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Wie meine Mutter Weihnachten feierte

Als ich noch ein ganz kleines Kind war, und später, als ich heranwuchs, und jetzt, nun ich eine alte Frau bin, sagte und frage ich immer noch: »War's irgendwo schöner an Weihnachten als bei uns?« Gewiß und wahrhaftig, nirgends war es schöner, und daran war meine Mutter schuld. Wie sie das aber zustande brachte, wie sie's anstellte und wie sie's machte, davon möchte ich erzählen.

Erstens – und ich könnte alle Zahlen bis hundert dazu nehmen – war ihr Herz voll von Liebe daran schuld, und deshalb war sie und waren wir wahrscheinlich, wie mich dünkt, tausendmal vergnügter als viele andere Menschen. Weihnachten bestand für meine Mutter nicht nur aus ein paar flüchtigen Festtagen, an denen man sich gegenseitig beschenkte und mit diesen Geschenken sofort wieder ins Alltagsleben hinabstieg, es war für sie der Höhepunkt des Jahres, etwas wundervoll Leuchtendes, das seine Strahlen weit hinaussandte, und auf das sich schon Monate vorher die Blicke wendeten. Geben war ihres Herzens Wonne, und wie man zu geben und zu erfreuen vermochte, auch ohne große Mittel, das konnte man von ihr lernen. Da gab's eine Fleckschublade mit all den kleinen, bunten Überresten an Stoff und Bändern, die zum Puppenanziehen taugten. Da wurde in der Sommerfrische schon an den Orten, in die wir kamen, ein Vorrat eingekauft von hübschen Bildchen, Wachsengelchen, kleinen, billigen Schmucksachen, Perlen und dergleichen. Schon in den Sommerferien hieß es: »Kinder, wenn wir heimkommen, dann ist's beinahe Herbst, und wenn der Herbst vorbei ist, dann kommt schon der erste Advent, und dann – nur noch vier Wochen – und es ist Christtag! – Da war's uns zumute, als hätte uns Mutter jetzt schon, wenn auch in weiter Ferne noch, ein Lichtlein angesteckt. Und sie hatte recht, es ging wirklich merkwürdig geschwind diesem Lichtlein entgegen. Auch durch die anstrengenden Schulwochen, die noch dazwischen lagen, hindurch. Und dann war er da, der ersehnte erste Advent, an dem es einem so zumute wurde, als täte sich plötzlich eine Tür auf, und als sähe man statt des Lichtleins bereits ein geheimnisvolles, großes Flimmern und Leuchten.

Wie herrlich war es, wenn an diesem ersten der vier letzten Sonntage vor Weihnachten Mutter am Abend mit schönen, weißen Papierbogen hereinkam, diese mit einem langen Papiermesser in Streifen schnitt und sagte: »Kinder, jetzt werden die Weihnachtswunschzettel geschrieben!« Jedes von uns bekam einen Bleistift. Und nun ging es los das Besinnen, das eifrige Schreiben, bis das Papier kaum reichen wollte und wir ganz rote Köpfe hatten. Es war noch nicht die Zeit, da Kinder sich und die Eltern quälten mit der Frage: »Was soll ich mir denn wünschen?« Ach nein, was hatten wir für Wünsche, daß wir uns nur so überpurzelten im Ausdenken und Niederschreiben! Wünsche der unsagbarsten Art, von einer Tüte Lakritzen bis zu einem Hund oder Geißbock, oder gar, was ich mir jahrelang, aber immer vergeblich wünschte, bis zu einem Brüderchen oder einem Schwesterchen. Ich war die Jüngste von fünfen, und das Christkind mochte wohl denken, es seien für eine Familie genug Kinder. Und während man die Phantasie walten ließ, war's schon fast so, als besäße man bereits all diese Dinge, so leuchtend und greifbar standen sie vor einem. Wenn Mutter dann die Zettel einsammelte und durchlas und lachend da und dort durch die verwegensten Sachen einen Strich machte und sagte: »Wie könnt ihr dem Christkind zumuten, sowas Schweres, Großes oder gar Zappelndes zu tragen?« so waren wir's auch zufrieden. War's ja doch schon schön gewesen, sich überhaupt derartiges auszudenken. Auf das Gesims – damit es das Christkind etwa leichter zu holen habe – legte man unsere Wunschzettel nicht. Man band sie auch nicht an rote Luftballons und schickte sie damit in die Höhe, schon aus dem Grunde nicht, weil es damals noch gar keine gab. Aber sie waren in Mutters Hand, und daß Mutter und das Christkind in enger Verbindung standen, das war unser fester Glaube, und fast ist's mir heute noch so, als sei dies der Fall gewesen. Wie hätte Mutter denn auch sonst so oft und so ernst sagen können: »Wenn du so bös bist, so betrübst du das liebe Christkind!« oder aber ernst und lustig: »Ich weiß etwas vom Christkind, na, Kinder, ihr könnt euch freuen, aber ich darf nichts verraten!«

Und wie wurde dieses Freuen gesteigert! Nach jedem Ausgang, den sie machte, lag ein Stückchen Goldflitter auf dem Boden, das wohl das Christkind verloren hatte, oder wir bekamen ein kleines Gutsle aus der »Tüte des Christkindes« – oder aber, und das war das Wunderbarste, was geschehen konnte, es schallte aus der Tiefe ihrer schwarzen Ledertasche oder aus einem geheimnisvollen Pack heraus plötzlich ein kleiner Trompetenstoß oder ein Harmonikaton, der aber sofort wieder verstummte und einfach nicht mehr zu erwecken war.

Das Schönste in diesen Wochen blieb aber das geheimnisvolle Arbeitendürfen für andere. Ach, diese Abende voll Überlegen und Besprechen, voll Geheimnistuerei, was die Eltern anbelangte, und wieder untereinander. Mutter hatte etwas Prächtiges ersonnen. Damit wir ja unsere kleinen Geheimnisse gut hüten konnten, wurde in dieser Zeit die Schönheit des Wohnzimmers geopfert. Dicht neben dem Familientisch – damit die dort stehende Erdöllampe noch mitbenützt werden konnte – waren noch vermittelst einer spanischen Wand und verschiedener Ofenschirme kleine Abteilungen gemacht, in denen wir, gesichert vor neugierigen Blicken, bosseln und arbeiten durften. Freilich guckte wohl auch so dann und wann geschwind ein neugieriger Geschwisterkopf über die Scheidewand, und nicht immer ging's friedlich zu, wenn begehrliche Hände nach dem Leim, dem Radiergummi oder der Schere herübergriffen. Aber die Hauptsache: Man konnte doch die Überraschung für die Eltern hier in Muße ausarbeiten, denn daß die nie herüberschauen würden, dessen war man ja ganz sicher. Man brauchte aber auch Ruhe und Ungestörtsein, denn aus sehr Kleinem Großes zu schaffen, darin bestanden unsere Aufgabe und unser Glück. Unser ganzer Reichtum betrug ja nur wenige Kreuzer, und außerdem war es bestimmte Regel, daß kein Geschenk, nicht für Eltern und nicht für Geschwister, mehr kosten dürfte als drei Kreuzer, und daß es etwas Selbstgefertigtes sein mußte. Da galt's, seinen ganzen Verstand und sein Können zusammenzunehmen. Aber da entstanden auch die wunderbarsten Kunstwerke, und ich besitze jetzt noch ein kleines Schränkchen, worin diese von der Mutter pietätvollst aufgehobenen Dinge liegen. Ich nenne davon: kleine, geklebte Schächtelchen mit der Inschrift »aus Liebe« darauf, ein aus einem Bilderbogen ausgeschnittener Reiter, der einen Bleistift als Lanze und eine Stopfnadel als Säbel hatte, rührende Stecknadelkissen mit gehäkelten Spitzchen darum, gestrickte Läppchen, an denen Vater sein Rasiermesser abputzen sollte, und mit Perlen eingefaßte Ringe. Auf etwas ganz besonders Schönes, noch nie Dagewesenes, tat ich mir viel zugute. Es war eine »Lithophanie« (Durchscheinbild), wie man es nannte. Ein rundes Pappdeckelchen, in das ich die nicht ganz leicht zu erkennenden Umrisse von unserem Schnauzer gestochen hatte, und das rote Papier, das dahinter geklebt war, gab dem Ganzen wirklich etwas Mystisches. Zur Verschönerung und Einrahmung diente noch ein gelbliches Zigarrenbändchen, und erst nach Jahren schwand mir dieser Nimbus, und es wurde mir klar, daß das greuliche Ding schauderhaft wirkte neben wirklichen, hübschen Lithophanien an Mutters Fenster. Beneidenswert prachtvoll schien uns auch die Arbeit einer meiner Schwestern. Sie hatte sich gerade vorne – auch zur Überraschung der Mutter – einen Wisch Haare abgeschnitten. Der war unter ein von Papier ausgeschnittenes Netz geklebt worden. Zog man dieses in die Höhe, so wurden die blonden Härlein sichtbar, was wir nie genug bewundern konnten, und außen herum hatte sie noch kleine Blümchen aus buntem Papier aufgeklebt. Ob wohl je in irgend einer Werkstätte der Welt mit so viel Hingebung und Glück im Herzen gearbeitet wurde als hier? ... Und dicht dabei, nur durch eine Wand getrennt, saßen die Eltern. Vater las die Zeitung und Mutter tat etwas, was auch wir Kinder nicht sehen durften. Sie machte neue Kleidchen für unsere Puppen. Das ahnten wir, und gespannt lauschten wir auf das Rascheln der Schere und auf das Knistern der Seide. Zum Entzücken aber war es, wenn blitzartig über dem Rand der spanischen Wand ein Puppenkopf erschien, von dem wir zu unserem Jammer aber kaum die Umrisse erkennen konnten, oder wenn sich auf einmal drüben ein Puppenkind vergaß und einen quiekenden Ton von sich gab, – Geheimnisse, Geheimnisse! ...

Oft auch klopfte es in diesen Abendstunden außen an der Tür, und das »Madele«, die alte Botenfrau, die ihre Fahrten machte zwischen Ludwigsburg, wo wir wohnten, und Stuttgart, der Residenz, trat herein, über und über beladen mit Schachteln, Paketen und Kistchen. Das »Madele« durfte am Ofen ein Weilchen niedersitzen und sich ausruhen, nachdem sie das für Mutter Bestimmte abgestellt hatte. Sie bekam auch einen Kaffee und ein Milchbrot, und dabei erzählte sie von ganz wunderbaren Dingen, die sie gesehen. Wir horchten gespannt auf, wenn sie berichtete, daß man jetzt in Stuttgart nimmer die alten Öllampen habe, die an Stricken quer über die Straße herübergezogen wurden, sondern daß alles geradezu »zum Fürchten helle« sei von dem Gas, das jetzt brenne, und von dem kein Tröpflein Öl mehr runterfalle. Lauter Luft sei's, habe sie sich sagen lassen, und der Ölmüller, mit dem sie gefahren sei, meine, zu was da unser Herrgott auch noch Raps und Leinensamen wachsen ließe, man werde sehen, daß dies nicht lange währe, knallen werd's, und dann sei alles aus! Das »Madele« brachte auch den neuen Landeskalender mit, und wenn sie fort war, nahm sich Mutter Zeit und las uns kleine Geschichten daraus vor. Oder sie ließ uns unsere Weihnachtslieder und -verse während der Arbeit wiederholen, die mir mit ihrer beruhigenden Poesie und der verheißungsvollen Himmelsbotschaft heute noch eisenfest in Herz und Gedächtnis haften, was ich diesen Stunden verdanke.

Näher und näher rückte das Fest, und nun kam das Backen. Bei den Bäckern waren damals nur Semmeln und Brot zu haben, alles Feinere mußte selbst verfertigt werden. Es wäre kein richtiges Schwabenhaus gewesen, in dem nicht auf Weihnachten Konfekt aller Art gebacken wurde, und wir Kinder prahlten untereinander, in wessen Haus es die meisten Sorten gäbe. Ich glaube kaum, daß es noch irgendwo so herrlich riechen kann wie in diesen Tagen zu Haus, wenn Honig zerlassen, Zitronat und Mandeln geschnitten, Vanille gestoßen und Zimmet zerbröckelt wurden. Ob jetzt wohl auch noch die Kinder beim Rühren des Teiges die Schüssel halten und sie zum Lohn dafür nachher auskratzen dürfen? Wie köstlich schmeckte es, wenn Mutter oder die Jungfer ein kleines Stückchen Teig zum Kosten abgab, oder eine gedörrte Zwetsche oder Hutzel, die zum Schnitzbrot bereitlag. Zu einem wahren Feste aber gestaltete Mutter den Abend, an dem Springerle (Anisgebäck) gemacht wurden. Das ist ein schwäbisches Backwerk, bei dem der Teig in geschnitzte Holzformen gedrückt wird, wodurch dann beim Backen die schönsten reliefartigen Bildchen entstehen.

Mutter besah von den Urgroßeltern her noch solch unendlich fein geschnitzte Förmchen, wahre Kunstwerke. Die ganze Familie saß um den langausgezogenen Eßtisch herum, auch die Dienstmädchen, – und ein jedes hatte vor sich ein rundes Brett nebst einigen solcher Formen und ein Stück Teig, mit dem es sein Glück versuchen durfte. Die Kinderspringerle der Kleinen wurden nachher in Puppenküche oder Kaufladen verwendet, zum allgemeinen Gebrauch wären sie, trotz der vorher gewissenhaft vorgenommenen Händewascherei, doch oft ein bißchen schwärzlich ausgefallen, denn es war die Hauptfreude, das zugewiesene Stück Teig immer und immer wieder zusammenzukneten und in eine neue Form zu drücken.

Wenn alles Backwerk fertig und wohlgeraten schön aufgeschichtet in Körben lag, so wurden etliche Tage vor Weihnachten die Teller gerichtet. Nicht nur die Hausgenossen, sondern auch alle Verwandten, auch sämtliche Wäscherinnen, Putzerinnen und Näherinnen sowie die Hausarmen bekamen einen Teller voll »Gutsle«. Wer übergangen worden wäre, hätte sich tief gekränkt gefühlt. Auch hier durften wir helfen, – es war ja noch die glückliche Zeit, da die Kinder, wenn die Schule vorbei war, wirklich frei hatten. Und draußen im weiten Korridor stand bereits die schöne, große Tanne, die unser alter Diener Göhring mit großer Umständlichkeit alljährlich auf dem Markt aussuchte, daheim säuberlich von den ungleichen Zweigen befreite und dann in ein Brett einpaßte.

Unser Tannenbaum! Ich frage von neuem, gab's je wieder einen so schönen? Da hingen nicht nur wie bei anderen Leuten das gewöhnliche Schaum- und Baumkonfekt, die Glaskugeln und sonstigen Zierate. Da gab's vor allem andern auch versilberte und vergoldete Nüsse, viele rotbackige Äpfelein und echte Wachslichtchen, die ganz anders dufteten als die jetzt gebräuchlichen Paraffinkerzen oder gar elektrischen Birnen. Da hingen ferner Dinge zwischen den Zweigen, von denen jedes seine eigene Geschichte hatte. Das kleine, baumelnde Tirolerkind, mit dem hatte Mutter noch gespielt. Ein kleiner, goldener Helm stammte aus Vaters Kindheit, sogar noch aus der Befreiungszeit. Aus Papier geschnittene Kettchen hingen herum, die eine frühverstorbene Schwester angefertigt hatte. Hier glitzerte ein wunderschönes, großes, goldenes Bonbon von der Königlichen Tafel in Berlin. Wieder eines stammte aus England, vom dortigen Hofe, wo Vater einstens als junger Offizier und Begleiter von jugendlichen Prinzen eine Zeitlang gelebt. Etliche andere solcher Prachtstücke waren ihm von einer russischen Fürstin extra für seine Kinder gegeben worden. Das Merkwürdigste war wohl ein Bonbon in blauen und roten Farben gehalten, das Vater persönlich von Napoleon III., dem er bei einem Aufenthalt in Stuttgart zugeteilt worden war, gleichfalls » pour ses enfants« erhalten hatte. Von außen waren diese farbenprächtigen fürstlichen Sachen ja wohl recht schön, aber eigentlich schauten wir sie doch nur als Anhängsel zweiter Klasse an, denn schon seit Jahren war der Inhalt durch ein kleines Holzstückchen ersetzt worden. Das Allerschönste, was es gab, war aber doch hoch oben am Gipfel der Tanne ein wächsernes, in strahlendes Gold gekleidetes Christkindlein, das schwebend die Arme ausbreitete. Das war uralt und hatte von solcher tannenduftenden Höhe auf Eltern, Großeltern und vielleicht schon auf Urgroßeltern herabgeblickt.

Und nun kam der ersehnte Tag mit seinem Erwachen: »Heut' ist's!« Mutter war schon vom Morgen an verschwunden. Daß sie beim Christkind war, oder vielmehr, daß dieses bei uns war und mit Mutter in der guten Stube arbeitete, daran zweifelte keins von uns. Vorher aber hatte sie uns Kindern allerlei Körbchen und Pakete übergeben, die wir mit der Jungfer zu den Leuten, die im Hause arbeiteten, und zu armen Kranken bringen durften. Wir hatten auch die Erlaubnis, von unserem Eigenen beizufügen, und es war wiederum eine große Freude für uns, von unserem Spielzeug herschenken oder mühsam gestrickte Pulswärmer und Kinderhäubchen überbringen zu dürfen. Man kannte alle die Leute so gut, – die lange Nähluise, die alle Woche zum Ausbessern kam, die Putzmacher-Ernestine, die tiefernste Reden hielt, während sie Hüte steckte. Auch die Büglerinnen Frau Bahn und Frau Speidel, zwei Schwestern, die sich nicht vertrugen. Die Aufseherfamilie mit den sieben Kindern, die von früh an schon auf uns an der Ecke warteten, und mit dem Jubelschrei: »Se kommet! – Se kommet!« davon und vor uns die holprige Treppe hinauf rannten. Und das sanfte, gottergebene, blinde Fräulein Julie, das jahrelang in fürstlichen Häusern gedient hatte, an deren Wänden die Bilder von Prinzen und Prinzessinnen hingen, die wir mit ehrfurchtsvollem Staunen immer von neuem anschauten. Es waren keine großen Gaben, die wir brachten, aber von Mutter mit Liebe erkundete und mit praktischem Sinn eingekaufte Geschenke, so daß wir meistens neben dem Dank die Worte zu hören bekamen: »Gerade das habe ich mir gewünscht! – Gerade so hab' ich's erhofft!«

Entsetzlich lang war der Nachmittag, obgleich Mutter auch hier allerlei Rat wußte, ihn verständig herumzubringen. Wir durften, als wir etwas älter waren, für die Abendtafel, zu der sämtliche Verwandte und auch einzelstehende Freunde kamen, Obst- und Kuchenteller richten. Die liebste Aufgabe, die mich treffen konnte, war die, wenn ich in den über der Straße drüben gelegenen Garten gehen durfte, um nach Christrosen zu suchen.

Der Garten in der Winterzeit und noch dazu beim Beginn des heiligen Abends! Nie vergesse ich die hohen Gefühle, die ich da hatte! Dichter Schnee lag auf den Zweigen und auf den Büschen, auf den Wegen waren nur die Fußspuren der Vögel und die meiner Kinderfüße zu sehen. Und da stand ich allein in der dämmernden Einsamkeit und bückte mich nieder, um den Schnee hinwegzuschieben, unter dem sich die lieblichen weißen Sterne befanden, über mir der weite Himmel und in mir ein Glücksgefühl, das mir die Brust zu sprengen drohte. Da erinnere ich mich, daß ich im Übermaß meiner Gefühle neben die Blumen in den Schnee kniete und immer nur sagen konnte: »Danke, lieber Gott! – Danke, lieber Gott!«

... Die Bescherung war gewesen, – sie verlief wohl wie viele andere auch. Aber unmittelbar nach der Bescherung, da kam bei uns etwas, das uns Kindern fast noch das Allerschönste dünkte. Wir legten nicht, wie es sonst wohl geschieht, unsere kleinen Gaben an den Platz der zu Beschenkenden, wo sie unter den vielen andern Dingen nicht so recht beachtet worden wären. Nein, wir durften einen besonderen Kinderchristtag haben. Wenn sich der Trubel der ersten Bescherung gelegt hatte, so führten wir feierlich und mit Stolz im Herzen die Anwesenden in das Kinderzimmer, wo auf unserem runden Eßtisch ein kleines Bäumchen stand, und wo unsere uns so kostbar dünkenden Geschenke lagen. Fünf Geschwister waren wir, fünf Gaben erhielt jede Person. Die Namen, möglichst schön geschrieben, bezeichneten den Platz. Und für unsere Ohren und Herzen war es eine wahre Wonne, die lobenden und erfreuten Ausrufe und Bemerkungen entgegenzunehmen. »Geben ist seliger als Nehmen!« Und niemand verstand es besser als Mutter, unseren Kinderherzen diese Seligkeit einzuprägen.

Wie weit Mutters eigene Schenkfreudigkeit ging, beweist folgender kleine Zug, den ich wohl schon einmal schilderte, der aber auch hier seinen Platz finden soll. Vater war General. Im Erdgeschoß unseres Hauses war die sogenannte Ordonnanzstube, in der beständig fünf bis sechs Soldaten, zu Botendiensten bereit, weilten. Daß diese am heiligen Abend nicht leer ausgehen sollten, war für uns selbstverständlich, und wir Kinder durften ihnen Päckchen mit Gutsle, Büchlein, Taschenmesser und dergleichen kleine Sachen bringen. Auch ein Glas Wein und ein Stück Kuchen erhielt jeder. Nun stand aber vor dem Hause auch ein Posten, der doch gewiß am heiligen Abend, wie Mutter warm für ihn empfand, traurig darüber war, daß er Wache stehen mußte. Daß man einer Schildwache nichts geben durfte, wußte Mutter wohl, dazu war sie zu sehr Soldatenfrau und fürchtete auch Vaters Strenge. Aber sie, die sonst die Lauterkeit selber war, wurde in diesem Ausnahmefall schlau und erfinderisch. Annehmen durfte ein Posten ja nichts, ihm eine Gabe zu reichen, war verboten. Aber heimlich und still ließ sie durch den alten Diener eines jener Päckchen in sein Schilderhaus legen, und überließ es ihm, die auf- und abwandelnde Schildwache möglichst unauffällig darauf aufmerksam zu machen. Mit Herzklopfen erkundigte sie sich nachher, wie's gegangen sei, und zu ihrer Freude war in einer Reihe von Jahren das Schilderhaus nachher immer leer gewesen. Nun aber stand gerade gegenüber von unserem Hause, am Eingang zum Schloß, noch einmal ein Posten, und es beunruhigte Mutters warmes Gemüt, daß dieser Mann den brennenden Baum hinter unseren Fenstern sehen mußte und dadurch sicher Heimweh bekommen werde. So wurde in aller Stille auch hier ein Päcklein ins Schilderhaus gelegt, und ich bin sicher, daß diese »grobe Insubordination« nirgends einen Schaden angerichtet hatte. Wohl aber hatte Mutter in späteren Jahren etliche Male die große Freude und Genugtuung, daß sich einige von den damals Beschenkten bei ihr einfanden, die ihr erzählten, daß nicht leicht etwas in ihrem Leben sie so beglückt und auch für den strengen Dienst wieder freudiger gestimmt habe, als dieses unerwartete An-sie-Denken.

Jedoch nicht nur durch Gaben und Geschenke wollte Mutter uns Kindern die Weihnachtszeit wichtig machen, ihr war die Hauptsache, bei allem das große Himmelsereignis, das doch allein all dem Freuen und Beschenktwerden zugrunde lag. Dazu hatte sie sich nun etwas ganz Besonderes ersonnen. Wenn die Gäste fort waren und wir eigentlich ins Bett gehört hätten, dann hieß es bei einigermaßen gutem Wetter: »Kinder, kommt schnell, wir wollen zusammen noch einen Blick in den Himmel tun!« Und jubelnd, denn wir wußten schon, was kommen würde, wickelten wir uns fest in Mäntel und Tücher und wandelten vereint mit den Eltern hinüber in den nahegelegenen Schloßgarten. Der lag voller Schnee, der Himmel funkelte von Sternen, und Mutter sagte leise und geheimnisvoll: »Es ist Christnacht, – schaut recht fest zu den Sternen hinauf, vielleicht erblickt ihr etwas vom Himmelsglanz dahinter ... und horchen wollen wir, 's mag sein, daß wir die Engelein singen hören!«

Man mag mir's glauben oder nicht, das Firmament in der heiligen Nacht glänzte wirklich ganz anders als sonst, und ich möchte auch heute noch glauben, daß ich damals wirklich die Engel habe singen hören!

Kinderzeit – selige Zeit! Die goldenen Fäden nach oben sind noch so fest, es ist ein Leichtes, an ihnen emporzuklimmen, dahin, woher die junge Seele gekommen! Aber sie werden länger und länger, und das Leben verwirrt gar so oft, was einstens schlichter, einfacher Halt war. Wohl dem, der jemand neben sich hat, der mit treuen, schlichtenden Händen eingreift, wo diese goldenen Fäden sich verwirren wollen. Meine gute Mutter tat's! Aber am liebsten knüpfte sie, als wir längst draußen im Leben standen, solche etwa abgerissenen Fäden in fröhlichen Feststunden wieder an, leise, behutsam, vorsichtig! Wir merkten es erst hintendrein im Alltag, wenn wir plötzlich statt Wirrnis wieder einen breiten, goldenen, aufwärtsführenden Himmelsfaden vor uns sahen.

... Es kam eine Nacht, – viele Jahre nachher – da war's uns allen nicht ums Feiern. Vater war, nach langer Erdenwallfahrt, von uns gegangen, und Mutter war eine alte Frau geworden. An anderem Orte lebte sie in treuer Kinderobhut, aber das Heimweh war eben da. Eine Bescherung wurde trotzdem gehalten, der Enkel wegen, die durften nicht darunter leiden. Aber als die Dämmerung einbrach und ich bei Mutter saß, da wurde der Gedanke an einst doch übermächtig, und es drohte, daß wir sehr weich wurden. Das wollte Mutter jedoch nicht, und so faßte sie einen raschen Entschluß: »Es ist noch eine Stunde, bis der Baum oben hergerichtet ist, ich muß vorher noch jemand eine Freude machen!« Und warm angezogen, wanderten wir zusammen hinaus in die dichtbevölkerten Straßen, mitten hinein in das Getriebe des Christkindmarktes. Innerlich war ich erstaunt über diese Wendung, aber bald sollte ich merken, was Mutter vorhatte. In der rechten Hand ihren Geldbeutel – in dem sie ihr Armengeld hatte – suchte sie mit klarem Blick nach Menschen, die etwa auch traurig waren. Und wie viele Bedrängte gibt es in einer Menschenmenge, man muß nur solch helle Augen wie meine Mutter dazu haben, um sie zu entdecken.

Hier war ein kleiner, vor Kälte zitternder Bub, der den Rest seiner selbstgemachten Watteschäfchen und Kaminkehrer noch nicht verkauft hatte. Flugs nahm sie ihm meine Mutter ab, und als gerade eine Arbeiterfamilie vorüberkam – der Mann trug das Jüngste auf dem Arm, damit es doch auch etwas sehen konnte, und an der Mutter Rock hingen ein paar andere – da verteilte sie rasch das Gekaufte unter die Kleinen. Dort stand unter einer Laterne ein altes Weiblein und zählte bedächtig den mageren Inhalt ihres blechernen Geldbüchschens. Mir ein Zeichen machen, sich hinter die Frau schleichen und ihr von rückwärts her ein Markstückchen in die offene Hand fallen lassen, war eins, und ebenso rasch war Mutter um die Ecke verschwunden. Ich aber werde nie den überraschten Blick des Weibleins vergessen, das niemand mehr hinter sich sah und wohl an Zauberei glauben mochte. Etliche Lebkuchenpäcklein wurden auch noch erhandelt und wieder weiter geschenkt, und ein paar frierende Kinder, die Meßleuten gehörten, die einpackten, nahm Mutter geschwind mit sich in einen nahegelegenen Laden und kaufte ihnen warme Pulswärmer und Halstücher.

Die Turmuhr schlug ¾7, und wir mußten rasch ans Heimgehen denken. Wo war die Zeit und mit ihr das tiefe Trauern hingekommen? ... Und wenn auch beim Nachhausekommen die Wehmut wieder übermächtig werden wollte, so blieb doch der Grundton von etwas Schönem, Befreiendem, das wir erlebt hatten.

Das Jahr darauf hatten wir auf demselben Gange, der uns nun schon lieb geworden war, einen herzerfreuenden Zwischenfall. Nach manchen kleinen Erlebnissen erspähte Mutter noch ganz am Schlusse eine Frau mit einem Kindlein auf dem Arm. Wir hörten nachher, daß es eine Witwe sei, die ihre mit bestem Wollen, aber geringem Geschmack angekleideten Puppen nicht verkauft hatte. Da galt's noch einmal einen tiefen Griff in den Beutel zu tun. Mutter erhandelte das Dutzend, das noch vorhanden war. Sie hielt sie fest an den Ärmchen und nahm die ganze Gesellschaft unter ihren Pelzmantel. Auch jetzt wurden die Umstände wieder günstig. Ein älteres Mädchen kam mit einer ganzen Reihe kleiner Geschwister daher, armer, zerlumpter Dinger, die mit großen, sehnsüchtigen Augen die Herrlichkeiten ansahen, die das Schicksal nicht für sie bestimmt hatte.

»Ein Püppchen möcht' ich haben, ein Püppchen!« rief das Kleinste.

»Da!« sagte plötzlich eine liebe Stimme, – und eins, zwei, drei – waren die Puppen unter den kleinen Mädels verteilt. Kinderaugen sehen scharf und tief, das Kleinste mochte wohl in dem alten, grundgütigen Gesicht etwas Leuchtendes erblickt haben, denn leise stieß es das Schwesterchen an und sagte: »Das ist's Christkindle!«

Da erwachte Mutters ganzer, köstlicher Humor, und indem sie rasch den Pelzmantel zurückschlug, sagte sie mit tiefer Stimme: »Nein, das Christkindle ist was Junges, Schönes, – ich bin der Pelzmärtel!« Und herzlich lachend über diesen gelungenen Spaß und die verdutzten Kinder ihren weiteren Vermutungen überlassend, gingen wir dann heimwärts. Mutter und ich haben diesen Gang von da an jedes Jahr zusammen gemacht, auch als sie schon recht alt und hinfällig geworden und die Kraft nur noch bis zum Anfang des Marktes reichte. Aber auch dort schon, auf dem Geschirrmarkt, ergab sich immer eine Gelegenheit zum Erfreuen, daß sie wenigstens einem jungen, bleichen Fabrikmädchen, das für ihren zu gründenden Hausstand benötigte Küchengeschirr mit kleinen Fehlern billigst einhandelte und ein paar gute, feste Schüsseln und Gläser kaufte. Oder daß sie ein Büblein, das seine Nase an dem Schaufenster eines Schokoladeladens plattdrückte, überraschte mit der Frage: »Was willst du haben, sag's nur, ich kauf's dir!« und es dann auch wirklich tat. –

»Hast du denn nicht Angst dabei, daß du dein Geld an Unwürdige verschwendest?« wurde Mutter öfters gefragt. Aber damit durfte man ihr nicht kommen.

»Was ist würdig und unwürdig? Ich bin nicht der liebe Gott, der das allein ergründen kann. Aber ich bitte ihn, daß er mich die Richtigen treffen läßt, und dann tut er's auch!« sagte sie mit der ihr eigenen Glaubenseinfalt.

Einmal aber kam wieder ein Weihnachtsabend, und da konnten wir nimmer zusammen ausziehen! Mütterleins Ende war nahe herbeigekommen, und wir wußten, ihr Leben zählte nur noch nach Tagen. Sorgsam hatten wir ihr das Herannahen der Weihnachtszeit verheimlicht, ihre Gedanken rechneten auch ohnedem nicht mehr viel mit hienieden. Nicht eigentlich krank, nur sehr schwach, auch dem Geiste nach, saß sie am heiligen Abend am Tisch in ihrem Lehnstuhl mit geschlossenen Augen und träumte. Die Jungfer hatte ich für einige Stunden fortgelassen, die Angehörigen bescherten ihren Kindern und Enkeln, und wir beide sahen beisammen, als wäre es Alltag. Drunten wogte das Gewühl auf dem Markt des Lebens, oben war heilige Stille. Mutter öffnete die Augen und sah mich mit einem Blicke an, der, wie so manchmal jetzt, aus weiter Ferne zurückzukehren schien.

»So gut!« – sagte sie und streckte mir die liebe, alte Hand hin. – »Ja, so gut!« Da überkam mich plötzlich, ich weiß noch nicht wie, das Verlangen, Mutterle noch einmal Weihnachten feiern zu lassen. Rasch ging ich ins Nebenzimmer, holte aus einer Schachtel ein kleines Kripplein, das sie immer sehr geliebt, und ein paar Wachslichtchen herbei. Die steckte ich schnell in kleine Leuchterchen, legte das Christkindlein vor Mutter auf den Tisch und stellte die Lichtchen der Reihe nach dahinter. Und indem ich sie anzündete, sagte ich, was wir doch vorher so sorgsam verschwiegen hatten: »Mütterlein, es ist heiliger Abend!« – Fast erschrak ich vor meiner eigenen Stimme und vor meiner eigenen Kühnheit, – würde das Ganze nicht doch aufregen? Aber wie beglückt war ich, als Mutter, welche die meisten Vorgänge jetzt nicht mehr faßte und begriff, plötzlich die Hände faltete, und als ein hell fragendes, ganz glückseliges »Ach?« über ihre Lippen kam. Und dabei welch ein Strahlen und Leuchten auf dem lieben, alten Gesicht!

»Heiliger Abend? ... Weihnachten? ...« wiederholte sie. Und dann plötzlich sagte sie mit einer merkwürdig klaren Stimme langsam und deutlich unser Kinderlied her: »Stille Nacht, heilige Nacht« – bis zum Vers: »Gottes Sohn, o wie lacht, Lieb' aus deinem göttlichen Mund, da uns schlüget die rettende Stund'!« –

Die Lichtlein erloschen, und mit ihnen der Glanz in Mutters Gesicht. Noch zwei Tage, und es erfüllte sich in höchstem Sinne auch an ihr: »Christ, der Retter, ist da!«

Wenn ich aber all die wunderbar schönen Weihnachtsabende in meinem nun auch schon langen Leben überdenke, so dünkt mir dieser letzte, allein mit meiner Mutter verlebte, als wir gleichsam zusammen am Himmelstor standen, doch der allerschönste gewesen zu sein.


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