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Ein Blatt im Winde

Um das Anwesen des Kleinbauern Georg Eichenhofer war tiefe Nacht. Nach einem heißen Arbeitstag lag das junge Ehepaar in festem Schlaf. Auf große Hitze war starker Regen gefolgt, dessen Tropfen auf Dach und Gesimse klopften. Das vermochte aber die beiden nicht zu wecken. Da schlug der Hofhund an, und mit einem Ruck richtete sich der Mann in die Höhe. Das kurze, scharfe Kläffen war von Zeit zu Zeit immer wieder zu hören, wodurch auch die Frau nun erwachte.

»Was der Karo nur haben mag? – Sein Bellen klingt so ganz anders als sonst. Es kann sich um keinen Vorübergehenden handeln, sondern es ist sicher jemand im Hof,« sagte sie, und der Mann erhob sich nun, um nachzusehen. Vom Fenster, durch das er hinausgespäht hatte, zurücktretend, sagte er: »Da muß man selbst Nachsehen.« Ängstlich sah die Frau ihren Mann wegeilen, und da er nur notdürftig bekleidet war, rief sie ihm nach: »Stülp auch einen Sack über, es gießt! Und vergiß den Stock nicht!«

Die Bäuerin hatte sich inzwischen auch erhoben und flüchtig angezogen, denn man wußte doch nie, was geschehen konnte, und dann ging sie an die in eine Nebenstube führende Tür und öffnete behutsam einen Spalt. »Schläfst du, Linele?« fragte sie leise, und eine Kinderstimme erwiderte in weinerlichem Tone: »Ach nein, der Karo hat mich aufgeweckt. Was er nur hat? Sein Bellen will gar nimmer aufhören, und ich fürchte mich!«

»Was, fürchten? Weißt ja doch, daß unser Karo manchmal ein närrischer Kerl ist! Und der Vater ist bereits unten, um nachzusehen.« Dabei trat sie in die Schlafstube zurück, denn die Treppe knarrte eben, und ihr Mann kehrte zurück. Schnell machte sie Licht, und da kam er auch schon zur Türe herein, mit einem Sack über den Schultern, aber vor sich herschiebend ein kleines, graues Etwas, das vor Nässe triefte und an allen Gliedern zitterte. Es war ein Bub von etwa acht Jahren, und der Bauer, ärgerlich, so unnötig aus dem guten Schlaf geweckt worden zu sein, schüttelte den kleinen Kerl etwas unsanft an den Schultern und sagte: »Was hast denn du so mitten in der Nacht über Hecken zu steigen, dich in anderer Leute Besitztum herumzutreiben und unsern Hund ganz rabiat zu machen? ... Sprich, wie heißt du, und was willst du? Ich hätte gute Lust, dir eine Tracht Prügel zu geben und dich wieder dahin zurückzuschicken, wo du herkommst!«

»Nein, Vaterle, ach nein!« rief da eine angstvolle Kinderstimme, und unter der Tür stand ein kleines Mädchen, etwa im selben Alter wie der so plötzlich hereingeschneite Bub. Sie war in ihrem Nachtkittelein mit bloßen Füßen aus dem Bett herausgesprungen und wollte doch auch wissen, was da vor sich ging. Ihre Bewegungen waren unsicher, und mit den Händen tastete sie sich vor, denn sie war blind.

»Mutterle, der Bub ist ja ganz naß! Ich hör', wie's an ihm heruntertropft. Man muß ihn trocknen und dann in ein Bett legen. Vielleicht hat er auch Hunger?« Und sie suchte die Hand des späten Gastes zu fassen. Aber das verhinderte der Vater. »Berühr' mir den Dreckkerl nicht, und von einem ins Bett-Legen kann gar keine Rede sein. Eine Suppe kannst du ihm ja geben, Frau, und ein Stück Brot, und in die Nacht Hinaustreiben will ich ihn auch nicht, 's ist ein wahres Glück, daß er nicht dem Karo unter die Zähne geraten ist, der hätt ihn schön zugerichtet. Aber jetzt, marsch hinunter in den Stall, dort ist Stroh, in das du hineinschlüpfen kannst, und morgen früh sehen wir dann weiter!«

Schlotternd ließ sich der Bub nun wieder die Treppe hinabtreiben, und als der Bauer ihm dann mit kurzen Worten einen Haufen Stroh angewiesen hatte und noch dabeiblieb, um auch gewiß zu sein, daß er seiner Weisung folge, da war der kleine Kerl, wohl vor Ermattung, schon schlaftrunken umgesunken.

Wo er wohl herkam? Eine Auskunft war aus ihm bis jetzt nicht herauszubringen gewesen, und ebenso ging's am andern Morgen, als der Bauer in aller Frühe selbst nach dem Jungen sah, der ganz erschrocken und noch ganz schwankend von seinem Strohhaufen aufsprang, als Georg Eichenhofer ihn anrief. Wie elend und verkommen sah das Kind aus! Die Fetzen seiner Hosen und seines Kittels hingen noch festgeklebt an ihm, und das sonst nicht üble Gesicht und die Hände waren sichtlich seit längerer Zeit nicht mehr gewaschen worden. Die Bäuerin war ihrem Manne gefolgt, sie mußte doch auch sehen, was da in dieser Nacht in ihr Haus hereingekommen war. Der Anblick und die Verfassung des Kindes rührten sie, und sie gab, die Stallmagd rufend, die Weisung, daß man den Buben vor allem einmal unter die Pumpe nehmen und dann zum Trocknen in die Sonne stellen sollte, die heute früh wieder wärmend und strahlend vom Himmel schien.

Beim Frühstück sagte der Bauer: »Nun muß der Kerl aber vor allem beichten, wie er heißt! Aus der Gegend ist er nicht, das sieht man ihm an, und zum eigentlichen Landstreicher ist er mir doch noch zu jung!«

Als aber das Büblein gewaschen und wenigstens annähernd ordentlich aussehend von Marthe, der Magd, – nicht ohne Hinweis darauf, daß man bei einer solchen Arbeit Läuse und alles derartige riskiere – vor die Bauersleute geführt wurde, da fühlte die Frau trotzdem Mitleid, und sie stellte dem Fremdling eine schnell eingeschenkte Schüssel voll Milch auf das Fenstergesims und schnitt ihm ein großes Stück Brot dazu herunter. »Jetzt iß!«

Am Frühstückstisch selber hätte sie ihn nicht haben mögen. Als aber das Linele lauschend fragte: »Wo ist denn der Bub? Ich möchte ihm gerne die Hand geben.« Da erwiderte Frau Eichenhofer: »Das darfst du nicht, er ist immer noch zu schmutzig dazu, und wer weiß, was in solchen Lumpen steckt!«

Aber die Frau stand dann doch rasch auf und kramte in ihrer wohlgefüllten Truhe, und fand ein abgelegtes Hemd und ein Winterhöslein von ihrer Line darin.

»Freilich sind's Mädchensachen,« sagte sie, »aber ich kann ihn in solchen Lumpen doch nicht wieder weglaufen lassen. Die Hosen tun's schon, und seinen Kittel muß die Marthe ihm eben dann geschwind herauswaschen.«

An seinem Platz löffelte der Bub gierig seine Schüssel Milch aus und steckte dann mit einem Blick, ob man's nicht sähe, das Stück Brot schnell in die zerrissene Hosentasche. Er war dem Gespräch drüben am Tisch aufmerksam gefolgt, wenn er aber fühlte, daß jemand ihn ansah, so senkte er gleich die Augen. Wenn nur der Hund nicht gewesen wäre, dann wäre er am liebsten jetzt gleich ohne die »Mädleshosen« wieder auf und davon. Aber vor dem Beller, da fürchtete er sich, und dann rief ihn der Bauer, den die Arbeit erwartete, wieder von neuem vor sich, und er sagte: »Jetzt, Büble, gibst mir ordentlich Antwort. Einmal, wie du heißt, und dann, wo du herkommst!«

Am liebsten hätte der Bub wieder geschwiegen, das sah man ihm an, als er aber in des Bauern drohendes Gesicht sah, da sagte er schnell: »Ich heiß Jakob Dinkelmaier und komme aus der Stadt.«

»Von welcher Stadt?« fragte Eichenhofer, worauf der Bub in sichtliche Verlegenheit kam, man sah ihm an, er suchte etwas, und dann sagte er rasch: »Ja, eben von Ulm!«

»Also von Ulm?« wiederholte der Bauer zweifelnd. »Wo sind deine Eltern, und wo wohnst du?«

Ein scheuer, unsicherer Blick sah wieder ins Leere, und dann hatte der Bub die schnelle Antwort bereit: »Schneider ist mein Vater, und in der ... Wilhelmstraße, da wohnt er.«

Der Bauer hatte ein Notizbuch herausgezogen und sich die Angaben notiert.

»Jetzt will ich aber vor allem wissen, wie kommst du hierher? Denn zu Fuß kannst du nicht von Ulm hierhergekommen sein, das ist zu weit! Und was hast du bei uns gewollt?«

Da traten dem Buben die Tränen in die Augen. Jetzt war seine Weisheit zu Ende, und trotz Freundlichkeit und Drohen war absolut nichts mehr aus ihm herauszubringen.

»Wart' nur, Schlingel, aus dir wird man schon noch herauskriegen, was nötig ist!« sagte der Bauer erregt, denn er mußte zur Arbeit, und zu seiner Frau sagte er: »Weise ihm irgend etwas an, das er schaffen kann, bis ich mit dem Schultheißen über diesen Lausbuben gesprochen habe. Sicher ist er seinen Eltern durchgegangen, und auf irgend eine Weise dann bis hierher gelangt.«

Der Jakob Dinkelmaier hörte aus all diesem nur heraus, daß er vorerst dazubleiben habe, was ihm einesteils nicht unlieb war, denn schon lange hatte er kein solch gutes Essen mehr gehabt. In den meisten Dörfern, durch die er gekommen, wurde er von den Leuten seines heruntergekommenen Aussehens halber gleich wieder weitergeschickt. Was hatte der Bub auf seiner langen Reise doch alles erlebt. Das ging ihm durch den Kopf, als er gleich darauf zu ruhigem Hinsitzen verdammt, hinter einem Haufen Rüben sah, die er schaben sollte. So etwas hatte er noch nie getan, und die alte Magd, welche den hereingeschneiten Jungen noch immer mit Mißtrauen ansah, mußte es ihm erst mühsam erklären, aber dann machte er es ganz nett. Solch ein hübsches, blankes Messer hatte er ja noch nie in der Hand gehabt, und dabei saß er auf einem Schemel in einer Laube, die so schön Schatten gab, und überall blühten Blumen, und weiße Tauben flogen gar herbei bis auf seinen Tisch und pickten an den Abfällen herum. Ei, wie lustig war das! So etwas hatte der Bub noch nie erlebt! Und er, der in seinem Leben noch nie etwas hergeschenkt hatte, griff in seine Tasche und zerbröckelte von seinem erbeuteten Brot ein gut Teil den Tierlein, welche immer näher zu ihm herflatterten. Und dabei lag über dem Hof drüben der schwarze Hund, der ihn heute nacht in solch gräßliche Angst versetzt hatte, ganz friedlich vor seiner Hütte, sonnte sich und schaute mit blinzelnden Augen dann und wann zu ihm herüber, als wollte er sagen: »Warum habe ich dich denn heute nacht als Feind angesehen? Und du hast doch sicher nur irgendwo ein Dach gesucht vor dem argen Regen.«

Ja, hier war es gut sein, und mit Entzücken dachte der Bub sogar an sein nächtliches Lager zurück, und wie so viel besser dieses war als die Chausseegräben und die Gartenhäuschen, in denen er, ohne Stroh, nun schon manchmal genächtigt hatte.

Der Bauer war, bevor er seinen Weg auf den Acker nahm, geschwind noch beim Schultheißen vorbeigegangen und hatte diesem von dem ungebetenen Gast berichtet.

»Das ist nichts Seltenes, den werden wir bald wieder los haben!« sagte der Herr, und das Telefon aushängend, war er schnell mit Ulm verbunden.

»Bitte Rathaus ... Bitte, wohnt ein Schneider Jakob Dinkelmaier in der Wilhelmstraße?«

Eine kleine Pause erfolgte, und dann kam die Rückantwort: Einen Schneider Jakob Dinkelmaier gebe es in der bezeichneten Straße nicht, überhaupt nicht in Ulm, es müsse ein Mißverständnis sein. Und da standen nun die beiden Männer und wußten nicht weiter.

»Ich komme da am besten geschwind zu Ihnen in Ihr Haus und sehe mir das Bürschlein an, das scheint's falsche Angaben gemacht hat. Dem will ich's vertreiben, ich werde sofort wissen, wohin mit ihm, und wenn's auch auf dem Schub wäre.«

Aber so schnell, wie der Herr Schultheiß es meinte, ging das nicht. Als der Bub, der seine Rüben einen Augenblick hatte stehen lassen, weil ihn die nebenan reifenden Stachelbeeren gelockt hatten, und der nun eifrig davon aß, denn zum Essen war das doch, plötzlich in Gesellschaft der Bäuerin einen ganz fremden Herrn direkt auf sich zukommen sah, setzte er sich schnellstens wieder hinter seine Rüben. Der Mann aber, der gar nicht so vertrauenerweckend aussah wie der Bauer, der packte ihn ohne Umstände fest bei der Schulter und schrie ihn an: »Du Schlingel, wart', ich werde dir falsche Namen angeben und der Behörde dadurch unnötige Geschäfte machen! Augenblicklich sagst du, wie du wirklich heißt und wo du her bist, sonst sperrt man dich zuerst ein und dann schickt man dich zu den Deinen zurück!«

Totenblaß wurde der Bub bei diesen Worten. Ins Gefängnis? Und dann das andere? – Nein, das war so fürchterlich zu denken, das konnte, das durfte nicht geschehen. Da bäumte sich alles in dem Kindergemüt auf. Dann lieber sich hauen lassen – das war er ja gewöhnt – und deshalb einfach schweigen! Und der Bub saß mit fest zusammengeklemmtem Mund und einem gar trotzigen Ausdruck in seinen Augen dem gestrengen Herrn Schultheißen gegenüber, der sich wie die Bäuerin auf die Gartenbank gesetzt hatte und nun, gebieterisch zuerst, dann mit größter Strenge, dann schließlich einlenkend versuchte, aus dem Buben das Gewünschte herauszubringen. Aber je mehr er all diese Mittel anwandte, des Buben Mund blieb verschlossen, und als auch die Bäuerin es mit Güte versuchte und mit Versprechungen, es blieb alles umsonst, das Kind war nicht zum Reden zu bewegen, und mit blaurotem Kopf ging endlich der so gewaltige Herrscher des Dorfes wieder davon, fürchterliche Drohungen ausstoßend, was geschehen sollte, wenn dieser Starrsinn nicht gebrochen würde.

Dem Büblein konnte das Mittagessen, auf das er sich gefreut hatte, schon insofern nicht schmecken, weil er keines bekam, was Linchen mit so tiefem Mitleid erfüllte, als sie es erfuhr, daß sie heute selber fast nichts essen mochte. Auch der Bauer war über diesen beharrlichen Mißerfolg aufs äußerste verstimmt und sagte: »Ich werde den Trotzkopf schon zu brechen wissen.« Und er sperrte den Buben, der sich nicht einmal wehrte, in eine Kammer hinein, neben dem Stall, in welcher sich die Habertruhe, die Hächselmaschine und sonstiges Handwerkszeug befanden.

»Da kannst du bleiben, meinetwegen noch die ganze Nacht, bis dein Starrsinn gebrochen ist,« und er drehte hinter sich den Schlüssel im Schloß um. Der Bub war sichtlich erleichtert, als er sich endlich allein fand, und auch die Drohung, er müsse am Ende auch bei Nacht dableiben, hatte für ihn nichts Furchtbares. Da hatte er schon andere Nächte erlebt. Ein bißchen öde im Magen war's ihm schon, vielleicht auch wegen der sehr reichlichen Stachelbeermahlzeit, aber sonst gefiel es ihm eigentlich recht gut hier. Neugierig ließ er den Blick umherschweifen, besah sich genau die Schaufeln, Spaten und Besen, probierte eins nach dem andern und stellte es dann wieder an seinen Platz. Als dies geschehen war, hätte er sich gerne gesetzt, aber es gab keine Gelegenheit dazu. Eine Zeitlang kauerte er sich auf den Boden, dann aber erweckte sein Interesse das merkwürdige, hölzerne Ding, das da stand. Leise tupfte er daran herum, und da fing es sich an zu bewegen. Da waren sogar ein großes Messer, das herauf und herunter ging, wenn man irgendwo drückte, und Rädlein, die sich bewegten. Wunderschön war das, und der Bub vergnügte sich immer mehr damit, zuerst sachte, dann aber immer stärker, und dazwischenhinein horchte er auf das Muhen der Kühe nebenan und auf das Rasseln von den Ketten der Pferde. Tiere, Tiere! Wer da hinein könnte und die sehen! Aber die Türe, die dort hineinführte, war gleichfalls verschlossen. Plötzlich raschelte etwas neben ihm, und ein paar Mäuschen sprangen aus einem Loch heraus, und der Bub hielt den Atem an, denn das war auch etwas Neues. Behutsam kniete er in die Nähe des Loches und sah erstaunt und entzückt dem Fangenspiel der beiden Tierchen zu. Lange Zeit unterhielt er sich damit, bis diese, nach einem lauten Bellen des Hundes draußen, schleunigst in ihrem Loch verschwanden und sich nicht wieder sehen ließen. Was jetzt anfangen? Wenn man da oben auf dieser Truhe säße, müßte es auch schön sein, und nach verschiedenen Kletterversuchen kam der Junge auch glücklich hinauf, und nun gab's von neuem etwas Nettes! Zu einem ganz oben angebrachten Fenster flogen beständig Vögel aus und ein, die etwas im Schnabel hatten und damit ganz kleine Vögelchen, welche die Schnäbel aufsperrten und die in einem Nest oben an der Decke lagen, fütterten. Nein, so etwas hatte der Bub noch nie gesehen. Immer wieder flogen die Alten hin und her, und der Bub beobachtete mit offenem Mund das Schauspiel. Stunde um Stunde war darüber vergangen, es dunkelte, und der Eingesperrte spürte nun ein leeres Gefühl im Magen. Daß das Hunger war, das war ihm nichts Neues, aber doch kam ihm wieder zum Bewußtsein, wo er war und was er zu tun hatte. Und als bald darauf der Schlüssel wieder rasselte und der Bauer unter der Tür erschien, da saß der Bub, wie wenn nichts geschehen wäre, mit den Beinen baumelnd noch dort oben.

»Hast dich besonnen?« fragte eine rauhe Stimme.

Keine Antwort.

»Hast jetzt dein Maulwerk beisammen und kannst Antwort geben? ... Willst zum Nachtessen mit heraufkommen? Ja oder Nein? ... Wenn du jetzt redest, so kriegst eine Wurst und Salat.«

Aber auf alles Drohen und Locken hin erfolgte wieder kein Laut, nur beim Nennen der Wurst, da war das Büblein ein wenig zusammengezuckt, hatte aber gleich darauf erneut den Mund fest zusammengedrückt.

»Willst oder willst nicht?« wiederholte da der Bauer mit drohendem Ton, und als es auch da stille blieb, faßte er den Buben an beiden Füßen und zog ihn, nicht eben sanft, herunter.

»Wart' ich will dir!« Und was nun erfolgte, das mochte auch für einen an solche Kost Gewöhnten sehr ausgiebig sein, denn ein jämmerliches Schreien vermochte der Gezüchtigte nicht zu unterdrücken. Und er wehrte sich mit Händen und Füßen, als der Mann ihn aus der Tür hinausschob, ein paar Stufen hinunter, bis in einen ganz engen, kleinen Raum, wo es stockfinster war, und dann sagte: »So, da kannst jetzt die Nacht bleiben und darüber nachdenken, ob du einen Namen hast oder nicht!«

Wieder wurde eine Türe verschlossen, und diesmal wußte das Büblein nicht, wo es sich befand, denn es konnte nichts sehen. Lange stand es da, in dumpfes Nachdenken versunken, und dann wieder strich es sich mit der Hand über den Rücken und über das, was darunter war, was höllisch schmerzte, denn der da, der Große, der hatte es noch besser verstanden als die, die ihm die alten Striemen beigebracht hatten, die ihn jetzt noch schmerzten.

Droben in der Stube stand das Abendbrot auf dem Tisch, und die Bäuerin und Linchen warteten auf den Vater. Unten am Tisch saß die alte Marthe und wiegte den Kopf hin und her, als sie das Schreien von unten herauf hörte und der Bauer dann mit rotem Kopf hereintrat.

»So etwas Verstocktes habe ich mein Lebtag nicht unter den Händen gehabt!« sagte er und fing an, die kaltgewordene Suppe auszulöffeln.

Die Bäuerin meinte: »Aus dem Kerl wird man wirklich nicht klug, und man hätte da große Lust, ihn einfach wieder auf die Landstraße zu setzen und laufen zu lassen! Aber menschlich wäre das nicht, und wenn dem Schlingel dann irgend etwas passieren würde, so hätte ich mein Lebtag keine Ruhe.«

Dem weichherzigen Linele aber liefen die Tränen aus den Augen und es sagte: »Bitte, Vaterle, jetzt nicht mehr hauen! Und bitte, bitte, laßt mich morgen doch einmal mit dem armen Tropf sprechen, vielleicht daß er eben Angst vor euch hat und vor mir dann, wenn ich ganz lieb mit ihm spreche, nicht.«

Seines Kindes Stimme hatte immer etwas Beruhigendes für den Bauern, und er sagte nichts mehr. Die Bäuerin aber legte auf Linchens Wunsch hin die für den fremden Buben bestimmte Wurst auf die Seite, für morgen früh. Am liebsten hätte das Mädchen sie ihm ja selber noch gebracht, denn er mußte doch schrecklich Hunger haben, aber das durfte es nicht.

Alles im Hause schlief. Auch die kleine Blinde war über all ihren Gedanken, wie's wohl dem armen Buben in dem Kellervorraum da unten gehen möge, eingeschlafen. Da plötzlich, es war schon gegen Morgen, ertönte ein Krachen und Gepolter durchs ganze Haus, so daß sämtliche Bewohner davon aufwachten und in die Höhe fuhren. Marthe war die erste, die schnell einen Rock überwarf und den Bauersleuten in ihre Stube hineinrief: »Das ist nichts anderes als der Bub, bleibt nur ruhig liegen, ich werde nachsehen, es hat ja nur wie Holz getan, das übereinandergepoltert ist.«

Und es war der nichtsnutzige Bub, der diesen neuen Schrecken verursachte. Marthe fand ihn unter einem Trümmerhaufen von Brettern liegend. Die Waschzuber und Eimer hatte man da unten zusammengestellt, hochaufgetürmt, weil sie trocknen sollten, und da war der Unglücksbube wahrscheinlich oben hinaufgeklettert, und die ganze Geschichte war zusammengebrochen. Nein, so was! Schlimm war's ja nicht, denn er kroch schon wieder unter den Brettern hervor, aber das Kind mußte schon furchtbar erschrocken sein, denn Marthes Laternchen, das sie in der Hand hielt, leuchtete in ein kreideweißes Bubengesicht.

»Was machst du denn aber auch für unnützes Zeug, du verflixter Kerl? Die zweite Nacht bringst du uns jetzt schon um den Schlaf!« Und die Alte zog den an Leib und Seele bebenden Buben vollends unter dem Holz hervor. Geschehen war ihm nichts, nur über sein Hemd rieselte ein wenig Blut, und Marthe sagte: »Jetzt bleibt mir gar nichts anderes übrig, als ich nehm' dich mit mir hinauf in meine Kammer, ehe du wieder was Neues anstellst!« Und von neuem wurde der Unglücksbub in ein anderes Gelaß, oben im Dachstock, geschoben, während die Magd im Vorbeigehen die Bauersleute schnell beruhigte, aber doch dabei klagte: »'s ist nur jammerschad' um meine schönen Züber! Und in was soll ich morgen einweichen, wo's doch Waschtag sein soll?« Dann aber sah sie trotz ihrem Kummer, als sie ihr Laternchen wegstellte, daß Blut an des Buben Ärmel herabtropfte, und sie holte schnell Wasser und ein Tuch und fing an, dem nun lautlos Dastehenden sein gestern geschenktes, jetzt schon wieder beschmutztes Hemd auszuziehen. Wohl wehrte sich der Bub, wie er sich auch gestern beim Waschen gewehrt hatte. Die kleine, durch ein spitzes Stück Holz entstandene Wunde im Rücken war bald gewaschen und verbunden. Aber das, was die alte Magd dabei entdeckte, das war etwas, wovon ihr altes Herz vor Mitleid überfloß. Des Knaben ganzer Rücken und auch sonstige Teile des Körpers waren bedeckt von blauen und grünen, teilweise noch blutrünstigen Stellen.

»Ja, Büble, Büble, was ist denn das?« sagte sie, und ihre Stimme klang ganz zitterig. »In was für Händen bist du denn gewesen? Wenn man einen so hergerichtet hat, dann glaub' ich schon, daß einem das Durchgehen kommt!« Und mit mütterlicher Fürsorge entnahm sie ihrem eigenen Lager ein Kissen und eine Decke, bettete das nun in allem folgsame Büblein auf eine Bank und steckte ihm noch ein Stück Schokolade in den Mund, das ihr den Tag vorher die Line geschenkt hatte.

Das, was Marthe am andern Morgen ihrer Dienstherrschaft erzählte, ließ den Bauern seinen Ärger und seinen Zorn vergessen, und er ging, ohne den Jungen gesehen zu haben, auf seinen Acker. Die Bäuerin jedoch war zu ihrer Nachbarsfrau, der Müllerin, gegangen, die ein paar Buben besaß, und hatte sie gebeten, ihr etwas Abgelegtes für den zugelaufenen Buben zu geben, denn jetzt reichten Lines Hemdlein und Höschen auch nicht mehr aus.

Als der Knabe aber, nach einer reichlichen Morgensuppe, neben der die Wurst von gestern lag, ein paar Stunden nachher in einer alten, aber geflickten Bubenhose und einem verwaschenen Kittel in der Ofenecke auf der Bank saß, da konnte Line sich nimmer zurückhalten und setzte sich zu ihm, und seine jetzt sauber gewaschene Hand ergreifend, fragte sie frischweg: »Gelt, Büble, aber mir sagst du jetzt, wie du heißt? – ich kann dich ja sonst gar nicht rufen!« Doch wie betrübt war Line, als auch auf diese liebe Aufforderung hin wieder nur Schweigen folgte und sich seine Hand zögernd und widerwillig aus der ihrigen löste.

Marthe, die zufällig im Zimmer anwesend war, sagte nun ernstlich böse: »Schämst dich nicht, mit deiner Unart dem Linele so weh zu tun, wo sie doch blind ist?«

Betroffen sah der Bub in die Höhe und dann prüfend über die neben ihm Sitzende hin.

Line aber nahm nach kurzem Besinnen von neuem seine Hand, und sie sagte in fröhlichem Ton: »Weißt was, ich zeig' dir unsere Kühe und Schweine und die Hühner!«

Und ob er wollte oder nicht, sie zog ihn, nur leicht das Stiegengeländer streifend, hinunter in den Hof und in den Stall.

Ja, das war freilich was zum Staunen, sowas hatte der Bub ja noch gar nicht gesehen, selbst nicht in Bilderbüchern, weil er die auch nicht kannte. Und als er gar die Kälblein und die kleinen Schweinchen sah, und die Küchlein mit der Henne, da war's, wie wenn ein Band springen würde, und er jubelte laut auf, und immer wieder rief er: »Nein, so was, das kann man ja streicheln, und es beißt nicht wie der böse Hund und die Pferde in der Stadt.«

Line horchte hoch auf bei diesen Worten, aber sie sagte nichts darauf, die Mutter hatte auch eben gerufen. Es war ihr nicht behaglich, den Fremdling mit ihrem Kind zusammenzusehen. Sie wollte es aber nicht gleich verwehren, und mit dem Gedanken: Arbeit ist immer das beste, brachte sie eine große Schüssel voll Kirschen zum Aussteinen und stellte sie wieder auf den Tisch in der Laube. Der Bub war ja jetzt immerhin sauber genug für solche Arbeit, und ihr Linele hatte sich ja gewünscht, ein bißchen allein mit ihm zu sein. Das Mädchen war trotz ihres Nichtsehenkönnens sehr geschickt, und sie zeigte dem Buben, wie man am besten die Steine herausbringe. Ein zweites Messerchen lag da. Dieses fiel dem Buben am ersten in die Augen. Es war so schön spitz und zum Zusammenklappen! – Dann aber gab er sich Mühe, es der neben ihm Sitzenden nachzumachen. Mittenhinein, ganz unvermutet, aber fing er plötzlich zu reden an: »Was ist blind?« ...

Das Mädchen erschrak fast über diese unerwartete Frage, aber dann antwortete es: »Blind sein ist, wie wenn bei Nacht beide Augen zu sind und alles um einen her dunkel ist.«

Ganz erschüttert schaute der Bub seine Gefährtin an. Ihre Augen waren doch so hell und so licht wie heute der Himmel. Als aber das Linele ihm nach und nach erzählte, wie es anfangs noch gesehen habe, und wie es dann krank geworden sei, und wie es nach dieser Krankheit nach und nach eben immer dunkler um sie geworden sei, da rutschte er ganz unruhig auf der Bank hin und her.

»Aber doch nicht ganz!« sagte er angstvoll. »Du siehst mich doch und die Steine in den Kirschen?« Da sagte die Line traurig: »Nein, ich sehe das alles nicht, aber ich hab's doch trotzdem so gut, und der liebe Gott hat's ja gewollt, daß ich blind werde. Aber er hat mir so liebe Eltern gegeben, und meine Tierlein alle, die zu mir kommen, und die Blumen, die ich riechen kann.« Wie erschrocken war aber Line, als der Bub ganz hastig sagte: »Wer ist der liebe Gott, der gewollt hat, daß du blind wirst, und warum hast du liebe Eltern und ich keine?«

... Und da war nun das Eis gebrochen, und so schweigsam und verstockt sich der Bub seither verhalten hatte, so schien er nun alles vergessen zu haben, was ihn vorher zum Schweigen veranlaßt hatte.

»Der Gott ist nicht lieb, – der Gott ist bös! Das hat die krumme Kathrin auch schon immer gesagt, und ich mag ihn schon gar nicht, weil er dir deine Augen genommen hat!«

Ganz entsetzt hob Line den glanzlosen Blick und wehrte mit der Hand ab: »Das darfst du nicht sagen,« sagte sie fast heftig.

Der Bub aber wurde auch ganz erregt, und er rief: »Die andern wollten auch nichts von ihm wissen. Und der Sepp hat gesagt, es gäbe gar nichts derartiges, sondern nur Geld und Essen und Trinken habe einen Wert. Und wenn er so etwas sagte, dann hat er jedesmal dabei ausgespuckt und ›Pfui Teufel!‹ gerufen, – ja wohl!«

Dem Linele wurde es nun fast unbehaglich neben dem fremden Jungen, aber sie fragte doch weiter: »Wer ist der Sepp?«

»Der Sepp? Der ist eben auch einer, der bei uns war.« Und nun folgte die Aufzählung einer Reihe von Namen von Männern und Frauen, die halt alle in einer Stube gewohnt hätten, – der Joseph und die Marei, die alte Zens und die Vevi mit ihrem kleinen Kind. »Arg geschrien hat's oft, aber lieb war's!« ergänzte er. »Ich habe nicht zu ihnen gehört. Weiß nicht, von woher ich kam. Jemand hat mich halt einmal mitgebracht. Aber als ich manchmal so arg husten mußte, bin ich geschimpft worden, und weil ich gewachsen bin, so haben sie gesagt, ich gehöre nicht da herein, ich nehme zuviel Platz weg.«

Eine kleine Hand schob sich auf des Knaben Arm, und eine liebe Stimme sagte: »Armer, lieber Bub!«

Erstaunt sah er in die Höhe, so etwas hatte er noch nie gehört, und in einer Anwandlung von Weichheit ließ er die Hand liegen, wo sie war, und es entfuhr ihm: »Dir will ich's sagen, dir allein! Aber du darfst's niemand weitererzählen, denn wenn sie meinen Namen wissen, so schicken sie mich wieder zurück in das finstere Haus! Und ich sehe dann keine Bäume mehr und nimmer die Sonne und kein Gras und keine Tiere! ... Und durchprügeln täten sie mich – autsch – die können's noch viel, viel besser als der Mann hier im Haus!« fügte er, fast ein wenig prahlerisch, hinzu. »Und jetzt, daß du's also weißt, – Willi Fischer heißen sie mich, und in einer großen, großen Stadt war's, wo ich von ihnen durchgebrannt bin.«

»Warum tatest du das?« fragte Line, aber da erscholl die Stimme der Mutter, die zum Essen rief, der Vater warte. Am liebsten hätte bei diesen Worten der Bub wieder Reißaus genommen, denn den Bauern fürchtete er. Aber Line hielt ihn fest an der Hand und drückte ihn in der Stube auf seinen Platz unten am Tisch energisch auf einen Stuhl. Sie war doch sehr froh, daß der Bub jetzt wieder zu einem ordentlichen Essen kam, und war sehr glücklich, daß der Vater so gar nichts mehr sagte von dem, was vorher vorgefallen, sondern stillschweigend aß. Sie wußte nicht, daß dieser vorhin wütend vom Stall und der Futterkammer heraufgekommen war und geschrien hatte: »Jetzt kommt mir dieser hergelaufene Kerl aber heute noch aus dem Haus! Eben merke ich, daß an meiner Futterschneidmaschine von dem Schlingel so lange herumgemacht und gedreht worden ist, daß nun nichts mehr stimmt und richtig läuft!« Aufs höchste verstimmt war Vater Eichenhofer. Aber als seine Frau und Marthe ihm schilderten, in welch jämmerlicher Verfassung sie den Buben gefunden hatten, da schmolz sein Zorn, und er versuchte, wenigstens während der Mahlzeit zu schweigen. Unwillkürlich ergötzte er sich auch daran, wie's der Taugenichts sich schmecken ließ. Als das Essen vorbei war und er sich wieder seine Pfeife angezündet und in seinen gepolsterten Sessel gesetzt hatte, da versuchte er es noch einmal mit dem Jungen, indem er ihn zu sich heranzog. Aber gleich gesellte sich da auch das Linele dazu, und indem sie ihn bei jeder Frage des Vaters ein bißchen in den Arm kniff und zuredete: »Sag's doch, bitte, – sag's doch, wie es war!« da kam nach und nach auch vieles zutage, obgleich die Wirrnis noch groß war und das Erzählte kein klares Bild bot. Von einer finstern Gasse redete der Bub und von einem großen Haus. Und immer wieder von einer ganz vollen Stube, und wie der Sepp und der Thomas ihn damals mitten in der Nacht mitgenommen hätten, weil er der dünnste sei und er am besten durch ein Fenster habe schlüpfen können, und wie dann, als er nur mühsam durch das Loch gekommen, auf einmal ein Licht erschienen sei und viele Menschen, und der Thomas habe mit einem Puff gesagt: »Mach' daß du fortkommst, du Tölpel, und laß dich nimmer sehen. Nicht einmal zu sowas bist du zu gebrauchen.« Und auf einmal sei er in einer engen Gasse gestanden, und die andern waren nimmer da, und dann sei er gelaufen und gelaufen, weil die zwei ihm noch nachgerufen hatten: »Wenn du gefunden wirst und sagst, wo du herkommst, wirst du sehen, was geschieht.« Und nun, von Schluchzen unterbrochen und in kurzen Sätzen, schilderte der Knabe, wie er eben gelaufen sei, immerfort, bis die Häuser aufgehört hätten und der Tag gekommen sei, und dann habe es ihm gefallen, wie Bäume und Wiesen kamen und Felder, und die Leute hätten ihm auch zu essen gegeben, aber nicht immer. Und so sei er jetzt auf einmal hierhergekommen ...

»Nach wieviel Tagen?« fiel der Bauer in die Rede; – ja, das wußte das Büblein nicht zu berichten, und ebensowenig wußte es den Namen der Stadt zu sagen, von der es gekommen, und es war schon viel, daß es auf eifrigstes Zureden von Linele endlich seinen eigenen Namen nannte.

Mit dieser dürftigen Auskunft begab sich der Bauer nun wieder zum Schultheißen. Es muhte doch etwas geschehen in dieser verflixten Sache, und die beiden mutmaßten, die Stadt könnte München gewesen sein, denn der Eichenhof befand sich zwischen München und Ulm, diesen Namen hatte der Bub wohl irgendwo nennen hören.

»Abgeschlagen ist der schon!« sagte der Schultheiß. »Aber wie ist's auch anders möglich, wenn er von solch einem Gesindel kommt!« Und er tat, was er konnte, und schrieb an die betreffenden Behörden in München mit Angabe dessen, was zu sagen war.

»Behalten muß man ihn jetzt halt schon, bis eine Antwort kommt,« und der Bauer zeigte sich willig dazu, schon um seiner Line willen, die schmeichelnd sagte: »Vaterle, gelt, jetzt freundlich sein mit dem Willi, er hat ja doch gar niemand, der's mit ihm ist!«

Und Willi Fischer konnte sich in den nächsten Tagen wirklich nicht darüber beklagen, daß man ihn auf dem Hof irgendwie hart behandelt hätte. Besonders Marthe war's, die ihn extra unter ihre Obhut nahm. Man hatte bald heraus, daß er sich anstellig zeigte in der Küche und im Garten, besonders aber auch bei den Tieren im Stall und auf dem Hof. Weniger erfreut war die Bäuerin, daß sich ihr Mädel so gern mit dem fremden Büblein unterhielt.

»Ich muß dem Willi doch zeigen, daß man ihn hier lieb hat, daß man ihm gut ist, wo er doch noch gar nicht weiß, was liebhaben ist!« sagte das Linele aber da sehr bestimmt, und der fremde Bub war dem gleichaltrigen Töchterlein des Hauses gegenüber wie ein Hund, der es auf Schritt und Tritt begleitete. Ging sie in den Stall zu den Kälbchen, so war er dabei und wehrte ab, wenn eines der Tiere ihr etwas zu nahe kam. Ging sie in den Garten, so füllte er die Gießkanne usw. und sie nannte ihm die Namen der Blumen; – ei, was da doch alles wuchs! ... Da wo er bisher war, hatte er doch nie eine Blume gesehen. Und gern half er auch auf der Bank vor dem Haus oder in der Küche beim Kartoffelschälen oder ähnlichen Arbeiten. Was gab es nur in der Küche allein alles zu sehen. Der Bub konnte sich gar nicht denken, zu was diese vielen Geschirre und Gefäße gebraucht wurden. Eine zerbrochene Schüssel hatte er seither gehabt, und von den paar Gläsern, welche auf einem Brett an der Wand standen, kam selten eines mit Inhalt bis zu ihm, denn was darin war, wurde vorher ausgetrunken. Und dann die glänzenden Dinger, die Löffel, die Messer und die Gabeln, die es hier gab! Am allermeisten aber stach Willi immer wieder das zusammenklappbare Messerchen von Line in die Augen, das ihm schon am ersten Tag so sehr gefallen hatte. Und heute sah er ein ganz ähnliches in der Küche liegen, das wohl Marthe gehören mochte. Er und die alte Magd zupften zusammen Kartoffeln ab, als diese von der Bäuerin abgerufen wurde. Der Bub hielt auch mit der Arbeit inne. Von neuem schaute er sich all die Herrlichkeiten in dem Raume an, und da fiel sein Blick auch auf das blitzende, so schöne Messer. Und wie hatte der Thomas immer gesagt, wenn ihm irgend etwas gefiel? »Ich nehm', was ich brauchen kann!« Und manchmal schon hatte er einen ganzen Haufen solcher Sachen mitheimgebracht, die dann allemal wieder in einem Sack verschwanden.

Das Messer gefiel dem Buben, ach, so sehr! Und blitzschnell, gerade ehe Marthe wieder hereinkam, hatte er es gepackt und in seiner Tasche verschwinden lassen.

Der Schultheiß war heute gekommen mit einem Schreiben aus München, in dem aber stand, daß es trotz aller Bemühungen nicht gelungen sei, über einen verschwundenen Buben namens Willi Fischer in München etwas festzustellen. Einmal glaubte man auf einer Spur zu sein, aber die Leute, um die es sich handelte und bei denen man nachforschte, leugneten aufs bestimmteste, einen Knaben dieses Namens gekannt zu haben. Das dortige Fürsorgeamt werde auch noch weiterhin die Sache im Auge behalten, habe aber wenig Hoffnung auf Erfolg und sei deshalb froh, wenn der Knabe vielleicht vorderhand in dem Hause bleiben könnte, das ihn aufgenommen.

Bauer und Bäuerin sahen bei dieser Eröffnung einander an, und die letztere meinte: »So, wie sich der Bub in den vergangenen Wochen benommen hat, kann ich nicht dagegen sein, und für unser armes Kind ist's eine Unterhaltung. Gottlob habe ich, seit er da ist, gar keine schlechten Eigenschaften an ihm entdeckt. So klein er ist und so wenig er versteht, so sehr greift er bei der Arbeit an, und der Marthe ist eine kleine Hilfe zu gönnen!« ...

Der Bub, so wohl er sich hier fühlte, schwebte doch noch in beständiger Angst, irgend jemand könnte ihn wieder von hier wegnehmen, und auch das Linele nahm an seiner Angst teil, denn es hatte gehört, daß der Vater trotz ihrer Bitten dorthin geschrieben hatte, von wo man glaubte, daß Willi her sei. Marthe wußte auch darum, und da sie den Buben gern hatte, und er auch in manchem anfing, ihr nützlich zu werden, hätte sie es ungern gesehen, wenn der anfängliche »Schlingel«, welchen sie noch immer in ihrer Kammer mütterlich beherbergte, wieder fortgekommen wäre.

Ein paar Tage später, das Nachtessen war vorbei, Bauer und Bäuerin saßen an dem Eßtisch und die beiden Kinder auf der Bank flochten gerade ein Binsenkörblein, was Line den Buben gelehrt hatte, da kam Marthe in großer Aufregung herein.

»Weiß jemand vielleicht, wo mein Schnappmesser ist? Seit einer halben Stunde such' ich's in der ganzen Küche, und ich brauch's jetzt zum Zertrennen von meinem alten Rock, aus dem ich dem Willi einen Kittel machen möchte.«

Niemand wußte etwas und Marthe ging wieder hinaus. Aber der Bub war plötzlich unruhig geworden und zeigte auch keinen Eifer mehr an der hübschen Arbeit. Die Bäuerin, welche noch etwas in der Küche zu besorgen gehabt hatte, kam wieder herauf und sagte: »Die Marthe sucht noch immer nach ihrem Messer und sagt, es könne nicht anders sein, als daß es ihr jemand gestohlen habe!« Bei dem Wort »gestohlen« fuhr Willi in die Höhe. Dies Wort hatte Thomas auch immer gebraucht, wenn er allerlei heimgebracht hatte, aber etwas in der Bäuerin Gesicht veranlaßte ihn, daß er lieber nichts sagte. Dem Bauern aber war das Wesen des Buben ausgefallen, und er fragte frei heraus: »Weißt du vielleicht etwas von dem Messer?«

Ein unsicheres »Nein!« erfolgte darauf. Der Thomas hatte auch stets gesagt, man solle nur immer nein sagen, da käme man am besten durch die Welt. Dabei aber fühlte der Bub unwillkürlich nach seinem Schatz in der Tasche. Wie erschrak er aber, als der Bauer plötzlich aufstand, und so streng wie damals, als Willi gekommen war, um den Tisch herumging, die Hand in dessen Tasche steckte und das Messer herauszog.

»Na, da hört sich aber alles auf! ... Du Nichtsnutz! ... Also so bist du in Wirklichkeit? Stehlen tust du, und dazuhin auch noch uns anlügen? Jetzt wissen wir, was du für einer bist!« Donnernd schlug der Bauer die Stubentür hinter sich zu. Er ging lieber hinaus, ehe er sich an dem Buben vergriff. Soviel stand jetzt bei ihm fest: keinen Tag länger wollte er ihn behalten. Noch heute sollte er von dem Hofe, mochte aus dem verdorbenen Jungen werden was da wollte, was ging's ihn an! ...

Linele zitterte an allen Gliedern, so bös hatte sie den Vater noch nicht gesehen. »Wie hast du so etwas tun können, Willi? Das tun doch nur ganz böse Menschen!« Und sie brach in Tränen aus. Da wurde es dem Buben höchst unbehaglich zumute. Das Vorangegangene konnte er nicht so recht verstehen, aber daß die Line weinte, das war ihm arg, und noch dazuhin seinetwegen, das mochte er nicht. Da wußte der Bub auch nichts anderes zu tun, als mitzuweinen, und unter Schluchzen sagte er: »Bei euch weiß man ja gar nicht wie man sein soll. Die Kathi und der Sepp haben alles genommen, was ihnen gefallen hat, und ich habe doch kein Messer gehabt, und hätte so gerne eines.«

»Ach, Willi, wenn du es mir nur gesagt hättest, ich hätte dir so gerne das meinige geschenkt,« sagte das Linele. »Und gelogen hast du auch noch, und wenn man das tut, ist der liebe Gott so traurig und will gar nichts mehr von einem wissen!« Das Kind ging in seiner Betrübnis hinaus in die Küche, wo die Mutter mit Marthe sehr aufgeregt gerade über die Sache verhandelte.

»Ach, Mutterle, Mutterle, hör' doch, der Willi weiß ja gar nicht einmal, was stehlen und lügen ist, und da kann man ihm doch nicht bös darüber sein, wenn die häßlichen Leute, bei denen er vorher war, es auch taten? O gelt, nur jetzt nicht fortjagen. Und er weiß ja gar nicht, wie er sein soll, und das muß man ihm doch vorher sagen, und ... und ... Mutterle, er tut doch so brav helfen! Und im Stall mit den Kälblein und mit der Gluckerin und mit den Tauben, da kann er sprechen wie mit einem Menschen. Und sogar der Karo hat ihn gern und wedelt mit seinem Schweif, wenn er in seine Nähe kommt ... Gelt, Mutter, der Vater schickt ihn doch nicht fort?« Und Line fing von neuem an, bitterlich zu weinen ...

Und Lines Bitten wurden erfüllt. Die Bäuerin hatte ihrem Mann all das vorgestellt, was das Linele gesagt, und Eichenhofer mußte dem recht geben. Der Bursche war noch so jung, und offenbar ohne jegliche Erziehung in schlimmen Verhältnissen aufgewachsen, so daß er wirklich noch nicht wußte, was Recht und Unrecht sei.

Der kleine Missetäter lief in den nächsten Tagen wie ein geschlagener Hund herum, der erwartet, noch weitere Streiche zu bekommen. Er ging auch nicht in die Nähe vom Linele, denn das machte auch ein ganz anderes Gesicht, und es hatte doch auch gesagt, daß der liebe Gott nichts mehr von ihm wissen wolle! Das mochte er aber auch nicht, seit das Linele ihm dann und wann von ihm erzählt hatte, und daß er die Kinder lieb habe, wenn sie brav und folgsam seien. Folgen tat er, wenn das Folgen war, wenn er ausführte, was Marthe und die Frau von ihm verlangten. Das waren doch lauter nette Sachen, aber das andere? ...

Der Bauer hatte, seit er damals so zornig geworden war, kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Und was würde nun mit ihm geschehen? ...

Der Schultheiß war heute wieder auf den Hof gekommen und hatte Eichenhofer ein neues Schreiben von der Behörde in der Stadt übergeben. Erneut wurde mitgeteilt, daß nirgends etwas über die Herkunft des angefragten Knaben Willi Fischer zu erfahren sei. Und das dortige Fürsorgeamt müsse nun für den Knaben eintreten. Ehe hierzu Schritte getan würden, müsse in Erwägung gezogen werden, ob nicht das scheint's gänzlich verwahrloste Kind in dem Dorf, in welches es durch Zufall geraten sei, in Kost gebracht werden könnte, etwa in der Familie, in welcher es Unterkunft gefunden habe.

Der Bauer fuhr auf: Nein, das könne und wolle er nicht. Im Grunde sei ihm der Bub ja nicht zuwider, und schließlich wolle er ihn auch noch so lange behalten, bis er anderweitig untergebracht sei, aber ...

Der Schultheiß, welcher den Bauern verstand, aber doch die Angelegenheit gerne einmal in Ordnung gebracht hätte, sagte: »Willenskraft hat der Bub bewiesen, und deine Frau und deine Magd loben ihn ja auch, da meine ich, daß gerade du es schon zustande bringen wirst, aus dem Kerl, der uns so viel Mühe auferlegt, noch etwas Rechtes zu machen.«

Der Bauer hatte seinen Besuch, als er fortging, hinten ums Haus herum begleitet, und sie kamen in der Nähe der Hundehütte vorbei. Willi, dessen Freund Karo schon längst geworden, hatte diesem eben sein Futter in den Trog geschüttet und stand, ohne daß er die um eine Ecke Kommenden bemerkt hätte, neben dem Tier. Er hatte den Napf auf den Boden gestellt, der Hund hatte ausgefressen und drängte sich an den Knaben, der ihn zärtlich um den Hals faßte und seinen Struwwelkopf in dem dunklen Fell verbarg.

»Das ist ein gutes Zeichen für den kleinen Kerl!« flüsterte der Schultheiß. »Hunde haben eine gute Nase, und wem sie ihre Freundschaft schenken, der ist meist nicht ganz schlecht.« Die Stehenbleibenden horchten und sie hörten, wie der Willi leise sagte, und dabei gab es ihm ordentliche Herzstöße: »Ich soll fort, Karo, sie wollen mich wieder fortjagen!« Und das Schluchzen des Bübleins vermischte sich mit dem Brummen des Hundes, einem Brummen, als ob das Tier das ganze Weh des Kinderherzens verstünde.

»Du, Eichenhofer, 's ist doch ein netter, williger Kerl, willst's nicht noch ein bißchen weiter mit ihm probieren?« sagte der Schultheiß, nachdem sich die beiden Männer leise entfernt hatten ...

Und der Bauer tat's, und er und alle auf dem Hof hatten's nicht zu bereuen. Langsam, recht langsam ging des Knaben innere Entwicklung vorwärts. Es brauchte Geduld, bis er den Unterschied wußte zwischen Recht und Unrecht. Die Leute auf dem Eichenhofe haben nie erfahren, woher einst der fremde Bub kam und ob er zu jemand gehörte. Wahrscheinlich zu niemandem, wie es bei manchen heimatlosen Kindern der Fall ist, – ein Blatt, im Winde verweht! Zum Glück war er noch so jung gewesen, daß die alten, schlimmen Eindrücke sich nach und nach verwischten. Er blieb in der Familie, und der Wildling hatte ein Heim gefunden.

Die Angst von Lineles Mutter aber, daß ihr Kind im Umgang mit dem fremden Buben Schaden nehmen könnte, war unbegründet, denn die Gespräche, die das blinde und innerlich so feine Mädchen mit ihrem Schützling führte, waren meist anderer Art als welche sonst so junge Kinder untereinander führen. Und wenn nach und nach Willis Begriff von einem »Gott, der böse sein kann,« sich zu einem »lieben Gott« verwandelte, so war es die kleine Blinde, welche das zustande gebracht hatte.


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