verfasser nur in dieser Form ausdrücken wollte und konnte, in der es ausgedrückt wurde. Eine solche Ankündigung der Vernachlässigung der gewohnten Form eines prosaischen, künstlerischen Produkts durch den Verfasser könnte als Anmaßung erscheinen, wenn sie beabsichtigt wäre und wenn sie keine Beispiele hätte. Die Geschichte der russischen Litteratur aber, von der Zeit Puschkins an, bietet nicht nur viele Beispiele einer solchen Abweichung von der europäischen Form, sondern liefert auch nicht ein einziges Beispiel vom Gegenteil. Von den ›toten Seelen‹ Gogols an und bis zu dem ›toten Hause‹ Dostojewskis giebt es in der neuen Periode russischer Litteratur nicht ein einziges künstlerisches, prosaisches, sich über die Mittelmäßigkeit erhebendes Werk, das sich vollkommen der Form des Romans, des Poems oder der Erzählung anschließen würde.

2. »Der Charakter der Zeit ist, wie mir einige Leser nach dem Erscheinen des ersten Bandes sagten, in meinem Werk nicht genügend bestimmt. Auf diesen Vorwurf habe ich folgendes zu erwidern:

»Ich weiß, worin dieser Charakter besteht, den man in meinem Roman vermißt, das sind die Schrecken der Leibeigenschaft, das Einmauern von Frauen, das Auspeitschen der erwachsenen Söhne u. s. w.

»Diesen Charakter jener Zeit aber, welcher in unserer Vorstellung lebt, hielt ich nicht für wahr und wollte ihn nicht ausdrücken. Ich habe Briefe, Tagebücher, Überlieferungen gelesen und durchforscht und habe alle die Schrecken jener Gewaltthaten nicht in höherem Maße gefunden, als heutzutage oder sonst jemals. Auch zu jener Zeit wurde die Wahrheit, die Tugend geliebt und gesucht, und den Leidenschaften gefröhnt. Es herrschte dasselbe komplizierte geistlich sittliche Leben, zuweilen noch verfeinerter als jetzt in den höheren Ständen. Wenn sich in unseren Vorstellungen eine Meinung über den Charakter der Eigenmächtigkeiten und der groben Gewaltthaten jener Zeit gebildet hat, so geschah dies nur dadurch, daß in den Überlieferungen, Memoiren, Erzählungen und Romanen nur die hervorragendsten Beispiele von Gewaltthaten auf uns gekommen sind. Daraus zu schließen, daß der vorherrschende Charakter jener Zeit die Gewaltthätigkeit gewesen sei, wäre ebenso ungerecht, wie das Urteil eines Menschen, welcher hinter einem Berge hervor nur die Gipfel der Bäume sieht und daraus schließen wollte, daß es an jenem Ort nur Bäume gebe. Es giebt einen Charakter jener Zeit (wie es einen Charakter jeder Epoche giebt), welcher aus der größeren Entfremdung der höchsten Kreise von den anderen Ständen entsprang, oder aus der herrschenden Philosophie, oder aus Eigentümlichkeiten der Erziehung, oder aus der Gewohnheit, sich der französischen Sprache zu bedienen u. s. w., und diesen Charakter habe ich auszudrücken versucht, so gut ich es verstand.

3. »Die Namen der handelnden Personen, Bolkonski und Drubezkoi, Bilibin, Kuragin u. s. w. erinnern an bekannte russische Namen. Indem ich die handelnden, nicht historischen Personen mit den anderen, historischen Personen zusammenstellte, fühlte ich, wie ungewohnt es für das Ohr ist, den Grafen Rostoptschin mit dem Fürsten Pronski, Strelski oder mit irgend welchen anderen Fürsten oder Grafen von erdachten Namen sprechen zu lassen. Bolkonski und Drubezkoi sind nicht Wolkonski und Trubezkoi, klingen aber bekannt und natürlich in einem russischen, aristokratischen Kreis. Ich verstand nicht, für alle Personen Namen zu finden, welche mir nicht zu mißtönend für das Ohr erschienen, wie z. B. Besuchi und Rostow, und ich verstand nicht, diese Schwierigkeit anders zu umgehen, als indem ich die dem russischen Ohr vertrautesten Familiennamen wählte und einige Buchstaben in denselben abänderte. Ich würde sehr bedauern, wenn die Ähnlichkeit der erdachten Namen mit wirklichen irgend jemand auf den Gedanken bringen könnte, ich hätte diese oder jene wirkliche Persönlichkeit vorführen wollen, besonders deshalb, weil jene litterarische Thätigkeit, die in der Beschreibung wirklich bestehender oder gewesener Personen besteht, mit der nichts gemein hat, mit welcher ich mich beschäftigte.

»M. D. Achrosimow und Denissow, das sind ausschließlich Personen, welchen ich unwillkürlich und unabsichtlich Namen gab, die denen von zwei besonders charaktervollen und beliebten, wirklichen Persönlichkeiten der damaligen Gesellschaft sehr ähnlich sind. Das war ein Fehler von mir, welcher durch die besondere Charakterstärke dieser zwei Persönlichkeiten hervorgerufen wurde. Aber dieser Mißgriff wurde schon durch die Darstellung dieser zwei Personen begrenzt und die Leser werden wahrscheinlich beistimmen, daß nichts, was der Wirklichkeit ähnlich ist, mit diesen Personen vorging. Alle übrigen Personen sind vollständig erdacht und haben für mich auch keine bestimmten Vorbilder in der Überlieferung oder Wirklichkeit.«

Ungeachtet dieser Aufklärung bestehen die Familienfreunde des Grafen darauf, daß er in der Fürstin Maria Bolkonska ein ideales Porträt seiner Mutter wiedergegeben habe; aber es ist auch möglich, daß die Ähnlichkeit der Namen (seine Mutter war eine Fürstin Maria Wolkonska) so auf ihre Phantasie einwirkte, daß sie auch eine Ähnlichkeit der Charaktere zu finden glaubten.

Eine getreue Beschreibung einer Epoche muß aus der Erforschung von Memoiren, von alten Briefen und aus persönlichen Erzählungen ebenso gewissenhaft abgeleitet werden, wie jeder Historiker mit seinem Material verfährt. Damals lebten in Moskau noch viele alte Leute, welche sich des Brandes von Moskau erinnerten, und Tolstoi selbst mußte in seinen jungen Jahren viele gekannt haben, welche mehr oder weniger Anteil an den Erlebnissen genommen hatten, die die Grundlage seines Romans bilden. Die Fürstin Odojewska sagte mir, einige Damen und besonders ein Fräulein P., eine entfernte Verwandte von Tolstoi und eine gemeinschaftliche Freundin von uns allen, seien sehr nützlich gewesen bei der Aufsuchung alter Moskauer Einwohner und bei der Aufzeichnung ihrer Erzählungen und Anekdoten. In Wirklichkeit hat sich die Gesellschaft bis zu den Zeiten des Krimkrieges in Moskau und auf dem Lande so wenig verändert, daß, da Tolstoi nur das beschrieben hat, was er selbst gesehen, diese Beschreibung auch für die vorhergehende Periode richtig wäre. Darin würde aber der Zeitgeist gefehlt haben, von welchem die Menschen von 1812 beseelt waren.

Die Angabe der Quellen vermindert das Verdienst des Romanschriftstellers so wenig, wie das des Historikers. Zuweilen ist es leicht zu sehen, welchen Einflüssen der Verfasser von »Krieg und Frieden« sich hingegeben hat. Die Geschichte und der Einfluß der Freimaurerei Rußlands war gerade zu jener Zeit ein neuer Gegenstand der Forschung, als die Hindernisse für das Studium der Geschichte und für die Kritik nach und nach sich abschwächten. Das Lesen einer ganzen Reihe von Aufsätzen im »Russischen Boten« über die Freimaurerei zur Zeit Katharinas und des Buchs von Longinow über »Nowikow« machten Peter zu einem Freimaurer. Und in der Folge wurden Angaben gefunden in einer großen Sammlung freimaurerischer Bücher und Embleme und aller Art von Kram im öffentlichen Museum in Moskau, in welchem ein großer Teil der Archive und Geräte der russischen Freimaurerlogen aufbewahrt wird, seitdem sie geschlossen und ihre Papiere konfisziert worden sind.

Ein Zug im letzten Teil des Romans, die Unentschlossenheit der Frau Peters, der Gräfin Helene, bei der Wahl eines zweiten Mannes, beruht auf einem Vorfall in Petersburg aus jener Zeit, als der Roman seinem Ende entgegenging. In eine Dame Namens A., welche auch noch nicht von ihrem Manne geschieden war, hatten sich zwei Verehrer heiß verliebt.

Der Vicomte Vogué scheint in seinem interessanten Werk »Le Roman russe« sich vorzustellen, daß die Beschreibung der Schlachten bei Tolstoi Nachahmungen einer Darstellung der Schlacht bei Waterloo in »Chartreuse de Parme« von Stendal seien, zu welcher die Idee, wie dagegen Saint-Beuve sagt, aus einem englischen Werk entnommen sei: »The Memoirs of a Soldier«, Aufzeichnungen eines Soldaten des 71. Regiments, welcher die Schlacht bei Vittoria mitgemacht hat, ohne davon etwas zu begreifen, ebenso wie Fabrice, der die Schlacht bei Waterloo mitgemacht hatte, sich später selbst fragte, ob er wirklich in der Schlacht gewesen sei und sich geschlagen habe. »La Chartreuse de Parme« mit allen Vorzügen des Werks, ist ein vortreffliches Beispiel dafür, wie man historisch nicht schreiben soll. Tolstoi nahm sich wirkliche Charaktere in den historischen Vorgängen zum Muster; Stendal that zum Teil dasselbe in »Waterloo« und »Mailand«, aber er stellte leider wirkliche Namen an Stellen, die ganz und gar erdichtet waren. Parma ist in seiner Erzählung in keiner Beziehung, weder in historischer noch topographischer Hinsicht, dem wirklichen Parma ähnlich, es scheint mehr Modena zu gleichen.

Über seine Benutzung der Geschichte sagt Tolstoi:

»Der Geschichtsschreiber und der Künstler, der eine historische Epoche beschreibt, haben zwei vollkommen verschiedene Ziele. Wie der Historiker nicht richtig handelt, wenn er sich bemüht, eine historische Person in ihrer Gesamtheit, in ihren sämtlichen Beziehungen zu allen Seiten des Lebens darzustellen, so erfüllt auch der Künstler nicht seine Aufgabe, wenn er eine Person immer in ihrer historischen Bedeutung darstellt. Kutusow hat nicht immer mit dem Fernrohr in der Hand auf die Feinde gedeutet und ein weißes Pferd geritten. Rostoptschin hat nicht immer mit einer Fackel das Woronowsche Haus angezündet (er hat das überhaupt niemals gethan), und die Kaiserin Maria Feodorowna stand nicht immer im Hermelinmantel da, mit der Hand auf das Gesetzbuch gestützt, wie eine irrige Auffassung sie darstellt.

»Es ist auch überflüssig, zu sagen, daß jede Schlacht von den Gegnern fast immer in ganz entgegengesetzter Weise dargestellt wird. Bei jeder Beschreibung einer Schlacht ist die Lüge eine Notwendigkeit, welche aus der Notwendigkeit hervorgeht, mit einigen Worten die Handlungen von Tausenden von Menschen zu beschreiben, welche auf einige Kilometer zerstreut waren, sich in der höchsten moralischen Aufregung befanden, unter dem Einfluß des Schreckens, der Wut und des Todes.

»In den Beschreibungen von Schlachten wird gewöhnlich gesagt, diese oder jene Truppen seien zum Angriff auf einen Punkt geführt worden und dann sei befohlen worden, sich zurückzuziehen u. s. w., als ob man voraussetzen könnte, daß dieselbe Disciplin, welche Zehntausende von Menschen dem Willen eines einzigen unterwirft, dieselbe Wirkung auch haben könnte, wenn es sich um Leben und Tod handelt. Jeder, der im Krieg war, weiß, wie unwahr»Nach dem Druck meines ersten Teils, mit der Beschreibung des Gefechts bei Schöngraben wurde mir eine Äußerung von Nikolai Nikolajewitsch Murawjew Karski über diese Beschreibung der Schlacht mitgeteilt, welche mich in meiner Überzeugung bestärkt hat. Murawjew Karski, der Oberkommandierende, äußerte, er habe niemals eine richtigere Beschreibung der Schlacht gelesen, und er habe sich durch seine Erfahrungen davon überzeugt, wie unmöglich die Ausführung eines Befehls des Oberkommandierenden während einer Schlacht ist.« das ist, aber dennoch wird auf diese Voraussetzung der Bericht gegründet und auf diesen die Beschreibung des Krieges.

»Wenn man sogleich nach der Schlacht oder auch noch am zweiten oder dritten Tage zu allen Truppen reitet, noch bevor der Bericht geschrieben ist, und alle Soldaten und die oberen und niederen Anführer befragt, wie die Schlacht verlief, – werden sie erzählen, was sie empfunden und gesehen haben, und wir erhalten einen majestätischen, komplizierten, unendlich verschiedenartigen und schweren, unklaren Eindruck, und von niemand, am wenigsten von dem Oberkommandierenden, kann man erfahren, wie die ganze Schlacht verlief. Aber nach zwei, drei Tagen fängt man an, Berichte abzufassen; die Schwätzer beginnen dann Dinge zu erzählen, von denen sie nichts gesehen haben. Endlich wird der Generalbericht zusammengestellt und nach diesem Bericht bildet sich die öffentliche Meinung der Armee. Jedem dient es zur Erleichterung, seine Zweifel und Fragen gegen diese falschen, aber klaren und immer schmeichelhaften Darstellungen zu vertauschen. Fragt man einen Menschen, der an der Schlacht teilgenommen hat, nach einem oder zwei Monaten, so findet man in seiner Erzählung nicht mehr jenes frische, lebendige Material, das früher darin enthalten war, sondern er erzählt jetzt nach dem Bericht. So haben mir viele lebhafte, verständige Teilnehmer an der Schlacht bei Borodino davon erzählt. Alle sagten dasselbe und alle nach der unrichtigen Beschreibung von Michailowski-Danilewski oder nach Glinka und anderen. Selbst in Kleinigkeiten stimmten sie überein, obgleich sich die Erzähler in einer Entfernung von einigen Kilometern voneinander befanden.

»Nach dem Verlust von Sewastopol sandte mir der Oberkommandierende der Artillerie, Krüschanowski, die Berichte der Artillerieoffiziere von allen Bastionen und ersuchte mich, aus diesen mehr als zwanzig Meldungen einen einzigen Bericht zusammenzustellen. Ich bedaure, daß ich diese Meldungen nicht abgeschrieben habe; das waren die besten Proben jener naiven, notwendigen kriegerischen Lügen, aus welchen eine Beschreibung gebildet wird. Ich glaube, viele jener Kameraden, welche damals diese Meldungen abfaßten, werden beim Lesen dieser meiner Bemerkung darüber lachen, in der Erinnerung daran, wie sie auf Befehl manches geschrieben haben, was sie gar nicht wissen konnten. Alle, welche einen Krieg mitgemacht haben, wissen, wie sehr die Russen dazu befähigt sind, ihre Pflicht im Krieg zu thun, wie wenig sie aber dazu geeignet sind, eine Beschreibung zu liefern, mit der dabei notwendigen, prahlerischen Lüge. Alle wissen, daß in unserem Heer die Pflicht, Berichte und Meldungen abzufassen, meist den Nichtrussen zufällt.

»Aber außer der Unvermeidlichkeit der Unwahrheit bei der Darstellung historischer Ereignisse fand ich bei den Historikern jener Epoche, mit der ich mich beschäftigte (wahrscheinlich infolge der Gewohnheit, die Ereignisse zu gruppieren, kurz und in tragischem Ton darzustellen), eine besondere Art von Pathos, in welchem oft Lügen und Verdrehungen, nicht nur auf die Ereignisse, sondern auch auf das Verständnis der Bedeutung des Ereignisses übergehen. Beim Studium der zwei wichtigsten historischen Werke jener Epoche von Thiers und Michailowski-Danilewski geriet ich oft in Verwunderung darüber, wie diese Bücher gedruckt und gelesen werden konnten. Nicht nur habe ich die Darstellung desselben Ereignisses in ernstestem, überzeugendstem Ton, mit Berufung auf Materialien in beiden Werken oft diametral entgegengesetzt und oft direkt widersprechend gefunden, sondern ich traf bei diesen Historikern solche Beschreibungen, daß ich nicht wußte, ob ich lachen oder weinen sollte, bei dem Gedanken, daß diese beiden Bücher die einzigen Denkmäler jener Epoche sind und von Millionen gelesen werden. Ich will nur ein Beispiel aus dem Buch des berühmten Thiers anführen:

»Er erzählt, wie Napoleon 1812 falsches, russisches Papiergeld mitbrachte, um Rußland zu schädigen und sagt:

»›Relevant l'emploi de ces moyens par un acte de bienfaisance digne de lui et de l'armée française, il fit distribuer des secours aux incendiés. Mais les vivres étant trop précieux pour être donnés longtemps à des étrangers, la plupart ennemis, Napoléon aima mieux leur fournir de l'argent et il leur fit distribuer des roubles papier.

»Um die Anwendung dieses Mittels durch einen seiner und der französischen Armee würdigen Akt der Wohlthätigkeit wieder gut zu machen, ließ er Unterstützungen an die Abgebrannten verteilen. Aber da die Lebensmittel zu kostbar waren, um lange an Fremde verteilt werden zu können, von denen die meisten Feinde waren, zog Napoleon vor, ihnen Geld zu geben und ließ Papierrubel an sie verteilen.Natürlich von diesen gefälschten Rubeln. (Der Übersetzer.)

»Wenn Thiers sich dessen bewußt gewesen wäre, was er sagte, so hätte er sich nicht auf solche Weise über eine derartige, unmoralische Handlung ausgesprochen.«

Dies gab Anlaß zu einem langen Streit über die französische Besetzung und über den Brand Moskaus, über welchen sich Tolstoi immer in gleicher Weise mit strengerem Ausdruck aussprach, als später in seinem Roman, wo er die Feuersbrunst nur dem Zufall zuschrieb. Er zeigte mir eine große Bibliothek, welche aus Büchern bestand, die er zu seinen Untersuchungen gesammelt hatte, und wies auf einige interessante Memoiren und Broschüren hin, welche sehr selten und wenig bekannt sind.

Über Rostoptschin sprach er mit großer Verachtung, Rostoptschin leugnete immer, daß er an dem Brand Anteil gehabt habe, bis zu der Zeit, wo er nötig fand, sich zu rechtfertigen. Die Franzosen schrieben den Brand ihm zu, und späterhin, als er sich in Frankreich befand, nach der Restauration, wurde ihm die Anstiftung als ein ruhmvoller Akt der Vaterlandsliebe zugeschrieben. Anfangs nahm er das mit Bescheidenheit hin, später aber prahlte er schamlos damit. Die Legende bildete sich rasch, zum Teil durch den Chauvinismus der französischen Geschichtsschreiber, zum Teil durch den Einfluß der Segurs (von welcher einer mit seiner Tochter verheiratet war) und ihrer zahlreichen Verwandten und Nachfolger.

Graf Leo Tolstoi bestand auf der Genauigkeit und besonders auf der Gewissenhaftigkeit in Bezug auf die Geschichte und sagte:

»Überall in meinem Roman, wo historische Personen sprechen und handeln, habe ich nichts erdichtet, sondern Materialien benützt.«

Davon ging das Gespräch auf die Wirksamkeit historischer Persönlichkeiten und Vorgänge über. Alles das ist später so ausführlich in dem Nachwort zu »Krieg und Frieden« ausgesprochen worden, daß es überflüssig ist, das hier zu wiederholen.

In seinen früheren Erzählungen hat Tolstoi immer lebhafte, realistische Beschreibungen der Örtlichkeiten und der Personen mit moralischen und metaphysischen Beurteilungen der Charaktere vereinigt, so daß der Leser sich unwillkürlich sagt:

»Das ist eine wirkliche Persönlichkeit, das ist ein wirkliches Erlebnis, der Verfasser muß diese Phasis durchlebt haben, um sie so schön zu beschreiben.«

Tolstoi hat lachend, aber in allem Ernst seine drei Skizzen: »Die Kindheit«, »Knabenalter« und »Jünglingsalter«, welche in neulich erschienenen Übersetzungen »Souvenirs à mes mémoires« genannt wurden, jeden autobiographischen Charakter abgesprochen. In der That entsprechen auch die in dem Buch erzählten Abenteuer keineswegs den Thatsachen im Leben Tolstois, weder die moralische, noch die geistige Entwickelung von Irtenjew stimmt mit dem überein, was Tolstoi später über sich selbst in seiner »Beichte« gesagt hat.

Jetzt, nachdem Tolstoi eine Persönlichkeit in der religiösen Welt geworden ist, wurden seine Erzählungen und Novellen Gegenstand eines sorgfältigen Studiums für viele, welche darin mehr als ihren künstlerischen Wert suchten und obgleich darin auch Spuren der Ideen aus dem Leben zu finden sind, welche in seinem mystischen Werk so stark entwickelt sind, wurde ihnen ein autobiographischer Charakter beigelegt. So hat man Tolstoi in seinen »Kosaken«, in »Krieg und Frieden«, in »Anna Karenina« gefunden, in den Charakteren von Olenin, von Peter, von Lewin.

Aber zwischen den Darstellungen eines kleinen Teilchens aus dem Leben eines Schriftstellers und einer Autobiographie ist ein großer Unterschied. Diese beständige Sucht, die Persönlichkeit des Autors in seinen Helden zu sehen, möge der Autor Byron oder Tolstoi sein, erscheint mir als eine Entstellung der Wahrheit oder eine Entstellung der Kritik. In »Kindheit«, »Knabenalter«, »Jünglingsalter« sind russische Familien so genau und schön gezeichnet, daß die Wahrheit dieser Beschreibung von jedem Russen dieser Gesellschaftskreise und jedem Fremdling sogleich erkannt wird, der das Glück hat, mit kinderreichen russischen Familien befreundet zu sein.

Indem ich dieses Buch zwanzig Jahre später nochmals lese, fallen mir einige Dinge jetzt auf als Besonderheiten des russischen Lebens, welche mir damals so natürlich erschienen und unbemerkt vorübergingen. Zum Beispiel: Nikolai Irtenjew, fünfzehn Jahr alt, setzt sich in den Schlitten, um zur Beichte zu fahren, und sagt, zum ersten Mal in seinem Leben befinde er sich allein auf der Straße, ohne den Onkel oder ein Mitglied seiner Familie, da die in seinem Zimmer wohnenden Pädagogen ihn zur Schule führen und von dort wieder nach Hause und jede seiner Bewegungen beobachten. Das alles ist so gewöhnlich im Leben jedes wohlerzogenen russischen Knaben, ebenso wie in allen anderen Ländern, daß einem Fremden, selbst einem Amerikaner, der mit dem russischen Leben bekannt geworden ist, dabei nichts auffällt.

In dem Charakter dieses Buchs hat Tolstoi mit Hilfe einiger Erinnerungen und einer lebhaften Einbildungskraft sich einfach bemüht, sich selbst an die Stelle der Knaben zu stellen, mit denselben Ideen, welche, wie er glaubte, sie damals beherrscht haben müßten.

Ein Jüngling, welcher mehr als andere Tolstoi gleicht, ist nicht Irtenjew, sondern Fürst Nechludow, welcher mit einigen, dem Verfasser eigenen Ideen in mehreren Erzählungen vom Kaukasus, in dem »Morgen eines Gutsherrn« und in »Luzern« erscheint. Als der Verfasser dieses Werk schrieb, war er im Kampf mit einigen der großen Aufgaben des menschlichen Lebens und schuf »Olenin«, »Peter« und »Ljowin« mit den ihm selbst eigenen Ansichten, aber ohne die Absicht, ihnen ein Teilchen seiner Persönlichkeit zu verleihen.

Während meines Besuchs zum Beispiel war Tolstoi noch immer beschäftigt mit der Erforschung der Freimaurerei und las fleißig die mystischen Werke von Nowikow und anderen, zu dem ausschließlichen Zweck, eine psychologische Geschichte der ersten Zeit dieses Jahrhunderts zu beginnen, aber durchaus ohne die Absicht, den höchsten Nutzen dieser Meinungen für die Menschheit zu erforschen. Er las einfach heraus – oder wenn man will, er suchte heraus – den Charakter Peters und man darf sich die Teilnahme Peters an der Freimaurerei nicht als ein Erlebnis oder einen geistigen Prozeß Tolstois vorstellen.

Der Erzählung »Die Kosaken« lag, wie mir Tolstoi versicherte, eine wahre Geschichte zu Grunde. Dieselbe wurde ihm einmal in der Nacht von einem Offizier erzählt, mit dem er zusammen reiste und nicht einmal im Kaukasus, sondern im nördlichen Rußland. Das, was er geschrieben hat, war übrigens nur der erste Teil, und er hoffte immer, auch das übrige einmal schreiben zu können. Übrigens ist es vielleicht besser so. Als Bruchstück ist es vorzüglich, es ist eine Idylle und nicht eine vollständige Geschichte.

Ich erzählte Tolstoi von meiner ersten Bekanntschaft mit Turgénjew in Baden-Baden ein Jahr zuvor, der mir geraten hatte, wenn ich einmal etwas mehr thun wolle, »Die Kosaken« zu übersetzen, die er für das entzückendste und vollkommenste Produkt der russischen Litteratur hielt. Ich bat Tolstoi, mir Erlaubnis zur Übersetzung zu geben, die auch gern erteilt wurde, aber zuvor versuchte ich, einen Teil aus »Sewastopol« zu übersetzen, so daß ich »Die Kosaken« erst anfing, als ich meine Stellung wechselte. Verschiedene Pflichten nötigten mich dann, die Beendigung meiner Übersetzung zehn Jahre lang aufzuschieben.

 


 


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