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Das Lackrezept

1. Die Bibel des Meisters.

Es war im Jahre 1732. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, und in der Stadt Cremona wurden die Lichter angezündet, um die Menschen noch eine kurze Stunde vor dem Schlafengehen gesellig zusammenzuhalten. Von den Bergen wehte es kühl herüber und scheuchte die Bewohner Cremonas in die Häuser. Man suchte gerne solche Freunde auf, bei denen man sich am verglühenden Herdfeuer noch einmal die Glieder wärmen konnte.

Den würdigen Bruder Arisi schien es in seiner Kutte nicht zu frieren. Er ging so ruhig wie immer durch die Gassen und grüßte die wenigen eiligen Menschen so freundlich, als wenn er allen zum ersten Advent besonders viel Gutes wünschen wollte. Wer den Bruder Arisi den Platz San Dominico überqueren sah, wußte, wohin er wollte. Es war sein häufiger Weg. Er bog mit wenigen Schritten zur Seite hinüber und trat in das Haus Stradivaris ein.

Der alte Meister hatte die hölzernen Läden fest geschlossen, damit der kalte Wind nicht in das Zimmer dringen konnte. Der Raum war von dem Feuer des Kamins schwach erleuchtet. Stradivari hob einen schweren Kupferleuchter vom Wandbrett, stellte ihn auf den Tisch, nahm einen Span vom Kaminfeuer und zündete die beiden Kerzen an. Der Tisch stand in der warmen Zimmerecke, und auf dem Wandbrett über der Bank lagen dickleibige Bücher, von denen er eines herunterholte. Den hochlehnigen Lederstuhl rückte er sich vor den Tisch in die Nähe des Kamins. Er wollte sich niedersetzen, hielt aber inne in der Bewegung und nahm etliche große Kissen von der alten Truhe. Er packte sie auf die Bank und schob die Polster zu einem bequemen Sitz zurecht. Stradivari lächelte und strich den weißen Bart durch die Finger. Wartend auf seinen Gast, ging er im Zimmer auf und ab. Der große, hagere Körper hatte noch immer einen rüstigen Schritt, und aus dem schmalen Gesicht blickten zwei helle Augen, die fest und sinnend an allen Dingen hingen. Die Dominikaner-Glocken hatten schon geläutet, und er meinte, sein Gast müsse nun bald kommen. Er mußte sich aber doch noch eine Weile gedulden, und es durchzogen ihn die Gedanken, die er heute mit dem Freunde besprechen wollte. Es waren die letzten dreißig Jahre in heißer Arbeit und hoher Ehre dahingegangen. Er war immer einsamer geworden. Von den Freunden seiner Jugend war keiner sein Zeitgenosse geblieben. Er stand im neunten Jahrzehnt seines Lebens. Lang konnte der Weg jetzt nicht mehr sein. War das ein Grund, besondere Dinge vorzunehmen? Antonio wiegte den Kopf hin und her. Das ist kein Grund, Besonderes zu tun. Wer seines Lebens Gipfelpunkt gefühlt hat, horcht nicht verängstigt nach dem Ausklang hin. Ihn hält und stört nichts mehr. Was wir gewesen sind, soll mit uns gehen. Es kann an jedem Tag ein Mensch geboren werden, der reifer unter Gottes Gnade wird. Dann ist man Kette und nicht Schloß gewesen. Dann ist man nichtig wie das Niegewesene. Antonio blieb in Gedanken versunken stehen und sah in das flackernde Kaminfeuer. Jetzt klopfte es, und unaufgefordert trat Bruder Arisi herein. »Seid gesegnet, Meister Antonio«, begrüßte der Eintretende den sinnenden Hausherrn, »ich komme ein wenig verspätet, weil mich Euer Sohn noch einen Augenblick von Eurer Schwelle hielt!« »Die Augenblicke sind so teuer, Bruder Arisi, doch seid mit Gott empfangen und setzt Euch her!« entgegnete Stradivari und führte seinen Gast zur Bank.

»Ihr habt schon sorglich vorgebaut, Meister Antonio«, bedankte sich Bruder Arisi, »und habt mir eine warme Ecke gemacht. Das ist wahrhaftig heute not, denn draußen weht ein kalter Wind. Ihr habt es hier warm wie wenige in Cremona!«

»Wenn das Feuer im Herzen auszubrennen beginnt, Bruder Arisi, dann müssen wir den Leib von außen wärmen.«

»Ihr habt es fast nicht nötig, Meister, an Eurem Feuer könnten sich noch Generationen entzünden!«

»Generationen?« fragte Stradivari und setzte sich in seinem Stuhl zurecht, »freuen wir uns, wenn unsere Kinder brav und gut geworden sind. Das ist alles, was wir für unsere Zukunft tun können, und das ist wenig genug.«

»Ihr seid ein wohlgesetzter und angesehener Mann, Antonio, da gebt Ihr Euern Kindern schon vieles mit auf den Weg, was sie als Greise Euch noch danken werden. Eure Kinder sind überdies erwachsene Männer und so alt wie ich, und Ihr müßt schon von Kindeskindern sprechen, wenn Ihr die Zukunft Eures Hauses schauen wollt.«

Stradivari blickte in die Flammen des Kamins. »Seht Ihr die kleinen Flämmchen, Bruder Arisi? Sie hüpfen hin und her auf dem, was ihnen der Brand gelassen, und bald verlöschen sie.«

»Werft ihnen ein neues Scheit hinein, Meister Antonio, dann werden sie lustig brennen wie die alten Flammen!«

»Wenn es nur die Flamme wäre! – Eine Flamme, die ein dürres Tannenreis verzehrt, ist eine andere Flamme als die, die sich an Eichenkloben mißt oder aus ätherischen Ölen schlägt.« –

»Ihr habt zu lange und zu tief in diese Welt geschaut, Meister Antonio, das macht Euch unzufrieden mit dem Werke Gottes und läßt Euch zweifeln, was daraus werden soll. Das ist nicht recht, und würde ich Euch nicht kennen, würde ich gewiß was Falsches denken. – Zieht Euern Nachwuchs mehr zu Euch heran, zieht selbst die Gräben, die das Wasser rinnen soll! – Mit wieviel Fleiß, Geduld und Zeit hat sich die Kirche nicht um alle Seelen mühen müssen! Nur gar zu vielen wäre es eine Lust gewesen, vom Wege abzuirren. Mit Hürden und mit Hunden muß der Schäfer seine Herde hüten. Milde und Strenge muß ein rechter Vater sein, wie ein gerechter Herr!«

»Der Mensch ist anders als sein Glaube, Bruder Arisi. Ich bin zu alt geworden und schau voraus auf vier Geschlechter. In meinen Enkeln bin ich längst gestorben. Meinen Kindern bin ich eine Last, weil sie durch mich ein Menschenalter vergeblich um den Rang gerungen, den auch mein bester Wille ihnen nicht verschaffen konnte. In den Enkeln glühen nicht einmal die Flämmchen, die im Kamin noch aus der heißen Asche zucken.« Stradivari stand auf und warf frisches Holz ins Feuer. »Dazu ist noch der Alte gut, sie nehmen, was sie nährt. Das ist der Unterschied, Bruder Arisi, den Glauben hat der Mensch, und auch ohne Hund und Hürde kehrte er zu Gott zurück. Der Ungebärdigste nimmt in der Todesstunde Demut an. Gott erläßt es niemandem, den Glauben diesseits zu erfüllen. – Nicht so die Kunst. Die Kunst ist keine Religion. Die Religion umfaßt das alles, was wir Gott schuldig sind, und Gott entläßt aus dieser Schuld auf Erden keinen. Die Kunst? Gott läßt in der Kunst den Erdensohn den Schöpfer spielen. Er läßt ihn darin ahnen, was die Welt betreibt, läßt ihn an einem Tropfen fühlen, daß er Wasser wie das ganze Weltmeer ist. Das hat schon manchem den Verstand gekostet. An dieser Gabe Gottes trägt der Mensch viel schwerer als an einer Krone. Er trägt sie in sich wie ein doppeltes Gesicht. Er ist ihr Träger und als Träger selber nichts.« – Der alte Meister ließ den Kopf auf die Brust sinken und wiederholte leise: »Nichts.«

Es blieb eine Weile still im Raum, bis Bruder Arisi das Gespräch wieder aufnahm und sagte: »Mit solchen Disputationen werden wir heute nicht fertig werden, Meister Antonio. Ihr seid der Mann, das Schwerste leicht zu tragen. Wer Eure Geigen spielt, wollte wohl nimmer glauben, daß sie ein Philosoph gemacht.«

»Ihr habt schon recht, im alten Kopf sind die Gedanken eng verflochten mit den Stimmen, die sie rufen. Man horcht und lauscht, und unversehens gibt man wieder, was sie sprechen. Das geht mir oft so, lieber Freund, nehmt es nicht übel auf!«

»Ganz gewiß nicht. Wenn ich in meiner freien Vesperstunde in meiner Klause oder im Rosengarten zur Violine greife, gehe ich so oft mit Euch in Eure Traumwelt ein.«

»Spielt nur, Bruder Arisi, spielt der Sonne entgegen und dem Monde nach, und aller Traum wird Wirklichkeit! – Doch wir vergessen uns wirklich heute. Wir wollten von etwas anderem sprechen, von etwas Irdischerem, um was ich mich einst lange Zeit bemüht.

Es ist nichts Ernstes, eine Spielerei, mit der man sich in Mußestunden gern beschäftigt, wenn man den Geist auf andere Gedanken bringen will. Es ist ein Lack, mit dem ich nun seit vierzig Jahren schon die Geigen überstreiche.«

»An Euern Geigen hängt ein seltener Glanz, Antonio, er leuchtet wie die Sonne auf dem Sande. Ist das der Lack, ich dacht', es wär' das Holz?«

»Es ist der Lack, und wie ich dazu kam, will ich Euch jetzt erzählen. Als ich noch Schüler des großen Nicola war, besuchte mich ein Händler aus Arabien. Es zogen damals viele durch Italien und verkauften Spezereien, edle Steine und heilkräftige Kräuter und Essenzen aus Indien. Mit solchen Waren wußte ich nicht viel anzufangen, und wir wären wohl unbekannt auseinandergegangen, wenn ihm nicht ein grüner Stein zu Gesicht gekommen wäre, den ich durchlocht an einer Schnur am Halse trug. Er fragte mich, woher ich diesen Stein besäße. Ich konnte ihm sagen, was man manchmal Grund hat, zu verschweigen, daß ich ihn an der Straße des Propheten von einem jungen Freund geschenkt erhalten hatte. Der Araber antwortet nicht weiter, sondern wählte aus seinen Waren eine seltsame Wurzel heraus, die er mir zum Kauf aufdrang mit der Bedeutung, daß sie vor allerlei Schäden bewahre. Wir wurden einig, und er legte mir den Wurzelring um das linke Handgelenk, wie Ihr hier sehen könnt. Ich hatte viele Zweifel, wie Ihr denken könnt, doch war die Sache interessant, und sie verband mich mit Erlebnissen, die ich nie ganz vergessen konnte. Es schloß der Wurzelring sich immer dichter ums Gelenk und wurde hart wie Stein. Wer weiß, ob er geholfen hat, mein Alter rüstig zu erhalten. Einige Jahre darauf kam wieder ein Araber zu mir her. Ich zeigte ihm den Ring, um ihm zu sagen, daß ich mit allen guten Dingen schon versorgt sei. Er zog die Hand an sich, besah den Ring genau und murmelte in seinen Bart, was ich nicht recht verstand. Dann ließ er meine Hand los und sagte: »Ich will Euch nichts verkaufen, ich bin gekommen, um Euch zu fragen, ob Ihr mir eine Laute bauen wollt, doch müßt Ihr Euch verpflichten, sie vor der Sonnenwende dieses Sommers bis auf den letzten Handgriff fertigzumachen. Und dann noch eins, zum Bestreichen des Instrumentes nehmt Ihr dieses Öl.« Damit zog er ein Fläschchen aus der Tasche, in welchem eine helle Flüssigkeit war, und reichte es mir hin. Er verpflichtete mich noch einmal ausdrücklich, nur dieses Öl zu gebrauchen, und machte mir einige Vorschriften für die Anwendung, die mir ungewöhnlich und umständlich erschienen; doch versprach ich ihm, gewissenhaft nach seinen Wünschen zu verfahren. Ich war damals mit allerlei Versuchen sehr beschäftigt, und als ich schließlich auch diese Laute in der Arbeit hatte, war ich selbst gespannt, wie dieses fremde Öl wohl auf dem Holze wirken würde. Ich hielt mich ganz an meine Vorschrift, und war ich schon beim Streichen überrascht, genoß ich voll Bewunderung das Feuer und den Glanz, den dieser Lack, nachdem er eingetrocknet war, auf dem Holze ließ. Genau am Morgen des Johannistages erschien bei mir der Araber, und seine erste Frage war, ob die Laute vor Sonnenwende fertiggestellt worden sei, was ich ihm dadurch beweisen konnte, daß ich ihm das Instrument in die Hand gab. Zu meinem Erstaunen spielte er gleich einige wundervolle Melodien. Er war also nicht nur ein Händler, sondern auch ein Künstler. Ich wartete darauf, daß er nach dem Preise fragen sollte. Er nahm das Instrument jedoch an sich und zählte zwanzig Goldstücke auf den Tisch. Das war für mich eine große Summe. Ich wollte aber nach der Essenz fragen und wußte nun meine Frage nicht anzubringen. Unerwartet kam er mir dadurch zu Hilfe, daß er mich fragte, ob ich mit dieser Essenz auch andere Instrumente bestrichen hätte. Das konnte ich verneinen und meinte, ich hätte es allerdings gern getan, denn der Anstrich hätte mir ganz außerordentlich gut gefallen. Der Araber besann sich. »Gut, ich werde Euch die Essenz lassen.« Ich kannte die Gewohnheiten der Araber, deutete auf die Goldstücke, die auf dem Tische lagen, und erklärte kurz: »Gebt mir das Rezept!« Er zuckte die Achsel, nahm aber die Goldstücke wieder an sich und wickelte sich das Instrument ein. Dann wandte er sich an mich: »Ihr werdet entweder das Rezept oder die Goldstücke zurückerhalten. Die Anwendung des Öles kennt Ihr, die Mischung steht im Rezept, und für die Herstellung müßt Ihr einiges beachten.« Nun gab er mir Anweisung, die ich mir genau merkte und gleich nach seinem Fortgang aufschrieb. Beim Abschied fragte ich noch einmal: »Ihr liebt das Lautenspiel?« Der Araber nickte: »Ich liebe es auf Eurer Laute!« Wir trennten uns mit großer Höflichkeit und Achtung. Ich mußte lange warten, bis ich das Rezept erhielt, und hatte schon schlechte Gedanken, als eines Tages, es mochte wohl inzwischen fast ein Jahr vergangen sein, ein Bote mir einen Umschlag brachte, der das Rezept enthielt. Auf einem kleinen beigefügten Zettel stand: »Für das Beste aus Deiner Hand das Beste aus meiner!« Die Unterschrift war ein Zeichen, welches ich damals noch nicht verstand.«

Stradivari hatte seine Erzählung beendet, und Bruder Arisi sah fragend auf seinen greisen Freund. »Eure Erzählung, Meister Antonio«, begann er, »enthält Merkwürdigkeiten, die man aufgeklärt haben möchte. Habt Ihr Euch jemals darum getan?«

»Ja, aber anders, als Ihr vermuten würdet.«

»Den Lack habt Ihr Euch natürlich gleich hergestellt?«

»Ich habe es versucht, Bruder Arisi, aber die ersten Versuche schlugen fehl. Ich habe viel versuchen müssen und habe sehr lange Zeit gebraucht. Ich machte Probe auf Probe und verglich sie mit der Essenz des Arabers. Von dieser wertvollen Essenz war kaum noch etwas übriggeblieben, als meine Versuche immer noch nicht den richtigen Erfolg hatten, und wer weiß, was daraus geworden wäre, wenn der Araber mir nicht noch einmal geholfen hätte! Ich hatte doch seine Worte nicht genau genug gemerkt, aber das führt heute zu weit.«

»Wo habt Ihr denn das köstliche Rezept verwahrt, Meister Antonio?«

Der alte Meister schob die auf dem Tische liegende Bibel zum Bruder Arisi hinüber, schlug den schweren lederbezogenen Holzdeckel zurück und wies auf eine handschriftliche Eintragung auf der ersten Seite hin.

»Ihr habt Euch einen würdigen Ort gewählt, Meister Antonio«, bemerkte Bruder Arisi erstaunt.

»Es steckt so viel Seltenes und Schönes in diesem Rezept, daß ich diesen Ort dafür schon wählen durfte. Doch war das nicht der Grund allein. Nach meinem Tode soll das Rezept meinen Erben nicht vorenthalten sein. Damit sie es achten, wie es wert ist, geachtet zu werden, habe ich es eigenhändig in das Buch eingetragen, welches sie keiner unheiligen Handlung aussetzen können.«

»Wissen Eure Kinder davon?«

»Francesco weiß es, ob andere danach geschaut haben, weiß ich nicht. Wer es liest, dem nutzt es noch nicht viel.«

»So habt Ihr ein Geheimnis daraus gemacht?«

»Es ist hier ein Geheimnis nicht vonnöten. Ihr hörtet schon, daß das arabische Rezept, so wie man es lesen konnte, noch nicht zu brauchen war.«

»Also dennoch ein Geheimnis?«

»Nein, wer die Kunst des Geigenbaues versteht, wird auf das, was nicht gesagt wurde, von selber kommen, und wer vom Bau der Geige nichts versteht, dem soll auch das Rezept nichts nützen. Ein Künstler muß gewissenhaft und geduldig sein, und beides braucht er für das Rezept.«

»Ihr geht bedacht zu Werke, doch darf ich fragen, was ich bei dieser Sache machen soll? Wollt Ihr mir sagen, was der Künstler suchen muß?«

»Das geht nicht an, Bruder Arisi, es ist ein Wort von mir dabei. Doch sollt Ihr etwas dabei tun.«

»Versteh' ich, was Ihr gestern angedeutet habt, dann soll ich es in Euer Testament aufnehmen.«

Stradivari schüttelte den Kopf. »Was ich wohl gern vererben möchte, steht nicht in meiner Macht. Mit meinem Testament will ich nichts mehr zu schaffen haben. Der Lack ist ein Geschenk und soll auch anderen ein Geschenk sein. Wohin es kommen soll, das mag der Himmel lenken. Deshalb trug ich es ein in Gottes Heilige Schrift. Seht es Euch an!«

Bruder Arisi besah sich aufmerksam die Niederschrift und die Zeichen. Stradivari bat ihn, das Rezept vorzulesen, und fügte entschuldigend hinzu, daß seine Augen beim Lesen müde würden. Bruder Arisi zog ein dickes Brillenfutteral aus der Tasche, setzte die große, runde Brille auf und las mit einigen Stockungen, unterbrochen von den Verbesserungen Stradivaris, das Rezept und die Anmerkungen vor. Als er fertig war, wartete er schweigend ab, was geschehen sollte. Stradivari stand auf und zog aus einem alten Magisterpult einige Blatt Papier. Er legte sie vor Arisi hin und schob ihm das mächtige Tintenfaß zu. »So, Bruder Arisi«, sagte er, »hier habt Ihr einen neuen Federkiel. Nun seid so gut und schreibt mir das Rezept vor meinen Augen ab! Ich hätte es gerne selbst getan, aber ich muß Euch bemühen, damit Ihr es richtig kennt, darum seid so gut!«

Bruder Arisi richtete sich seinen Federkiel und machte sich an die Abschrift. Das Rezept war nicht so lang, doch da Stradivari Gewicht darauf legte, es genauestens abgeschrieben zu erhalten, versuchte er sich scharf nach seiner Vorlage zu richten.

»So, Meister Antonio, das Rezept ist abgeschrieben«, beendete Bruder Arisi seine Arbeit und reichte sie Stradivari hinüber, der schweigend in seinem Lehnstuhl gesessen hatte. Stradivari überflog das Geschriebene und legte das Blatt auf den Tisch. »Bruder Arisi«, begann er, »ich sagte schon, daß es sich um kein Testament, keine Erbschaft und kein Vermächtnis handle. Was Ihr dort abgeschrieben habt, soll als Geschenk in würdige Hand gelangen. Wenn meine Enkel würdig sind, dann haben sie, die mir von Blut und Stamm am nächsten, als erste das Geschenk in ihrer Hand. Sind sie nicht würdig, dann nützen die geschriebenen Worte nichts. Damit jedoch Unglück und Gewalt aus bösem Zufall diese Gabe nicht zerstören können, geb' ich das zweite Dokument in Eure Hand.«

Bruder Arisi neigte gerührt seinen Kopf. »Ihr schenkt mir ein großes Vertrauen, Meister Antonio«, sagte er, »aber wie soll ich es mit Euerm Willen halten? Soll ich es verschließen, oder soll ich es dem Kloster in Verwahrung geben?«

»Mein guter Freund, ich will Euch keine Vorschrift machen. Ihr nehmt das Blatt, und Ihr verwahrt es so, wie Ihr es wohl für recht und gut befindet. Nur eines habt Ihr zu beachten. Ihr habt es zu bewahren vor Vergessenheit!«

»Seid überzeugt, solange ich lebe, ist es verwahrt, wie mein Gedenken an Euch selbst, Meister Antonio, doch sagt mir ...«

»Das überlaßt dem Freunde, dem Ihr das Dokument vertraut, und dem Schicksal!« unterbrach ihn Stradivari. »Wir haben nicht für alles Mauern aufzurichten, um das Vergängliche der Ewigkeit zu schenken. Auch hierin leitet mich keine ängstliche Besorgnis. Ihr werdet nach mir sehen, was mein Geschlecht betreibt. Gefällt's Euch nicht, so sucht den Würdigen, und wenn Ihr keinen findet, so überlaßt das Dokument demselben Zufall, dem wir durch diese Abschrift ausgewichen sind, daß er es nimmt und damit Segen bringt. – Das ist erledigt. Verzeiht, daß ich Euch damit heute solange aufgehalten hab', doch wollt' ich das Geschäft geordnet haben, und ich danke Gott, daß ich es jetzt in Euern Händen weiß!«

»Was ehrt Ihr mich, Antonio«, erwiderte Bruder Arisi und erhob sich, »die Treue ist eine Freundespflicht, an der uns kein Verdienst gebührt. Noch weiß ich nicht, wie ich Euch dienen soll, und wie ein Nesselblatt brennt das Papier mir auf der Brust, als müßt' ich es schon heute der Vergangenheit entreißen. Doch Ihr denkt klüger und geduldiger als ich, und wenn mich eines Tages die Stunde treibt, in Eurem Sinne zu entscheiden, dann soll von Eurer zeitenlosen Ruhe dem günstigen Geschick genug gegeben werden, um sich den Würdigsten von allen auszusuchen.«

Stradivari ergriff die Hand seines Freundes und führte ihn zur Türe. »Leb wohl, mein Bruder!«

 

Seit der Unterredung zwischen Stradivari und seinem vertrauten Freunde, dem Bruder Arisi, war ein Menschenalter vergangen. Der große Meister war fast hundertjährig gestorben. Die Söhne, der eine ein Schüler des Vaters, der andere ein Händler, waren ihm in wenigen Jahren gefolgt. Die Enkel verzehrten das Erbe des Ahnen. Sie hatten gesehen, wie der hoheitsvolle Greis mit jedem Jahr dem Leben ferner rückte, bis der Leib zu nichts geworden war. Er war für sie nichts und nicht gewesen. So sahen ihn die Enkel, und anderes sahen sie nicht. Den unauslöschlichen Genius spürten sie nicht. Den ungeheuren Abstand von Mensch zu Mensch, vom Menschen, der in erhabener Größe vor der Nichtigkeit des Seins erbebt, zum Menschen, dem diese Nichtigkeit die Gier des Lebens gibt, verstanden sie nicht, empfanden sie nicht! Sie waren von seinem Fleisch und Blut und saßen in seinem Haus am Herd, ihre Herzen waren klein, und die Flämmchen ihrer Seelen gaben weder Licht noch Wärme.

Die Gemeinde des Ahnen lebte in einer anderen Welt. Sie hörte seine Stimme und vergaß sie nicht. Je längere Jahre vergingen, und je mehr die Kunst versank, um so heftiger wurde die Sehnsucht. Das ganze Lebenswerk des Meisters wurde das Symbol der himmlischen Musik. Geld und Geldeswert verschleuderten die Erben. Was des Meisters Hand geschrieben und gebraucht, es suchte Schutz in einer fremden Hand. Die Bibel umkreisten die Erben mit abergläubischer Scheu. Sie lasen sie nicht und ließen den Staub von hundert Jahren darauffallen.

 

Das Erbe war vertan. Die Erinnerung war ausgelöscht. Das alte Haus war ausgestorben. Die letzten Stradivari suchten sich ein neues Heim. Es wurde alles aus dem Haus geschleppt und alter Hausrat aus versteckten Winkeln an das Licht gezogen. Man durchsuchte das Gerümpel nach Dingen von Wert. Das war die einzige Verbindung mit der großen Vergangenheit des Geschlechtes, welches Cremona siebenhundert Jahre betreut und ihm den unvergänglichsten Ruhm verschafft hatte. Aus so großer Herkunft konnte auch das Gerümpel noch Schätze bergen. Der letzte Sproß bemühte sich, sie zu finden. In allen Ecken und Luken schaute er nach, kroch in die Tiefen der Wandschränke hinein und langte auf jeden Balken, der sich im Dunkel des Bodens verlor. In seiner Sucht und Gier stieß er auf einige alte Bücher, deren lateinische Schrift ihm unverständlich und uninteressant war. Es kam ihm der Gedanke, daß man in alten Büchern Briefe versteckt gehalten hatte. Er nahm die Folianten her und durchblätterte sie. Dabei entdeckte er, daß das eine Buch eine Bibel war. Er durchsuchte sie sorgfältiger als die anderen Bücher. Hineingelegte Briefe oder Dokumente fand er auch hier nicht, in der Dämmerung der Bodenkammer erkannte er jedoch, daß auf der inneren Deckelseite schriftliche Eintragungen standen. Er vermutete eine chronistische Notiz und nahm die dicke Bibel mit sich hinunter in das alte Wohnzimmer, in welchem kein Tisch und kein Stuhl mehr standen, und trat an das Fenster, um besser lesen zu können. Eine beklemmende Überraschung ließ das Blut in seinen Adern stocken. Er las eine Schrift, die männlich stark und klar geschrieben war und die Unterschrift trug: Antonio Stradivari, Cremona 1702. – Giacomo hielt die Bibel seines großen Ahnen in der Hand und wog den Wert ab, den sie wohl bei Liebhabern haben könnte. Er klappte die Bibel wieder zu in der eiligen Absicht, sie für sich zu verstecken, damit sich niemand anders in ihren Besitz setzen könnte. Der Vater sollte seine älteren Rechte nicht geltend machen können, und niemand sollte darum wissen, um keinen Anteil an dem Nutzen fordern zu können. Er holte die anderen alten Folianten hinzu und schleppte den ganzen Schatz in die neue Wohnung. Es fragte niemand nach den Büchern, denn es wußte niemand davon, und so gelang es ihm leicht, den Schatz zu verbergen. In der neuen Wohnung verpackte er die Bücher in einem stillen Winkel, den er durch andere Gegenstände vorsichtig verbaute. Er nahm sich vor, alle Bücher genau zu durchforschen und nach weiteren Handschriften des alten Meisters zu suchen. Lange konnte er sich nicht ungehindert ans Werk machen. Er konnte sich gedulden. Sein Schatz konnte nicht ärmer werden, wenn er älter wurde. Eines Tages hatte er Zeit, der Vater ging über Land, und die Mutter weilte bei Verwandten. Er hatte das Haus zu hüten und die Geschäfte wahrzunehmen.

Giacomo schlich zu seinem Versteck und holte als erstes die Bibel hervor. Er begann den alten Text zu lesen. In maßlosem Erstaunen brach er ab und schaute wie genarrt auf die alten Schriftzeichen. Was er vor sich sah, war das Rezept des berühmten Lackes des großen Stradivari, um dessen Kenntnis und Besitz sich schon Hunderte verarbeitet und verstritten hatten. Seine Erregung wuchs ins Unerträgliche. Die Schrift zerfloß vor seinen Blicken, und seine Augen brannten. Erst langsam beruhigten sich seine Nerven, und um sich abzulenken, durchblätterte er das Buch. Er fand wohl hie und da ein Wort oder ein Zeichen von der Hand des Ahnen, aber nichts war so geschlossen aufgeschrieben wie das Rezept auf der Deckelseite der Bibel. Er richtete die brennenden Augen wieder darauf und las es Wort für Wort. Er mußte es halblaut sprechen, was er las, weil er fürchtete, es könnte die Wirklichkeit verlieren. Vom Geigenbau und Lack verstand er nichts, aber das verstand er, daß sein Fund noch tausendmal wertvoller war, als er ursprünglich gedacht hatte. Er brachte die Bibel wieder in ihren Versteck, um sich in Ruhe zu überlegen, was am besten zu geschehen hätte.

Wo er ging und stand, dachte Giacomo an seinen Schatz. Er dachte darüber nach, wie und an wen er ihn verkaufen könnte. Tagelang war er voll wachsender Unruhe. Er konnte nicht schlafen und mochte nicht essen. Solange der Vater lebte, konnte er es nicht wagen, mit seinem Funde an die Öffentlichkeit zu treten. Was konnte geschehen bis dahin? Wasser und Feuer konnten das Buch bedrohen. Es konnte entdeckt und gestohlen werden. Immer würde er den großen Schatz verlieren. Giacomo holte das Buch von neuem aus dem Versteck hervor. Sicher wollte er gehen auf alle Fälle. Er wollte das Rezept besitzen, und sollte das Buch verlorengehen oder doch in andere Hände gelangen, dann sollte sich niemand allein des Besitzes erfreuen. Er beschloß, eine Abschrift zu machen. Mit peinlichster Sorgfalt übertrug er das Rezept auf einen Bogen von starkem weißem Papier. Er überlas es und korrigierte. Das machte er so oft, bis er das Gelesene kaum selbst noch verstehen konnte. Die Bibel brachte er wieder in ihren Versteck. Die Abschrift legte er in einen hölzernen Kasten für Briefe unter andere wichtige Schriftstücke.

Eine Zeitlang beruhigte er sich bei seiner Vorsichtsmaßnahme. Dann kam aufs neue eine Unruhe in ihn. Er sollte auf einige Zeit über Land zu Verwandten. Es war unmöglich, die Bibel mitzunehmen, es war ein großes und schweres Buch und hätte sich in kein Gepäck unbemerkt unterbringen lassen. Giacomo durchsuchte das Haus nach anderen sicheren Verstecken, aber keines wollte ihm passend erscheinen. Das Lackrezept, – das Lackrezept, das war der wertvolle Schatz, nach welchem die ganze Welt schrie! Was hatte die Bibel für einen Wert gegenüber dem Lackrezept! War er nicht ein Stradivari, konnte er nicht beschwören, daß das Rezept aus der Bibel entnommen war, daß es von Antonio Stradivari selbst niedergeschrieben worden war, daß er es mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Händen abgeschrieben hatte? Sprach das Rezept nicht für sich selbst, dieses Rezept, welches das Geheimnis enthalten mußte? Das Geheimnis! Es blieb ihm unverständlich, was für ein Geheimnis das war. Die Kundigen würden es erkennen, sagte er sich, und es mußte ein seltenes Geheimnis sein, sonst würde nicht alle Welt von dem Schwindel erfüllt sein, der damit getrieben wurde. Was er hier vor sich hatte, das war kein Schwindel, das war die einzige Wahrheit, die einzige Wirklichkeit, das war das Dokument von Stradivaris eigener Hand. Ein solches Rezept konnte seine Echtheit selbst beweisen, dazu bedurfte es der Bibel nicht. Dazu bedurfte es auch der Handschrift des alten Meisters nicht. Die so ungefügige Bibel war eine Sorge und eine Last. Ein Blatt Papier konnte man verwahren. So hing er immer mit allen Sinnen an dem verborgenen Schatz. Trennte man den Holzdeckel ab, würde man den auch nicht einstecken können, und die Sorge würde bleiben.

Es war Winterszeit. Die Flammen lohten im eisernen Ofen. Giacomo mußte sich entscheiden, er sollte am nächsten Tag abfahren und wußte noch nicht, wann er wieder heimkehren würde. Ein böser Zufall wollte es, daß er allein in der Wohnung war. Seine Sinne zogen ihn wieder zu dem verstaubten Winkel im Gebälk. Er suchte die Heilige Schrift des großen Ahnen hervor. Mit schwankenden Knien schob er sich, das Buch unterm Arme, die Bodenstiege herunter. Er getraute sich nicht, das Buch noch einmal aufzuschlagen, ging raschen Schrittes durch die Räume ins Wohnzimmer, riß die große Ofenklappe auf und warf die Bibel in die aufwirbelnden Flammen. Giacomo sah das Buch verbrennen. Er sah, wie Blatt für Blatt vernichtet wurde, und sah zuletzt noch, wie die Schrift des großen Meisters wie leuchtende weiße Zeichen auf dem schwarzverkohlten Blatte stand. Er ergriff den eisernen Haken und stieß damit in die flockige schwarze Asche, die von einem Windstoß in den Rauchfang emporgerissen wurde. Plötzlich warf Giacomo die Ofenklappe zu, stürzte ans Fenster, zerrte seine Brieftasche heraus und wühlte atemlos in den Papieren, bis er die Abschrift des Lackrezeptes in der Hand hielt und von Angst befreit Luft schöpfte.

Die Abschrift sollte ihm niemand rauben. Hatte er sie geraubt? Er war der Erbe seines Ahnen, er hatte sie nicht geraubt. Er war der letzte Stradivari, und das war Grund genug, um seinem Vater das Erbe verheimlichen zu dürfen. So dachte er. Es sollte das sein Gewissen beruhigen. Die Bibel war verbrannt. Die letzten Worte Stradivaris waren vernichtet. Giacomo hatte geglaubt, erleichtert zu sein, wenn der massige Zeuge verschwunden sein würde. In seinem Herzen klopfte es bang und hämmerte gegen sein Gewissen. Er hatte ein Gefühl, als wenn er einen Menschen verbrannt hätte. Er schalt sich lächerlich und dumm. Ein Fetzen Papier ist kein Mensch. Antonio hatte Geigen gebaut und keine Bibeln geschrieben. Bibeln gab es Millionen in der Welt, und man hielt es nicht einmal für gut, daß sie gelesen würden. Er fühlte sich freier, er hatte nichts zerstört und nichts geraubt. Er hätte sich selbst berauben müssen, denn die Bibel war sein. Sein Erbe, seinen Schatz trug er in der Tasche an der Brust!

Aus der Fahrt über Land wurde nichts. Sein Vater erhielt am andern Morgen den Bescheid, daß die Hilfe Giacomos nicht vonnöten sei. Über einen solchen Bescheid hätte sich Giacomo am Tage vorher noch von Herzen gefreut. Während der ganzen Tage hatte er seinen Unwillen darüber nicht verhüllt, daß ihm die Reise zu den Verwandten unangenehm war. Jetzt bedauerte er, daß er nicht kommen sollte. Er hätte das Haus gerne auf einige Zeit verlassen. Sein Vater, der die tiefen Gründe seiner Stimmungen nicht kannte, nahm an, daß er seine Enttäuschung nur spielte, und er tadelte sie so, wie vorher seinen Unwillen über die Reise. Das Ganze war eine Kleinigkeit, aber sie ärgerte Giacomo doch, und er wußte nicht, wie er sich rechtfertigen sollte. Das erhöhte seinen Mißmut. War er sich allein überlassen, suchte er Trost bei seinem Rezept. Er las es wieder und wieder und wußte es auswendig. Es wurde ihm immer leerer und nichtssagender. Seine eigene Schrift glotzte ihn an wie eine Lüge. Vor seinen Augen schwamm das Bild von dem schwarzverkohlten Papier und der weißgebrannten Schrift, die selbst die Glut des Feuers nicht erlöschen konnte. Der mutwilligen Zerstörung trotzend, hatten sich die Worte Stradivaris ins Unvergängliche emporgehoben. Eine Schrift und ein Blatt und eine Heilige Schrift, ein doppelt heiliges Vermächtnis, und ein leuchtender, klingender Namenszug Antonio Stradivaris waren auf ewig dahin!

Eine reuige Liebe erwachte in Giacomo. Er beugte sich scheu vor dem unerkannten und beleidigten Ahnen. Er hätte ihn anrufen und um Verzeihung bitten mögen. Er hätte mit eigenen Händen die Bibel aus dem Feuer hinausgerissen, um das zu retten, was der alte Meister mit frommem Gefühl seinen Erben vermachte. Giacomo konnte sich nicht mehr begreifen. Wie hatten seine Hände daran rühren können! Für alle, alle Zeiten hatte er ruchlos ausgetilgt, was für so viele Menschen ein Dokument von edelstem Bestande gewesen wäre. Ein Dokument! – Hatte er jetzt noch ein Dokument? Mit atemstockendem Druck preßten sich die Zweifel in seine Kehle. An Schrift und Namen Stradivaris hätte niemand ungläubig gerührt. Wenn man ihm jetzt nicht glauben würde, was dann? Im Gehirn Giacomos rasten die Flammen, die die Bibel verzehrt hatten. Sie verbrannten knisternd, fauchend und höhnend den goldenen Traum Giacomos, die Hoffnung auf den unermeßlichen Gewinn. Die Flammen lachten und tanzten, und ihr stickiger Qualm beizte Giacomo die Augen. Ihn faßte eine wilde Wut, und er schlug mit den Fäusten auf den alten Kasten, in welchem er seine Papiere verwahrte, daß der Deckel krachte und das Schloß zerbrach. Er hätte das Haus anzünden und zum Mörder werden können. Die Flammen brannten ihm im Gehirne, bis nichts mehr zu verbrennen war. Ein wüster Schmerz befiel Giacomo. Sein Gesicht wurde blaß und fahl. Kraftlos sanken die Glieder auf dem Stuhl zusammen. Er schlug mit dem Kopf auf den alten Kasten und spürte die Schmerzen nicht.

Die Uhr ging weiter. Der Vater war gestorben. Giacomo hatte in stiller Verdrossenheit die Abschrift des Lackrezeptes in den letzten Jahren ungesehen in dem zerbrochenen Kasten liegen lassen. Seine wahnsinnige Tat lastete ständig auf ihm. Er konnte nicht davon loskommen. Immer wieder dachte er darüber nach, mit welcher Erklärung und welcher Begründung er das Lackrezept als das unzweifelhafte Original ausgeben sollte. Er fürchtete in der Verwirrung seiner Gedanken den Geist des großen Antonio, der streng und gerecht mit den Seinen ins Gericht gegangen war. So sehr er sich auch mühte, es fiel Giacomo keine verständlichere Erklärung für die Echtheit des Rezeptes ein als der Narrenstreich, den er selbst verübt hatte. Er mußte seine Untat bekennen. Damit begann das Übel. Er war nicht sehr erbaut von den Umständen, unter denen er mit seiner großen Sensation die Welt überraschen sollte. Seit er seine Hand an die Bibel Stradivaris gelegt hatte, war ein Unstern über ihm aufgegangen. Er hatte kein Glück bei seinen Unternehmungen, und jetzt sollte er ein Geschäft mit dem Bekenntnis seiner eigenen Dummheit einleiten.

Giacomo Stradivari trat ans Fenster und schaute auf die Straße. Es waren alles Bekannte, die da hin und her liefen, schwatzten und handelten. Wie würden die alle über seine Erzählung lachen! Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten, und zuletzt würde er doch lachen, wenn er das viele Geld für das kostbare Lackrezept erhalten würde.

Die Stimmungen Giacomos gingen immer auf und ab. Einmal war er mißmutig, einmal zuversichtlich. Frei von Besorgnissen war er nie. Er hatte sich auch schon überlegt, daß er sich nicht in Cremona, sondern in Mailand nach geeigneten Interessenten erkundigen wollte. In Mailand unterhielt er geschäftliche Beziehungen, da konnte er unauffällig fragen, was er wissen wollte. Er wollte in der Sache weiterkommen und nahm die nächste Gelegenheit wahr, nach Mailand zu fahren. Dort suchte er einen Geigenhändler aus, der der Bruder einer seiner Geschäftsfreunde war. Mit den Verhältnissen im Geigenhandel war Giacomo ganz und gar nicht vertraut, und für seine Pläne konnten nur ein wohlhabender Mann oder eine einflußreiche Firma in Frage kommen. Er erzählte dem Händler, daß er einen größeren Abschluß in Versandkisten für Instrumente tätigen möchte, und bat um die Angabe einiger Adressen. Der Händler nannte ihm die bekanntesten Namen. Darunter den großen Geigenhändler van Bergen in Amsterdam und andere Händler in England, Frankreich und Amerika. Für diese Ausländer hatte Giacomo mehr Interesse als für die Italiener und notierte sich deren Adressen. Wie zufällig betrachtete er die Geigen im Laden und fragte, ob es wahr sei, daß dem Lack eine so große Bedeutung zukäme. Der Händler meinte, es gäbe schon Unterschiede, man habe besseren und schlechteren Lack, aber ein guter Instrumentenbauer sei auch immer sorgfältig in der Auswahl und der Anwendung seines Lackes.

»Wenn man den Lack meines Großahnen finden würde«, bemerkte Giacomo, »das wäre wohl eine große Sache?«

Der Händler zuckte die Achseln. »Es ist ja möglich, aber die Industrie hat ja auch nicht geschlafen. Es gibt heute schon ganz hervorragende Erzeugnisse. Allerdings, Stradivari-Geigen sind Stradivari-Geigen, und so wenig wie ihren Klang kann man ihr sonniges Aussehen nachahmen.«

»Dann müßte der echte Stradivari-Lack doch sofort erkennbar sein, auch wenn er nicht auf Instrumente gestrichen wäre?« fragte Giacomo neugierig.

»Wenn es wirklich der echte Lack ist, dann wohl, aber was bisher auf den Markt gekommen ist, hielt sich immer irgendwo zwischen Versuch und Betrug.«

Giacomo wollte lieber nicht weiter fragen und verabschiedete sich mit freundlichen Worten, um sofort nach Cremona zurückzukehren. So viel war gewiß, der Lack mußte für sich selber sprechen. Das war von Anfang an seine Meinung gewesen. Seine Stimmung war im Steigen begriffen und stieg sogar über das übliche Maß. Er entschloß sich, dem großen holländischen Händler die Sache zuerst anzubieten. Der Brief war sehr umfangreich und erläuterte die Herkunft des Rezeptes. Er schloß: »... Sie brauchen an der Richtigkeit der obigen Darstellung nicht zu zweifeln, denn ich würde mich gewiß keiner solchen Handlung bezichtigen, wenn ich mich nicht für verpflichtet hielt, über die Herkunft des Lackrezeptes die unverfälschte Wahrheit zu sagen. Ich wäre auch jederzeit bereit, mich für diese Darstellung der Herkunft des Lackes in aller Öffentlichkeit einzusetzen ...«

Nach der Absendung des Briefes vergingen einige Tage ungeduldigen Wartens. Dann kam der Bescheid van Bergens. Dieser schrieb: »Ich habe keinen Grund, an der Richtigkeit Ihrer Erzählung von der Zerstörung der Bibel zu zweifeln, und man könnte traurig werden bei der Vorstellung von dieser törichten Handlung. Über das Lackrezept vermag ich jedoch so nicht zu urteilen. Ich stelle Ihnen anheim, es mir zur Nachprüfung zu überlassen, und wir werden uns dann über alles Weitere verständigen.« Die Stimmung Giacomos sank beträchtlich. Das Lackrezept aus der Hand zu geben, wäre ebenso töricht gewesen wie die Verbrennung der Bibel. Damit wäre ja alles preisgegeben. Das konnte der kluge Holländer nicht verlangen. Er setzte sich hin und schrieb ihm die Gründe, weshalb er ihm das Lackrezept nicht aushändigen könne. Der Holländer schrieb ihm zurück, das wäre alles recht gut, aber es könne ihm niemand zumuten, ein Lackrezept für echt zu erklären, welches er überhaupt noch nicht gesehen habe. Giacomo möchte ihm wenigstens eine Lackprobe zugehen lassen. Giacomo verstand von der Lackbereitung gar nichts. Er versuchte den Angaben des Rezeptes zu folgen, und zeigte das Ergebnis einem Geigenhändler in Cremona, der es kurzerhand für unbrauchbar erklärte. Dieses Urteil hielt Giacomo nicht für ausschlaggebend, und er sandte trotzdem die Probe an van Bergen. Vorsichtshalber bemerkte er dabei, daß diese Lackprobe zwar die richtigen Bestandteile enthalte, jedoch von ihm als einem Unkundigen angerührt worden sei. Der Holländer war von dieser Probe sehr enttäuscht und bat, ihn nicht weiter behelligen zu wollen.

Giacomo war wütend. Er suchte sich eine andere Adresse heraus. Chamon in Paris war der geeignete Mann. Giacomo schrieb ihm noch ausführlicher, nahm die Einwände des Holländers vorweg und beteuerte, daß er als letzter Nachkomme des großen Stradivari in dieser Angelegenheit gewissermaßen das Vermächtnis seines Ahnen erfüllen wolle. Chamon schrieb ihm zurück, daß die Schwindeleien mit dem Stradivari-Lack keine Aussicht auf Erfolg mehr hätten. Er bedauere, daß der letzte Nachkomme Stradivaris sich nicht für zu gut hielte, ihm solche Märchen aufzutischen. Dieser Brief traf Giacomo sehr hart. Was wollten denn diese Menschen nur? Er hatte ihnen doch ehrlich gestanden, welche Dummheit er begangen hatte! Er war doch kein Betrüger und wollte doch auch keiner sein! Er wollte ein ehrliches Angebot machen und man mußte doch einsehen, daß er bei einem solchen Handel das Rezept nicht vorher aus der Hand geben konnte! Giacomos Stimmung sank immer tiefer. Wenn er nur jemand gehabt hätte, an den er sich wenden konnte, um das Lackrezept richtig und nach Vorschrift anzuwenden, dann würde schon beim Anblick der Probe jeder Zweifel schwinden. Er tastete seinen ganzen Bekanntenkreis ab und fand niemand, der ihm hätte helfen können und dessen Hilfe er gewünscht hätte.

Giacomo machte einen letzten Versuch. Er schrieb an den großen Geigenhändler Jimmy Penn in Philadelphia und schilderte ihm die Sache. Er gab ihm Kenntnis von den Antworten van Bergens und Chamons, um ihm zu zeigen, daß er nichts zu verheimlichen habe. Er erklärte sich bereit, mit ihm oder seinem Vertreter den Lack gemeinsam und fachmännisch herzustellen, um ihm alle Sicherheiten zu geben, die er haben wolle. Sollten dennoch Zweifel an der Echtheit des Lackrezepts aufkommen, wolle er, Giacomo, alle Kosten des Verfahrens auf sich nehmen und von dem Handel zurücktreten. Jimmy Penn war ein großer Geigenkenner und auch ein großer Kaufmann. Er schrieb: »Mein teurer Herr Stradivari! Jeder Lack, den Sie machen, ist ein unverfälschter Stradivari-Lack. Sie haben so gut das Recht, einen Lack zu bereiten, wie Ihr Herr Urgroßvater. Ich glaube Ihnen auch gerne, daß Sie Ihre Fabrikation auf Grund der alten Vorschriften Ihres Herrn Urgroßvaters fortzusetzen wünschen. Es ist mir bekannt, daß der Lack, der genau nach diesen Vorschriften hergestellt werden könnte, eine ausgezeichnete Qualität besitzen würde. Aber mein teurer Herr Stradivari, selbst wenn ich die interessante Geschichte von der verbrannten Bibel jeder meiner Geigen beipacken würde, könnte ich auch den begeistertsten Geigenspieler nicht veranlassen, mir zu glauben, daß bereits der alte Herr Antonio Stradivari mit diesem Lack seine Geigen angestrichen hätte. Wenn die Leute mir das nicht glauben, werden sie mich auch nicht danach bezahlen. Damit wäre aber bei aller gebührenden Achtung das Lackrezept, welches Sie besitzen, nicht höher auszuwerten als irgendein anderes. Bringen Sie mir Beweise, und das Geschäft ist gemacht!«

Giacomo war verzweifelt. Den Beweis konnte er doch nicht erbringen, denn die Bibel war verbrannt. Wenn alle Gelehrten, Ästheten und Chemiker den Lack des Stradivari bewunderten, dann mußten sie doch auch feststellen können, ob sein Rezept das echte Stradivari-Rezept war. Er selbst wußte doch, daß es echt war, und es war von ihm so genau abgeschrieben worden, daß keine Lücke bestehen konnte. Er hatte sich doch erboten, die Herstellung des Lackes von Fachleuten vornehmen zu lassen. Ehrlicher und vertrauensvoller konnte doch kein Geschäftsmann die Angelegenheit behandeln. Wollte ihn denn die ganze Welt zum Narren halten? War es denkbar, daß der Narrenstreich eines dummen Jungen solche Dimensionen annehmen konnte, daß er in allen denkenden Köpfen den Verstand auslöschte und die große Gabe Stradivaris dem Aberwitz und dem Gelächter preisgeben konnte? Die Verbrennung der Bibel war gewiß eine Dummheit gewesen, eine grausame Dummheit. Hätte er sie nicht verbrannt, es hätten keine Folgen eintreten können, die so schlimm, so sinnlos waren wie diese! Das Geschehene ließ sich nicht ändern, aber deswegen konnte dieser Schatz doch seinen Wert nicht verlieren, deswegen konnte doch die Kunst auf diese Schönheit nicht verzichten. Giacomo kam sich vor wie der Mann, der einen Edelstein in der Tasche trug und verhungern mußte, weil niemand den Stein wechseln wollte.

Giacomo beschloß, noch einmal mit dem Mailänder Händler über diesen Fall zu sprechen. Er mußte eine endgültige Klarheit haben, selbst auf die Gefahr hin, einen Mitwisser zu erhalten. Der Händler hörte sich die Erzählung Giacomos ruhig an und beobachtete dabei den Erzähler mit den Blicken des gereiften Menschenkenners. In seinem Geschäft mußte man schon ein solcher sein. Die Darstellung Giacomos war nicht gespielt, denn sie war ehrlich, aber er dachte wie Jimmy Penn. Giacomo mußte begreifen lernen, daß alle denken würden wie Jimmy Penn. Auch den herrlichsten Lack würde niemand mit Gold aufwiegen ohne den einen Namenszug: Antonio Stradivari!

Giacomo kehrte von Mailand heim wie ein geschlagener Mann. Unzählige Jahre hatte er sich in Not und Sorge, Gewissensqualen, Hoffnungen und Enttäuschungen mit diesem Lackrezept herumgetragen. Wie ein Wahnsinniger brüllte er sich oft in die Ohren, daß er doch das echte Rezept, das erwählte Elixier, unverfälscht und ganz allein auf dieser Welt in seinen Händen hatte. Er hätte ebensogut einen Kieselstein für einen Diamanten ausgeben können. Niemand, niemand glaubte ihm. Niemand würde ihm jemals glauben, obgleich er selbst der letzte Tropfen Blut des großen Antonio war. Das brennende Buch und die geisterhaft leuchtende weiße Schrift auf dem verkohlten Blut erschütterten sein Innerstes im Wachen und Träumen. Zum Greifen nahe sah er das Blatt vor sich und griff danach wie ein hungernder, fiebernder, gierender Mensch. Er faßte es nicht und krallte die Nägel in die Ballen der Hand. Bei allem, was er tat, lenkten ihn solche Vorstellungen ab, und saß er bei seinen geschäftlichen Papieren, wühlten die Hände immer die Dokumente heraus, die das Rezept betrafen. Unwillig gegen sich selbst, warf er alles in den Aktendeckel zurück und eilte auf die Straße, um unter anderen Menschen auf andere Gedanken zu kommen.

Aus einem unerklärlichen Gefühl trieb es ihn eines Tages in das Rathaus vor die Grabplatte, die Antonio Stradivari 1729 in der alten Dominikanerkirche sich und seinen Erben gesetzt hatte und die jetzt hier aufbewahrt wurde. Die Gebeine des großen Meisters hatte man nach dem Abbruch der Kirche achtlos in ein Massengrab geworfen. Man wußte nicht, was man tat, und doch hatten die gedankenlosen Hände den Sinn erfüllt, den der Künstler dem irdischen Sein gegeben hatte. Der letzte Erbe lehnte den Kopf an den Stein, der von der Hand des Ahnen geweiht war. Er spürte an seiner Stirn das Kalte und Fremde des Verlorenen und Vergessenen, und dennoch beugte sich seine Seele zum erstenmal unter die Größe dieses Geistes. Er war beschämt, und stillen Schrittes verließ er das Rathaus. Den Weg über den alten Dominikanerplatz nehmend, blieb er vor dem Hause Antonio Stradivaris stehen. Er faßte einen Entschluß, den er wie ein Gelübde vor sich selber sprach, und kehrte in seine Wohnung zurück. Hier setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb noch einmal in sauberer Schrift die ganze Begebenheit vom Umzuge und von der Verbrennung der Bibel bis zu diesem Augenblick nieder. Noch einmal fertigte er eine genaue Abschrift des Lackrezeptes und fügte sie der Niederschrift bei. Mit diesen Dokumenten ging er am andern Tage wieder in das Rathaus und überbrachte sie dem Bürgermeister. Der Bürgermeister war ein würdiger alter Herr, und Giacomo beichtete ihm wie ein Kind. Er nahm die Dokumente an sich und verschloß sie so sicher und gewiß, daß sie kaum von neuem verloren, aber um so leichter vergessen werden konnten. Als Giacomo das Rathaus verließ, wurde es friedlicher in seiner Brust. Die Sonne strahlte in eine lachende Welt, Giacomo wurde unter ihr aber nicht mehr alt.

 

Die Dokumente Giacomos waren in eine wunschlose Stille eingegangen. Das Vermächtnis Antonios war nicht für ihn bestimmt gewesen, er hatte es zurückgeben müssen. Die Dinge haben ihr eigenes Leben, das sich mit keiner Macht bezwingen läßt. Die Witwe Giacomos wußte von dem ganzen Handel nicht viel. Nach dem Tode ihres Mannes ordnete sie die Papiere, zu deren Übernahme kein männlicher Erbe vorhanden war. Mit dieser Arbeit hatte sie monatelang zu tun. Sie stieß dabei auf den Briefwechsel ihres Mannes in der Angelegenheit des Lackrezeptes und auf dieses selbst. Aus den Briefen erkannte sie die Erfolglosigkeit, und sie selbst glaubte der ganzen Angelegenheit keine große Bedeutung beimessen zu dürfen. Sie legte daher die Papiere beiseite, um bei einer späteren Gelegenheit irgendeinen Bekannten um Rat zu fragen. Diese Gelegenheit fand sich lange nicht. Eines Tages suchte ein Freund ihres Mannes sie auf, um eine alte geschäftliche Angelegenheit mit ihr zu regeln. Da das Gespräch auf das Erbe Giacomos Bezug nahm, legte die Witwe dem Manne die Papiere und das Lackrezept mit der Frage vor, ob in dieser Angelegenheit noch etwas zu machen sei. Der Freund Giacomos war ein kunstverständiger Mann. Er war seinerzeit Mitglied der Mailänder Jury gewesen, die Josephus Florenus die Goldene Medaille zuerkannt hatte. Mit Florenus war er in ständiger, wenn auch loser Fühlung geblieben. Er riet der Witwe, sich mit Florenus in Verbindung zu setzen, der der einzige seiner Bekanntschaft wäre, an den er sie empfehlen könne. Florenus sei zwar nach Deutschland verzogen, doch käme er gelegentlich immer wieder nach Italien und würde ihr gewiß gerne zur Verfügung stehen. Als der Freund abgereist war, nahm sich die Witwe der Angelegenheit an und schrieb an Florenus, daß sie bei den Papieren ihres Mannes Dokumente bezüglich des Stradivari-Lackes gefunden habe, die sie ihm gern zur Kenntnis bringen möchte. Seit der Eintragung in die Bibel hatte das Lackrezept Antonio Stradivaris unter einem Gesetz von Zufälligkeiten gestanden, welches fortwirken wollte. Josephus Florenus erhielt den Brief der Witwe Giacomos nicht. Als der Brief in München eintraf, war Florenus abwesend in Italien. Der Brief wurde ihm nachgesandt, aber als er in Bologna ausgetragen wurde, war Florenus nach Mailand abgereist. Die Witwe Giacomos wartete vergeblich auf Bescheid. Florenus, der längst wieder in München war, hätte von der ganzen Angelegenheit nichts gewußt, wenn der Freund Giacomos in einem seiner Briefe nicht kurz darauf hingewiesen hätte, daß er die Witwe Giacomos an ihn, Florenus, verwiesen hätte. Diese Mitteilung versetzte Josephus in eine lebhafte Unruhe. Romantische Geschichten von dem Lackrezept Stradivaris waren ihm zur Genüge zu Ohren gekommen, und es hatte ihn noch niemals gereizt, solchen Gerüchten nachzugehen. Die Mitteilung seines alten Mailänder Gönners erweckte sein Interesse, da sie ihn gerade bei seinen Versuchen traf, die er der Lackbereitung wegen vornahm. Florenus verglich den von ihm erzeugten Lack oft mit dem auf den alten Geigen Stradivaris. Er mochte den seinen noch so sehr vervollkommnen, er sah nicht, daß sich der Unterschied verringerte. Aus der Mitteilung des Mailänder Bekannten erhoffte er sich keine wirkliche Aufklärung über den Stradivari-Lack. Er fand so wenig wie andere einen verständlichen Grund dafür, daß ein solcher Lack zweihundert Jahre lang unbekannt geblieben sein sollte, um dann plötzlich wieder aufzutauchen. Seine Erwartungen richteten sich nur darauf, daß vielleicht irgendwelche Anweisungen überliefert sein konnten, die sich auf die feine Art der Anwendung bezogen. Er wußte, daß es verschiedene Briefe und Aufzeichnungen von der Hand Stradivaris gab, und er hätte nichts sehnlicher gewünscht, als in den Besitz solcher Papiere zu gelangen. Es war wohl möglich, daß die Witwe Giacomos über solche Aufzeichnungen verfügte. Florenus beschloß, sobald er in München abkömmlich wäre, die persönliche Verbindung mit ihr aufzunehmen.

Da die Witwe Giacomos auf ihren Brief keine Antwort erhalten hatte, nahm sie an, daß Florenus sich wohl aus dem gleichen Grunde zurückgehalten habe wie die andern Geigenhändler ihrem Manne gegenüber. In dessen Papieren war wiederholt der Name des Geigenhändlers Bossini in Mailand aufgetaucht. Sie erkundigte sich nach ihm und erfuhr, daß er ein guter Kenner alter Geigen sein sollte. Diese Auskunft genügte ihr, um sich an ihn zu wenden.

Die Witwe Giacomos hatte sich zum Besuche bei Bossini eingefunden und ihm unbefangen von allen Umständen Kenntnis gegeben. Am Ende ihrer Ausführungen überreichte sie Bossini die alte Abschrift Giacomos, die er mit glotzenden Blicken las. Er übersah sofort, daß er hier ein Rezept von Bedeutung in der Hand hielt. Der Frau erklärte er, daß er im Augenblick noch nicht sagen könnte, was daran wäre, er müßte es einige Tage behalten, um es zu untersuchen, und er würde ihr dann seinen Bescheid erteilen. Sie verabredeten eine weitere Zusammenkunft nach zwei Tagen, und er empfahl ihr dringend, in der Zwischenzeit nicht darüber zu reden, da sonst eine geschäftliche Ausnutzung völlig in Frage gestellt werden könnte. Die Witwe Giacomos verstand diesen Grund und versprach zu schweigen. Sie mußte allerdings zugeben, daß sie bereits an den Geigenhändler Florenus in München geschrieben habe. Diese Mitteilung empfand Bossini etwas unangenehm, und er fragte besorgt, was Florenus geantwortet habe. Es war ihm eine Erleichterung, zu hören, daß eine Antwort überhaupt nicht eingegangen sei. Auch Bossini nahm stillschweigend an, daß Florenus sich auf einen solchen Handel nicht habe einlassen wollen. Der Frau gegenüber versicherte er, Florenus sei zwar ein ausgezeichneter Geigenbauer, in der Spezialität der Lackbereitung besäße er jedoch nur unvollkommene Kenntnisse. Es sei daher auch völlig zwecklos, nach dieser Richtung irgendwelche Verbindungen wieder aufzunehmen. Das wußte er mit Anstand und Würde vorzutragen. Frau Stradivari schied von Bossini voll dankbarer Ergebenheit.

Bossini schaute der Frau nach und rollte die Augen im Kopfe. »O, diese Weiber«, schalt er, »sie sind zu dumm, zu dumm! Sie wollen immer in den Apfel beißen, aber der Mann soll ihn pflücken! Was soll man mit ihnen machen? Man muß sie in ihrer Dummheit lassen, dann sind sie am ungefährlichsten.« Er nahm das Rezept wieder in die Hand. Es mußte noch einiges aus der Drogerie besorgt werden, bevor mit der Herstellung begonnen werden konnte. Bossini war wirklich der richtige Mann. Über die Grundsätze der Lackbereitung wußte er besser Bescheid als manch einer. Mit diesem Rezept wurde er so glücklich fertig, daß der Lack, den er erhielt, von ganz ungewöhnlicher Qualität war. Es konnte kein Zweifel an seiner Echtheit bestehen. Es fehlte zwar noch einiges, das sah auch Bossini, aber der erste Versuch war ja nicht der letzte, und er traute sich zu, auf das Fehlende auch noch zu kommen. Bossini besaß die vielseitigsten Kenntnisse des Geigenbaues, und es war ihm so leicht nichts vorzumachen. Um so leichter fiel es ihm, andere zu täuschen. Hier war ihm ein goldenes Ei in den Schoß gefallen. Er hatte nichts dazu getan und hatte es niemandem entlockt. Es lag da und lachte ihn an wie der Sonnenschein auf den Fensterscheiben. Er starrte auf die Platte mit dem Versuchsanstrich. Diable, das war wirklich ein lebendiger Sonnenschein, das war der Stradivari-Lack! Das war das kostbare Gut, welches die Welt verloren glaubte! Es gab keinen Zweifel, es bedurfte keiner Beweise. Jeder Blick war ein Beweis. Bossini brauchte eine geraume Zeit, um sich mit der Tatsache vertraut zu machen, daß er in den Besitz dieses wertvollen Geheimnisses gelangt war. Er war allein der glückliche Besitzer. Die Witwe Giacomos hatte er nicht auf der Rechnung. Er überlegte sich, welche glänzenden Aussichten die Zukunft für ihn haben sollte. Bossini sah, wie sich goldene Berge türmten. Die Witwe Giacomos hatte keine andere Aufgabe, als zu schweigen. Dafür sollte sie von den goldenen Bergen ein paar Sandkörner haben. In der Abfassung einseitiger Verträge war Bossini ein Meister. Er hatte Großes vor, aber alles auf einmal ging nicht. Die Sache mußte mit Bedacht gemacht werden. Die Witwe Giacomos durfte davon nur so viel wissen, als sie für ihre Sandkörner brauchte. Bossini war gedankenreich. An Hemmungen und Komplexen litt er nicht, seine Gedanken hatten also freien Lauf. Im Augenblick war seine Erregung noch zu groß. Lange genug hatte der alte Fuchs die Trauben für sauer erklärt, die ihm jetzt so süß im Munde schmolzen. Er hatte den Stradivari-Lack! Lachen, singen, springen, schreien lag nicht im Temperamente Bossinis. Er bedauerte jetzt, diese Gaben nicht zu besitzen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als wie in allen entscheidenden Augenblicken seine kugeligen Augen zu rollen, und da ihm das allein keine Genugtuung verschaffte, ging er zickzack im Zimmer hin und her und bohrte sich den Zeigefinger in die Stirn, als wenn er das Glück dort aufspießen wollte.

Nach zwei Tagen erschien die Witwe Giacomos wieder, um sich nach dem Schicksal ihres Rezeptes zu erkundigen. Bossini hatte sich inzwischen eine genaue Abschrift gemacht. Er hatte sich wohl überlegt, ob er die Originalabschrift Giacomos behalten sollte, aber er sah voraus, daß in diesem Falle seine freundliche Besucherin von ihm einen höheren Betrag fordern würde. Er zog es deshalb vor, das Rezept zurückzugeben.

»Verehrte Frau Stradivari«, eröffnete er ihr, »ich habe das Rezept geprüft und gebe es Ihnen hiermit zurück.«

»Wieso?« fragte die Witwe Giacomos erstaunt.

Bossini rollte mit den Augen und senkte den Kopf, als wenn sich sein Gast auf seiner Glatze spiegeln sollte. »Verehrteste«, sagte er gedämpft, mit tiefem Schmerze ringend, »ich gebe Ihnen das Rezept zurück, weil ich es nicht auf mich nehmen möchte, dieses Dokument bei mir zu bewahren.«

»Aha, also ist es doch echt!« äußerte die Witwe Giacomos befriedigt.

Bossini hob das Gesicht und zeigte einen Schmerz, der andere weinen machen konnte. »Echt?«, wiederholte er tonlos fragend, »wer weiß, Verehrteste, ob es echt ist? Antonio Stradivari ist tot. Giacomo Stradivari ist tot. Alle Papiere sind tot. Alles ist tot. Echt ist nur, was lebt. Leben tun Sie, und leben tue ich.«

Aus diesen dunkeln Worten wußte sich die Witwe Giacomos nicht viel herauszulesen. Sie sah voll bänglicher Sorge in die runden Augen Bossinis. »So«, meinte sie schließlich bedauernd, »dann haben Sie keine Verwendung dafür?«

Bossini richtete sich auf und hob den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe. »Verwendung«, flüsterte er unter bedeutungsvollem Rollen der Augen, »Verwendung, Verehrteste, das ist das richtige Wort. Es kommt ganz darauf an, dieses Rezept richtig zu verwenden. Eine Laterne kann einen Kuhstall und auch einen Spiegelsaal erleuchten!«

Die Witwe Giacomos mußte lächeln. Bossini machte eine theatralische Bewegung, schob sich den Zeigefinger in den Westenausschnitt und fuhr mit dumpfer Stimme fort: »Lachen Sie nicht, das Erhabenste ist schon in einem Kuhstall geboren worden. Dieses Lackrezept wird seine Strahlen in eine finstere Welt werfen, wenn Sie«, Bossini erhob drohend seine Stimme, seine Glatze rötete sich, und seine Augen wollten aus dem Kopfe fallen, »wenn Sie das Geheimnis, welches Ihnen in den Busen gesenkt wurde, zu hüten wissen und schweigen können. Tun Sie das nicht, dann ist alles verloren. Dann ist dieses Lackrezept nicht mehr wert als ein Rezept zum Makkaronikochen!«

Ein zweites Mal zu lächeln, wagte die Witwe Giacomos nicht. Sie schlug die Augen nieder, da sie nichts Besseres wußte. So entging ihr die plötzliche Handlung, mit der Bossini sich vor sie hinstellte, ihre linke Hand ergriff und seine rechte Hand erhob. Sie öffnete die Augen wieder, als sie ihre Hand in der seinen fühlte und Bossini feierlich verkündete: »Schwören Sie, daß Sie dieses Lackrezept niemandem geben werden, daß Sie es verschwiegen verwahren werden wie ein Kind im Leibe, und daß Sie sich in allen Stücken, die dieses Geschäft betreffen, ganz allein mir anvertrauen werden!«

Die arme Frau war auf diese feierliche Zeremonie nicht vorbereitet. Unwillkürlich hatte sie sich von ihrem Platze erhoben. Bossini blickte fest in ihre unruhigen Augen und wiederholte pathetisch: »Schwören Sie bei allen Heiligen des Himmels!« Die Witwe Giacomos erhob die rechte Hand. In diesem Augenblick ließ Bossini ihre linke Hand los, verneigte sich höflich und sagte: »Nehmen Sie bitte wieder Platz!«

In der Witwe Giacomos rührte sich das Gemüt, und ihre Augen wurden feucht. Was mußte dieser seltsame Mann mit den kugeligen Augen für ein edles Herz besitzen, daß er ihr das Rezept zurückgab, um von ihr nichts Weiteres zu verlangen als Schweigen und Vertrauen! Sie dachte an ihren armen Mann, der jahrelang vergeblich einen verständigen Menschen gesucht hatte. Er war von allen kalt abgewiesen worden, und sie fühlte sich hier so warm empfangen. Ihre feuchten Blicke hingen voll zärtlicher Dankbarkeit an Bossini, dem sie in diesem Augenblick nicht nur ihre Seele anvertraute. Der Edelmut des Herrn Bossini kannte wirklich keine Grenzen. Aus der Mappe auf dem Schreibtisch zog er ein Blatt Papier hervor, das er wie einen Ablaßzettel der guten Frau vor die Augen hielt. »Das ist der Vertrag«, erklärte er, »der Sie glücklich und unsterblich machen soll.« Giacomos Witwe führte das Taschentuch vor die Augen und bat ihn, daß er es ihr vorlesen möge. Bossini setzte sich seine große Brille auf und las. Das Dokument begann mit einer Fülle gegenseitiger Ehrenerklärungen. Dem Andenken Antonio Stradivaris waren besondere Worte gewidmet, und des Hinscheidens Giacomos war mit stiller Trauer gedacht. Schließlich war darin gesagt, daß der Edle von Bossini der gebeugten Witwe Giacomos für jede verkaufte Geige, die mit dem fraglichen Lack gestrichen worden sei, einen Betrag von hundert Lire zu zahlen habe, wohingegen die hochverehrte Kontrahentin lediglich zu tiefstem Schweigen verpflichtet war. Die Witwe Giacomos schätzte sich glücklich, ein solches Dokument unterzeichnen zu dürfen, und gerührt nahm sie von dem Manne Abschied, der das Vermächtnis des großen Antonio nun der Welt von neuem schenken sollte.

 

Josephus Florenus hatte sich in München freigemacht und war nach Cremona gereist, um die Witwe Giacomos zu sprechen. Hier mußte er erfahren, daß sie bei Verwandten in Mailand weilte. Er fuhr sofort hinüber, um sie dort zu erreichen. Leider suchte er sie bei ihren Verwandten vergeblich, diese konnten ihm nur sagen, daß sie wieder abgereist sei. Man wußte auch nichts davon, daß sie ihm geschrieben haben sollte. Sie hatte sich jedenfalls darüber nicht geäußert. Nähere Nachfragen wollte Florenus nicht halten. Er war sehr ärgerlich darüber, daß er sie verpaßt hatte, und fuhr mit seiner Frau nach Venedig, um sich dort und auf dem Lido zu zerstreuen und zu erholen. Es waren herrliche Tage, die den Ärger schnell überwinden halfen. Schöner als alles war ihm der Stolz, mit dem er seiner jungen Frau die Wunder zwischen Himmel und Erde Italiens zeigen konnte. Die beiden hielten sich von anderem fern und kamen so nicht dazu, neue Bekanntschaften zu machen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Bologna kehrten sie nach München zurück.

In München fand Florenus einen Brief seines alten Mailänder Gönners vor, der ihn unter anderem fragte, was er mit der Witwe Giacomos besprochen habe. Florenus erwiderte, daß er ihr vergeblich nachgereist sei und schließlich seine Zeit am Lido verbracht habe. Nach einigen Wochen erhielt er einen Brief, der seinen Ärger von neuem wecken mußte, denn der Mailänder sprach seine Verwunderung darüber aus, daß er die Witwe Giacomos am Lido nicht gesprochen habe, da sie doch zur selben Zeit dort gewesen sei. Er empfahl ihm aufs neue, die Dame in Mailand aufzusuchen, wo sie jetzt ihren ständigen Wohnsitz habe. Florenus war es im Augenblick nicht möglich, der Anregung zu folgen, und da sie ihm nicht dringlich schien, verlegte er seinen Besuch auf den Herbst.

 

Bossini hatte das Rezept Stradivaris mit kundigen Augen gelesen. Bei jedem neuen Versuch fand er neue Feinheiten heraus. Die letzten Zweifel an der Echtheit hatte er längst verloren. Diese Gewißheit konnte den klugen und scharfsichtigen Mann nicht darüber täuschen, daß er in der Herstellung und Anwendung des Lackes noch nicht alle Schwierigkeiten überwunden habe. Das Lackrezept enthielt auch nicht die Farbenbeimischung. Ton und Zusammensetzung der Farbe waren bei ihm noch mangelhaft, ebenso die Grundierungen. Er ließ nichts unversucht, und er besaß Geduld und Ausdauer genug, um alle ihm bekannten Möglichkeiten auszuschöpfen. Er wechselte die Holzarten, nahm altes und neues Holz, behandelte es warm und kalt und probierte auch andere ungewöhnliche Vorschriften. Sein Eifer wurde angespornt von der Furcht, daß vor ihm ein anderer die letzte Lösung finden könnte, denn an die ewige Wirkung seiner Beschwörungsformel gegenüber der Witwe Giacomos glaubte er nicht. Er war vorsichtig genug, der Frau von Zeit zu Zeit kleine Beträge zu geben, um sie in der Zuversicht zu erhalten, daß er ein großes Geschäft zu ihren Gunsten vorbereitete. Die Besorgnisse Bossinis waren überflüssig, aber den Grund für die Schweigsamkeit der Witwe Giacomos hätte er doch niemals verstanden. Bei Bossini machte sich ein kleiner geschäftlicher Nutzen bemerkbar. Der von ihm hergestellte Lack übertraf alle anderen Arten so weit an Glanz und Klarheit, daß ein Teil seiner Kundschaft seinen geheimnisvollen Andeutungen gerne Glauben schenkte. Bossini half auch manchem alten Instrumente mit dem Lacke nach. Vorsichtig leitete er auch eine neue Propaganda ein, die der Behauptung von der Einwirkung des Lackes auf den Ton eine verständliche Begründung geben sollte. Es gab genug, die ihm das gerne glaubten und die sich einbildeten, daß sich der Ton ihrer Geigen wirklich wesentlich gebessert habe, seit Bossini sie für gutes Geld mit seinem neuen Lack bestrichen hatte.

Bossini wollte den letzten Trumpf nicht eher ausspielen, bis er ihn fest in der Hand hatte. Als er eines Tages die Nachricht von dem plötzlichen Tode der Frau Stradivari hörte, stach er mit seinem dürren Zeigefinger sieben Kreuze segnend und beschwörend in die Luft. Er unterließ es auch nicht, als alter Freund im Hause der Toten vorzusprechen.

Es war Herbst geworden, und Florenus war in Mailand eingetroffen. Bevor er die Witwe Giacomos aufsuchte, begab er sich zu dem alten Geigenhändler, der über das Wiedersehen herzlich erfreut war. Nach wenigen Worten der Unterhaltung erfuhr Josephus zu seiner größten Bestürzung, daß die Witwe Giacomo Stradivaris inzwischen verstorben sei. Er verhehlte dem Händler nicht, daß er im Begriff gestanden habe, sie aufzusuchen, da er von einem Freunde darum gebeten worden sei. Der Geigenhändler erriet den Grund seiner Reise und bemerkte: »Was diese Frau Ihnen mitzuteilen gehabt hätte, das hätten Sie auch von mir hören können, denn vor Jahren ist dieser Giacomo persönlich bei mir gewesen und hat mir alles berichtet.« Der Händler erzählte, was er aus der Erinnerung wußte. Florenus hörte ihm erstaunt und gespannt zu. Es mischte sich Altes und Neues in die Erzählung, und Florenus konnte sich nicht enthalten zu fragen, warum er denn niemals versucht habe, der Sache nachzugehen. Der Händler schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ich sagte Ihnen schon, was Jimmy Penn dem Giacomo geschrieben hatte. Mein Standpunkt als Händler war der gleiche. Mein Geschäft hätte mir nicht gestattet, eine mühselige und voraussichtlich erfolglose Arbeit, die viel Zeit erfordert hätte, auf mich zu nehmen. Gewiß verstehe ich vom Lack vielleicht nicht weniger als andere, aber doch immer noch nicht genug, um mich an solche Probleme zu machen. Ich bin Geigenhändler und baue keine Geigen mehr. Mögen die Geigenbauer sich ihre Sorgen um den Lack selber machen. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, wie ich hier einen patentiert echten Original-Stradivari-Lack verkaufen sollte, ohne mich vor meinen Kunden und vor der ganzen Welt lächerlich zu machen.«

»Sie haben wohl recht«, stimmte Florenus ihm nachdenklich bei, »an Ihrer Stelle kann man nicht anders handeln. Als Geigenbauer hätte ich schon ein anderes Interesse. Wenn ich das Lackrezept in die Hände bekommen könnte, würde ich mir wohl schnell ein Urteil machen können.«

»Gehen Sie doch einmal zu dem Neffen und Erben der Frau hin!« versetzte der Geigenhändler. »Der wohnt auch hier in Mailand, und ich könnte Ihnen die Adresse geben, vielleicht hätte der einige Aufklärungen für Sie.« Der Händler machte eine Pause und richtete den Blick suchend ins Leere. Florenus verstand, daß er etwas erwog, und schwieg. »Nun gut«, nahm der Händler das Wort wieder auf. »Ich kenne Sie, Florenus, und weiß, was ich Ihnen anvertrauen kann. Vielleicht ist es auch nicht richtig. Ich vermute nämlich, daß dieser Erbe der alten Witwe mit Bossini in Verbindung steht, und mit Bossini will ich nichts zu tun haben.«

»Ich kenne diesen Bossini«, erwiderte Florenus ruhig. »Er war in Bologna einmal bei mir. Es ist ein eigentümlicher Geselle, der seine besten Eigenschaften nur schlecht zu gebrauchen versteht.«

»Dafür versteht er seine schlechten Eigenschaften aber aufs beste zu gebrauchen«, lachte der alte Händler. »Ich will Ihnen etwas sagen«, fügte er nach einer Weile ernster hinzu, »der Bossini verkauft seit einiger Zeit Instrumente, die wirklich mit einem guten Lack überzogen sind. Es will mir allerdings scheinen, als wenn der Überzug nicht gut haftet.«

Florenus hatte aufgemerkt und gestand: »Die Sache interessiert mich doch, ich will auf alle Fälle versuchen, eine Lackprobe zu Gesicht zu bekommen. Der Grund meines Kommens hätte mich ja sowieso zu dem Neffen geführt.«

»Versuchen Sie«, riet der Händler ihm und schüttelte ihm zum Abschied die Hand, »wenn es schon einmal ein Stradivari-Lack ist, würde ich ihn am liebsten auf Ihren Geigen sehen!«

Die Mitteilung des alten Geigenhändlers und der unerwartete Tod der Witwe Giacomos hatten in Florenus Neugier und Enttäuschung gemischt. War hier wirklich die Spur einer großen Fährte gekreuzt worden? Merkwürdige Zufälligkeiten hatten verhindert, daß er die Witwe des letzten Stradivari noch persönlich gesprochen hatte. Es hätte sich vielleicht alles schnell geklärt. Nun zogen sich schon romantische Nebel um eine wahrscheinlich sehr einfache Tatsache. Die Geschichte von der verbrannten Bibel paßte dazu. Die Zeitungsberichte darüber kannte er. Immerhin hatte Giacomo diese Geschichte dem alten Geigenhändler selber erzählt und damit aus der Romantik eine Wirklichkeit gemacht, an der weder dieser noch ein so kritischer Forscher und Kenner wie der Holländer van Bergen zweifelten. Florenus überlegte sich die Urteile des Holländers, Chamons und Penns. Sie hatten alle recht, ebenso recht wie der alte Geigenhändler, von dem er soeben kam. Aber sie hatten alle nur recht als Händler und Geschäftsleute. Wenn der berühmte Lack Stradivaris wirklich wieder entdeckt worden wäre, wenn das Originalrezept sich auf seltsamen Umwegen in unsere Zeit verirrt hätte, wie sollte damit ein Geschäft gemacht werden! Es hätte keinen Sinn, jeden darmbesaiteten Holzkasten mit Stradivari-Lack anzupinseln. Eine solche Profanierung würde sich nie bezahlt machen können, und die unbegrenzte Geschmacklosigkeit würde bald auch den Blödesten abgestoßen haben. Die Anwendung eines solchen Lackes zum Reservat Bevorzugter zu machen, wäre ein ästhetisches Problem, aber niemals eine geschäftliche Angelegenheit. Es wurde Josephus klar, daß die Händler, auch wenn ihre Einwände nichtig gewesen wären, mit dem Stradivari-Lack über die erste Sensation nicht weit hinausgekommen wären. Josephus hatte andere Zweifel an der Sache. Die Manipulationen zur Herstellung eines guten Lackes waren nicht fabrikatorisch ausführbar. Das galt noch mehr von der Anwendung des Lackes. Ein so spezifischer Lack wie der Stradivaris, der so seltene Eigenschaften in sich verband, den der Meister selbst mit so großer Liebe bereitet hatte, dem er selbst Jahre des Probierens und Schaffens widmete, konnte am allerwenigsten eine Ausnahme machen. Das hohe wissenschaftliche und künstlerische Interesse an dem echten Lack würde alle Sensation überdauern. Es ging um Fleiß und Liebe und nicht um Gier nach Gold.

Die klaren und überlegten Gedanken Florenus' hielten die entfachte Wißbegierde nur schwach im Zügel. Er wollte die Spur aufnehmen und ihr nachgehen, sollte das Gelände auch noch so schwierig sein. Die Witwe Giacomos war tot. Sie hatte sowenig wie Giacomo selbst den Lack gegen Gold getauscht. Sie hatte einen Neffen, der vielleicht etwas davon wußte, und nach der Meinung des alten Händlers wußte der würdige Herr von Bossini bestimmt etwas davon. Josephus hielt es für richtig, zuerst zu versuchen, bei dem Neffen Erkundigungen einzuziehen, und da dieser Neffe in der Nähe ein Anzeigenbüro besaß, gedachte er noch am gleichen Nachmittage seine Bekanntschaft zu machen.

Als der Neffe von Florenus den Grund seines Kommens erfahren hatte, besprach er sich mit ihm in großer Offenheit und Freundlichkeit. Er bedauerte außerordentlich, daß infolge des verlorengegangenen Briefes keine unmittelbare Aussprache zwischen Florenus und seiner Tante zustande gekommen wäre. Die Verbindung, die seine Tante mit Bossini eingegangen war, schien ihm sehr unglücklich gewählt worden zu sein. Er hatte bei dem Nachlaß den Vertrag mit Bossini gefunden. Das Rezept selbst war jedoch verschwunden. Nach den Aufzeichnungen der Verstorbenen hatte Bossini nur lächerliche Beträge an sie abgeführt und sie stets mit Versprechungen hingehalten. Nur so sei es wohl zu erklären, daß die alte Dame sich damit abgefunden und niemanden um Rat gefragt habe. Es sei jedoch schon aus dem Wortlaut des Vertrages ganz offensichtlich, daß Bossini die unkundige Frau hintergehen wollte. Er habe sich nach dem Rezept schon müde gesucht und sei auch bei Bossini vorstellig geworden, sei jedoch barsch abgewiesen worden. Bei den Akten befände sich nur eine dünne Holzplatte, die wohl offenbar mit dem fraglichen Lack angestrichen sei. Florenus fragte sofort, ob diese Holzplatte noch vorhanden wäre, und da der Neffe das bejahte, bat er, diese Platte doch gleich hervorzusuchen. »Da brauche ich nicht lange zu suchen«, erwiderte der Neffe, trat an einen Schrank, zog einige Akten hervor, nahm die Holzplatte heraus und zeigte sie Florenus. Beim Anblick der Platte konnte Florenus seine Erregung kaum zurückdrängen. Die Probe, die er in den Händen hielt, stammte gewiß von einem hervorragenden Lack. Er hielt den Daumen längere Zeit auf den Lack, um ihn unter dem Druck zu erwärmen. Dann betrachtete er aufmerksam die in dem weichen Lack entstandenen Wellungen, die sich bei der Abkühlung wieder verzogen. Er wiederholte den Versuch noch einmal und schob den Daumen fest auf der Platte weiter. Dabei löste sich der Lack von der Unterlage. Der alte Geigenhändler hat recht, dachte Florenus. Er hielt die Platte schräg gegen das Licht und war immer wieder bezaubert von ihrer Schönheit. Mochte es der Lack Stradivaris sein oder nicht, auf alle Fälle war hier eine Komposition gefunden, die in ihrem Aussehen dem echten Stradivari-Lack sehr nahegekommen war. Florenus glaubte vermuten zu können, was an dieser Lackprobe noch fehlte. Das ganze Erlebnis hatte ihn so erschüttert, daß er Zeit und Wille brauchte, um sich zu sammeln.

Dem jungen Sassi war die Stimmungsaufwallung seines Gastes nicht entgangen. Er schloß von dessen Verwunderung auf den Wert des Lackes und glaubte auch sein Verständnis bezeugen zu müssen. »Ich habe es immer gewußt, Herr Florenus«, sagte er, »daß dieser Bossini meine Tante betrogen hat. Wer weiß, wo die Originalabschrift meines Onkels geblieben ist? Nun stehe ich da mit leeren Händen, und dieser Bossini verdient Tausende. Ich werde gegen diesen Mann prozessieren und werde ihn zwingen, mir das Rezept herauszugeben. Solch ein Lack findet sich in der ganzen Welt nicht wieder. Sie werden es mir bezeugen, Herr Florenus, daß dieses wirklich der echte Lack ist!«

Florenus hatte seine Worte nur halb gehört und blickte bei dem letzten Satze erstaunt auf. Er wollte eine abwehrende Bemerkung machen, besann sich aber und entgegnete: »Zu einem Prozeß wird immer noch Zeit sein. Diese Platte besagt noch nichts. Sie besitzen das Rezept nicht und können auch keine Nachweise liefern.«

»Aber ich habe doch den Vertrag!« wandte Sassi ein.

»Was soll Ihnen der Vertrag nützen? Aus den Aufzeichnungen Ihrer Tante können Sie nicht nachweisen, daß Bossini seine Verpflichtungen nicht erfüllt habe.«

Sassi mochte seine schnell erblühte Hoffnung nicht gleich fallen lassen. »Als Erbe meiner Tante habe ich auch diesen Vertrag geerbt, und es steht nicht darin, daß er mit dem Tode meiner Tante erlöschen sollte. Dieser Bossini soll mir gegenüber seinen Verpflichtungen schon nachkommen, dafür werde ich sorgen!«

Der blinde Eifer amüsierte Florenus. »Gut, aber was wollen Sie machen, wenn Bossini Ihnen erklärt, daß er seine Geigen mit diesem Lack gar nicht anstreiche? Wenn er das nicht tut, hat er auch nichts zu zahlen – – ja, ja, das, was Sie denken, mein Lieber, das hat Bossini schon zwölf Monate früher gedacht.«

Sassi blickte verdutzt auf seinen Gast und sah seine schönen Träume welken. Resigniert bemerkte er beim Abschied: »Es würde mich freuen, von Ihnen wieder zu hören, Herr Florenus.«

Auf der Straße befand sich Florenus im Zuge der großen Menschenmenge, die an den Läden vorüberflutete. Er wollte sich in sein Hotel begeben, um mit den drängenden Gedanken fertig zu werden. Es war wirklich zum Verrücktwerden, daß jetzt, nachdem über den Stradivari-Lack so viel Phantastisches sowie Verbrecherisches in die Welt gesetzt worden war, nachdem eine ganze mehr als hundertjährige Literatur lauter Unsinn erzeugt hatte, dieses Lackrezept wirklich vorhanden sein sollte! Diese Familie Stradivari, die alles verschleudert hatte, was ihr so heilig hätte sein sollen wie der Größte ihres Namens, sollte gerade jetzt durch ihren letzten Enkel mit einem so bedeutenden Fund hervorgetreten sein? Was sollte das für eine unmögliche Wirklichkeit geben? Er hatte angenommen, daß die Witwe Giacomos in alten Papieren vielleicht unverständliche Andeutungen gefunden hätte, mit denen sie allein nichts anzufangen wußte. Das wäre möglich gewesen. Die Brandgeschichte Giacomos hatte er bisher für ein Märchen gehalten. Die Probe, die er heute mit eigenen Augen gesehen hatte, beschämte ihn fast in seiner Erinnerung. Hatte man Giacomo Stradivari unrecht getan, als man ihn einer plumpen Schwindelei für fähig hielt? Hatte dieser letzte Stradivari nicht wirklich das letzte Wort seines großen Ahnen der Welt zu verkünden gesucht? Florenus überdachte, was er von dem Fall wußte, und Giacomo tat ihm leid. Es mußte ein unerklärliches Verhängnis über der ganzen Sache liegen. Florenus wühlte sich durch die Menschenmenge hindurch zu seinem Hotel, wo er sich in sein Zimmer begab.

Er setzte sich an den Schreibtisch und machte sich einige Notizen über die Unterredungen, die er mit Sassi und seinem alten Geigenhändler gehabt hatte. Es bereitete ihm seltsame Vorstellungen, daß seine Forschungen aus der Abgeschiedenheit des Vergangenen nun im Widerstreit lebendiger Menschen fortgesetzt werden sollten. Wie ein Kriminalbeamter sollte er hinter Menschen, Papieren und Entdeckungen her sein, um sich am Ende zu vergewissern, ob hinter einem Wust von Trug und Schein ein Stückchen Wahrheit übriggeblieben war. Und doch blieb ihm nichts anderes übrig, es ging um sein Wissen von Stradivari. Er schaute in den Sinn seines Schaffens zurück. Stufe für Stufe hatte ihn der große Meister unsichtbar begleitet und geführt. Er hatte ihm die Fehler und Mißgriffe nicht erlassen, er hatte sie erkennen müssen, und es durfte sich ihm offenbaren, was kein Wort zu sagen vermochte. Die Stimmen der Geigen des Meisters mahnten allein den Adepten. Das Geheimnis war das Geheimnis der menschlichen Stimme. In Geheimnisse dringt kein Unberufener ein. Die Kunst verklärt das Leben, und alles, was der Mensch verklärt, ist Kunst. Mit unseren Sinnen fassen wir die Natur, aber wir erfassen sie nicht. Unsere Kunst kommt aus unseren Sinnen. Es ist unser Teil der Schöpfung, daß wir durch unsere Kunst das Sinnliche ins Seelische veredeln können. Wir vermögen zu sehen, zu hören, zu fühlen und zu sprechen. Wir malen, singen und formen. Der große Antonio war das Genie der Sprache! Er verklärte die Stimme des Menschen zu der der englischen Boten. –

Florenus erhob sich und machte sich im Zimmer Bewegung. Er war überzeugt, das Gesetz des Meisters in sich gefunden zu haben, und legte in seinen Geigen Zeugnis dafür ab. War er nicht kleinlich und eitel, daß er immer wieder das ungestillte Verlangen empfand, irgendwo, irgendwie durch untrügliche Beweise die Bestätigung zu finden, daß er im Lichte seines Meisters wandelte? Bedurfte er dessen? Er nicht, aber die anderen. Die anderen, wer waren die anderen? Die Menschen, die irrenden Seelen, die erst den Toten glauben, was sie an den Lebenden verfluchen. Die Künstler müssen sterben, damit ihre Kunst den Lebenden gehört!

Wie komme ich heute auf solche Gedanken, dachte Florenus, und es fiel ihm der Besuch bei Sassi wieder ein. Das war das andere Rätsel seines Meisters, der sonnenglänzende Lack. Hier half die Kunst allein nicht aus. Stradivari hatte die Vollendung gebracht, und wer weiß woher! War das, was er mit seinen Augen gesehen hatte, das wiedererstandene Wunder? Wie ein Bruchstück alter Kunst war das, was er gesehen hatte, unvollkommen, zerstückelt und ungewiß, aber unverkennbar das Zeichen edler Herkunft. Das Geschaute konnte sich in seinem Leben nicht wieder verflüchtigen. Er wußte, daß er auf dieser Spur unhaltbar vorwärtsgetrieben werden würde mit einem Willen und einer Ausdauer wie ein Marathon-Läufer. Es mußte ihm gelingen. Der Glaube an die mystische Führung seines großen Meisters gewann eine fanatische Härte. Er hatte ihm die Platte vor Augen gebracht, ihm das Beispiel gezeigt und das Bewußtsein seiner Gegenwart gegeben. Von diesem Zeichen aus wollte er das Geheimnis ergründen. – Bossini! – Der Gedanke an Bossini tat ihm körperlich weh. Was war das für eine Verkettung von Widrigkeiten, daß dieser Mensch Stradivaris Lackrezept besitzen sollte! Was wollte er damit? Florenus mußte in aller Bitterkeit laut auflachen. Wenn sie den Stein der Weisen haben, dann wissen sie nichts Besseres damit anzufangen, als ihn zu verkaufen! Bossini war der rechte Mann, aus solchen Steinen Geld zu machen.

Das Klopfen des Zimmerkellners hatte Florenus überhört, und er wandte sich erstaunt um, als er Schritte in seinem Zimmer vernahm. Der Kellner entschuldigte sich und meldete, es warte unten im Vestibül ein Herr von Bossini auf ihn, der ihn dringend zu sprechen wünsche.

»Wer will mich sprechen?« fragte Florenus wie abwesend.

»Ein Herr von Bossini«, wiederholte der Kellner, »wünscht Sie in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen.«

Florenus starrte den Kellner immer noch erstaunt an und sagte schließlich: »Gut, lassen Sie den Herrn zu mir kommen!« Der Kellner war wieder hinausgegangen. Woher weiß dieser Mensch, daß ich hier bin? fragte sich Florenus. Meine Gedanken können ihn wohl nicht hergerufen haben. Sie waren nicht von Sehnsucht erfüllt. Aber wir müssen doch zusammenkommen, warum nicht gleich? Florenus hätte sich für eine solche Zusammenkunft gerne besser vorbereitet, dazu war nun keine Zeit mehr. Schon klopfte es, und auf das Herein schob Bossini, wie es seine Gewohnheit war, den Kopf mit der Glatze voran durch die halbgeöffnete Tür.

»Wie komme ich zu der unerwarteten Ehre Ihres Besuches, Herr von Bossini«, begrüßte Florenus den Eingetretenen.

Bossini machte eine tiefe Verbeugung und erwiderte: »Wenn große Herren reisen, schreien es die kleinen Leute auf den Gassen aus, und so erfuhr auch Ihr untertänigster Diener von Ihrer Anwesenheit.«

»Zuviel Ehre, Herr von Bossini, wirklich zuviel, aber nehmen Sie bitte Platz. Sie wollten mir gewiß einen großen Auftrag vermitteln.«

»Nicht sogleich, Herr Florenus, aber es wäre mir vielleicht möglich, Ihre künftigen Aufträge zu verdoppeln, verdreifachen, verzehnfachen!«

»Halten Sie ein, Herr von Bossini, dazu reichen meine schwachen Kräfte gewiß nicht aus!«

Bossini drehte seine Augen verheißungsvoll nach oben. »Es lassen sich die Kräfte des Menschen vervielfachen, Herr Florenus, nehmen Sie Schüler, Handwerker, Arbeiter!«

»Sie verwechseln mich mit Herrn Ford in Detroit. Ich bin ein Geigenbauer und lebe von meiner Hände Arbeit.«

Bossini machte wieder eine tiefe Verbeugung. »Sie sind ein großer Geigenbauer, Herr Florenus, es wäre unbescheiden, mit Ihnen Vergleiche anzustellen.«

»Sie sind sehr höflich, aber das war gewiß nicht der Zweck Ihres Besuches.«

»Nicht allein, Herr Florenus, aber kommen wir gleich auf das Geschäftliche.«

»Bitte!« bemerkte Florenus erwartungsvoll.

»Sie waren heute nachmittag bei Herrn Sassi. Ich weiß alles, aber fürchten Sie nichts! Diese Kenntnis verdanke ich lediglich dem Umstande, daß Sie an meinem Laden vorübergingen.«

»Sie haben sehr gute Augen, Herr von Bossini.«

»Für meine Freunde ja, Herr Florenus, doch halten wir uns damit nicht auf. Sassi wird Ihnen eine Holzplatte mit einer Lackprobe gezeigt haben. Darf ich fragen, wie Ihnen diese Probe gefallen hat?« Bossini hatte die Augen halb geschlossen und die Hände über den runden Leib gefaltet, doch wären seine Ohren zu Trichtern ausgewachsen, wenn sie es vermocht hätten.

Florenus ließ seinen Gast eine Zeit warten und erwiderte dann: »Der Lack ist nicht so gut, wie Sie ihn gewünscht hätten.«

Bossini nickte stumm, als erwartete er eine längere Antwort. Da Florenus schwieg, versetzte er: »Diese Antwort habe ich erwartet. Sie wissen, was an der Probe noch fehlt, und bezeugen mir doch ihre Echtheit.« Über sein verschmitztes Gesicht flog der Schein des Triumphes.

Florenus stützte den Kopf in die Handfläche. »Was daran echt ist«, meinte er gelassen, »das wird sich finden.«

Bossini wurde unruhig. »Was heißt, es wird sich finden? Es wird sich nichts finden, weil nichts zu suchen ist. Der Lack ist da und ist in meiner Hand!« Bossini konnte mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß Sassi keine Abschrift des Rezeptes besaß, da seit dem Tode der Witwe Giacomos die alte Originalabschrift sich ebenfalls in seinem Besitz befand.

Florenus überlegte, ob er Bossini irreführen sollte. Da er aber dann Bossini und Sassi zusammengebracht hätte, was ihm nicht erwünscht erschien, unterließ er es und antwortete gleichgültig: »Was will das heißen, wenn Sie nichts beweisen können!«

 

Bossini stand auf und stellte sich vor Florenus. »Verehrter Herr Kollege«, begann er mit vertraulichem Nachdruck, »Sie haben den Lack gesehen, und Sie brauchen keine Beweise. Aber ich brauche Sie, um es anderen zu beweisen. Deswegen stehe ich hier vor Ihnen.« Er zog den Mund erwartungsvoll in die Breite und steckte die Hände in die Hosentasche.

»Was soll ich dabei, Herr von Bossini? Sie bilden sich ein, das Lackrezept Stradivaris zu besitzen, nun gut, machen Sie doch lustig Ihren Lack, und verkaufen Sie ihn an alle, die ihn haben wollen!«

Die Hände Bossinis flogen aus den Hosentaschen, ballten sich zu Fäusten und legten sich an die Schläfe. »Hab' ich Ihnen nicht immer gesagt, daß die Menschen freiwillig niemals die Wahrheit annehmen? Wenn ich ihnen einen alten Mostrichtopf voll Fischleim als Stradivari-Lack anbiete und gebe ein Attest dabei, dann kaufen sie. Hier sollen die Leute aber keinen Fischleim haben, sondern echten Stradivari-Lack, und das Attest sollen Sie ausstellen.«

»Zeigen Sie mir das Rezept!«

»Nein, Geschäft ist Geschäft. Geben Sie mir das Attest, und ich streiche Ihnen zeitlebens Ihre Geigen mit Stradivari-Lack an.«

»War das der Weg zu mir wert?«

Bossini zog seinen Stuhl näher an Florenus heran und setzte sich. »Herr Florenus, lassen Sie uns vernünftig reden! Ob Sie diesen oder jenen Lack gebrauchen, das ist Ihnen heute nicht wichtig; später, wenn sich meine Sensation durchgesetzt haben wird, dann werden alle Leute von Ihren Geigen sagen: Sind sie nicht schön? Sehen sie nicht aus wie Stradivari-Geigen? Und man wird sagen: Ja, der Mann hatte auch gleich erkannt, daß das Lackrezept das richtige war.«

Florenus antwortete nicht. »Warum sagen Sie nichts, edler Herr?« fragte Bossini ungeduldig. »Ist es etwas Unrechtes, was ich Ihnen vorschlage? Sie sollen von dem Lack nichts anderes bezeugen, als Ihr Gewissen Ihnen vorschreibt. Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie den Namen Stradivaris nicht zu erwähnen.«

Florenus wünschte der Unterredung ein Ende zu machen und stand auf. »Geben Sie mir das Rezept«, erklärte er noch einmal, »und ich werde Ihnen meine Meinung sagen. An einem Geschäft ist mir nichts gelegen.«

Auch Bossini war aufgesprungen und fuchtelte mit seinen kurzen Armen. »Wie können Sie verlangen, daß ich Ihnen das Rezept gebe«, rief er heftig, »und was hat das Rezept mit Ihrer Begutachtung zu tun? Wenn ich mir einbilde, daß das Rezept von Stradivari stammt, so ist das meine Sache, und es soll nicht Ihre Sache sein, mich vor einem Irrtum zu bewahren. Sie sollen mir nur eine Gefälligkeit erweisen, wie sie unter Kollegen üblich ist, und mir die Qualität des Lackes bezeugen. Ich bin ja bereit, für die Achtung Ihrer Autorität zu bezahlen. Nennen Sie mir den Preis, und wir werden darüber einig werden. Wie können Sie wegen einer solchen Sache solche Schwierigkeiten machen!«

»Ereifern wir uns nicht, Herr Kollege«, mahnte Florenus spöttisch, »geben Sie mir das Rezept, und ich werde bezeugen, was ich kann.«

Einen Augenblick rang Bossini mit sich. »Nein, das kann ich nicht, und das will ich nicht«, entschied er sich, »ich habe große Dinge vor, und wenn Sie nicht wollen, werde ich auch ohne Sie fertig.«

»Das ist eine sehr vernünftige Ansicht von Ihnen«, bestätigte Florenus lächelnd, »ich will Ihnen auch gerne den Gefallen tun, über Ihre Lackprobe nichts zu sagen. Sie wissen ja selbst, daß sie in diesem Zustande unbrauchbar ist, weil sie sich nicht hält.«

Bossini zuckte zusammen. »Die Probe war mein erster Versuch, aber wie Sie wollen.« Er verbeugte sich kurz vor Florenus und schob sich zur Türe hinaus.

Langsam pendelte Bossini über den Flur zwischen den Zimmern und blieb unschlüssig am Treppengeländer stehen. Seine Unterhaltung mit Florenus hatte nicht den gewünschten Verlauf genommen. Er schalt sich, daß er die Sache falsch angefangen habe. Nachdem dieser Florenus mir in die Quere gekommen ist, muß ich ihn festhalten, brummte er. Er ist der einzige, den ich zu fürchten hätte. Schade, daß er nicht reich genug ist, mir das Rezept abzukaufen! Warum hatte der alte Stradivari das Rezept so unvollkommen aufgeschrieben? Oder war es doch nicht das echte Rezept? Hatte Giacomo es irgendwo abgeschrieben, um die Leute zu beschwindeln? Bossini dachte an Giacomo, und sein Glaube an das Rezept geriet ins Wanken. Es ist alles Schwindel, zürnte er, und die alten Cremonenser sind die größten Spitzbuben gewesen! Langsam stieg er die Treppe hinunter und trollte sich mißmutig auf die Straße.

2. Cremonea A.-G.

Im Direktionszimmer der Markwald-Geigenbaugesellschaft in der Grimmaischen Straße in Leipzig saß der Sohn des Firmenbegründers, der Kommerzienrat Markwald, vor seinem Schreibtisch, auf welchem verschiedene Bogen mit Zeichnungen und Berechnungen lagen. Ihm gegenüber saß in einem ledernen Klubsessel der Geigenbauer Kirchberg. Die beiden Herren hatten in der letzten Zeit häufige und längere Zusammenkünfte gehabt, und man raunte im Geschäftspersonal, daß sich eine neue, große Unternehmung in Vorbereitung befände. Kirchberg war erst kürzlich wieder von einer Reise nach Turin zurückgekehrt und hatte von dort eine Anzahl Instrumententeile mitgebracht, die auf dem großen Konferenztisch des Zimmers ausgebreitet lagen. Kommerzienrat Markwald nahm eine Akte vom Schreibtisch und blätterte darin, bis er eine Seite aufschlug, in welche er sich mit größter Aufmerksamkeit vertiefte. Kirchberg erhob sich und ging an den Konferenztisch, an dessen einem Ende ein eigentümlicher Apparat aufgebaut worden war. Einen der bereitliegenden Geigenböden spannte er fest in eine Holzschraube des Apparates ein. Dann hantierte er an dem Apparat herum, verstellte einen trichterförmigen Einbau und prüfte die Stromeinschaltung. Während er damit noch beschäftigt war, legte Kommerzienrat Markwald die aufgeschlagene Akte auf den Tisch und einen Briefbeschwerer darauf.

»Ich habe alles genau gelesen«, bemerkte er zu Kirchberg hinüber, »und ich muß gestehen, man muß nach dem Lesen der Überzeugung sein, daß die Sache so stimmt. Lassen Sie den Apparat mal in Ruhe, und erzählen Sie mir, was der Grandelli in Turin gesagt hat! Es ist mir immer noch auffällig, daß Grandelli ausgerechnet mit uns Verbindung gesucht hat. Er hätte doch gewiß in Italien nähere Interessenten finden können.«

Kirchberg schaltete den Strom aus und legte den Voltmesser, den er in der Hand hielt, auf den Tisch. »Die Frage habe ich mir schon oft vorgelegt, Herr Kommerzienrat«, erwiderte er, »aber da ich jetzt auf meinem eigenen Wege weitergegangen bin, interessiert sie mich nicht mehr so. Die Sache ist richtig, daran ist nicht zu zweifeln, und der plausibelste Grund für das Verhalten Grandellis ist vielleicht der, den er selbst angibt, daß er nämlich die ganzen Geigenbauer Italiens gegen sich aufbringen würde. So etwas fürchtet er natürlich. Wir sind weiter vom Schuß, und es braucht ja auch niemand zu erfahren, daß er mit uns in Verbindung steht.«

»Haben Sie mit ihm über unsere neue Konstruktion gesprochen?«

»Natürlich nicht. Ich bin überhaupt der Meinung, daß wir den Grandelli in unsere Sache nicht mehr einweihen, als notwendig ist. Der von ihm gebaute Apparat zur Fixierung der Töne braucht nicht schlecht zu sein, für die Herstellung im großen ist er jedoch nicht genau genug und zu primitiv. Von unserem Apparat würde er nicht viel verstehen, der ist ihm viel zu kompliziert. Ich habe sowieso den Eindruck gewonnen, daß er mit seinem eigenen Apparat nicht so sicher umzugehen versteht, wie man es sonst bei Erfindern gewöhnt ist.«

»Um so besser, mein Lieber, da werden unsere Aussichten nur noch günstiger. Hat er sich seinen Apparat überhaupt patentieren lassen?«

»Nein, das will er auch nicht, Herr Kommerzienrat, er meint, die Geheimhaltung sei besser als ein Patent. Da ist etwas Wahres dran, aber ich weiß nicht, ich glaube, die ganze Erfindung ist überhaupt nicht von ihm gemacht.«

»Wieso, das wäre doch merkwürdig, Herr Kirchberg?«

»Daß ich es geradeheraus sage, Herr Kommerzienrat, ich glaube, er hat die ganze Sache dem Josephus Florenus gestohlen. Gestohlen oder nicht gestohlen, ich will keine harten Worte gebrauchen, jedenfalls kommt die Sache bloß von Florenus her.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Er hat selbst einmal gesagt, daß er bei Florenus gewesen sei. Alles das, was er von dem Bau der Stradivari-Geigen erzählt, ist mir bei den wiederholten Besprechungen eigentlich immer dürftiger vorgekommen, so daß ich an seine eigenen Studien nicht recht glauben mag.«

»Das verstehe ich nicht, wenn seine Angaben nicht stimmen, müßte die ganze Sache doch in sich zusammenfallen. Sie haben aber doch selbst eben noch gesagt, daß Sie die Sache für richtig halten.«

»Das ja, aber nicht, weil Grandelli, sondern weil Florenus das sagt.«

»Florenus, Florenus«, der Kommerzienrat schüttelte den Kopf, »mit Florenus werden wir nicht weit kommen. Sie wissen, was er Ihnen geschrieben hat. Ich habe gar keine Lust, mich in einen Streit zwischen Florenus und Grandelli einzulassen. Wir wollen hier unsere Sachen machen, und zwar auf der Grundlage der neuesten Forschungen der Physik und des Geigenbaues.«

»Selbstverständlich, Herr Kommerzienrat, aber diese neuesten Forschungen sind die des Josephus Florenus.«

»Das ist mir auch gleich. Ich will diesem Manne seinen Ruhm auch gar nicht nehmen. Wir haben es hier mit exakten Größen zu tun, die mehr oder weniger allgemein bekannt sind. Ob sie von Florenus stammen oder von Grandelli, Chamon oder sonst wem, kann uns dabei ganz gleichgültig bleiben. Auf Grund wissenschaftlich bekannter Tatsachen sind wir von der Erwägung ausgegangen, daß der Instrumentenbau, besonders der Geigenbau, einer exakten Konstruktion unterworfen werden kann. Wenn Florenus damit recht hat, daß die mechanische Konstruktion vor der akustischen zurückzutreten hat, und wenn Grandelli einen brauchbaren Horch- und Fixierapparat für die Töne erfunden hat, dann sind wir hier insofern über beide hinausgegangen, als wir Mittel und Wege gesucht und gefunden haben, um der akustischen Konstruktion die Gesetzmäßigkeit zu geben. So bauen sich in der Wirtschaft alle Entwicklungen und Verbesserungen auf. Ich hätte mich ja selbst gerne mit dem Florenus in Verbindung gesetzt, aber was wollen Sie mit einem Manne machen, der Ihnen schreibt: Mein Gedanke ist richtig, und Ihre Kalkulation ist falsch.«

»Gewiß, und ich halte auch daran fest, daß der Gedanke des Florenus richtig ist. Ich will ihm aber beweisen, daß meine Konstruktion auch richtig ist. Er hat Grandelli die Grundtöne von Boden, Decke und Korpus angegeben. Diese Angaben weichen von denen Fétis' und anderer ab. Sehr scharf scheint also die Grenze bei den alten Instrumenten nicht gezogen worden zu sein, sonst würden diese Unstimmigkeiten wohl nicht vorkommen. Wir verfahren anders, wir legen das Mittel fest und übertragen es auf mathematisch genaue Schwingungszahlen. Es wird sich zeigen, wessen Instrumente vollkommener sind.«

»In dieser Richtung habe ich keine Bedenken, Herr Kirchberg, aber vom konstruktiven Gedanken bis zur fabrikatorischen Herstellung ist oft ein weiter Weg. Was soll uns die ganze Unternehmung nützen, wenn die Herstellung im großen nicht sachgemäß erfolgen kann!«

»Da hat uns der Grandelli ganz gut vorgearbeitet. Ich habe eine Anzahl Böden mitgebracht, die alle von dem gleichen Holz, der gleichen Maserung und völlig astfrei sind. Die Böden habe ich in Quadrate zu je vier Quadratzentimeter eingeteilt und an allen Kreuzungspunkten der Diagonalen die Brettstärke mit der Mikrometerschraube gemessen. Das Ergebnis war für unsere Zwecke insofern sehr günstig, als bei genauester Tonmessung den konstanten Stärkeverhältnissen der Platte auch eine konstante Tonlage entsprach. Die Abweichungen waren geringfügig und für das menschliche Ohr kaum wahrnehmbar.«

»Sie sind nicht umsonst Physiker gewesen, Herr Kirchberg. Heute ist mit der Wissenschaft alles zu machen, was früher dem Handwerk oder der Kunst vorbehalten blieb. Das ist kein Wunder, denn die moderne Wissenschaft ist eine Endsumme menschlicher Gedanken, die der einzelne nur als Ergebnis mit sich herumtragen kann. Früher mußten die Menschen das ganze Abc der Herstellung in ihrem Kopfe beständig revidieren. Daher sind sie auch nicht soweit gekommen wie wir heute. Auch das ist Gesetz, mein Lieber, denn wo kämen wir hin, wenn wir bei jeder Regung unseres Herzens oder unseres Verstandes unserer embrionalen Entwicklung gedenken müßten?«

Kirchberg zuckte die Achseln. »Ich möchte Ihnen schon zustimmen, Herr Kommerzienrat, aber die Pflege der Spezialitäten kann uns auch dumm machen, als wenn wir nichts wüßten. Die Isolierung des Spezialwissens führt zu Aberwitz und Aberglauben. Es muß immer wieder Gehirne geben, die das ganze Räderwerk vertragen, sonst enden wir in chinesischen Doktrinen oder indischen Sprüchen.«

»Einstweilen sitzen wir, Gott sei Dank, noch in Leipzig«, lachte der Kommerzienrat, »und von hier aus wollen wir die musikbedürftige Menschheit mit Instrumenten beglücken, die ihr alle Träume himmlischer Musik erfüllen sollen. Jetzt kommt aber die Frage der praktischen Konstruktion. Nach dem Normalmaß Ihrer Versuchsinstrumente sind die Maschinen für Boden und Decke bestellt worden und werden voraussichtlich in den nächsten Tagen geliefert. Für die sichere Ermittlung der Zargenhöhe muß die Zahl der Versuche noch vorher auf etwa fünfzig erhöht werden. Wann würden Sie diese Versuche durchgeführt haben können?«

»Wenn die Maschinen nächste Woche geliefert werden, dann brauche ich noch vier bis fünf Wochen.«

»Gut, ich werde inzwischen einige meiner tüchtigsten Leute auf die neue Fabrikation vorbereiten. Sehen Sie zu, daß Sie von den Musterinstrumenten bis Mitte nächsten Monats einige fertigstellen. Wir werden wohl die Fabrikation einer neuen Gesellschaft übertragen müssen. Die Vorarbeiten haben viel Geld gekostet.«

»Sie werden nicht enttäuscht sein, Herr Kommerzienrat, es ist alles so genau überlegt und auf der modernen Tonwissenschaft aufgebaut, daß ich mir gar nicht vorstellen könnte, wie ein Mißerfolg entstehen sollte. Vergleichen Sie doch einmal mit unserem Verfahren die Laienhaftigkeit anderer Geigenfabrikationen, und auf deren Geigen wird doch auch lustig herumgefiedelt.«

»Das schon, aber unsere Geigen werden natürlich auch teurer sein, und wenn sie nicht besser sind als die anderen, dann bezahlt sie uns kein Mensch. Aber nun Glück auf, Herr Kirchberg, und morgen auf Wiedersehen. Es ist spät geworden. Gute Nacht! Sagen Sie doch bitte Fräulein Steffens, daß wir fertig sind, und daß der Wagen kommen möchte. Gute Nacht!«

Kirchberg verabschiedete sich, ging durch das Sekretariat und nahm seinen Mantel vom Haken. Wenn Florenus recht hat, murmelte er, dann habe ich es auch.

 

Es war einen Monat später. Im Zimmer des Kommerzienrats Markwald saßen an dem großen Konferenztisch acht Herren, darunter am Kopf des Tisches Kommerzienrat Markwald und an seiner Linken Herr Kirchberg, rechts von ihm der Rechtsanwalt Demmin und ihm gegenüber der Bankdirektor Anselm. Kommerzienrat Markwald erhob sich und begrüßte die Gäste. Dann führte er aus:

»Soweit es die Verschwiegenheit der Angelegenheit zuließ, sind Sie über das heutige Vorhaben unterrichtet worden. Es ist müßig, Ihnen Bekanntes über Bedeutung und Verbreitung der Geigen vorzutragen. Sie wissen, daß meine eigene Firma seit mehr als 25 Jahren in dieser Branche arbeitet, und daß wir zur Beurteilung der Marktlage und der Fabrikationsbedingungen alle Voraussetzungen beherrschen. Der anschließende Vortrag des Herrn Kirchberg wird Sie über alles unterrichten, was als die technische Grundlage unseres Vorhabens anzusprechen ist. Ich beschränke mich daher darauf, Ihre Aufmerksamkeit vorweg auf den Umstand zu lenken, der Ihnen nicht so bekannt sein dürfte, der aber Anlaß und Ziel unserer Unternehmung geworden ist. Im Geigenbau hat der Name Stradivaris einen besonderen Klang. Man verehrt in ihm den größten Meister unseres Faches, und es war außerordentlich bedauerlich, daß die Kenntnisse und das Können dieses Mannes mit seinem Tode ein Ende gefunden zu haben schienen. Zwei Jahrhunderte hat man geforscht und gesucht. Es war alles vergeblich. In unseren Tagen hat die moderne Wissenschaft das Problem aufgegriffen. Sie hat die Instrumente des Meisters auf physikalischer Grundlage studiert und hat die Gesetze gefunden, nach denen sie gebaut wurden. Bekannte Geigenbauer, wie Josephus Florenus, Grandelli und andere, haben zu den Forschungen angeregt, die ihre wissenschaftliche Bestätigung gefunden haben. Damit ist das Problematische des Geigenbaues in den Bereich der mathematisch-physikalischen Konstruktion getreten. Es ist die Losung unserer Zeit, daß sich handwerkliche Erfahrung und künstlerische Formung zu wissenschaftlicher Methodik verdichten. Wir stehen im Begriff, den großen Umschwung herbeizuführen und in beliebiger Zahl künstlerische Geigen herzustellen, die bisher der seltene Besitz Auserwählter waren. Nach der Durchführung unseres Programmes wird die tonreine, hochwertige Geige der Besitz eines jeden Musikfreundes sein können. In einem höheren Sinne als einst das Klavier die handgeschlagenen Saiteninstrumente ablöste, wird die vervielfältigte Stradivari-Geige zum Träger aller Melodien in Stadt und Land werden. Als Männer, die selbst in der Wirtschaft stehen, brauche ich Ihnen nicht zu belegen, daß die Versuche, die zu den ausgezeichneten Ergebnissen geführt haben, nicht geringe Kosten verursachen, und doch sind diese Kosten belanglos gegenüber den Werten, von denen Sie selbst gleich eine Probe erhalten sollen. Um sich an diesem Werke zu beteiligen, sind Sie in meinem Auftrage von Herrn Dr. Demmin gebeten worden, hier zu erscheinen. Gestatten Sie, daß ich Ihnen, bevor ich Herrn Kirchberg das Wort zu seinem Vortrag gebe, meinen Dank dadurch zum Ausdruck bringe, daß ich Ihnen die neuen Instrumente in ihrer Anwendung vorführe.«

Auf ein Klingelzeichen Kommerzienrat Markwalds öffnete sich die Tür zum Sekretariat, das zu einem Musikraum umgestaltet war, und ein Quartett spielte die kleine Nachtmusik von Mozart.

Das improvisierte Konzert fand lauten Beifall und belebte sichtlich die Stimmung. Markwald ließ die Instrumente noch einzeln vorspielen, und nach dem Vergleich mit anderen bereitliegenden Instrumenten war man der Meinung, daß die neue Konstruktion zu bevorzugen sei. Herr Kirchberg erläuterte die Grundlagen der Baukonstruktion und führte seinen neuen Tonmessungsapparat vor. Er schloß mit der Versicherung, daß mit der neuen Methode ein unvergleichbarer Fortschritt im Geigenbau erzielt worden sei.

Die anwesenden Herren kamen überein, das neue Unternehmen ins Leben zu rufen. Die Bearbeitung des Gesellschaftsstatuts wurde einem Ausschuß, bestehend aus Herrn Kommerzienrat Markwald, Bankdirektor Anselm und Rechtsanwalt Dr. Demmin, überwiesen. Lediglich über die Namensgebung setzte noch eine längere Debatte ein. Schließlich einte man sich dahin, die neue Gesellschaft auf den Namen »Cremonea A.-G.« zu taufen. Nach einigen Schlußbemerkungen des Bankdirektors Anselm verließen die Herren hochbefriedigt das Direktionszimmer.

Die Leitung der neuen Fabrikation war Herrn Kirchberg übertragen worden. Er widmete sich seiner Arbeit mit unermüdlichem Eifer. Die gesamte Maschinenanlage probte er so lange durch, bis jeder Schnitt, jede Pressung, jede Biegung in vollkommenster Genauigkeit ausgeführt wurde. Die verwendeten Hölzer untersuchte er in mehrfacher Kontrolle auf Klang, Härte, Elastizität und Reinheit. Er wollte unter allen Umständen in der Exaktheit der Herstellung bis an die Grenze des Möglichen gehen, um alle denkbaren Fehlerhaftigkeiten rechtzeitig erkennen und beseitigen zu können. Sein Fleiß und seine Gewissenhaftigkeit wurden oft Kommerzienrat Markwald zu viel, da sie den Beginn der großen Fabrikation verzögerten und die Kosten erhöhten. Kirchberg beruhigte ihn mit dem Einwand, daß eine rechtzeitige, vollendete Durchkonstruktion später die Unkosten in niedrigen Grenzen halten würde. Es lief aber nicht alles so, wie es Kirchberg erhofft und erstrebt hatte.

Mit dem Eintritt in die eigentliche Großfabrikation stellten sich allerhand Schwierigkeiten ein. Es erwies sich, daß trotz aller Sorgfalt der Auswahl das Material sich doch nicht so gleichmäßig verhielt, wie man nach den ursprünglichen Ergebnissen erwartet hatte. Die Folge war, daß die Abstimmung der Platten nach dem Horchapparat durch die mehrfach wiederholte Abschleifung viel Zeit und Arbeit erforderte. Das war in der Kalkulation nicht vorgesehen und stellte erhebliche Verteuerungen in Aussicht. Sollte die fortlaufende maschinelle Erzeugung aller Geigenteile beibehalten werden, mußten die Hölzer noch sorgfältiger ausgesucht und in eigener Lagerung viele Monate hindurch kontrolliert werden. Das Ungeeignete war dann rücksichtslos auszumerzen. In dieser Bedingung lag für das neue Unternehmen eine außerordentlich bedenkliche Hemmung. Es war nicht möglich, den Beginn der Produktion auf ein Jahr zurückzustellen, und der durch die Auswahl hervorgerufene Materialverlust bedrohte die Rentabilität nicht minder.

Ein anderer Umstand brachte Kirchberg fast zur Verzweiflung. Trotz den genauesten Klangabnahmen und Abmessungen der einzelnen Teile wollte der Korpuston nicht stimmen. Er hatte verschiedene Instrumente in seinem eigenen Laboratorium untersucht. Tag und Nacht hatte er sich mit der Frage gequält, worauf die Tonabweichungen, Dissonanzen und Unreinheiten zurückzuführen seien. Er wechselte die Teile aus, schliff sie ab, veränderte die Höhen, schnitt und hobelte an den Instrumenten herum, bis er die unbrauchbar gewordenen Holzkästen in den Ofen stecken konnte. Mit neuer Gründlichkeit, Geduld und Aufmerksamkeit nahm er ein anderes Material vor, prüfte, horchte, hämmerte, feilte und stellte das Brauchbarste zusammen. Das alte Spiel begann von neuem. Er stand vor einem Rätsel. Er besann sich und wand sich und getraute sich nicht Kommerzienrat Markwald die Wahrheit zu sagen. Die Schwierigkeiten des Materials gaben zunächst den Vorwand, die technische Rückständigkeit zu erklären. Die bisher erzeugten Geigen waren Instrumente wie die aller anderen Manufakturen. Waren gelegentlich welche darunter, die den Durchschnitt überragten, bedeuteten sie nichts gegenüber der Masse und den offenkundigen Fehlbauten. Es wäre nicht möglich gewesen, für diese Erzeugnisse auf dem Markte höhere Preise zu erzielen. Die Berechnungen der Konstruktionen mußten irgendwo einen schweren Fehler enthalten, einen Fehler, der auf einer ungekannten Voraussetzung beruhte. Josephus Florenus hatte damals geschrieben: »Mein Gedanke ist richtig, aber Ihre Konstruktion ist falsch.« Damit hatte er vorausgesagt, was sich hier ereignete. Woher konnte er das wissen? Hatte er in der Darlegung seiner Thesen ein wichtiges Moment verheimlicht? Es konnte nicht anders sein. Deswegen war auch der Grandelli damit nicht fertig geworden.

Kirchberg hatte seinen Stuhl an den Tisch gerückt und schaute stumpfsinnig auf den Horchapparat. Gedanken hatte er keine mehr. Wo sollte er noch welche hernehmen? Was zu denken war, hatte er ausgedacht. Müde stützte er den Kopf in beide Hände. Nur etwas ganz Außergewöhnliches konnte eine Katastrophe vermeiden. Die von Kommerzienrat Markwald selbst ausgearbeitete Propaganda sollte in den nächsten Wochen hinausgehen. Die Öffentlichkeit würde auf die hochtönenden Worte lauschen. Es würde eine Nachfrage kommen, man würde kaufen, und dann würde man mit den Instrumenten den Händlern wahrscheinlich die Fenster einschlagen. Kirchberg seufzte tief. Soweit durfte es nicht kommen. Nur einer konnte dieses Unglück verhindern, und das war Josephus Florenus.

An diesen Namen, an diesen Mann klammerte sich Kirchbergs ganze Hoffnung. Er mußte mit Markwald sprechen, damit die Propaganda bis zur Rücksprache mit Florenus aufgeschoben werden konnte. In dem Gedanken, einen Anlaß gefunden zu haben, um Markwald die Wahrheit sagen zu können, sagen zu müssen, atmete er erleichtert auf. Die These Florenus' war die Voraussetzung der Konstruktion gewesen. Markwald war selber schuld daran, daß es zu keiner Fühlungnahme mit Florenus gekommen war. Diese Mitschuld tröstete ihn, obwohl er wußte, daß sein Irrtum seine Schuld geworden war.

Mit einer verbissenen Entschlossenheit suchte er am nächsten Vormittag Kommerzienrat Markwald auf. Von den Darlegungen Kirchbergs war er nicht gerade erbaut, er war jedoch der Meinung, daß man keineswegs Veranlassung habe, kleinlaut zu werden. Von einer Verbindung mit Florenus wollte Markwald nichts wissen. Er wußte aus älteren Erfahrungen, daß Künstler nicht zu bekehren sind, und er spürte auch, daß Florenus' Stellungnahme eher zu fürchten als zu wünschen wäre. Er verwies auf Grandelli. »Wozu haben wir die Beziehungen zu diesem Mann?« meinte er zu Kirchberg. »Fahren Sie in Gottes Namen noch einmal nach Turin, und wenn nicht anders, schleppen Sie den Mann hierher! Er soll sich selber den Unsinn ansehen, den er veranstaltet hat. Wenn er den richtigen Ausweg weiß, wird er ihn uns schon zeigen, er ist doch an der Sache interessiert. Ich bin immer noch fest überzeugt von der Richtigkeit des Prinzips. Wir müssen den Kopf hochhalten, sonst glaubt uns niemand. Also fahren Sie nach Turin, und bringen Sie die Sache in Ordnung!«

Diese Unterredung hatte Kirchbergs erschüttertes Selbstbewußtsein wieder notdürftig aufgerichtet. Die dumpfen Zweifel in seiner Brust schwiegen nicht. Er bemühte sich, darüber hinwegzugehen. Zwei Tage später saß er im Zuge nach Mailand und Turin.

Der Besuch bei Grandelli war ihm eine unangenehme Aufgabe. Die Wahrheit durfte er ihm nicht sagen, und doch mußte er versuchen, die eigentliche Störungsquelle herauszubringen. Gegebenenfalls sollte Grandelli mit nach Leipzig kommen. In Kirchberg stiegen dagegen schwere Bedenken auf.

Die Unterredung mit Grandelli begann sehr mißlich. Grandelli deutete an, daß er nicht nur seine Kenntnisse und seine Erfahrungen gegen ein gleichwertiges Entgelt, sondern auch seinen Ruf als Geigenbauer zur Verfügung gestellt habe, und daß er eine Beeinträchtigung seiner Interessen nicht stillschweigend hinnehmen würde. So sehr sich auch Kirchberg bemühte, alle Befürchtungen zu zerstreuen und die Angriffe abzuwehren, verhinderte die eigene Halbheit ihn doch daran, Grandelli gegenüber in Führung zu bleiben. Zudem wurde der Verdacht in ihm immer stärker, daß Grandelli weder aus eigener Überlegung zu seinen Untersuchungen gekommen war, noch jemals ernsthaft an die Durchführung des Projektes geglaubt habe. Es ärgerte Kirchberg maßlos, daß er in eine Falle geraten sein sollte. Er hätte am liebsten alle Verhandlungen abgebrochen, wenn er nicht die moralischen und finanziellen Verluste gefürchtet hätte. Schwer trug er an der Kränkung des eigenen Ehrgefühls. Er fühlte, daß er gar nicht gegen Grandelli, sondern gegen sich selber stritt. Damals hatte er Grandelli vorgeschoben, um die Angelegenheit ins Rollen zu bringen. An der weiteren Entwicklung war Grandelli nur schwach beteiligt geblieben. Nur das eine, daß Grandelli ein Schüler Chamons war, der den konstruktiven Gedanken zum Prinzip, allerdings zum künstlerischen Prinzip, gemacht hatte, war den beiderseitigen Auffassungen gemeinsam gewesen, die zu der Verbindung geführt hatten. Grandelli hatte der grandiose Versuch in Leipzig interessiert, den Erfolg wartete er ab. So sehr Kirchberg über Grandelli erbost war, mußte er sich doch widerwillig gestehen, daß auch er spekuliert hatte. Es war auch in Wirklichkeit so, daß beide, wenn auch in verschiedener Weise, das Glück versucht hatten, um im entscheidenden Augenblick Ruhm und Erfolg für sich zu buchen. Dieser Erfolg war ausgeblieben.

In der Unterhaltung der beiden merkwürdigen Rivalen war eine Stille eingetreten. Sie hatten sich auseinandergeredet, machten aber keine Miene, auseinanderzugehen, Kirchberg hatte eigentlich noch nichts erreicht. Sooft sich das Wort zu der entscheidenden Frage auf die Lippen drängte, hielt er es wieder zurück. Grandelli konnte das Problem nicht gelöst haben und war deswegen darauf gespannt gewesen, ob es der technischen Filigranarbeit gelingen würde. Die Technik hatte versagt. Wie sollte das Handwerk helfen, das selber ratlos war? Das sagte sich Kirchberg auch. Wieder dachte er an Josephus Florenus. Es hatte keinen Zweck, mit Grandelli über diesen Mann zu sprechen. Der war aus Neid sein Feind.

Im Kopfe Grandellis spielten ganz andere Gedanken. Ohne sich viel um die Einzelheiten zu kümmern, hatte er längst durchschaut, daß der Versuch der Cremonea A.-G. ein Fehlschlag war. Das praktische Beispiel hatte ihm bewiesen, daß das handwerkliche Prinzip seines Lehrers Chamon auf die Maschine nicht zu übertragen war. Diesen Ausgang hatte er nicht zu bedauern, er hatte nichts verloren, sogar einiges verdient. Schon vor der Ankunft Kirchbergs hatte er sich mit einem andern Gedanken beschäftigt. Bossini war bei ihm gewesen und hatte ihm erzählt, daß er das Lackrezept aus Giacomos Nachlaß erworben hatte, und hatte ihm sein Leid geklagt über die Schwierigkeiten, die sich der Auswertung entgegenstellten. Er hatte durchblicken lassen, daß er gegen eine entsprechende Summe zum Verkaufe bereit sei. An die auch von Bossini wieder aufgewärmten Geschichten glaubte er nicht. Als Bossini ihm die Lackprobe zeigte, hatte er ihm lachend erklärt, daß es besser wäre, Butter auf die Geigen zu streichen, als diese lose Schmiere. Das hatte Bossini tief betrübt. Grandelli überlegte sich nun, daß es für ihn kein schlechtes Geschäft sein würde, wenn er Bossinis Lack an die Cremonea verkaufen könnte, damit die erst das Rechte daraus mache.

»Der großzügige Aufbau Ihrer Gesellschaft, Herr Kirchberg«, nahm Grandelli zögernd das Gespräch wieder auf, »hat mich auf einen neuen Gedanken gebracht, der Ihnen vielleicht von Nutzen sein könnte.« Kirchberg blickte fragend auf. »Es handelt sich um folgendes«, fuhr Grandelli fort: »Sie werden davon gehört haben, daß man das alte Lackrezept von Stradivari gefunden haben will. Um die Sache selbst haben sich die abenteuerlichsten Geschichten gesponnen. Das ist nicht so seltsam, denn jede alte Schatulle hätte Abenteuer zu berichten, wenn sie sprechen könnte. Tatsache ist, daß der nach diesem Rezept hergestellte Lack Eigenschaften aufweist, die andere Lackarten nicht besitzen. Der jetzige Eigentümer des Rezepts, ein Herr von Bossini, dem es durch Erbschaft zugekommen sein soll, wäre vielleicht bereit, das Rezept zu verkaufen. Wie denken Sie darüber?«

Kirchberg hatte mit offenen Ohren zugehört. Stradivari-Lack, das wäre so etwas, das könnte die ganze Sache retten! Oder war es eine neue Falle, ein neuer Schwindel? Seine zweifelnden Blicke richteten sich vorsichtig auf Grandelli. Er erinnerte sich auch der alten Geschichten. Stradivari-Lack verhandelte man doch nicht wie Trödel. Grandelli las Kirchberg die Zweifel vom Gesicht und fragte: »Sie trauen der Sache nicht, was?«

»Was heißt hier trauen, Herr Grandelli? Wer ist der Herr von Bossini, was ist das für ein Lack? Wo kommt er her, was hat er mit Stradivari zu tun, und was kostet er? Sehen Sie, das sind offene Fragen, die man aus kaufmännischen Gründen stellen muß.«

»Da stimme ich Ihnen gerne zu, und einiges kann ich Ihnen vielleicht beantworten. Herr Bossini ist ein Geigenhändler in Mailand. Das Lackrezept will Giacomo Stradivari aus einer alten Bibel abgeschrieben haben. Und der Preis? – Nun, wegen des Preises müssen Sie mit Herrn von Bossini selbst verhandeln.«

»Das könnte geschehen«, erwiderte Kirchberg und blickte Grandelli scharf an, »aber wo ist der Haken in dieser Geschichte?«

Grandelli zuckte die Achseln. »Da sind viele Haken«, versetzte er gleichmütig, »das beste ist, Sie lassen sich alles von Herrn von Bossini erklären und richten sich danach.«

»Was halten Sie denn davon?« lenkte Kirchberg ein.

»Offen gesagt, ebenso wenig wie viel, Herr Kirchberg. Es kann eine große Sache sein, wenn alles stimmt, und wenn es gelingt, den Lack richtig herzustellen.«

»Warum haben Sie sich nicht damit beschäftigt, Herr Grandelli?«

»Ich bin Geigenbauer und weder Chemiker noch Historiker. Mit deren Aufgaben kann ich mich nicht befassen.«

»Das wären also die Aufgaben, die uns zufallen würden?« meinte Kirchberg gutgelaunt. »Man kann sich die Sache schließlich einmal ansehen, und da ich sowieso über Mailand fahre, kann ich mit diesem Herrn von Bossini leicht Fühlung nehmen.«

Mit der Anregung Grandellis war zwischen diesem und Kirchberg ein Waffenstillstand geschlossen.

 

Auf der Fahrt nach Mailand befreundete sich Kirchberg zunehmend mit dem Gedanken, daß dieser fragliche Stradivari-Lack für die Käufer der Cremonea-Geigen eine wertvolle Beigabe sein könnte. Freilich, es müßte der Stradivari-Lack sein. Die Echtheit wäre zu beweisen, wenigstens durch einen Indizienbeweis. In solchen Dingen war es immer merkwürdig. Ginge man von der Gewißheit aus, daß es der echte Lack sei, würden die Zweifler nach Beweisen fragen. Ginge man aber von dem Zweifel an der Sache aus, dann würden dieselben Leute behaupten, daß etwas Wahres an der Sache sein müßte. Aus solchen Immerzweiflern und Alleswissern bestand die ganze Menschheit. Diese Erwägung wirkte auf Kirchberg ermunternd. Sein natürlicher Optimismus gab freundlicheren Gedanken gerne nach. Seine Laune erwärmte sich bald an kühneren Projekten. Stradivari-Klang und Stradivari-Lack! Eine solche Vereinigung konnte schon einige unvermeidliche Unvollkommenheiten ertragen helfen. Man war ja nicht Stradivari selbst. Von jedem etwas, von jedem soviel als möglich, das war für die Fabrikation schon mehr als ausreichend. Wundervoll, wundervoll! Mit einem solchen Geschenk wollte Kirchberg befriedigt zu Markwald zurückkehren.

Da Grandelli Bossini von dem bevorstehenden Besuch Kirchbergs fernmündlich in Kenntnis gesetzt hatte, traf dieser ihn nach seiner Ankunft auch gleich im Laden an. Bossini trug Kirchberg die ganze Entstehungsgeschichte vor und häufte alle erdenklichen Beweise für die Echtheit des Lackrezeptes an. Er zeigte auch die verschiedenen Proben, die er von dem Lack angefertigt hatte. Der schöne goldige Glanz fiel Kirchberg auf. Es war etwas daran, das mochte er schon glauben. Die Zweifel an der Echtheit konnten von Bossinis Darlegungen widerlegt werden. Aber nun, der Beweis! Man brauchte in seiner Gewissenhaftigkeit nicht überempfindlich zu sein, aber ohne irgendeinen Nachweis, ohne eine autoritative Bezeugung der Echtheit oder der Qualität würde die Bezeichnung Stradivari-Lack nicht angewendet werden können, und darauf kam es für die Cremonea A.-G. allein an. Stradivari-Klang und Stradivari-Lack! – Wenn die Cremonea an diesen beiden Krücken laufen sollte, dann müßte wenigstens die eine aus festem Holze sein. Kirchberg wandte sich an Bossini mit der Frage, ob die gewünschte Bestätigung nicht vom Vorstande des Vereins der Geigenbauer oder anderen Autoritäten zu erhalten sei. Man hätte dann doch ein Wort in der Hand, mit welchem sich arbeiten ließe. Einen solchen Weg hielt Bossini nicht für gangbar, da das Rezept dann preisgegeben werden müsse, und damit wäre weder ihm noch der Cremonea gedient, die es doch als Betriebsgeheimnis ausnutzen wollte. Kirchberg sah das ein. Es war eine dumme Geschichte. Er hatte sich in die Sache schon so hineingedacht, daß er nicht mehr heraus mochte. Unwillig schlug er die Holzplatten mit den Lackproben, die er in der Hand hielt, klatschend gegeneinander.

»Sie müssen aus Ihrem Turm heraus, Herr von Bossini«, rief er, »sonst kann aus der ganzen Sache nichts werden. Suchen Sie sich doch irgendeinen bekannten Mann von einer Universität oder einem Museum, der wird doch nicht gleich mit Ihrem Lackrezept hausieren gehen.«

»Autoritäten?« lächelte Bossini verächtlich, »Autoritäten! – Autoritäten sind wir selbst, und nur dafür, daß man einem anderen mehr glaubt als mir, werde ich doch meine Lackprobe nicht hergeben. Aber Sie können ja machen, was Sie wollen. Kaufen Sie mir das Lackrezept ab, und suchen Sie sich Ihre Autoritäten!«

Kirchberg schüttelte den Kopf. »So geht es nicht, mein Lieber. Wenn Sie Stradivari-Lack verkaufen wollen, müssen Sie beweisen, daß es welcher ist, und nicht ich. Lassen wir das! Vielleicht kommen wir von der Geldseite der Sache am ehesten näher. Was soll das Lackrezept kosten?«

In napoleonischer Haltung setzte Bossini den linken Fuß vor den rechten und rollte mit den Augen wie ein eingesperrter Löwe vor der Fütterung. »50 000 Lire!« erklärte er.

Die komische Geste dieses Mannes, der gerade vom Kartoffelpuppentheater zu kommen schien, brachte Kirchbergs Lachlust zum Bersten. Auf Bossini machte das Gelächter gar keinen Eindruck. Er blieb unbeweglich in seiner Haltung stehen und wiederholte: »50 000 Lire!«

Kirchberg rechnete. Die 50 000 Lire waren ein Bluff, man würde sich beträchtlich niedriger zusammenfinden. Immerhin war es auf alle Fälle das richtige, diesen Mann mit einer einmaligen Zahlung abzufinden. Es wäre voreilig gewesen, ein letztes Wort zu sprechen, und Kirchberg fühlte sich dazu auch nicht ermächtigt. Er tat so, als wenn die unerschütterliche Haltung Bossinis ihn verwirrt hätte, und entschuldigte sich für sein Lachen über einen Betrag, der bei eingehenderer Erwägung doch eine Diskussionsgrundlage vielleicht abgeben könnte. Bossini nahm das mit Genugtuung auf und dachte, wenn die Cremonea mir 50 000 Lire geben will, dann werde ich mir den Handel vorher noch sehr überlegen. Jetzt stand die ganze Eventualität auf der Frage des Gutachtens. Davon ließ Kirchberg nicht ab. Die bisherigen Erfahrungen hatten auch Bossini schon mürbe gemacht, und er hatte sich wiederholt überlegt, wie er von neuem an Florenus herantreten könnte. Die Unterhaltung mußte ein Ende nehmen. Kirchberg drängte zur Entscheidung, da er am anderen Morgen frühzeitig über München nach Hause zurückkehren wollte. Bossini bezwang seinen letzten Widerstand, und er fragte Kirchberg, ob er sich mit einem Gutachten Josephus Florenus' zufrieden geben würde.

»Wie kommen Sie auf Josephus Florenus?« fragte Kirchberg verwundert, »ich hatte vor, ihn in München aufzusuchen, doch zu Ihrer Frage. Ich wäre mit Florenus als Gutachter einverstanden, und wenn er erklärt, daß Ihr Lack der echte Stradivari-Lack sei, oder daß diese Tatsache mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen wäre, dann würde unsererseits der Erledigung des Geschäftes nichts mehr im Wege stehen.«

»Dann bleibt es dabei, empfehlen Sie mich Herrn Florenus, und sagen Sie ihm, daß ich mich freuen würde, ihn in der Lackangelegenheit noch einmal zu sprechen. Verschweigen Sie jedoch unsere Besprechungen, die im übrigen bis auf weiteres beiden Parteien sowieso noch freie Hand lassen.«

Kirchberg hätte Bossini gerne fester verpflichtet, ohne seine eigene Bindung ging das nicht. Es blieb also dabei. Bossini hatte sich überlegt, daß er das Rezept der Cremonea nur dann verkaufen würde, wenn ihm auf Grund der Auskunft Josephus Florenus' die alleinige Ausnutzung nicht möglich sein würde. Kirchberg ahnte nicht, daß das Rezept für die Cremonea verloren war, wenn Josephus Florenus die Echtheit bezeugte.

Noch an demselben Abend hatte Kirchberg Kommerzienrat Markwald über das bisherige Ergebnis der Reise unterrichtet und dabei über den Besuch bei Bossini nur das Notwendigste angedeutet. Von seinem Vorhaben, Florenus aufzusuchen, schrieb er nichts. Frohgelaunt trat er die Reise nach München an. Es war ihm außerordentlich angenehm gewesen, daß Bossini selbst Florenus vorschlug. Er hatte den listigen Mann für einen komischen Kauz genommen, wie er im Handel mit alten Geigen wohl vorkommen kann. Bossinis Wahl war nicht so freiwillig auf Florenus gefallen. Ein bestechlicherer Charakter wäre ihm schon lieber gewesen, dem hätte er nur selber nicht getraut. War es notwendig, das Rezept einem anderen zu zeigen, dann wollte er es schon am liebsten Florenus geben, der würde für das Gutachten auch keine Bezahlung nehmen.

Kirchberg lehnte sich in den Polstern zurück, um ein wenig auszuruhen. Die Aufregungen der letzten Wochen hatten ihn sehr angegriffen. Er war abgekämpft und abgespannt. Die unerwartete Abwechslung in Mailand mit ihrer einzigartigen Aussicht auf eine neue Möglichkeit für die Cremonea, hatte seiner erfindungsreichen Phantasie einen neuen Schöpfungspunkt gegeben. Seine temperamentvolle Energie hatte einen frischen Anstoß erhalten, und die quälende Angst um das, was werden sollte, war von ihm gewichen. Er wußte wohl, daß Bossini nicht gerade auf ihn gewartet hatte, und daß diesem schon große Hoffnungen zerschlagen sein mußten, bis er sich zu der Resignation bereit fand, ein solches Mittel aus der Hand zu geben. Das Mittel einer Sensation. Kirchberg schob die Lippen zusammen. Sensation ist das, was man die Menschen glauben macht. Das hatte Bossini nicht verstanden. Jetzt sollte es eine wirkliche Sensation geben. Es fehlte nur noch der Kunstgriff für die Gestaltung des richtigen Geigentones, dann war das Glück vollkommen.

Das Surren und Hämmern der Räder schläferte Kirchberg ein. Die Nerven entspannten sich, aber das überreizte Gehirn arbeitete weiter. Wilde Männer tummelten und rauften sich auf einem Schiffe, das in unerhörter Geschwindigkeit durch brechende und krachende Wellen dahinstob. Laute Schreie und himmlische Musik schienen sich übertönen zu wollen. Dazwischen platzten Granaten und brannten lodernde Feuer. Es kam ein Sturm, der über das Deck hinfegte, die Flaggen zerriß, die Masten zerbrach und die Feuer vertrieb. Die wilden Menschen waren still geworden, die See war ruhig. Das Schiff fuhr immer langsamer, aus der Ferne leuchtete ein Turm. Das Meer wurde zäh wie Teig, das Schiff blieb stehen und versank immer tiefer darin. Er selbst sprang heraus und zog es mit aller Macht, wie ein Kind sein Schifflein durchs Wasser zieht. Es half ihm nichts, das Tau zerriß, und er stürzte in die dunkle, schwammige Masse. Ein Lärm brauste in seinen Ohren, und stöhnend begrub er das Gesicht in den Händen. Aus der Ferne hörte er einen letzten Schrei. Kirchberg erwachte und rieb sich die Stirn. Hatte man ihn gerufen? Er sah nach der Uhr, er hatte zwei Stunden geschlafen. Etwas Schreckliches hatte er geträumt. Josephus Florenus war es gewesen. Er mußte lachen und wurde doch wieder ernst. An diesem Manne hing seine Arbeit, sein Leben.

 

Für die nachgesuchte Unterredung hatte Florenus seinen Gast auf die neunte Abendstunde zu sich gebeten, da er am Tage zu sehr beschäftigt war. Auf dem Wege vom Hotel zur Wohnung Florenus' befielen Kirchberg seine alten Sorgen mit doppelter Gewalt. Je näher er der Wohnung kam, um so zweckloser schien ihm sein trotziges Bemühen zu sein, von diesem Manne die Klärung zu erwarten. Florenus war es gerade gewesen, der auf die ausführliche Darstellung seines Vorhabens so kurz und scharf geantwortet hatte. Verbarg diese Antwort wirklich kein Geheimnis? War sie wirklich die vernichtende Kritik an einer falschen Schlußfolgerung? Kirchberg stieg langsam die Treppen zur Wohnung empor. Er mußte hastig atmen, und die Hand, die auf die Klingel drückte, zitterte.

Ins Zimmer geführt, wurde Kirchberg von Florenus liebenswürdig begrüßt. Es fiel Florenus das schlechte Aussehen seines Gastes auf, und Kirchberg nahm es dankbar an, daß er eine Flasche Chianti auf den Tisch stellen ließ. Er erhob das Glas gegen seinen Gastgeber und leerte es in einem Zuge aus. Florenus goß das Glas wieder voll und meinte: »Sie kommen zwar gerade aus Italien, aber ich freue mich, zu sehen, daß Ihnen unser Wein auch hier gut mundet.« Kirchberg wollte sich entschuldigen. »O, nicht das!« wehrte Florenus ab. »Sie sind müde von der Reise, und dann begehrt man den Wein. Aber nun erzählen Sie, wie sind Ihre Versuche ausgegangen?«

Es war das erstemal, daß Kirchberg mit Florenus zusammenkam. Ein Blick auf diesen Mann, der in kurzer, gedrungener Haltung mit festen Lippen und klugen Augen vor ihm stand und mit freundlicher Selbstverständlichkeit den Gastgeber übte, überzeugte ihn, daß das ganze Gebäude von Worten, welches er sich errichtet hatte, hier so unangebracht war wie ein Komiker in der Kirche. So unterließ er alles Beiwerk, schilderte kurz den Werdegang seiner Versuche und beschäftigte sich etwas eingehender mit dem von ihm konstruierten Horchapparat, der Florenus besonders zu interessieren schien. Als er auf das eigentliche Thema kam, wurde er unabsichtlich erregter und trug seine Fehlschläge mit leidenschaftlicheren Worten vor. »Ich kann und kann es nicht verstehen«, schloß er, »daß bei einer so gewissenhaften und sauberen Arbeit der melodische Korpuston ausbleiben soll. Es hat mir immer Ihr Wort vor Augen geschwebt, und ich habe nicht gewußt, was es bedeuten sollte. Der Mißerfolg hat mich gelehrt, daß es etwas bedeuten sollte. Nun sagen Sie, bitte, was?«

Den Ausführungen Kirchbergs war Florenus aufmerksam gefolgt. Die so genau und kleinlich durchgeführten Versuche waren ihm interessant, und zwar aus einem Grunde, den Kirchberg nicht vermuten konnte. Er sah in allem das Gegenspiel seiner eigenen Arbeit. Es war der entgegengesetzte Weg, der bis zur Sinnlosigkeit verfolgt worden war. Sinnlos, weil der Aufwand nutzlos vertan sein mußte, weil die Kunst sich nicht der Mechanik beugt. Florenus hatte erwartet, in Kirchberg einen pedantischen Mathematiker zu finden. Er war erstaunt und fast schmerzlich berührt, daß dieser findige und leidenschaftliche Mann soviel Energie an eine aussichtslose Arbeit gesetzt hatte. Er hätte am liebsten das Gespräch mit einer freundlichen Wendung auf ein anderes Thema gebracht. Doch das war nicht möglich. Kirchberg war gekommen, um sich die Enttäuschung zu holen, die er bis zu dieser Stunde aufgespart hatte, und Florenus sollte ihm diese Enttäuschung bereiten. Die Stunde war unabweisbar.

»Sie haben mich gefragt, und ich muß Ihnen antworten«, erwiderte Florenus, »ich habe kein Geheimnis zu verbergen und habe meiner These auch keine Erläuterung zu geben. Sie werden das, was Sie suchen, Herr Kirchberg, dort, wo Sie es suchen, niemals finden.«

»Wie soll ich das verstehen«, fragte Kirchberg eindringlich, »habe ich nicht den Klang von Boden und Decke in feinster Abstimmung ermittelt, Höhe und Größe mit dem Zirkel gemessen? Wenn der Ton auf diesen Vorleistungen beruht, dann mußte er sich doch einstellen!«

»Mußte er das?« fragte Florenus mit leiser Ironie. »Schneiden Sie sich mit Ihrer Maschine acht Platten winkelrecht und haargenau zurecht, setzen Sie sie zusammen zu einer Kiste, und betrachten Sie Ihr Werk, wenn Sie den letzten Nagel eingeschlagen haben! Sollen die Flächen glatt und eben sein, müssen Sie noch einmal mit Hobel und Feilen nachhelfen, und messen Sie die Kanten, dann stimmen Ihre Millimetermaße längst nicht mehr. Das fällt bei einer Kiste nicht weiter auf, bei einer Geige ist das anders.«

»Ich will den groben Vergleich hinnehmen, aber meinen Sie wirklich, daß die minimalen Abweichungen bei der maschinellen Feinarbeit das ganze Bild zerstören können?«

»Ich meine noch mehr, Herr Kirchberg, ich meine, daß es keine Kunst ist, eine Kiste zu bauen.«

»Ich wollte auch keine Kisten bauen, Herr Florenus«, erwiderte Kirchberg etwas verletzt. »Machen sich nicht alle Geigenbauer Risse, Maße und Berechnungen, arbeiten sie nicht alle mit Zirkel, Lineal und Schnörkel? Wie kann der Unterschied so groß sein, was kann es bedeuten, ob der eine mit der Hand sägt und schneidet und der andere mit der Maschine? Wenn alles richtig durchgedacht ist, muß es doch genügen, daß die Hand die letzte Feile anlegt. Oder«, fügte er mit Betonung hinzu, »der Ausgangspunkt ist falsch, Herr Florenus!«

»Sie haben recht, der Ausgangspunkt ist falsch. Wie kann ich Sie belehren, wenn Sie mich nicht verstehen? Gewiß müssen Maß und Zirkel uns erleichtern, das Ebenmaß zu treffen, aber mit Maß und Zirkel wurde nicht die Kunst erfunden. Das Holz unter Ihrer Maschine ist ein totes Objekt. Das Holz in meiner Hand ist ein Stück Leben von mir!«

»Wenn der Mensch sich Maß und Zirkel zu Hilfe nehmen dürfte, um in seiner Kunst zu schaffen, weshalb soll er nicht weitergehen bis zur Maschine, besonders wenn er konstante Größen vor sich hat?«

»Was nennen Sie konstante Größen, Herr Kirchberg?«

»Nun, Länge und Breite, Material und Stärke, Klang und Schwingungszahl und manches andere sowie die Beziehungen aller Dinge zueinander.«

»Woraus entnehmen Sie, daß das konstante Größen sind? Ein Pferd ist ein Pferd, und jede Rennbahn kann Ihnen zeigen, daß selbst unter den ähnlichsten und edelsten das eine schneller ist als das andere. Von Ihren konstanten Größen kann aber nicht einmal dasselbe gesagt werden wie von den Pferden.«

»Gestatten Sie einmal, Herr Florenus! Wenn Sie Ihre Geigen bauen, ist jeder Handgriff überlegt. Wenn Sie hundert Geigen bauen, gewinnen Ihre Handgriffe eine bestimmte Routine, und bauen Sie mehr, um so sicherer wird die Routine. Diese Routine bewegt sich um eine mittlere Norm. Alle Geigen, die Sie bauen, besitzen Abweichungen davon, aber diese Norm ist konstant. Wird diese Norm der maschinellen Schablone zugrunde gelegt, dann müssen die Abweichungen doch eher geringer als größer sein als bei der Handarbeit. Um dieses Ziel habe ich gerungen.«

»Warum soll ich Ihnen immer wiederholen, daß Sie von einer falschen Vorstellung befangen sind? Bleiben wir einmal bei Ihrer Norm, dann besteht der Unterschied zwischen uns beiden darin, daß für mich diese Norm ein künstlerisches Ideal und für Sie eine rechnerische Größe ist. Dabei haben Sie in Ihrer Rechnung so viele Fehler, als Sie Konstanten annehmen. Ich schalte bei meinem Bau der Geige so viele Fehler aus, als ich empfinde. Fragen Sie noch, warum Sie so entsetzt vor Ihren Erzeugnissen stehen?«

Kirchberg senkte den Kopf und schwieg. Er merkte, daß Florenus die Unterhaltung nur aus Höflichkeit fortgeführt hatte, innerlich nahm er keinen Anteil. Kirchberg fühlte sich beschämt und unterlegen. Er war selbst kein unkünstlerischer Mensch und wirkte sich aus im Erfinden und Gestalten. Er wollte ein hohes Maß der Leistung von der Maschine erzwingen. Die Maschine sollte das Werkzeug der Kunst sein, wenn nicht der vollendetsten, dann der verbreitetsten. Er wußte nicht, wie er das Ziel des eigenen Willens in der Gedankenwelt Florenus verständlich machen sollte. Er fand die Worte nicht, weil seine Zuversicht erschüttert war. Kirchberg war von Haus aus Physiker. Das Studium der akustischen Gesetze und seine Liebe zur Musik hatten ihn zum praktischen Geigenbau geführt. Er war zu viel Physiker geblieben und zu wenig Geigenbauer geworden. Die physikalischen Gesetze der Töne waren andere als die harmonischen des Hörens. Würde er tiefer in das biologische Wesen der Musik geschaut haben, würde er verstanden haben, daß Harmonie und Melodie, daß die natürliche Schönheit der Töne in der Eigentümlichkeit des menschlichen Hörens begründet waren. Die physikalischen Tonwellenbereiche sind andere als die harmonischen Bereiche des Ohres. Es war Kirchberg daher gar nicht möglich, durch physikalische Berechnung zum harmonischen Ton zu gelangen. Es war nicht einmal möglich, die Klangelemente des harmonischen Tones durch physikalische Wellenmessungen zu erfassen. Diese scheinbaren Ungereimtheiten in akustischen Beziehungen ergaben sich aus der Unvollkommenheit der menschlichen Sinnesorgane. Deshalb ist alle Kunst nur ein Geheimnis, das Geheimnis in uns selbst und doch die große Ausstrahlung des Lebenerhalters.

Die Weile des Schweigens wurde drückend. Kirchberg raffte sich zusammen und sagte: »Ich bin ein Freund der Musik und spiele die Geige mit Genuß. Ich wäre sonst nicht so unglücklich darüber, daß meine Instrumente mir nicht gefallen können. Ich bin in den Manufakturen gewesen, habe gesehen und gelernt, wie man Geigen baut. Sie waren recht und schlecht. Dort wurde schon vieles von der Maschine gemacht ungleich und unschön, auf den Geigen spielt man aber doch. Was wollte ich mehr als diese Ware verbessern, und was ich verbessern wollte, wurde schlechter!«

»Man hätte die Leute ihre Geigen bauen lassen sollen ohne Belehrung und ohne Maschine, Herr Kirchberg, und es wäre besser gewesen.«

»Wieso«, fragte Kirchberg erschreckt, »können Sie schon in diesem frühen Stadium der ungebildeten Hand vor der durchdachten Maschine den Vorzug geben? In allem Späteren und allem Höheren will ich Ihnen ja gerne zugestehen, daß Sie recht haben. Ist denn von Grund auf alles in mir umgedreht, verkehrt und falsch? Bin ich vom ersten menschlichen Gedanken an verflucht, das Gute nur zu wollen, um damit Unheil anzurichten?« Kirchberg war in eine plötzliche, leidenschaftliche Erregung geraten. Er stemmte die Hände auf die Oberschenkel und starrte mit aufgerissenen Augen Florenus an.

»Warum treiben Sie sich selbst in solche Enge?« fragte Florenus begütigend seinen Gast. »Sie sind der erste nicht, der seine große Kraft an ein verkehrtes Ziel gesetzt hat. Auch das ist nicht umsonst. Wir müssen manchmal lernen, zu begreifen an dem, was uns unfaßbar ist. Dann trägt auf einem anderen Weg der Fuß uns um so sicherer in die Höhe. Nehmen Sie Ihr Glas, Herr Kirchberg, der Wein beweist den überreizten Nerven, daß es im Leben leichtere Pflichten gibt.«

Kirchberg blickte dankbar zu seinem freundlichen Wirt hinüber, erhob das Glas und sagte: »Es sollte wohl so sein. Sie sind der Glücklichere, Herr Florenus, so soll der Trunk dem Glück gereicht sein. Noch einmal eine letzte Frage: Ist alles, was die Technik uns gebracht, ist Kino, Photo, Grammophon, und was es sonst noch gibt, ist alles Kitsch und falsch und schlecht, ist alles nur ein Gift und Surrogat?«

Florenus lachte und erwiderte: »Wie, soll ich Ihnen über alles meine Meinung sagen? Ist das nicht alles für die Freude da, und freuen sich die Menschen nicht daran? Wie traurig sollte wohl das Leben dieser Menschen sein, wenn sie in ihrem Reich auf den Genuß verzichten sollten! Nein, lieber Freund, ich bin gar nicht so hart. Doch Kunst, Kunst ist ein ander Ding. Die Kunst ist wohl für jedermann, doch jede Kunst ist nicht für jeden. Wo einer sich bescheiden muß, mag das so gut das Seine sein wie für den Unersättlichen der Tropfen Sternenglanz! – Doch sehen Sie, der Begriff der Kunst des Geigenbaues spricht sich sehr einfach aus. Sie wollen wie so viele vom Instrument zum Ton gelangen. Die Richtung ist falsch, es führt der Weg vom Ton zum Instrument. Ich wollte, daß mir Gott die Fähigkeit gegeben hätte, das Instrument zu bauen, das dem Tone Dauer gäbe, der in mir lebt. – Wo sind Sie hingegangen? Vom ersten falschen Schritt an hat Sie Ihre ganze Maschinerie in ein Labyrinth von Irrgängen gebracht. Der kleinste Geigenbauer, der seine Hölzer schnitzt und falzt und über jeden Ton frohlockt, den ihm das Instrument beschert, bleibt immer dicht an jener Grenze, wo sich der Weg zur Kunst erschließt.«

Kirchberg erhob sich. »Ich hab' noch eine Botschaft auszurichten, Herr Florenus: Herr von Bossini in Mailand trug mir auf, Ihnen seine Grüße zu bestellen und Ihnen anheimzugeben, ihn einmal wieder aufzusuchen.«

Florenus blickte fragend auf Kirchberg, dem seine Schweigepflicht unangenehm war. Florenus bedankte sich und fragte nicht weiter. Kirchberg trennte sich schwer.

Die Ausführungen Florenus' hatten Kirchberg tief getroffen. In seinen eigenen Gedanken fand er sich nicht mehr zurecht. Er hatte zu hohe Mauern um die Kreise gezogen, in denen er sich drehte. Von oben war ein Licht hineingefallen, und die Mauern sahen greulich und gefühllos aus. Er hätte zu dem großen Tore hinausgehen können, es war weit offen; er spähte aber lieber nach der kleinen Pforte, ging langsam auf sie zu, müde und scheu.

 

Im Direktionszimmer des Kommerzienrats Markwald saß Kirchberg wieder seinem Chef gegenüber und berichtete über seine Reise. Kirchberg hatte sich zum unendlichen Male die ganze Fabrikation durchdacht. Er erwog, was zu halten und was neu zu gestalten wäre, wenn er der Auffassung Florenus' näherkommen wollte. Es half ihm nichts, Stück für Stück baute er sein eigenes Werk ab. Es blieb so wenig, daß es nicht der Mühe wert war, dieses Wenigen wegen eine einzige Maschine laufen zu lassen. Der Mensch ist schwach. Kirchberg mochte Markwald das volle Fiasko seines Planes nicht eingestehen. Er war zu ehrlich, um ihn absichtlich zu täuschen. Er klammerte sich an das Beharrungsrecht des tätigen Mannes und versuchte, durch einen Kompromiß die Lage zu retten. Die Maschine sollte das fertige Material liefern, und geschulte Geigenbauer sollten die Verarbeitung übernehmen. Kommerzienrat Markwald erfaßte die Lage durchaus richtig, als er zu Kirchberg sagte: »Sie versuchen einen Rückzug in guter Deckung. An einen solchen Ausgang habe ich nicht gedacht, und wir stehen vor sehr ernsten Überlegungen, wenn wir durch die Umstellung mit unseren Kalkulationen nicht zurechtkommen. Was ist das nun aber für eine Geschichte mit dem Lack? Vor einigen Jahren las ich allerhand davon, Stradivari sollte damit den Ton seiner Geigen verbessert haben. Dieses alte Lackrezept soll es sein. Na, wissen Sie, da glaube ich schon lieber, was man von Stradivari sagt. Was ist dieser Bossini für ein Mann, ist es ein vernünftiger Mensch, ein Goldmacher, ein Wechselfälscher oder ein neuer Weiser aus dem Morgenlande?«

»Mein letzter schriftlicher Bericht enthält alles sachlich Wissenswerte. Wenn Josephus Florenus die Echtheit oder auch nur die Qualität des Lackes bezeugen würde, würde ich keinen Anstand nehmen, auf Grund der hinterlassenen Dokumente Giacomo Stradivaris damit an die Öffentlichkeit zu treten. Über den Preis, den Bossini fordert, wird man mit ihm noch verhandeln müssen. Mit einer solchen Beigabe, wie diesem Lack, würden unsere Instrumente einen Vorrang einnehmen, den man sich mit gutem Gewissen bezahlen lassen könnte. Über Bossini selbst kann ich nichts Schlechtes sagen. Grandelli hat mich an ihn empfohlen. Freilich, dieser Bossini macht eine komische Figur, er rollt mit den Augen und springt herum wie eine Meerkatze, aber in der Sache ist er bestimmt ernst zu nehmen. Die Proben, die er mir zeigte, legten ein gutes Zeugnis für die Beschaffenheit des Lackes ab. Ich hätte mich sonst wohl näher erkundigt, aber in der Sache verbot es sich von selbst, und es wäre auch nicht gut gewesen, irgendwo die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. In dieser Beziehung können wir uns auch wohl auf Grandelli verlassen.«

Kommerzienrat Markwald überdachte die Lage. Die Ansichten Kirchbergs über die Mängel der Fabrikationsmethode hielt er für viel zu pessimistisch. Es war nicht alles so gelaufen, wie es sollte. Nach seinen Erfahrungen im Instrumentenbau war das nicht so selten. Kirchberg hatte die Anforderungen zu hoch geschraubt. Das konnte man bei einer Massenproduktion nicht machen. Markwald tröstete sich damit, daß das Bauprinzip von den bedeutendsten Geigenbauern als richtig anerkannt worden sei. Von der Unterredung Kirchbergs mit Florenus hatte er keine Kenntnis. Die Sache mit dem Lackrezept kam ihm sehr gelegen. Kirchberg hatte den Erwerb abhängig gemacht von dem Gutachten Florenus'. Das war nach Markwalds Meinung unkaufmännisch, je nach dem Ausfall des Gutachtens würde Bossini seine Forderungen stellen. Er hielt das Gutachten überhaupt für überflüssig, denn hinter Bossini standen doch die Bekundungen Giacomos. Von der Lackprobe war Kirchberg begeistert. Sollten wirklich Zweifel auftauchen, konnten sie gegen Bossini ausgefochten werden. Ein auch nur halbwegs günstiges Gerichtsurteil mußte der Sache schon dienen. Inzwischen wäre das große Geschäft eingeleitet gewesen. Florenus mußte unter allen Umständen herausbleiben. Er war die größte Gefahr für das Geschäft. Sein Gutachten trieb entweder den Preis für das Gutachten in die Höhe, oder es entzog der praktischen Verwendung des Lackes den Boden. Die Propaganda hatte daran festzuhalten, daß die Instrumente nach Stradivaris Prinzip gebaut seien, und daß der Anstrich von dem echten Stradivari-Lack stamme.

Markwalds Entschluß war gefaßt. »Herr Kirchberg«, sagte er, »telegraphieren Sie, bitte, sofort an diesen Bossini, daß wir das Lackrezept auch ohne das Gutachten Florenus' unverzüglich kaufen wollen. – Jawohl, jawohl, Herr Kirchberg, ohne das Gutachten Florenus'. Ich biete dem Manne vierzigtausend Lire, zehntausend sofort und dreißigtausend in drei Monaten.«

»Aber, Herr Kommerzienrat, wenn ...!«

»Nichts, Herr Kommerzienrat, wenn –! Wenn Sie auch ein guter Fachmann sind, mein lieber Herr Kirchberg, für das Geschäft fehlen Ihnen die Nerven und die Erfahrungen. Den Betrieb wollen wir bezüglich der Fertigstellung der Instrumente wieder etwas mehr auf Manufaktur umstellen, aber nur, soweit es notwendig ist. Kalkulieren Sie die normale Monatsleistung und die Unkosten! Der Buchhaltung gebe ich noch Anweisung. Mit der Reklame warten wir bis zur Rückantwort Bossinis. Das gibt eine Reklame, Herr Kirchberg, daß die Sonne vor Erstaunen um den Äquator schaukelt!« Markwald rieb sich vergnügt die Hände.

Kirchberg begab sich in sein Zimmer, setzte das Telegramm an Bossini auf und übermittelte es selbst telephonisch dem Postamt. Er tat alles mechanisch und gedankenlos. Einige Briefe gab er zur Erledigung in das Schreibzimmer und stieg die Treppe hinunter zu seinem Laboratorium. Dort ließ er den alten Werkmeister Hansen kommen.

»Na, Hansen, wie steht es?« fragte er freundlich und konnte seine Sorge doch nicht verbergen.

»Wir haben die Vorarbeiten fortgeführt, Herr Kirchberg. Die fertigen Teile sind im Trockenraum gestapelt worden. Wir haben auch zwei Geigen zusammengestellt.«

»Wie sind sie ausgefallen, Hansen?«

»Die Instrumente sehen gut aus, aber der Ton ist unsicher und grell. Die Unklarheit würde noch nicht so schlimm sein wie diese Härte. Wenn ich mir ein Wort erlauben dürfte, Herr Kirchberg, dann möchte ich sagen, die Geigen sind zu flach.« Als er merkte, daß Kirchberg mehr hören wollte, setzte er hinzu: »Der Ton muß zwischen Boden und Decke spielen, so stößt er sich und wird zu hart.«

Kirchberg lächelte melancholisch. Der gute Mann hatte vielleicht recht, vielleicht auch nicht. Kirchberg wagte gar nicht mehr zu experimentieren. Florenus hatte ihm den Glauben genommen. Es ging doch nicht mehr. Die Umstellung auf die Manufaktur konnte vielleicht die Cremonea retten, aber ihn nicht mehr. Was sollte er hier noch? Er seufzte schwer. Den alten Werkmeister hatte er ganz vergessen. »Ich danke Ihnen, Hansen«, sagte er, »wir werden noch darüber sprechen.« Der alte Mann wandte sich zum Gehen, blieb aber an der Tür stehen und schaute sich nach Kirchberg um. Er wollte noch etwas sagen, wiegte den grauen Kopf, besann sich und ging hinaus.

Die Tür klappte zu, und Kirchberg versank wieder in Nachdenken. Was sollte er hier noch? Was er geplant hatte, war nicht zu erreichen gewesen. Es kam ihm immer noch unerklärlich vor, aber jeder Versuch lehrte, daß es nicht ging, und daß Florenus recht hatte. Florenus sprach von einer ganz anderen Ebene, aus einer ganz anderen Welt. Warum eigentlich aus einer anderen Welt, lebten sie nicht beide in derselben Welt? Hatte für sie beide die Musik nicht denselben Charakter? War es nicht der ernste Wille beider, zu dieser Musik zu kommen? Florenus sagte, er baue sich das Instrument für seine Musik, nein, nach seiner Musik. Vom Ton zum Instrument. Das Instrument sollte den Ton zurückgeben, den es, beseelt durch den Künstler, empfangen hatte. Kirchberg glaubte, Florenus jetzt richtig zu verstehen. Die Stimme des Menschen ist nicht rein und nicht in ungebrochener Schwingungszahl zu erfassen. Alles, was den sphärisch reinen Ton im menschlichen Ohr begleitet, umfängt, stört, ist für die Empfindung der Musik, nein, für die Empfindung als Musik, als Harmonie und Melodie dem Menschen unentbehrlich. – Einen Augenblick leuchtete ein neuer Gedanke in ihm auf. Könnte man die Holzplatten abstimmen auf Menschenlaute? Mit Hand und Gehör vielleicht, aber mit der Maschine? Würde man für den Zusammenklang der Teile gesetzliche Maße und Verhältnisse finden? Er dachte an die unendlich vielen Versuche, die er in langen Jahren angestellt hatte, und die nun auf gänzlich veränderter Grundlage wiederholt werden müßten. Wiederholt und immer wiederholt, bis sich zeigen würde, ob eine brauchbare Norm vorhanden ist. Was sollte das Ende dieser ruhelosen Arbeit sein, was würde sich ergeben? Ein Ungeheuer mit krächzender Brust, wie alle die Tonkisten, die er da zusammengeleimt hatte? Kirchberg lachte bitter in sich hinein. Wenn wirklich noch einmal einer sein Leben daransetzen wollte, solche Experimente zu machen, und würden es wirklich erträgliche Instrumente werden, dann würde ein Vermögen verschwendet worden sein für das, was eine halbgeschickte Hand für wenig Geld schon längst zuwege brachte. Das war ja alles Blödsinn. Florenus hatte ihn mit Recht verspottet, seine Kisten waren keine Kunst. Mit Hobel und Hammer kommt man nicht hinter die Geheimnisse in der Menschenbrust. Jeder Gedanke ist etwas Großes, etwas Wunderbares, aber wenn es ein fremder Gedanke ist, muß man ihn verstehen, wie der Fremde ihn gedacht hat. Wir brauchen hundert Jahre, um unsere großen Männer zu verstehen, und wir verstehen sie erst, wenn wir in sorgenvoller Mühe von Sprosse zu Sprosse an der Leiter emporgeklommen sind bis zu der Höhe, von der uns ihre Intuition entgegenlacht. Dann bilden wir uns noch ein, sie hätten unser Ameisenwerk vorgeahnt! Er hätte zu Florenus fahren sollen, als er ihm schrieb: Mein Gedanke ist richtig, aber Ihre Konstruktion ist falsch. – Sie war falsch, grundfalsch, urfalsch. Was sollte jetzt noch die Komödie mit dem Lack nützen? Der Lack war so falsch wie seine Konstruktion!

Das Blut pochte Kirchberg in den Schläfen, und der Hinterkopf brannte ihm. Eine Arbeit von Jahren war zwecklos geworden. Die Jahre waren vertan, die Mittel verzehrt. Die graue Not würde ihm jeden neuen Anfang verwehren. Was für einen Anfang überhaupt, was für einen Weg und wohin? Mit seinen totgeborenen Gedanken hatte er das Vertrauen anderer getäuscht. Man würde es ihm zeigen, ihn verlachen und verachten. Und vorher? Vorher würde er in Tausenden von Flugblättern und Anzeigen die Menschen belügen und betrügen müssen, die sich zu ihrer Freude ein gutes Instrument zu kaufen wünschten! Er müßte Markwald die Wahrheit sagen! Er müßte allen die Wahrheit sagen, er müßte der unglückliche Schuldner für alle Spargroschen sein, die für diese Instrumente vergeudet würden! In einer plötzlichen Aufwallung riß er den Hörer vom Telephon, es meldete sich niemand. Er schaute auf, er hatte vergessen, daß der Betrieb schon geschlossen war. Die Zentrale arbeitete nicht mehr. Er stellte um auf das Amt und ließ sich mit der Wohnung Markwalds verbinden. Es glückte, Kommerzienrat Markwald kam ans Telephon.

»Hallo, was, Sie sind noch da, Herr Kirchberg, ja, Sie wünschen?«

Mit heiserer Stimme antwortete Kirchberg: »Herr Markwald, wir müssen den ganzen Betrieb schließen!«

»Was sagen Sie?«

»Wir müssen den ganzen Betrieb schließen. Es ist alles Unsinn mit der Konstruktion, mit dem Lack und allem andern!«

»Seien Sie doch nicht komisch, Herr Kirchberg! Betrieb schließen? Im Gegenteil, jetzt geht die Arbeit erst los!«

»Herr Kommerzienrat Markwald, ich bitte um meine sofortige Entlassung, wenn der Betrieb nicht geschlossen wird!«

»Aber Herr Kirchberg, was ist denn mit Ihnen, haben Sie geraubt, gemordet oder gestohlen, daß Sie auf so verrückte Gedanken kommen? Die Verantwortung für den Betrieb überlassen Sie gefälligst mir! Gehen Sie nach Hause, schlafen Sie gut aus, und kommen Sie morgen eine Stunde später! Dann wollen wir vernünftig an die Sache herangehen. Sind Sie noch da? – Ja? – Na also, dann gute Nacht, mein Lieber!«

Markwald legte den Hörer hin. Diese Überstudierten sind nicht für das Geschäft, brummte er, sie sehen alle den Wald vor lauter Bäumen und die Geige vor lauter Hölzern nicht! Er ging wieder zu seiner kleinen Gesellschaft zurück, der er gerade die abenteuerlichsten Geschichten über den Stradivari-Lack erzählte.

Die Worte seines Chefs hatten Kirchberg noch trübsinniger gemacht. Dieser optimistische Kaufmann würde ihn halten wollen und würde ihn veranlassen, das als Rolle weiterzuspielen, was er bisher wirklich gewesen war. Er würde alles mit seinen Worten decken, erläutern und verteidigen. Das war ja selbstverständlich. Das erforderte seine Stellung und das Geschäft, und für das Geschäft war er da. Er müßte handeln wider sein Gewissen und wider seine Ehre. Markwald war ein jovialer Mensch und ein kluger Kaufmann, er hatte ihm volles Vertrauen geschenkt und seine Pläne wohlwollend gefördert. Dabei hatte ihn das Interesse zuerst mehr mit fortgerissen als die Aussicht, Geschäfte zu machen. Kirchberg kam es verächtlich vor, daß er diesen Mann jetzt mitten in der Arbeit verlassen sollte. Er konnte ihm auch nicht mehr nützen. Es hätte auch keinen Zweck, zu versuchen, ihm alles zu erklären, er würde es vorher nicht glauben, und nachher wäre es zu spät. Wenn alles zusammengebrochen war, dann, dann ja, aber dann ...?

 

Am andern Morgen war große Aufregung in der Cremonea A.G. Die Angestellten tuschelten mit erschreckten Mienen untereinander. Kriminalbeamte waren im Hause. Der Betriebsleiter der Gesellschaft, Hermann Kirchberg, hatte sich in seinem Laboratorium erschossen. Die Tat mußte sich in den Nachtstunden ereignet haben. Man raunte sich viel Törichtes zu über die Gründe. Auf dem Tische des Toten lagen zwei Briefe, einer an seine Mutter und einer an Herrn Kommerzienrat Markwald.

Markwald saß in seinem Arbeitszimmer und ihm gegenüber ein Kriminalbeamter. Er gab ihm den Brief Kirchbergs. »Es tut mir unendlich leid, Herr Inspektor«, bemerkte er dabei mit kaum verhohlener Erschütterung, »es sind überspannte Nerven. Ich hatte ihm noch gestern gesagt, er solle einmal ausspannen. Es kann sich doch nicht jeder geschäftlicher Fehlschläge wegen gleich das Leben nehmen! Außerdem war es soweit noch gar nicht, wir stehen im Gegenteil vor sehr erfreulichen Aufgaben.«

»Hatte er vielleicht pekuniäre Sorgen gehabt, Schulden, Freundschaften usw.?« fragte der Beamte.

»Ausgeschlossen, Herr Inspektor, Kirchberg war ein ordentlicher und zuverlässiger Mann, der in meiner Firma gewiß noch bessere Stellungen bekleidet hätte.«

Der Beamte dankte und verabschiedete sich.

Kommerzienrat Markwald reckte sich unbehaglich in seinem Stuhl. Er nahm den Brief Kirchbergs wieder an sich und steckte ihn in die Brusttasche. Dann ließ er den Prokuristen kommen und ordnete an, daß das gesamte Personal am Begräbnis teilnehmen sollte. Der Prokurist entfernte sich still. Markwald nahm die letzten Berichte Kirchbergs über die Unterredung mit Bossini vor. Er war noch damit beschäftigt, als die Sekretärin eiligst hereintrat und ihm die telegraphische Antwort Bossinis brachte. »Jetzt 100 000 Lire. Bossini«, stand darauf. Der Mann ist verrückt geworden, schalt er, wenn ich nur Zeit zum Aushandeln hätte, aber jetzt muß es Schlag um Schlag gehen. Er rief die Sekretärin und ließ Bossini telegraphieren: 50 000 Lire. Der plötzliche Tod Kirchbergs durfte keine falschen Gerüchte aufkommen lassen. Er ließ sich die Reklametexte vorlegen und schmeckte sie noch einmal ab. Einige Kleinigkeiten änderte er. Jetzt muß noch der Lack hinzu, nickte er, dann kann die Propaganda beginnen. Er rief nach dem Werkmeister Hansen und gab ihm auf, genau nach den Anweisungen Kirchbergs aus den besten Stücken des aufgestapelten Materials etwa zweihundert Geigen zusammenfügen zu lassen.

Es waren einige Tage vergangen, Kirchberg war unter der Teilnahme aller feierlich beigesetzt worden. Markwald hatte die letzten Worte gesprochen. Der Betrieb ging weiter.

Von Bossini war immer noch keine Antwort eingegangen. Markwald hatte inzwischen noch dreimal telegraphiert. Nach weiteren Tagen ging eine Antwort ein. Sie lautete: »Lack unverkäuflich, Bossini.« Markwald wurde ärgerlich. Was war da inzwischen geschehen? Kirchberg hatte den Eindruck mitgebracht, daß Bossini das Rezept gerne gut verkaufen wolle. Vielleicht war es nur ein neuer Trick. Markwald diktierte seiner Sekretärin einen neuen Brief an Bossini und erhöhte sein Angebot auf 60 000 Lire. Der Brief ging als Eilbrief mit bezahlter Rückantwort ab. Als der Brief fort war, bedachte Markwald, ob er nicht zu weit gegangen sei. 60 000 Lire war eine Stange Gold. Er bereute eigentlich, das Angebot gemacht zu haben. Er mußte vorsichtiger sein, denn Kirchberg fehlte ihm in der Fabrikation. Es mußte abgewartet werden, wie es nun gehen würde. Das Risiko der Cremonea A.G. durfte er nicht voreilig anspannen. 60 000 Lire! Was man gesagt hat, muß man einhalten. Stradivari-Lack ist eine Sache! Diese Sache war besser als das ganze Bauprinzip. Man behauptete, daß der Lack den Ton verfeinerte. Das war hier sehr angebracht. Markwald schaute auf den Kalender. Es war der 17. März. Er diktierte seiner Sekretärin einen zweiten Brief an Bossini, in welchem er die Zahlungsbedingungen günstiger definierte, das Angebot aber auf den Ablauf des 22. März beschränkte. Der Tag kam, ohne daß von Bossini eine Antwort eingegangen wäre. Das war zum Tollwerden! Markwald telegraphierte an Grandelli. Grandelli drängte Bossini, sich zu entscheiden. Bossini beharrte auf 100 000 Lire. Grandelli teilte die Forderung Markwald mit, und Markwald – lehnte sie ab.

Das Hin und Her hatte wertvolle Zeit in Anspruch genommen. Die große Attraktion war nun doch nicht zustande gekommen. Die Sensation mit dem Stradivari-Bauprinzip mußte vorsichtshalber auch abgeschwächt werden. Der Preis der fertigen Instrumente lag 80 Prozent über dem der Manufakturen. Die Propaganda ging hinaus und erregte Aufsehen. Die Händler bestellten, und die Interessenten kauften. Das war der erste Auftrieb. Dann wurde es still und stiller.

Ein Jahr nach dem Tode Kirchbergs mußte die Cremonea A.G. liquidiert werden. Der Aufsichtsrat bedauerte, daß der geniale Kirchberg seine große Aufgabe nicht hatte vollenden können, und sprach Markwald die Anerkennung dafür aus, daß er die Gesellschaft rechtzeitig vor einer Verbindung mit Bossini, von dem seltsame Nachrichten über die Alpen kamen, bewahrt habe. Markwald zog sich, um einige Erfahrungen reicher, auf den Instrumentenbau mit besserem Erfolge zurück.

 

Die Verbindung mit der Cremonea A.G. war Bossini sehr interessant gewesen. Seine langen, vergeblichen Versuche, über und unter der Hand mit der Auswertung des Lackrezeptes weiterzukommen, hatten zum ersten Male eine greifbare Form angenommen. Durch die Empfehlung Grandellis war das Zusammenkommen bewirkt worden, und Grandelli hatte auch nicht unterlassen, bei Bossini seine Forderungen anzumelden. Bossini hatte alles in der Schwebe gehalten, um abzuwarten, wie sein Gespräch mit Florenus auslief. Er wünschte immer noch um eine Preisgabe des Rezeptes herumzukommen, verbarg sich aber nicht, daß eine Attestierung Florenus' kaum anders zu erreichen sein würde. Er hoffte weiter, daß Florenus die Lücke des Rezeptes ausfüllen und sich mit ihm vielleicht doch noch in irgendeiner Weise zusammenfinden könnte. Wenn schon einmal geteilt werden sollte, war es Bossini am liebsten, daß dem einen die Ehre und dem anderen das Geld gegönnt sein sollte.

Die von Kirchberg übermittelte Einladung Bossinis hatte Florenus wortlos hingenommen. Er kannte Bossini gut genug, um zu vermuten, daß er mit Kirchberg keine Beziehungen angeknüpft haben würde, wenn er davon keine pekuniären Vorteile zu erwarten gehabt hätte, und es war nicht schwer, zu erraten, daß es sich auch hier um das Lackrezept drehte. Florenus teilte Bossini mit, daß er ihn demnächst aufzusuchen gedenke.

Dieser unbestimmten Zeitangabe wegen hatte Bossini der Cremonea A.G., die er in der Hinterhand halten wollte, nicht Zug um Zug antworten können. Zu seiner Überraschung trat Florenus eines Tages unerwartet in seinen Laden.

»Welche unvermutete hohe Ehre«, bekomplimentierte Bossini den Eintretenden, »ich hätte kaum gedacht, daß ein armseliger Kollege eines so hohen Besuches gewärtig sein dürfte!«

»Ihre Freundlichkeit übertreibt, Herr von Bossini, doch nehmen Sie, bitte, die Schnelligkeit meines Eintreffens als die angenehmste Entgegnung, die ich Ihrem Wunsche zuteil werden lassen konnte.«

»Ganz gewiß, verehrter Herr Florenus, doch darf ich Sie bitten, zu mir in das hintere Gemach meines Hauses zu kommen, damit wir vor weniger angenehmen Zufälligkeiten besser geschützt sind.«

Florenus ließ sich von Bossini über einen Gang in das Arbeitszimmer führen, wo er sich in einem alten Ledersessel niederließ. Er schaute sich um. Werkzeuge und Instrumententeile zeigten, daß man sich bei einem Geigenbauer befand. Es standen aber auch so viele Geräte, Flaschen und Destillierkolben herum, daß der Ort einem chemischen Laboratorium nicht unähnlich sah. Bossini hatte sich ebenfalls einen großen Sessel herangerückt, und da dieser für seine kurze Figur etwas hochbeinig war, schwang er sich mit einem gewohnten Kunstgriff in die Höhe und ließ die Beine frei im Raume hängen. Dabei riß er die kugeligen Augen auf wie ein neugeborener Kiebitz. Mit großer Vorsicht erkundigte sich Bossini nach dem Zweck des Besuches Kirchbergs bei Florenus. Florenus äußerte, daß es sich lediglich um eine Aussprache über eine fachmännische Meinungsverschiedenheit gehandelt habe.

»Ich habe aus meinen Beziehungen zu Herrn Kirchberg keine Geheimnisse zu machen«, bemerkte Bossini vorsichtig, »er wollte mich, kurz gesagt, zur Mitarbeit für seine Gesellschaft gewinnen.«

»Da möchte ich Ihnen nur gratulieren, Herr von Bossini, denn, wie ich annehme, dürfte das nicht Ihr Nachteil sein.«

»Ich binde mich nicht so leicht, Herr Florenus.«

»Und für was soll ich Ihnen verbunden sein, Herr von Bossini?«

»Treten wir gleich in die Sache ein. Sie wollten den Lack kennenlernen. Darf ich Ihnen die Proben zeigen? Bitte, hier sind sie!«

Florenus betrachtete die Proben mit unverhohlener Freude. »Gut, und wo ist das Rezept?« fragte er.

Bossini spreizte die Finger der linken Hand über die Brust und verneigte sich. »Wollen Sie mir nicht zunächst sagen, was Sie von diesen Proben halten?«

»Warum nicht, es ist viel Gutes dran, und doch gefallen sie mir nicht. Vielleicht klärt mir das Lackrezept den Mangel auf. Holen Sie es nur aus Ihrer Brusttasche hervor!«

Bossini warf die Arme in die Luft und sank in seinen großen Stuhl zurück, als wenn er ertrinken sollte. »Was verlangen Sie von mir?« flüsterte er und schloß die Augen, als wenn das Wasser über ihn zusammengeschlagen wäre. Aber er tauchte wieder auf und Florenus wiederholte: »Das Rezept!« Bossini versank von neuem. Als er merkte, daß Florenus ihn gefühllos ertrinken lassen würde, kam er pustend und schnaubend wieder an die Oberfläche und brach klagend aus: »Das ist mein Tod!«

»Möglich«, versetzte Florenus ungerührt, »aber heute noch nicht.«

»Sie sind ein gefährlicher Mensch«, stöhnte Bossini, »Sie lähmen mich, Sie hypnotisieren mich und zwingen mich, unverantwortliche Dinge zu tun, oh, oh, wie ist das schrecklich!«

»Wir kennen uns lange genug«, lachte Florenus, »so daß die gegenseitige Aufrichtigkeit der Hypnose nicht bedarf.«

Bossini holte aus der rechten Brusttasche ein Blatt Papier hervor und reichte es, ohne es weiter anzuschauen, Florenus, der es hastig ergriff und entfaltete. Es stand ein Rezept darauf. Florenus las es durch, schüttelte den Kopf, las es noch einmal langsam und noch einmal langsamer und schüttelte wieder den Kopf. Er sah zu Bossini hinüber, der mit halbgeschlossenen Lidern still vor ihm saß.

»Sie haben sich versehen, Herr von Bossini«, sagte er, »wenn Sie kein anderes Lackrezept haben als dieses, dann brauchen wir uns darüber nicht weiter zu unterhalten.«

Bossini nahm das Blatt in die Hand, rieb sich die Augen und klagte: »Sie haben mich verwirrt. Sie haben mich zerstört. Ich habe das richtige Rezept verlegt, verloren, vertan. Wo soll ich es jetzt finden?«

»Vielleicht finden Sie es in der linken Brusttasche, denn solchen Unordnungen muß man zuerst immer am eigenen Leibe nachgehen.«

Bossini gab es auf. »Man sollte meinen, die Geigenbauer seien sanft wie die Lämmer«, höhnte er, »aber sie sind grausam wie die Tiger und listig wie die Schlangen!«

»Nur unter sich, Herr von Bossini«, versetzte Florenus.

Bossini zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr mit großer Umständlichkeit das Lackrezept, welches Giacomo Stradivari von der Bibel abgeschrieben haben wollte. Er sah es sich noch einmal an und erklärte mit einer gewissen Feierlichkeit: »Das ist das Rezept Stradivaris, Herr Florenus, Sie werden es selbst sehen, aber vorher geben Sie mir die Versicherung, daß Sie es mir hier unversehrt zurückgeben wollen.«

Florenus gab ihm die Gewißheit und nahm das Rezept in die Hand. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Die innere Erregung ließ die Buchstaben vor seinen Augen tanzen. Das war das echte Rezept, das konnte es sein! Das sprach von Bestandteilen und Mengen und deutete eine Behandlungsweise an, die den alten Meister hoher Grade verriet. Es konnte nicht jeder damit fertig werden. Florenus zog das Notizbuch und den Bleistift aus der Tasche und begann, das Rezept abzuschreiben. Als Bossini, der sich einen Augenblick abgewandt hatte, das sah, sprang er hinzu, riß das Rezept an sich und schrie: »Das gibt es nicht!«

Florenus steckte das Notizbuch wieder in die Tasche und erhob sich. »Dann ist meine Anwesenheit hier überflüssig«, bemerkte er und machte Miene, fortzugehen.

»Sie können doch nicht einfach das Rezept abschreiben wollen«, rief Bossini aufgeregt, »ich hatte es Ihnen doch nur zur Einsicht gegeben!«

»Sie irren sich. Sie wissen wohl, daß ohne Ausprobung des Rezeptes gar keine Feststellungen gemacht werden können. Im übrigen behalten Sie ruhig Ihr Rezept, Herr Bossini! Gestatten Sie, daß ich mich empfehle.« Florenus griff nach seinem Hut.

Das unbegreifliche Verhalten Florenus' erweckte Bossinis äußerstes Erstaunen. Was hatte Florenus vor? »Warum wollen Sie denn schon gehen?«

»Man hat mir gesagt, Herr von Bossini, daß das Eigentumsrecht an diesem Lack umstritten sei. In diesen Streit möchte ich mich nicht einmischen. Überlassen Sie mir das Rezept, so ist das gut, wenn nicht, ist es mir auch recht.«

Bossini war wütend. »Das Lackrezept gehört mir ganz allein«, schrie er erbost, »ich habe es ehrlich erworben, das kann ich beweisen!«

»Vielleicht können Sie das. Es würde Ihnen aber schwer möglich sein, bei einem Streitfalle vor Gericht das Lackrezept geheimzuhalten.«

Ein lauernder, giftiger Blick Bossinis streifte Florenus. Vor Gericht gehen wollte er nicht. Was wußte Florenus überhaupt von der Sache? Konspirierte er mit Sassi gegen ihn? Er wollte jeden Streit mit Sassi vermeiden. Sassi würde Florenus bei Gericht als Sachverständigen vorschieben. So würde Florenus unter allen Umständen Kenntnis von dem Lackrezept erhalten. Es hatte keinen Zweck, Florenus der Gegenseite zuzutreiben, es wäre besser, ihn sich verpflichtet zu machen. Bossini wußte, daß die Witwe Giacomos das Lackrezept ursprünglich Florenus zugedacht hatte. Er war abergläubisch und sagte sich, lieber jetzt, wo es mir nützen, als später, wo es mir schaden kann. Er langte in die Tasche und zog das Rezept heraus. Florenus hatte seinem Gegner Zeit zum Nachdenken gelassen und sich einige Instrumente angesehen, als wenn der ganze übrige Handel ihn überhaupt nichts mehr anginge.

»Herr Florenus«, begann Bossini wieder zögernd, »hier ist das Rezept, nehmen Sie, bitte, Abschrift davon!«

Ohne das Rezept zu beachten, wandte sich Florenus an Bossini: »Wenn Sie es mir freiwillig geben, nehme ich es, doch nehme ich es nur ohne jede Verpflichtung.«

Bossini senkte nachdenklich den Kopf. Wozu sollte er Florenus verpflichten? Für die Cremonea brauchte er sein Gutachten nicht. Ein schriftliches Gutachten wollte er gar nicht haben. Florenus mußte das Rezept ausprobieren, und wenn er ihn dann dazu bringen konnte, die verschleierten Mängel aufzudecken, würde er alles wieder in seine Hand nehmen. Dafür wollte er dann schon sorgen. Bossini schlug die kugeligen Augen demütig nach oben und sagte voll schmerzlicher Bewegung: »Ich habe mit mir gerungen, Herr Florenus, und es ist mir nicht leicht geworden, aber Ihnen will ich das Rezept anvertrauen. Sie sind der würdigste unter den Meistern, Sie werden das Richtige finden und werden mich an Ihrer Freude teilnehmen lassen.«

»Eine Liebe ist der andern wert«, erwiderte Florenus freundlich, »und Sie sollen sich bei mir nicht über Undank beklagen.« Er nahm das Rezept, setzte sich an den Tisch und schrieb langsam ab, steckte seine Abschrift ein und gab Bossini das Rezept zurück.

Bossini legte das Rezept wieder auf den Tisch und blickte sinnend darauf nieder. Seine Hände spielten nervös mit dem Papier. Er war wirklich tief bewegt. Er spürte, daß dieser Augenblick ihn seine Handlungsfreiheit gekostet hatte. Einen anderen Ausweg hatte er nicht gefunden. Sassi hätte die Klage noch am gleichen Tage eingereicht. Das einzige, was ihn beruhigen konnte, war sein Vertrauen zu Florenus. Dieser hatte sich zum Abschied bereitgemacht. Bossini steckte sein Rezept wieder ein und geleitete seinen Gast hinaus. Draußen sah er ihm eine Weile nach. Dann verschloß er die Ladentür und folgte Florenus, um zu sehen, ob er nicht doch zu Sassi ginge. Florenus tat es nicht, sondern begab sich in sein Hotel, und Bossini kehrte mit dem tröstlichen Bewußtsein, daß Florenus doch ein anständiger Mann sei, in seinen Laden zurück.

 

In den folgenden Tagen hatte Bossini eine gemischte Freude am Leben. Er erhielt einen Brief von Grandelli, in welchem dieser einen Anteil von 10 000 Lire an dem Geschäft mit der Cremonea A. G. beanspruchte. Wenige Tage darauf erhielt er einen Brief von Sassi, in welchem dieser ihn aufforderte, sich mit ihm wegen des Lackrezeptes zu vergleichen. Bossini hatte wieder Argwohn gegen Florenus. Um das Unglück vollzumachen, kam wieder einige Tage später ein Brief von Florenus an, in welchem dieser mitteilte, daß die Ausprobung des Rezeptes bisher leider keine zufriedenstellenden Ergebnisse gebracht hätte. Bossini raste wie ein geprellter Kobold in seinem Laden herum. Was habe ich mit diesen Spitzbuben zu tun, die mir das Geld aus der Tasche ziehen wollen, schimpfte er, das Geld, welches ich überhaupt noch nicht habe! Dann kommt dieser Scharlatan von Florenus, um mir wichtig zu berichten, was ich länger weiß als er! Seine Wut kannte keine Grenzen. Er nahm einen halbfertigen Geigenhals, schwang ihn wie eine Keule gegen seine unsichtbaren Feinde und ließ ihn schmetternd auf den Schraubstock niedersausen, daß die Schnecke abbrach, gegen das Fenster flog und eine der schmutzigen kleinen Scheiben zertrümmerte. Geld, Geld, Geld, alle wollten sie Geld! Sie sollten sehen, daß sie ihr Geld anständig verdienten, dann brauchten sie nicht arme Geigenhändler um das ihrige zu betrügen. Der Postbote brachte einen neuen Brief aus Leipzig. Er riß ihn auf, und seine kugeligen Augen strahlten in heller Freude. Aha, 60 000 Lire! Doch seine Freude dauerte nicht lange. Dieser Schuft, der Grandelli, wollte zehntausend davon haben. Und Sassi? Diese Esel von Richter würden Sassi gewiß recht geben. Dann würde er kommen und noch mehr verlangen als Grandelli. Dann käme der Verkauf an die Cremonea heraus, und der Preis würde bekannt. Halb und halb, würden die Richter sagen. Nein! Bossini ballte die Fäuste. 60 000 Lire waren für die Cremonea A.G. ein Bettel, 100 000 Lire konnte sie zahlen, dann konnte er wenigstens den gierigen Gaunern den Rachen stopfen. Er mußte seinem Zorn einen Ausweg schaffen. Die Cremonea sollte warten. Sassi wollte er aufsuchen, der würde schon bescheidener werden! Mit Grandelli durfte er es nicht verderben. Florenus? Er nahm einen Briefbogen und schrieb an Florenus. Es war ihm eine Lust, frech zu sein. Er schrieb ihm, daß er sich seine albernen Mitteilungen ersparen könne. Wenn er von dem Lack nicht mehr verstehe, solle er sein trauriges Wissen nicht hinter trügerischen Worten verbergen. Bossini setzte ein dickes Siegel auf den Brief und trug ihn zur Post. Der Weg tat ihm gut. Das Angebot der 60 000 Lire ließ ihn triumphieren. Der Florenus war ein Dummkopf. Bauz! Der Brief flog in den Briefkasten.

Auf dem Rückweg ging Bossini bei Sassi vorbei. Der kommt meines Briefes wegen, dachte Sassi. Bossini erwähnte davon aber kein Wort, sondern erzählte ihm, daß er in der nächsten Zeit eine große Propaganda unternehmen wolle, für die er sich einige Vorschläge erbat. Sassi behandelte darauf seinen Besucher sehr zuvorkommend, und Bossini entfernte sich mit der Gewißheit, daß von dieser Seite im Augenblick nichts zu befürchten sei. An eine Propaganda dachte er nicht.

Kaum war Bossini zu Hause, als Grandelli ihn von Turin anrief und ihm dringend empfahl, sich mit der Cremonea A.G. zu einigen. Bossini spielte den Überlegenen und meinte, die Angelegenheit sei ihm weder dringlich noch sympathisch, er könne immerhin der Gesellschaft mitteilen, daß er mit einem Preise von 100 000 Lire einverstanden sein würde. Grandelli mahnte zur Bescheidenheit. Ablassen kann ich immer noch, dachte Bossini, er dachte aber auch noch etwas anderes. Er dachte, daß es vielleicht auch andere Geschäftsmöglichkeiten geben könnte ohne Grandelli, Sassi, Florenus und die Cremonea. Grandelli war noch am Telephon. »Sagen Sie hunderttausend!« rief Bossini ihm zu und legte den Hörer hin.

Die daraufhin eingegangene Ablehnung der Cremonea hatte Bossini anfangs doch schmerzlich getroffen. Es war ein gutes und schnelles Geld zu verdienen gewesen. Er hatte es in der Hand gehabt, das alte Rezept zu Geld zu machen. Die Leipziger Geschäftsleute wollten es unbesehen kaufen. Bossini schätzte deswegen den Wert um so höher ein. Mit Grandelli geriet er wegen der Ablehnung der Cremonea auseinander. Von Florenus hatte er nichts weiter gehört. Bossini bereute seine Voreiligkeit und versuchte sich damit abzufinden, daß Florenus auch nichts weiter wußte.

In seinem Wettspiel mit der Cremonea A.G. hatte er die Partie verloren. Das gab Bossini selbst zu. Mit der ihm eigenen Gelassenheit in solchen Dingen erwog er, welche Vorteile er aus der neuen Sachlage ziehen könnte. Kirchberg war tot, Florenus beleidigt und Grandelli verärgert. Florenus und Grandelli gegenüber war zurzeit nichts zu unternehmen. Er konzentrierte seine List auf Sassi. Der mußte abgeschüttelt werden. Er schrieb ihm einen Brief, in welchem er ihn um eine Unterredung bat, um die Angelegenheit mit dem Lackrezept ins Reine zu bringen. Hoffnungsfreudig sagte Sassi zu, und eines Abends saß er bei Bossini in dem abgelegenen Arbeitszimmer.

Bossini erzählte seinem Gast, welche unendliche Mühe er mit dem Lackrezept gehabt habe, und wie sehr er bemüht gewesen sei, das Rezept im Sinne des Vertrages mit der Witwe Giacomos auszunutzen. Das sei jedoch alles vergeblich gewesen. Er war in der glücklichen Lage, darüber von verschiedenen Seiten schriftliche Belege beizubringen, die Sassi von diesem Tatbestande auch wirklich überzeugen konnten. Vorsichtig ging Bossini auf die Cremonea A.G. über. »Ich habe es ja immer gewußt und bedacht«, betonte er mit wärmender Treuherzigkeit, »daß ich Ihnen von Ihrer Frau Tante her verpflichtet war, und habe Herrn Kirchberg auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Wenn dieser Kirchberg nicht jede fremde Einmischung heftig abgelehnt hätte, würde ich Sie natürlich auch zu den Verhandlungen hinzugezogen haben. So mußte ich stillschweigend zurückhalten und konnte Sie nicht einmal wissen lassen, daß Sie in dieser Sache engagiert waren. Nun ist der Herr Kirchberg plötzlich verstorben, was für uns außerordentlich fatal ist. Die Forderung, die ich für uns beide auf 100 000 Lire gestellt hatte, sehen Sie, bitte, hier ist noch die Aufnahme des Telegramms, war leider mit nicht unerheblichen Unkosten belastet. Ohne äußere Bezugnahme auf das Geschäft habe ich diesem Kirchberg eine Vergütung von 10 000 Lire schriftlich zusagen müssen. Diese Forderung wird nun vermutlich von den Erben geltend gemacht werden. Außerdem sehen Sie hier eine Forderung von Herrn Grandelli ebenfalls auf 10 000 Lire.« Bossini legte Sassi den bekannten Brief Grandellis vor. »Nun kommt noch dieser Florenus, der als Gutachter für sich keinen bescheidenen Anteil verlangen wird. Auch diese Forderung besteht unabhängig von dem Geschäft mit der Cremonea A. G., das letzten Endes durch eine Intrige Kirchbergs zerschlagen worden ist. Es sind das alles ganz ansehnliche Forderungen, die sich da gegen uns richten, und die mich für meinen Teil glatt ruinieren können, wenn das Lackrezept nicht in absehbarer Zeit anderweitig untergebracht werden kann. Es ist nun die Frage, wie Sie sich zu dieser ganzen Angelegenheit stellen, Herr Sassi?«

Sassi hatte sich diese Auslassungen unter stark wechselnden Gefühlen angehört. Einmal sah er sich beinahe im Besitze von 50 000 Lire, und ein anderes Mal sah er sich in einem Netz von Schulden, die er wissentlich nie gemacht hatte. Mit aller Entschiedenheit wehrte er sich dagegen, für solche Beträge aufkommen zu sollen. Bossini spielte betrübt den gekränkten guten Willen und beklagte die unglückselige Rechtslage, die sich hier ergeben habe. Er hielt Sassi seinen Drohbrief vor, in welchem dieser sein Anrecht auf alle Geschäfte mit dem Lackrezept geltendgemacht hatte, und bemerkte bedauernd, daß er dadurch nicht nur mit den Einnahmen, sondern natürlich auch mit den Unkosten beteiligt sei. Eine beglaubigte Abschrift auch dieses Briefes befände sich leider im Besitz der Kirchbergschen Erben, die daher gewiß auch auf ihn zurückgreifen würden.

Sassi wurde es sehr ungemütlich. »Wir müssen das Rezept anderweitig verkaufen«, meinte er schließlich mit Entschiedenheit. »Ja, ja, verkaufen«, wiederholte Bossini seufzend und wie aus nebelhafter Ferne, »wenn Sie das Rezept verkaufen könnten, Herr Sassi, wäre ich der Glücklichsten einer. Sie sehen ja, was es mich gekostet hat, mit diesem Kirchberg einig zu werden. Sollen wir noch einmal 10- oder 20 000 Lire riskieren?«

»Bei allen Heiligen, nein«, protestierte Sassi, »auf solche Geschäfte lasse ich mich nicht ein!«

Bossini machte eine sehr bekümmerte Miene. »Hätte ich doch nie den Vertrag mit Ihrer Tante unterzeichnet«, jammerte er, »dann hätte ich mein Geschäft bis an mein Lebensende in Ruhe fortsetzen können, und jetzt soll ich es opfern, um Ihre tote Tante zu retten! Das ist hart, Herr Sassi, sehr hart!«

»Was habe ich mit meiner toten Tante zu tun?« rief Sassi ärgerlich. »Ich will mit diesen ganzen Geschäften überhaupt nichts zu tun haben. Machen Sie mit dem Rezept, was Sie wollen, und lassen Sie mich zufrieden!«

»Das geht nicht«, wehrte Bossini entrüstet ab. »Ich will mich nicht an fremdem Gut bereichern. Das Lackrezept gehört uns beiden, und dabei muß es bleiben. Doch ich will Ihnen etwas sagen. Ich werde versuchen, das Rezept anderweitig auszunutzen, und von dem nach Abzug der entstandenen und noch entstehenden Unkosten verbleibenden Rest soll jeder von uns die Hälfte haben. Dafür verpflichten Sie sich, über die ganze Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren, sich mit niemandem auf Verhandlungen einzulassen und ohne meine Einwilligung keine gerichtlichen Austragungen einzugehen.«

Nachdem diese Bedingungen mündlich erläutert und schriftlich fixiert worden waren, verließ Sassi das Haus Bossinis mit dem Gefühl, von einem Wohltäter zu scheiden.

3. Gebanntes Sonnenlicht.

Bossini war mit sich zufrieden. Er war ein hartnäckiger Gegner, ein Rückschlag konnte ihn so leicht nicht entmutigen, und rasch saß er dem Feinde wieder im Nacken. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, der Welt den Stradivari-Lack zu bescheren, und er war entschlossen, alle Mittel anzuwenden. Bisher hatte er sich auf Verbündete verlassen. Dafür hatten diese ihn verlassen. Alle wollten Beweise haben. Wer die Sonne beweisen will, darf sie nachts nicht suchen. Nur für solche Dummköpfe war es notwendig, die Echtheit der Lackproben zu beweisen. Die Dummköpfe sind in der Mehrzahl. Für die Dummköpfe rackert sich die ganze Intelligenz ab. Aller Scharfsinn und alle Klugheit, alle Kraft und alle Schönheit werden darauf verwandt, die Dummköpfe zu belehren. Die große Dummheit hat das kleine Licht der Intelligenz in übernatürlichen Schmerzen geboren. Die ganze Intelligenz reichte nicht aus, um den Lack Stradivaris von einer Mehlsuppe zu unterscheiden. Dokumente, immer wieder Dokumente! Das Gesicht Florenus' beim Lesen des Lackrezeptes war mehr wert als alle Dokumente. Jetzt kramte Florenus vergeblich nach der Büchse Salz. Giacomo hatte sich das Herz zerrissen, um anderen an dem eigenen Frevel die Wahrheit zu beweisen. Man hatte ihn ausgelacht. Die Kundigen, die sonst so stolz darauf waren, Dreck von Gold unterscheiden zu können, drückten sich wie arme Sünder um ihre eigene Schuld herum. Die Dummheit dieser klugen Leute wartete darauf, bis Antonio selbst aus seinem Massengrab geklettert käme. Bossini lachte verächtlich durch die Zähne. Wenn Stradivari schweigt, dann muß Bossini reden. Er war so oft der Anwalt für Amati gewesen und hatte dessen Ruhm mit eigenem Geschick vergrößert. Der gute Stradivari ward schon zu oft imitiert, doch ohne seinen Lack. Es wollte die Gerechtigkeit, daß jetzt der echte Lack durch imitierte Dokumente sich selbst beweisen sollte.

Bossini holte sich ein Buch vom Brett. »Antonio Stradivaris Leben und Werke« stand darauf. Das Buch war eine Quelle köstlichen Wissens für Bossini. Er fand darin so manchen Mann genannt, der einst auf Erden Pontifex und Majestät, Soldat und Weisheitskrämer war. Diese Leute hatten Briefe gewechselt mit Stradivari. Briefe eines vorzüglichen und klugen Inhalts. Briefe, in welchen sie sich über Politik, Kunst und Religion und über den Verschleiß ihrer fürstlichen Kleider und Paläste und über die Notwendigkeit fürstlicher Geschenke unterhielten. Es gab Briefe, die sie geschrieben hatten, und solche, die sie hätten schreiben können. Sie hätten sie schreiben sollen, denn sie enthielten das, was jedermann erwartete und nicht gefunden hatte. Sie erzählten die Geschichte des lange verlorenen Lackrezeptes des großen Antonio. Sollten sich diese Päpste und Kardinäle, diese Generäle und Virtuosen nicht über eine so wunderbare Erfindung freuen? Es war ein Lack, den man im Orient mit höchstem Einsatz in verwegener Schlacht geraubt, gewonnen und für das Abendland gerettet hatte! In diesen Briefen stieg eine Vergangenheit auf, die einer seltenen Kostbarkeit Verehrung zollte. Das war der Lack, an dessen Glanz die Augen sich entzündeten, die diese Briefe schrieben oder von Gottes Recht geschrieben haben sollten. Bossinis meisterliche Hand fand sich in ihren Willen so gefällig ein, daß er mit ihren Fingern, ihren Sinnen das aussprach, was die Zeit vergessen hatte zu bewahren.

Wertvolle Briefe hatten sich angesammelt, die die Kenntnis von Stradivaris Leben außerordentlich bereicherten und seine Gedanken über den Lack für eine neue Zukunft verewigten. Bossini blätterte in seiner Quelle, ob er nicht eine bedeutsame Figur vergessen hätte. Vielleicht daß einer, der bescheidener war, ein gewichtigeres Wort zu sprechen hatte als alle diese Großen, an denen nur der Name etwas zu bedeuten hatte. Es war genug der Kunst, Bossini schloß das Buch.

Aus einem andern Versteck holte Bossini die früh gealterten Briefe hervor. Geschwärzt mit Ruß und Asche, mit faulem Stoff getränkt und von der Sonne ausgegilbt, hatten sie ein Aussehen angenommen, das zwar nicht schön, doch ehrenhaft bejahrt schien. Bossini hielt noch eine Prozedur für angebracht. Ein Dutzend Stücke frisch gegerbten Leders schleppte er heran, schichtete Briefe und Lederfetzen wohlgefeuchtet aufeinander, verschnürte alles zu einem festen Paket und hing es auf an einen Balken im Hofe, daß Sonne und Wind es trocknen konnten.

Wenn die Unordnung und die Unachtsamkeit nicht wären, würden viele seltene Funde niemals gemacht worden sein. Es wurden die Dinge hierhin und dorthin vertan, und nur deshalb erhielt der Staub der Jahrhunderte Gelegenheit, sich ungestört darauf niederlassen zu können, bis die Unruhe und die Ordnung einer neuen Zeit mit diesem unbeachteten Dasein aufräumten. Da kommen sie ans Licht, die geschwärzten Taler und die vergilbten Briefe. Die Taler werden geputzt und blinken wieder in der Sonne, aber es ist ein falscher Glanz, man kann sich für ihn nichts mehr kaufen, denn kein Mensch will diese Taler haben. Die vergilbten Briefe werden entziffert und enträtselt. Die eingetrockneten Bekenntnisse erwachen unter der Sonne zu neuem Leben. Man freut sich, wenn man sieht, daß die Alten waren, wie wir Jungen sind. Und mit der alten Weisheit putzt man die neue Wissenschaft heraus, daß sie blinkt und winkt wie die geputzten Talerstücke!

Ein Altwarenhändler in Florenz war ein von Glück begünstigter Mann. Im Doppelboden der vergessenen Schatulle eines gräflichen Hauses, dessen armseliges Gut nach dem Tode des letzten Erben vom Staate versteigert worden war, um die Begräbniskosten zu decken, fand der Altwarenhändler Argentini eine Sammlung von Briefen von und an Antonio Stradivari, die endlich einmal ein ungetrübtes Licht auf das geheimnisvolle Lackrezept des Meisters zu werfen schienen. Eine merkwürdige, unverständliche Lücke war wie durch ein Wunder ausgefüllt worden. Es liefen Notizen und Berichte durch die Zeitungen. Es kamen Gelehrte und besahen sich die Briefe. In einem Falle bekundeten sie, daß man es mit der Handschrift eines Schreibers des Papstes Leo zu tun habe. Andere fanden andere Echtheiten. Andere fanden nichts. Andere schüttelten bedenklich die Köpfe. Als Bossini von dem aufsehenerregenden Funde hörte, fuhr er sofort nach Florenz. Er ließ sich die Briefe zeigen, die noch da waren, andere waren verkauft. Er ging zu den Käufern, soweit sie in Florenz erreichbar waren, und bot ihnen das Doppelte ihres Preises. Den auswärtigen Besitzern schrieb er und bot die dreifachen und vierfachen Preise. Mit unerhörtem Eifer war er hinter den flatternden Papierfetzen her, und es gelang ihm tatsächlich, bis auf wenige Stücke alles wieder zusammenzubringen. Den Rest kaufte er dem Händler mitsamt der Schatulle ab und zog mit seinem Schatz befriedigt nach Mailand zurück.

Die Zeitungen wußten zu berichten, daß der bekannte Geigenhändler und Forscher Herr von Bossini, der auch Eigentümer anderer wichtiger Papiere aus dem Familienbesitze der Stradivari war, unter denen sich das vielumstrittene Lackrezept befinden sollte, aus wissenschaftlichem Interesse unter Aufwendung beträchtlicher Geldmittel den ganzen herrlichen Fund angekauft habe.

Es ging eine große Aufregung durch die Kunstwelt. Der stille Laden des Geigenhändlers Bossini füllte sich mit wißbegieriger Menge. Laute und lebhafte Debatten wurden geführt. Man bewunderte, wie der seltsame Herr von Bossini in dieser Abgeschiedenheit jahrelang eine unbeachtete Forscherarbeit geleistet hatte, und warf mit ehrfurchtsvollem Schauer neugierige Blicke in den verräucherten Raum, wo alte Bücher, Gläser und Stative wie Schlüsselhalter vor dem Werk des Meisters standen. Er selbst wollte in seiner Bescheidenheit den Andrang der Menschen, die Anfragen der Neugierigen und die Urteile der Gelehrten in Unbehagen von sich weisen. Er äußerte immer wieder, daß er das neue Material noch selbst genauer Durchsicht unterwerfen müßte, um es zu prüfen und zu kritisieren. Man reichte die Lackproben von Hand zu Hand, strich sich die Kinnladen und riß die Mäuler auf. Jeder Besucher erlebte einen großen Augenblick und einen großen Menschen! In den Zeitungen forderte man nachdrücklich den Ankauf dieser ungeahnten nationalen Schätze für den Staat. Der Direktor eines großen Museums begab sich in eigener Person zu Bossini, um sich den großen Fund rechtzeitig zu sichern.

Die Überfülle der Ehrungen und Vorkehrungen kam Bossini nicht gerade gelegen. Selbst verwirrt, versuchte er wie ein zerstreuter Gelehrter andere zu verwirren. Es wurden viele nicht klug aus ihm, aber sie gaben sich die Schuld. Was die Dokumente und die Lackproben nicht bewirkten, das rief das Interesse der achtbaren Männer hervor, die sich wetteifernd und widerstreitend um die Sache scharten. Der Museumsdirektor wollte der Schwärmerei ein Ende machen und für den Fall, daß die Sache gut war, die anderen aus dem Felde schlagen. Er bot Bossini eine ansehnliche Summe, die öffentlich nicht genannt wurde, und stellte nur die eine selbstverständliche Bedingung, daß die Anweisung des Betrages nach der abgeschlossenen Untersuchung erfolgen sollte. Das Angebot brachte Bossini in eine fatale Lage, die Verhandlung mit einem Museum war das letzte, was er gewollt hatte. Das von den Zeitungen aufgerührte öffentliche Interesse nahm ihm die Freiheit, den lästigen Interessenten durch eine Preisforderung abzuschrecken. Er erklärte sich bereit, an der Durchforschung des Materials mitzuarbeiten. Der Direktor dankte ihm sehr und versprach, ihn zu benachrichtigen, die wertvollen Dokumente ließ er sich aber sogleich aushändigen und nahm sie mit nach Bologna.

In dem Laden Bossinis wurde es wieder stiller. Er selbst wurde auch sehr still und tippelte in seinen Räumen hin und her. Tagelang schloß er den Laden nicht auf. Er wollte niemand sprechen und tat, als wenn er verreist sei. Unruhig wartete er auf einen Bescheid aus Bologna. Der Bescheid kam nicht. Er hatte den Laden wieder geöffnet und ging seinen Geschäften nach. Die Nachbarn verfolgten ihn mit großen Augen, angesprochen hatte man ihn früher auch nicht. Bekannten gegenüber begnügte er sich mit unverständlichen Andeutungen. Schließlich kam doch ein Brief aus Bologna, er war kurz und lautete:

»Das Material ist von den Sachverständigen der Universität zu Bologna eingehend untersucht worden, und wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß bei einer Anzahl der Dokumente Feststellungen gemacht werden mußten, die Fälschungen vermuten lassen. Die Untersuchungen werden fortgesetzt. Ein Teil des Materials ist der Kriminalpolizei übergeben worden. An der baldigen Aufklärung der Angelegenheit werden Sie selbst das höchste Interesse besitzen, und wir bitten Sie, uns mit allen zweckdienlichen Angaben zur Seite zu stehen. Von der mit Ihnen bedingungsweise getroffenen Abmachung treten wir unter Bezugnahme auf die Klausel zurück.«

Das hatte Bossini kommen sehen. Die vermaledeiten Zeitungen verdarben ihm das ganze Geschäft! Er hatte eigentlich an einen harmlosen Privatmann gedacht, der sein Geld gut anlegen wollte. Bossini gab seine Sache keineswegs verloren. Die Papiere konnten gefälscht sein, was ging ihn das an? Er hatte sie gekauft, aus wissenschaftlichem Interesse aufgekauft und schweres Geld dafür gegeben. So besonders schwer war es nicht gewesen, aber immerhin, man mußte die Dinge sorgfältig trennen, das Lackrezept trennen von seinem Beweismaterial. Die Briefe hatten ihre Schuldigkeit getan. Sie hatten die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn und sein Lackrezept gerichtet. Es war ihm nicht leicht geworden, für seine Besucher die alten Geschichten genießbarer aufzuwärmen. Das Lackrezept mußte auch jetzt unantastbar bleiben.

Bossini tröstete sich, aber er war nicht ohne Angst und Sorge. Kriminalisten sind neugierige Leute, schwatzhaft und unzuverlässig. Plötzlich liest man in allen Zeitungen, was man von sich selbst kaum weiß. Solchen Versuchen mußte man zuvorkommen. In der Nähe von Mailand war ein kleiner Ort, der gerne größer wäre. Dort erschien eine Zeitung. Er schickte ihr eine Notiz und fügte 50 Lire bei, damit sie ihm 50 Exemplare dieser Zeitungsblätter zuschicken sollten. Bereits am andern Abend stand in dem Blatte:

»Das große Museum, welches die bekannten Stradivari-Dokumente mit dem berühmten Lackrezept von Herrn von Bossini angekauft hatte, mußte die überraschende Entdeckung machen, daß einige dieser Dokumente sich bei der wissenschaftlichen Untersuchung als Fälschungen erwiesen. Die Fälschungen sind mit einem so ungewöhnlichen Geschick vorgenommen worden, daß erst die genauesten photochemischen Untersuchungen zu ihrer Aufdeckung führten. So sehr man die Museumsleitung zu dieser rechtzeitigen Entdeckung beglückwünschen kann, so sehr muß man bedauern, daß ein so bescheidener und ernster Forscher wie der alte Herr von Bossini in der Hauptsache das Opfer dieses Betruges geworden ist. Wie wir zuverlässig erfahren, betrifft diese Fälscheraffäre das berühmte Lackrezept Stradivaris nicht, da dieses auf ganz anderem Wege aus der Hinterlassenschaft der letzten Stradivari in den Besitz des Herrn von Bossini gelangte. Wir hoffen, daß das Museum sich in seinem Interesse für dieses kostbare Gut der Nation nicht beirren lassen wird.«

Einen Tag später hatte Bossini die ihm zugestellten 50 Exemplare dieser Zeitung an 50 große inländische und ausländische Blätter versandt. Diese Veranstaltung ging über das Zeitungs- und Anzeigenbureau von Sassi. Die meisten Blätter brachten die Notiz und fügten noch einige Bemerkungen hinzu. Die Notizen machten sich sehr gut. Bossini veranlaßte, daß sie ungenannt an den Direktor des Museums geschickt wurden. Der Direktor wunderte sich nicht wenig und zog auch wirklich in ernsthafte Erwägung, mit Bossini des Lackrezeptes wegen nochmals Fühlung zu nehmen. Er kündigte seinen Besuch in Mailand an. Ei, ei, dachte Bossini, wenn die Mäuse den Speck riechen!

Die Kriminalpolizei hatte ihre Ermittlungen angestellt und besonders den Altwarenhändler Argentini in Florenz ins Verhör genommen. Argentini bedauerte unendlich, ganz und gar nicht in der Lage zu sein, besondere Auskünfte geben zu können. Die gesuchte Schatulle befand sich unter anderen Möbelstücken, die er im Ramsch erworben hatte. Diese Schatulle stände bei Herrn von Bossini, der sie angekauft und nach Mailand habe schaffen lassen. Die Kriminalbeamten begaben sich nach Mailand. Bossini war auf ihren Besuch vorbereitet. Sie suchten die Schatulle und fanden sie nicht. Bossini erklärte, er habe das ganze Möbel auseinandergeschlagen, um zu sehen, ob sonst noch irgendwo irgendwelche Dokumente oder Kostbarkeiten versteckt seien. Er habe jedoch nichts von Bedeutung gefunden und die Bruchstücke als Feuerung verwandt. Die Kriminalbeamten durchstreiften die ganze Wohnung. Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie seinem Arbeitsraum und erkundigten sich nach dem Zweck der vielen Apparaturen. Bossini bedeutete ihnen, daß sie zur Lackbereitung notwendig seien. Das fanden die beiden Beamten begreiflich, doch während der eine sich mit Bossini angeregt unterhielt und sich für die unvermeidliche Störung mit höflichsten Worten entschuldigte, nahm der andere ein paar kleine Fläschchen vom Arbeitstisch, die er ungesehen in seine Rocktasche verschwinden ließ. Die Beamten zogen wieder ab, und Bossini atmete auf. Das tun bei solchen Gelegenheiten auch solche Leute, deren Gewissen rein ist, und Bossini hatte ein reines Gewissen, denn er war fest überzeugt, keine Spuren seiner Forschertätigkeit hinterlassen zu haben.

Der Direktor des Museums führte seinen angekündigten Besuch aus. Mehr als drei Stunden verhandelte er mit Bossini über das Lackrezept. Bossini weigerte sich ganz entschieden, es auszuhändigen, bevor die Fälscheraffäre vollständig aufgeklärt und er von jedem Verdachte befreit sei. Er wollte mit dieser Angelegenheit in keiner Weise verquickt sein und nicht wieder etwas aus der Hand geben, was mit irgendeinem Argwohn belastet sein würde. Der Direktor mußte diese Haltung achten, und so versprachen sie sich für eine spätere Zeit.

Bossini lancierte eine neue Notiz in die Zeitung, in der von der ergebnislosen Haussuchung bei ihm und dem fortdauernden Interesse des Museums berichtet wurde. Diese Notiz brachten nicht alle Blätter, da auch sie, ähnlich wie Bossini, den weiteren Verlauf der Fälschungsangelegenheit abwarten wollten.

Die Staatsanwaltschaft in Florenz erhob Anklage wegen Betruges und Urkundenfälschung gegen den Altwarenhändler Argentini. Herr von Bossini war als wichtigster Zeuge geladen. Der Anklage war der Tatbestand zugrunde gelegt, daß die nachweislich gefälschten Dokumente von dem Altwarenhändler Argentini als Originalbriefe verkauft worden waren. Über die Herkunft der gefälschten Briefe und Dokumente konnte Argentini keine einwandfreie Auskunft geben. Es bestand der dringende Verdacht, daß er die Fälschungen selbst vorgenommen habe. Die in diesem Material zerstreut genannten Bestandteile eines Lackes sollten in richtiger Zusammenstellung den heißgesuchten, kunstvollen Lack des großen Antonio Stradivari ergeben. Dieser rätselartige Aufbau des Schwindels sollte offenbar den restlosen Verkauf aller Dokumente begünstigen. Der Zeuge Bossini, der als Besitzer einer wertvollen Stradivari-Hinterlassenschaft an diesen Dokumenten ein besonders großes Interesse besaß, gab an, beträchtliche Summen verausgabt zu haben, um den vollständigen Erwerb der Papiere zu erreichen. Bossini hatte darauf verzichtet, als Nebenkläger aufzutreten, da er von der Schuld Argentinis nicht unbedingt überzeugt sei.

Der Prozeß zog sich über verschiedene Verhandlungstage hin. Die Bedeutung des Gegenstandes brachte es mit sich, daß er weite Kreise erfaßte, und eine große Anzahl Sachverständiger hatte zu den verschiedensten Fragen der Richter Stellung zu nehmen. Die Rechtslage wurde immer verworrener. Um die Unmöglichkeit der Vornahme solcher Fälschungen durch seinen Mandanten zu beweisen, ließ dessen Anwalt Psychiater, Sprach- und Schriftgelehrte kommen, die einhellig bezeugten, daß Bildung und Schriftproben des Angeklagten die Anfertigung der gefälschten Dokumente ganz unwahrscheinlich machten. Die weitere Untersuchung ergab, daß er aus dem Verkauf der Fälschungen nur einen geringen Nutzen gezogen hatte, da die erzielten Preise allgemein ziemlich gering geblieben waren. Diese Feststellung machte den Richter schwankend in der Annahme der Richtigkeit der von dem Zeugen Bossini aufgestellten Behauptung bezüglich der seinerseits aufgewendeten Gelder. Es wurden erneut Nachforschungen in die Wege geleitet. Soweit es sich feststellen ließ, hatten die Zwischenbesitzer keine allzu großen Summen erhalten. Bossini mußte zugeben, in seinen Angaben nicht ganz korrekt gewesen zu sein, da er verschwiegen habe, daß der von ihm beauftragte Aufkäufer ihn um erhebliche Summen betrogen habe. Diese Mitteilung erschütterte trotzdem seine Glaubwürdigkeit. Die Verhandlungen wurden auf Beschluß des Gerichtes wieder auf einige Tage ausgesetzt.

Inzwischen begab sich eine neue Sensation. Die Staatsanwaltschaft dehnte die Anklage wegen Betruges und Urkundenfälschung auf den bisherigen Zeugen Herrn von Bossini aus. Die Kriminalpolizei hatte ermittelt, daß in einem der kleinen Fläschchen, die sie im Hause des Herrn von Bossini beschlagnahmt hatte, dieselbe Tinte enthalten war, mit welcher die gefälschten Dokumente geschrieben wurden. Der Prozeß war auf seinem Höhepunkt angelangt.

Das ganze Gericht stand dem auf die Anklagebank verschobenen Zeugen feindlich gegenüber. Die widersprechendsten Argumente fanden in bezug auf Bossini verständliche Lösungen. Er war schwer belastet. Die Identität der beiden Tinten, die seiner Handschrift verwandten Schnörkel und Züge in den gefälschten Handschriften, der ganz auf seine Zwecke zugeschnittene Sinn der Fälschung, seine eigene zweideutige Haltung, die geschickter auszuweichen als gut zu verteidigen verstand, alles formte sich zusammen zu dem Bilde des gerissenen Betrügers. Als Bossini erkannte, daß das Spiel um seine Person in die letzte Phase eintrat, änderte er seine Taktik. Mit schlagfertiger Zungenkraft ging er zum Angriff über. Er wies nach, daß die inkriminierte Tinte in Florentiner Geschäften zu kaufen sei. Er legte Schriftproben ganz uninteressierter Personen auf den Tisch, die unverkennbare Ähnlichkeiten mit den Schriftzügen der gefälschten Dokumente besaßen. Mit unbarmherziger Schärfe kritisierte er die Urteilsfähigkeit der Sachverständigen vor und nach der Aufnahme des Prozesses. Zum Schlusse schrie er mit überschlagener Stimme in den Gerichtssaal hinein, daß die Echtheit des Lackrezeptes, welches er wie ein Heiligtum bei sich bewahre, nicht durch Fälschungen und Anschuldigungen beschmutzt und entwertet werden könnte. Seine Ausführungen machten sichtlich einen tiefen Eindruck auf die Zuhörer. Die Anwälte gaben dem flammenden Protest einen juristischen Sockel und beantragten den Freispruch.

Es kamen der letzte Tag der Verhandlung und die Urteilssprechung. Das Gericht verurteilte den Altwarenhändler Argentini aus Florenz wegen groben Verstoßes gegen die Handelsvorschriften seines Gewerbes zu einer größeren Geldstrafe. Von der Anklage der Urkundenfälschung wurde er freigesprochen, desgleichen von der Anklage wegen Betruges, und zwar aus Mangel an Beweisen. Der Geigenbauer und Geigenhändler Pietro di Bossini aus Mailand wurde trotz dringendem Verdachte der Täterschaft oder Mittäterschaft von der Anklage des Betruges und der Urkundenfälschung wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Die gefälschten Dokumente wurden beschlagnahmt.

 

Bossini kehrte nach Mailand zurück. Er war ein geschlagener Mann. Die Nervenaufpeitschung des Prozesses warf ihn auf ein längeres Krankenlager. Als er sich wieder einigermaßen erholt hatte, nahm er die Briefschaften vor, die sich auf seinem Schreibtische angesammelt hatten. Die ersten las er, den Rest warf er ins Feuer. Er brauchte sich nicht darüber belehren zu lassen, daß sein Nimbus zerstört war. Man hatte ihm nichts nachweisen können. Diese dummen Hunde, fluchte er, was sollten die wohl nachweisen können! Ein ganzer riesenhafter Skandalprozeß wirbelte wie ein Ungewitter um das, was doch fest wie eine Eiche im Sturme stand, die Echtheit des alten Rezeptes! Voll giftigen Hasses triumphierte er hohnlachend, daß das Rezept doch niemand von ihm bekommen habe. Niemand? Josephus Florenus hatte das Rezept. Mit verbissenem Grimm gedachte Bossini seiner. Warum hatte er sich nicht an ihn geklammert, warum hatte er verraten, was er immer gewollt? In einer dummen Stunde kannte er sich selber nicht. Am schwersten rächt es sich, wenn man sich selber mißversteht. In seinem Plan war alles klar gewesen. In Florenus' Schatten stand mein Glück. Jetzt ist der Schatten gewichen, und die Sonne blendet mich. – Bossini sprang auf, drückte die geballten Fäuste auf seinen kahlen Kopf und jammerte zwischen Wahn und Zweifel: Wo ist mein Plan, wo ist mein Plan ...?

Seit Josephus Florenus nach München zurückgekehrt war, hatte er unermüdlich an der Herstellung des Lackes nach dem Rezepte Bossinis gearbeitet. Gewissenhaft hatte er die ersten Versuche auf die Angaben des Rezeptes beschränkt. Bald erkannte er, daß das Rezept wohl die wichtigsten Bestandteile nannte, aber andere unerläßliche Beimischungen vielleicht aus Selbstverständlichkeit nicht erwähnte. Florenus experimentierte mit den Bestandteilen und ihren Dosierungen in verschiedenen Richtungen. Die aussichtslosen Versuche schieden von selbst aus, so daß bald nur eine kleine Zahl brauchbarer Ergebnisse verblieb. Diese geläuterten Qualitäten wiesen immer noch einen Mangel auf, der sie von dem echten Stradivari-Lack grundsätzlich unterschied. Wieder bemühte sich Florenus lange Zeit vergeblich. Der fehlende Zusatz mußte die Masse fester, dehnbarer und trockener machen. Auch hier mußte er geduldig um die beste Dosierung ringen. Schließlich schien es geglückt zu sein, und er legte neue Proben zum Trocknen aus. Nach 14 Tagen holte er sie vom Boden und warf sie ärgerlich auf den Tisch. Die Masse war klebrig geworden. – Ein neues Experimentieren begann. Endlich, endlich war das Ziel erreicht. Er behandelte die Proben mit Wärme, Feuchtigkeit und Sonnenlicht und wiederholte in allen Zuständen die Griffprobe mit dem Daumen. Es war alles gut und sehr gut. Ein anderes Auge als das Josephus Florenus' würde kaum noch etwas entdeckt haben, was zu wünschen gewesen wäre. Irgend etwas fehlte doch noch. An einem frühen Sommermorgen drang die Sonne durch das offene Fenster in seinen Arbeitsraum. Florenus wollte mit dem Lack ein neues Instrument bestreichen. Die Sonne spiegelte lockend auf dem Holze, daß Florenus in ihrem Glanze die Geige mit dem Lack bestrich. Ein blumig zarter Duft löste sich aus der Essenz und entzückte ihn, so daß er die Geige im Sonnenschein am Fensterbalken hängend trocknen ließ. Am Vormittag nahm er das Instrument herab, um es noch einmal zu bestreichen. Eine wundersame Wandlung war geschehen. Der matte Hauch, der sonst den Lack umflorte, war gewichen, und wie ein frisch kristallisierter Edelstein blinkten die glatten Flächen im hellen Sonnenlicht. Bebend vor Glück und Dankbarkeit genoß Florenus den schönen jungfräulichen Zauber als ein Eingeweihter.

Es war gelungen. Aus den Grundelementen des Rezeptes war er zu seiner lebendigen Natur gelangt. Es war gelungen, was gelingen konnte. Ob einzelnes noch anders möglich war, was hatte das zu sagen! Der Lack war Stradivaris Lack!

 

So ganz in Anspruch genommen von seiner eigenen Arbeit, hatte Florenus den ersten Berichten von neuen Stradivari-Funden in Italien nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Als der Name Bossinis auftauchte, wurde er mißtrauisch. Ein Briefwechsel, den er mit einem Bekannten führte, ließ ihn noch vorsichtiger werden. Es regte sich auch in ihm die Frage, ob das Lackrezept Bossinis nur eine Fälschung sei. Aus diesem Argwohn hatte sich sein Eifer um das Experiment verdoppelt. Die Ergebnisse zeugten für sich und dagegen, daß alles ein trügerischer Schein und eine vollendete Narretei sein sollte. Mochte alles, was Giacomo oder Bossini um das Rezept herumgedichtet hatten, Torheit und Gemeinheit sein, das Rezept war echt! Wer konnte wissen, ob dieser Lack zu Stradivaris Zeit nicht Allgemeingut vieler Geigenbauer war? Viele hatten ihn vielleicht durch eigene Dummheit verderbt, weil sie besser machen wollten, was sie nur schlechter machen konnten. Verballhornte Kunst gab es allerwege, und die Zutaten sind von je in geheiligterer Tradition gepflegt worden als die Herkunft. Wie oft ist die Natur des Erkennens siech geworden am Aberglauben! Bossini wäre ein doppelter Narr gewesen, wenn er Dokumente fälschte, um einem gefälschten Rezept die Echtheit anzuhexen. Bossini. Die Augen dieses Mannes brannten auf dem Rezept, und alle seine Gedanken stolperten wie in einem sinnlosen Rausch um den Goldberg, den er darin vermutete. Dieser Wahn hatte in ihm alle übeln Instinkte geweckt. Bossini gedachte mit Hilfe des Lackrezeptes mühelos reich zu werden. Seit er sich in dem Besitz des Rezeptes glaubte, war kein Tag seines Lebens mühelos geblieben. Habgier und Sorge drückten sein Tun, und alle Arbeit war umsonst vergeudet. Wie ein Maulwurf zerwühlte er seine Kräfte in düsteren Schächten, stets des Feindes gewärtig. Er wagte nicht, die dünne Wand zu brechen, die ihn des Tageslichtes beraubte. Als die Zeitungen die Berichte über den Ausklang des Prozesses brachten und Florenus Bossinis letzte Worte las, war er betroffen von dem hohnbietenden Stolz, der unverfälscht aus einem tieferen Boden sprang. Das war schon fast Bossini selbst nicht mehr, das war getretene Kreatur, ein Wutschrei aus gequälter Brust, die ungebeugt zerreißt. Bossini? – Ein Mensch, in allem seinem Tun der schlechtere Spiegel eines besseren Ich!

Bei den Arbeiten an dem Lackrezept hatte Florenus wiederholt die wissenschaftlichen Bibliotheken Münchens in Anspruch genommen. Er suchte nach alten Rezeptbüchern, um aus ihnen Näheres über die früheren Lackmethoden zu erfahren. Es hatte manches bei der Lackbereitung eine Rolle gespielt, das wir heute glauben, nicht mehr berücksichtigen zu brauchen. In München fand Florenus nicht, was er suchte, und er nahm sich vor, bei seinem nächsten Aufenthalt in Italien die Bibliothek des Musikalischen Lyzeums in Bologna aufzusuchen. Wenn der alte Mattoni noch gelebt hätte, würde er ihm geschrieben haben, den derzeitigen Direktor des Lyzeums kannte Florenus aber nicht. So wollte er selbst nachforschen. Die Reise mußte er mehrfach verschieben. Seine endlich von Erfolg gekrönten Bemühungen und seine veränderte Meinung von der Herkunft des Rezeptes und ihrer Bedeutung hatten die Reise weniger dringlich gemacht. Es handelte sich jetzt für ihn mehr um das literar-historische Interesse daran, ob diese oder ähnliche Lackarten früher bekannter und verbreiteter waren. Dann war es ihm tatsächlich gelungen, eine einstmals hoch- und geheimgehaltene Bereitungskunst der Neuzeit wieder aufzuschließen. Er hätte auch gern mit Bossini gesprochen, um die Frage nach der Herkunft seines Lackrezeptes gründlich zu klären und ihm zu zeigen, wie hoffnungslos sein selbstsüchtiges Beginnen sei, aber das letzte Schreiben Bossinis hatte es ihm leider unmöglich gemacht, an dieser Stelle Klarheit zu suchen und Klarheit zu geben. So fuhr Florenus, als er endlich abkommen konnte, über einen kurzen Aufenthalt in Mailand nach Bologna weiter.

Josephus Florenus ging langsam durch die Straßen und Gassen seiner Heimatstadt dem väterlichen Hause zu. Es hatte ihn lange nicht hierhergeführt, um so lieber grüßten ihn die alten Bogengänge, die schiefen Türme und die hohen Kirchen, die alle wieder mit ihm jung sein wollten, weil er sie jung verlassen hatte. Er hätte ihnen sagen mögen, sie sollten bleiben, wie sie sind, er sei auch so geblieben. Das mochte in den vielen hundert Jahren schon mancher Heimgekehrte den alten Mauern zugesprochen haben. Sie waren alt und immer jung wie das lebendige Menschenvolk, das sich unversieglich, frohsinnig und geschäftig durch ihre schmalen Pforten ergoß.

Josephus trat in den Laden des Vaters. Die einst so hohe und straffe Gestalt ruhte leicht gebückt in einem Ohrensessel. Über das schöne Greisenantlitz ging ein stilles Lächeln, als es den Sohn erkannte. Josephus eilte auf seinen Vater zu, faßte sich niederbeugend seine Hand und küßte sie. Jetzt stand der Alte auf und umarmte seinen Sohn.

»Du warst schon lange nicht mehr hier, Josephus«, sagte er, »und wenn du mal gekommen warst, war dein Besuch nur flüchtig. Willst du uns diesmal länger angehören, was für Geschäfte treiben dich hierher?«

Josephus nötigte seinen Vater wieder auf den Sessel und schob ihm die Fußbank zurecht. Der Alte dankte. »Ich werde alt, Josephus, doch es geht noch immer. Das Geigenbauen erhält gesund. Doch geh zur Mutter, sie wird dich wohl noch nicht erwartet haben, sonst wäre sie schon unten.«

Josephus stieg die schmale Treppe hinauf. Die Mutter saß im kleinen Wohngemach. Der strenge, feine Kopf der alten Frau erglänzte im Triumph der Freude, als sie den Sohn erblickte und ihn mit einem Schrei von Innigkeit und Sehnen an ihr Herz drückte. »Josephus«, rief sie, »kleiner Dickkopf, lieber Josephus, bist du mein großes Kind?« Sie streichelte mit ihren schmalen Fingern seinen Kopf und schaute ihm in die Augen. »Du hast meine Augen, Josephus, du hast sie noch immer. Hörst du noch manchmal die Mühle rauschen und die Wasser klingen, Josephus? Du mußt mir vieles erzählen. Du bist ein berühmter Mann geworden, sie sagen es alle hier, du mußt nur häufiger kommen. Was macht denn deine Frau, hast du sie mitgebracht? So, so, sie wird noch nachkommen. Das ist recht, da habe ich dich doch erst noch wieder allein, so allein wie damals in dem großen Garten am Samoggio. Du willst jetzt wieder zum Vater? – Gut, gut, ihr seid ja beide Geigenbauer und habt euch gewiß viel zu erzählen. Es ist ja auch viel passiert. Denk einmal an, dieser Bossini! Aber geh schon, ich werde dafür sorgen, daß ihr zu essen bekommt.«

Die alte Mutter rief das Mädchen, und Josephus ging wieder hinunter zu seinem Vater. Er rückte einen Stuhl neben den Sessel des Alten, und der Vater fragte:

»Hast du auch von diesen Geschichten in Mailand gehört?«

»Gewiß, Vater, sie sind hoffentlich das Ende dieser Kette von List und Trug, die sich um die Erinnerung an Stradivari schlingt.«

»Da hast du recht. Man hat der ganzen Zunft mit solchen Albernheiten lange genug geschadet. Hab' ich nicht immer dir gesagt, man soll den alten Stradivari ruhen lassen? Was er getan, das war sein Werk. Wir haben unser Werk zu tun, und wenn es um so viel geringer ist, Gott sei es geklagt, dann konnten wir es nicht besser. Hast du besondere Geschäfte in Bologna?«

»Ach, allerhand! Ich will auch noch ins Musikalische Lyzeum, um mit dem jetzigen Direktor dort zu sprechen und einige Bücher in der Bibliothek zu suchen.«

»Gibst du noch immer das Studieren nicht auf? Man lernt aus Büchern nicht das Geigenbauen. Was hat es dir genutzt? Das Beste, was du weißt, hast du von mir gelernt. Du warst ein guter Schüler, mein Josephus, der fleißigste und klügste, den ich hatte, das muß ich sagen. Und Ehre hast du mir gemacht, man schätzt dich in Bologna.«

»Das freut mich, Vater, doch woher?«

»Ich höre es so. Ich lese wenig, wie du weißt, doch in den Schriften wirst du wohl genannt. Es heißt, daß du für deine Geigen hohe Preise forderst.«

»Will man es loben oder tadeln?«

»Man will es tadeln, denn die andern sagen, sie wollten nicht so unbescheiden sein.«

Josephus lachte. »Man nimmt den Preis, den man bekommt, und wer ihn nicht bekommt, kann leicht bescheiden sein.«

»So ist es wohl, und ich bin auch zu alt, um dir noch Konkurrenz zu machen. Ich hätte sonst wohl Lust. Die verschachtelten Systeme von Maßen und Verhältnissen, die du aus deinen Büchern konstruierst, sind mir zu leblos. Danke Gott, mein Sohn, daß diese Theorien dein Können nicht zerstört, und daß du deine Geigen baust, wie du's gelernt!«

»Das ist so, Vater, gut gelernt, ist recht gemeistert, doch wer von denen, die verstorben sind, noch etwas lernen will, der muß sich an Geschriebenes und Gedrucktes halten.«

»Meinetwegen, Josephus. Hast du hier Bestimmtes, was du suchst, und ist es interessant?«

»Bestimmt und interessant. Ein altes Lackrezept hat mich verführt, Versuche anzustellen.«

Josephus lachte wieder. »Das mag schon sein, doch hat es mich nicht krank gemacht, im Gegenteil, ich bin so lustig und gesund wie lange nicht. Ich will nachher, wenn ich die Koffer habe, dir Proben bringen. Es ist was Wunderschönes, Vater, und du wirst dich freuen. Doch ehe ich es vergesse, unterhältst du noch Beziehungen zum Musikalischen Lyzeum?«

»Das wohl, man kennt mich dort von früher. Erst kürzlich ist ein neuer Mann gekommen, der mir noch unbekannt ist. Sei unbesorgt, ein Sohn Florenus wird dort gut empfangen. Doch komm, wir wollen zu der Mutter, sie will von dir und deiner großen Welt was hören.«

Der alte Herr stand auf, ging am Arme Josephus' in den Arbeitsraum, wo er dem Gesellen einige Anweisungen gab, und schritt die Treppe hinauf. Josephus folgte ihm auf der schmalen Stiege und dachte, wie doch ein ganzes Menschenalter an Menschen nicht mehr ändert wie an Mauerwänden. Mochte er auch allerorts ein Mann sein, hier in Bologna war er Kind und blieb er Kind.

Der Direktor des Musikalischen Lyzeums empfing Josephus Florenus mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit. Er saß in demselben Zimmer, in welchem Josephus so oft bei Mattoni geweilt hatte. Es blühten auch hier die unvergeßlichen Erinnerungen, und Direktor Tomasi, der jetzige Leiter des Institutes, ließ sich von Josephus gerne die Geschichten von dem alten Mattoni erzählen, die er Seelenanekdoten nannte. Josephus sprach mit ihm über den eigentlichen Zweck seines Kommens. Die Sache interessierte Tomasi außerordentlich, und bald staken beide tief im Gespräch. Sie kamen auch auf Bossini, und Tomasi betonte, daß Bossini sich bisher nicht bereit gefunden habe, das angebliche Lackrezept bekanntzumachen. Josephus hielt es nicht für angebracht, jetzt schon zu bekennen, daß er eine Abschrift dieses fraglichen Rezeptes besäße. Er hielt sich nicht für berechtigt, einen öffentlichen Gebrauch von einer Sache zu machen, die dem Sinne nach das Eigentum Bossinis war. Sie gingen das Bücherverzeichnis durch, und Josephus merkte sich einige Bände an, die er zunächst einer Durchforschung unterziehen wollte.

Am andern Morgen war er früh in der Bibliothek. Es machte ihm eine Freude, zu den alten Büchern zu greifen, die er einmal aus der Hand Mattonis geliehen erhalten hatte. Es waren noch eine ganze Reihe da, die er nicht kannte. Mit bedenklichen Blicken schaute er auf seine Liste. Wenn er das alles lesen wollte, hatte er zwei Monate zu tun. Solche Angaben, wie er suchte, fanden sich meistens an unbeachteten Stellen, und wo waren diese? Die ausführliche Bearbeitung ganzer Lackrezepte war ehedem keine gelehrte Gewohnheit gewesen. Er suchte sich seine Arbeit zu vereinfachen und sonderte einige Nachschlagewerke aus. Es waren Bücher aus den Lebzeiten Stradivaris dabei, und er nahm gleich eines der ältesten zur Hand. Die Aussicht war nicht groß, denn das Buch handelte vom Bergbau und der Alchimie. Irgendwo mußte er beginnen, und Josephus fing das Blättern und das Lesen an. Den ganzen Vormittag saß er über diesem Buch. Es reizte manches sein Interesse, besonders die Gedankenart gelehrter Männer jener Zeit. Auch manche ungewollte Komik barg das Buch. Für Lackrezepte hatte dieser Enzyklopädist leider aber noch keinen Sinn gehabt. Für den Nachmittag hatte Tomasi ihm einige Schriften zurechtlegen lassen, die aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammten und sich mit Instrumentenbau befaßten. Müde vom Lesen und von der Laune getrieben, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die Fußnoten, in welchen verschiedentlich auf die ältere Literatur hingewiesen und Bezug genommen wurde. Darunter war ein Buch angegeben, welches sich als Handbuch für Technik und Gewerbe bezeichnete. Er kreuzte es sich an und beschloß, am andern Tage seine Studien in diesem Buche fortzusetzen.

In der Bibliothek des Lyzeums fand sich das Buch nicht. Man riet ihm, sich in der alten Stadtbibliothek oder auf der Universität danach zu erkundigen. Da Josephus die frische Luft und den Sonnenschein lieber hatte als den Staub der Bibliothek, machte er sich mit Eifer und gutem Gewissen auf den Spaziergang durch die Stadt. In der Stadtbibliothek wurden die alten Bücher nicht jedem gezeigt, aber die Empfehlung Tomasis genügte. Man ging die Verzeichnisse durch. Es waren alte Blätter, die kaum gebraucht wurden und nur mit Mühe noch zu lesen waren. Florenus hatte einen glücklichen Tag, das Buch war da, und man war bereit, es ihm auf einige Tage zu leihen. Mit dem Buch unterm Arm ging Florenus durch die Straßen Bolognas, und wieder erinnerte er sich, wie er einmal mit heißem Kopf auf den Stufen des alten Palastes gesessen hatte, um in einem Buche zu studieren. Er lenkte seine Schritte zu diesem alten Palast. Es war noch alles wie damals, und er hätte sich am liebsten wieder dorthin gesetzt, aber er fürchtete, auf andere komisch zu wirken. So nahm er das Buch unter den Arm und ging damit nach Hause. Das Buch enthielt die verschiedensten Dinge aus allerhand Gewerben. Baumeister und Farbenreiber waren besonders bedacht, aber auch dem Instrumentenbau hatte der Verfasser ein reichliches Kapitel gewidmet. Josephus blätterte in diesem Teile herum, und er mochte seinen Augen nicht trauen, als er die Zusammenstellung einer Anzahl Lackrezepte fand. Der Herausgeber hatte sie fürsorglich mit empfehlenden Bemerkungen versehen und den Wißbegierigen auch darauf aufmerksam gemacht, daß der Lack eine und die Farbe eine andere Sache sei, und daß es die Fürliebe der Nationen mit sich bringe, ob sie mehr das feurige Rot oder das goldige Gelb schätzten. Florenus glaubte, seine Vermutung von der Verbreitung der Lackkenntnisse bestätigt zu sehen. Verschiedene Rezepte enthielten Gleichartiges. Er blätterte um und las eine kurze Bemerkung über die Pflege des Geigenspiels und des Geigenbaues in den Klöstern. Der Herausgeber verzeichnete seinen gebührenden Dank für die Hochwürden, die sein Werk unterstützt hatten. Unter den Klostermännern stand an erster Stelle der Bruder Arisi vom Dominikanerkloster in Cremona. Das von ihm mitgeteilte Rezept war Wort für Wort das Rezept des Bossini, des Giacomo, – des Stradivari! Josephus zog seine Abschrift des Rezeptes aus der Tasche und verglich es mit dem Druck. Es war wirklich unzweifelhaft das gleiche Rezept. Die wildesten Gedanken stritten sich in seinem Kopfe. Sollte Bossini? – Bossini hatte das Rezept von Giacomo, diese Tatsache lag fest. Dann mußte Giacomo dieses Handbuch gekannt und die Geschichte mit der Bibel erfunden haben. Florenus schaute wieder in das Buch, und sein Auge blieb an dem Namen Arisi haften. Arisi? Ein plötzlicher Gedanke hellte seine Verwirrung auf und brachte das Kreisen zum Stehen. Arisi war der Freund des Antonio Stradivari, ein Freund seiner letzten Jahre und der Vertraute seines Herzens. Josephus schlug die Deckelseiten auf. Das Handbuch war vom Jahre 1746. Das war zehn Jahre nach dem Tode des Meisters. Josephus saß sinnend vor dem Buche. Konnte Giacomo das Buch gekannt haben? – Josephus überlegte sich alles und sagte sich: Nein! Giacomo hätte gewiß nach allen seinen vergeblichen Versuchen die Echtheit seines Lackrezeptes zu beweisen, nach diesem Bruder Arisi geforscht. Er würde es aber vor allen Dingen auch gar nicht gewagt haben, ein Lackrezept anzubieten, dessen Herkunft jederzeit aus diesem Buche bewiesen werden konnte. Viele mochten wohl das Rezept Arisis gelesen haben, aber niemand kam auf den Gedanken, daß es das Geheimnis des Stradivari-Lacks enthielt. Wie sollten sie auch darauf kommen, da von Stradivari keine vergleichbaren Angaben vorhanden waren! Es wußte das eine vom anderen nicht. Es wußte Giacomo von diesem Handbuch nichts, und darin allein lag schon das Zeugnis dafür, daß die tragische Erzählung von der Bibel keine Erfindung war. Mochten die Zusammenhänge sein, wie sie wollten. Für Florenus stand unumstößlich fest, daß das Lackrezept des Bruders Arisi das des Antonio Stradivari war. Es war nirgends erwähnt, daß Arisi sich mit solchen Dingen beschäftigt hätte, und wer konnte wissen, warum er diesen Weg gewählt hatte, um der Nachwelt eine Kunde zu bringen, die sonst im Raume ungehört verhallt wäre. An anderthalb Jahrhunderten war der Ruf vorübergeklungen, bis er wieder Menschenohren vernehmlich geworden war. Der Ruf befreite Florenus von einer Fessel. Er war nicht mehr gebunden an Bossinis Lackrezept. Was hier in diesem Buche stand, das bestand vor Bossini. Auch dieses Rezept verschwieg alle Feinheiten, ohne die es nur ein Rohstoff, eine Anregung war. Es hatte die Zunft ihr Wissen und ihre Kunst, und wer beides nicht besaß, hielt einen Schlüssel ohne Bart in seinen Händen.

Die ersten Fragen der zweifelnden und wissenden Erwägungen hatten Josephus gar nicht merken lassen, wie eine schwellende, springende Welle der Freude sein Wesen durchfloß. Die stille und hohe, nie gebeugte Hoffnung, dieser männlichste Stolz des Menschenherzens, weicht nur einmal vor dem helleren Licht zurück, in jenem Augenblick, wo sich das Unerwartete der großen Seele schenkt. Wir nennen unseres Zufalls Gabe Glück und unserer Arbeit Lohn Verdienst. Am Himmelsbogen prangt das Glück in bunter Herrlichkeit, wo unten der Verdienst uns feste Häuser baut.

»Aus welcher Ferne hat der alte Meister sein edles Handwerk weihevoll gegrüßt? Die Ehre steht mir nicht, und sie versucht mich nicht. Ich will mein Werk an meinem stillen Tag vollenden. Nur eins vergönn mir vor der Zeit, Antonio, laß deinen Glanz den grauen Kopf des Vaters mir vergolden!« In Josephus' hochgespannter Seele formte aller Dank sich zum Gebet.

Josephus riß sich aus seiner Ergriffenheit und schlug das Buch zu. Sollte er wirklich der plötzlichen Eingebung folgen und die große Erfüllung vor der Welt verschweigen? Giacomo und Bossini hatten um den Lack genug gelärmt, die Welt hatte sie stumm gemacht. Stradivari hatte davon geschwiegen und einen späten Zeugen reden lassen. Dem Geist des großen Meisters entsprach es durchaus, daß er das Rezept in eine Bibel eingetragen haben sollte. Hatte er es schützen wollen vor unheiligen Händen, war dieser Schutz zu schwach gewesen? Der andere Schutz war mächtiger, der in dem Vorrecht der Berufenen lag. Am mächtigsten war der unsichtbare Schutz, an dem sich jede Goldgier müde rieb, zerschlug, zerschellte. So mancher kluge Schleicher wußte wohl, warum er seinem feinen Lack geheime Kräfte zuschrieb und dem berühmten Lack des Stradivari das Äußerste der Klangveredelung beimaß. Die Kunde einer solchen Gabe machte sich bezahlt, und jeder würde solchen Lack sich kaufen. So war es leider nicht. Der Lack war schön, nicht mehr, nicht weniger, er war schön. Auch Schönheit kauft man gern, doch diese Schönheit mußte sich schon jeder selber machen. Es konnte nur die Menschenhand sie mit Geduld und Kunst erzeugen und mit Geschick im rechten Augenblick gebrauchen. Ein Elixier wie alle Elixiere, ein Lebensquell für den, der ihn erschließt. Der Neid dürstet nach ihm und kann sich nie daran erlaben. Von welchem lächerlichen Wahn war dieser Bossini befangen? Wie ein Gift- und flammenspeiender Lindwurm hütete er seinen vermeintlichen Schatz. Er bildete sich ein, er besäße ihn allein. Er bildet sich ein, der Fetzen Papier wäre eine Kostbarkeit, und er war nicht mehr wert als ein Stück verbogenes, verrostetes Blech. Er glaubt, daß, wenn er für seinen Glauben den Glauben anderer gewinnt, der goldene Berg sich auftun würde. Nein. Wenn ihm andere glaubten, waren sie betrogen wie der Betrüger selbst. Bossini verrammelte die Hintertür und wußte nicht, daß vorn im Haus das große Tor weit offen stand. Er biß sich in die Lippen, um zu schweigen, und diesem armen Schächer hätte sein Geschwätz in allen Gassen wenigstens ein Stückchen Brot gebracht!

Josephus hatte am Fenster gestanden und auf die Gasse gesehen. Auf ein Geräusch wandte er sich um. Sein Vater trat herein. »Nun, Josephus«, fragte er, »was hast du heute morgen geschafft?« Er setzte sich auf das alte Kanapee und zündete sich eine kleine Pfeife an. Die ersten Züge schmeckten am besten. Mit Behagen stieß der Alte die blauen Wölkchen in die Luft. »Du bist vornehmer«, sagte er, »du kommst aus Deutschland und rauchst Zigarren.« Josephus setzte sich zu ihm und erwiderte lächelnd: »Das kommt wohl vor. – Doch du fragst, was ich gemacht hätte. Sieh, Vater, die Bücher sind doch zu etwas gut. Eine Geige zu bauen, lernt man nicht daraus, aber ich habe etwas ganz Wunderbares gelernt.«

»So, was soll das sein, für einen Geigenbauer sein? Denn daß man andere Dinge aus den Büchern lernen kann, das will ich nicht bestreiten.«

»Ich habe etwas gelernt, was nur für den Geigenbauer ist, und wenn es auch nicht die Kunst ist, ist es doch was Künstliches.«

»Soll ich bei dir noch Rätsel raten? Das mache ich nicht!«

»Das sollst du gar nicht, Vater, aber ich will dir sagen und dir ganz allein sagen, daß die Lackproben, die ich dir gezeigt habe, von dem wirklichen und echten Stradivari-Lack sind!«

»Ich denke, das weißt du nicht gewiß.«

»Sieh dieses Buch! Seit ich darin gelesen habe, weiß ich es gewiß, denn darin steht der Beweis!« Und nun erzählte Josephus seinem Vater, wie sich der Kreislauf der Begebenheit vollendet hatte, wie aller Zweifel geschwunden war, und wie er vor der Welt den Fund verschweigen wollte. Der alte Vater, der es immer noch für eine Schwäche hielt, von seinem Sohn im Geigenbau belehrt werden zu sollen, hatte zuerst mißtrauisch zugehört und war dann in eine stille Rührung versunken. Josephus hatte seine Erzählung beendet, und beide saßen schweigend da. Der Vater nahm die Hand seines Sohnes und sagte: »Josephus, du bist ein anderer Geigenbauer geworden als ich, und deine Geigen sind gut. Nun hast du den Lack gefunden, den Lack des alten Stradivari. Ich weiß, man nannte ihn das gebannte Sonnenlicht. Möge es dir leuchten! Ich soll davon nicht reden, besorge dich nicht, ich bin ein alter Mann, aber ich bin auch ein alter Geigenbauer, und wir wissen zu schweigen. Es ist auch recht so, mein Sohn.«

Der alte Vater langte in die Tasche und zog einen Schlüssel heraus. »Du hast mir eine große Freude gemacht, Josephus«, begann er bedächtig, »nun will ich dir auch eine Freude machen, wenn auch nur eine kleine. Hier ist der Schlüssel, geh in die Werkstatt und hole aus dem Schrank vom oberen Bord den länglichen Pappkasten, der dort steht! Geh nur gleich, ich warte auf dich!« Josephus nahm den Schlüssel, ging in die Werkstatt, öffnete den Schrank und nahm den Pappkasten heraus. Es war ein Kasten so groß, wie er etwa für eine Geige sein mußte. Womit wollte sein Vater ihn überraschen? Eilig kehrte er in das Wohnzimmer zurück und legte den Kasten auf den Tisch. »Öffne die Verschnürungen!« wies der Vater ihn an. Josephus zog die Schleife auf und hob den Deckel ab. Nach der Entfernung des Seidenpapiers erblickte er eine Geige. Fragend schaute er auf. Der Alte nickte und sagte: »Du kennst sie, Josephus!« Fast betroffen nahm Josephus das Instrument in die Hand. Wirklich, er kannte es. Es war kein Meisterwerk, es war die erste Geige von seiner Hand, die Geige, mit welcher der Fünfzehnjährige einst das Gesellenrecht bei seinem Vater erwarb. Vieles, vieles hatte er zugelernt inzwischen, und es war ihm kaum noch recht, daß dieses Erstlingswerk seinen Namen tragen sollte. Hatte der Vater es deswegen zurückgekauft? Der alte Geigenbauer beobachtete seinen Sohn und fragte: »Nun, was sagst du dazu?« Die Antwort wußte Josephus nicht leicht zu geben. Die Geige war schon vor langen Jahren verkauft worden, und welcher Zufall hatte sie seinem Vater wieder in die Hände gespielt?

Es war dem alten Raffaele nicht entgangen, was seinen Sohn bewegte. Er schilderte kurz die Begebenheit und setzte hinzu: »Du brauchst dich dieser Geige noch heute nicht zu schämen, Josephus, auch nicht, wenn sie in fremden Händen geblieben wäre. Hältst du es für eine größere Ehre, als Meister vom Himmel gefallen zu sein oder als halbes Kind mit diesem Instrument deine Laufbahn eröffnet zu haben? Die Geige war dem Fremden etwas wert. Mir war sie mehr wert, weil du sie als Kind in meinem Hause machtest. Dir, Josephus, sollte der Wert noch höher stehen, denn ohne dieses Zeugnis deiner Kinderhand wäre niemals deine Meisterhand geworden. Wer weiß, was du geworden wärest: Wir müssen früh beginnen mit der Kunst, wenn wir als Geigenbauer etwas werden wollen. Wir brauchen Schule, Reife und Erfahrung wie kaum ein anderer Künstler, und jedes Instrument bleibt stets ein unzertrennlich Stück von unserem Werk. Sei stolz, daß diese Geige deine erste war, es wäre mancher schon beglückt gewesen, wenn sie seine letzte wäre. Nun pack sie ein und nimm sie mit!«

Josephus nahm die Geige schweigend in die Hand und trat ans Fenster. Er las die feste, runde Schrift des selbstbewußten Knaben, und das Hochgefühl des jungen Künstlers wurde wieder in ihm wach. »Josephus Florenus, Bononia 1876, Opus I«, so stand es da, und Josephus träumte zurück in den frühen Ernst seiner Kindheit.

Am Abend kam die Frau Josephus'. Die Tage gingen in vielen Freuden dahin, und die beiden Alten segneten den Frieden. Es lag Abendsonne über Bologna, als Josephus mit seiner Frau wieder über die Alpen fuhr. Seinen Vater sah er nicht wieder.


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