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Mimmi Haug.

In der zweiten Bürgerschule waren die Schülerinnen heute in großer Erregung. Die Mädchen tuschelten miteinander, und die Lehrer und Lehrerinnen sah man in der Pause auf dem langen Korridor mit Listen in der Hand hin und her wandeln.

Als das Glockenzeichen zum Beginn des Unterrichts wieder erscholl, betrat Fräulein Dittmaier, eine noch junge, sehr beliebte Lehrerin, das Klassenzimmer, lächelte vergnügt und begann:

»Mädels, ich habe eine Ueberraschung für euch. Es ist ein Schreiben von einer sehr gütigen Dame eingegangen, in welchem sie sich erbietet, aus jeder Klasse die beste Schülerin mit in die Ferien zu nehmen. Die Dame besitzt ein großes Gut, und es bietet sich somit Gelegenheit für viele, sich eine rechte Erholung zu verschaffen.

Nun, was sagt ihr dazu?«

Da blitzte es in den Augen der Kinder freudig auf, und manch kleines Herzchen schlug höher.

Schnell schossen aber auch die Gedanken durch die Köpfe der Schülerinnen:

»Wer war die Beste zu nennen, und wem würde wohl dies große Los zufallen?«

»Also haben wir vor,« fuhr die Lehrerin fort, »noch heute der gütigen Dame zu melden, wer sich, von uns gesandt, im Laufe der Woche vorstellen wird. Noch bewohnt Frau Rittner, so heißt die Wohltäterin, ihre Stadtwohnung, und es ist beschlossen, daß bei Beginn der Ferien die Auserwählten gleich mit ihr und ihrem einzigen Töchterchen die Reise nach dem Gute antreten sollen.

Nun bin ich freilich in einer kritischen Lage,« führte die Lehrerin weiter aus, »ich soll, wie die andern Lehrer auch, die Beste aus der Klasse zum Mitfahren vorschlagen. Aber ich meine, die ganze erste Bank ist sich ebenbürtig in ihren Leistungen, im Betragen aber sind meine lieben Kinderchen alle gleich gut. Wem soll ich da also die Palme geben?«

Da erscholl es wie aus einem Munde von der ganzen Klasse:

»Mimmi Haug!«

Das kleine Mädchen selbst war ganz blaß vor Schrecken geworden und blickte mit großen Augen starr zur Lehrerin, als begriffe es gar nicht, was eigentlich vor sich ging und weshalb sein Name einstimmig gerufen wurde. –

Nun werdet ihr aber zunächst wissen wollen, weshalb man grade einstimmig dem kleinen zarten Mädelchen ein so großes Vergnügen und eine so aussichtsvolle Ferienreise gönnte. Deshalb will ich schnell ihre Lebensgeschichte erzählen.

Mimmi war das einzige Kind einer verwitweten Kaufmannsfrau. Diese wohnte noch gar nicht lange im Städtchen. Man sah eines Tages eine in Trauer gekleidete Dame mit einem kleinen Töchterchen an der Hand daher kommen und eine zum Vermieten ausgeschriebene Wohnung besichtigen.

Bald darauf hielten auch Mutter und Kind ihren Einzug in eine bescheidene Etage.

Des zarten Kindes wegen hatte die Mutter darauf gesehen, daß ein Gärtchen zu der Wohnung gehöre. Mimmi bekam Spaten und Hacke und beschäftigte sich mit der Mutter vereint meist im Garten. Die beiden waren unzertrennlich, und es schien, als ob Mimmi eine Gespielin nicht vermisse.

Vom Nebenhaus hörte sie wohl die Nachbarskinder herumtollen, aber es war, als ob das bleiche Kindlein gar kein Verlangen habe, mittun zu wollen.

Willi Zachmann von nebenan, stieg eines Tages auf den Zaun, um sich den Nachbargarten anzuschauen, und als er die Kleine harken sah, rief er ihr zu: »Soll ich dir helfen?«

Da erschrak das kleine Mädchen und lief wie ein scheues Vögelchen davon.

Von dem Tage an aber waren die Nachbarskinder furchtbar neugierig auf das fremde Mädchen und machten fortwährend Annäherungsversuche.

»Du, Kleine,« rief Olly Zachmann, die Schwester des Knaben, durch den Zaun und drückte ihr liebes Gesichtchen an die Latten. »Willst du mal unsere Karnickel sehen? Komm, sie werden jetzt gerade gefüttert.«

»Ich darf nicht aus dem Garten, Mama erlaubt nicht, daß ich allein fortgehe. Aber bitte, zeigt mir doch eure Kaninchen.«

Gleich holte Olly ein schneeweißes Tierchen mit roten Augen und langen Löffeln.

Das war für Mimmi eine große Freude, und vom Tag an trafen sich die Nachbarkinder am Zaun.

Es dauerte auch nicht lange, so besuchten sie sich gegenseitig.

Freilich sah es Frau Haug lieber, daß die Zachmannschen Kinder zu ihr kamen, als daß sie ihr Töchterchen zu ihnen gehen ließ. Nicht etwa, daß sie fürchtete, ihr kleines Mädchen könne zu wild durch die anderen werden, sie mochte nur ihren Liebling nicht missen.

Jede Stunde, zu welcher ihre Mimmi fort war, war der zärtlichen Mutter eine Qual. Andererseits sah sie es gern, daß ein Verkehr mit Gleichaltrigen Mimmi bewog, mehr aus sich herauszugehen, und daß sie vieles von den Kindern lernte.

Es waren sehr gut erzogene Kinder, deren Zeit sich im Spielen und Lernen richtig verteilte.

Sobald die Nachbarin ihren Kindern zurief: »Jetzt ist es genug, kommt herein, jetzt müßt ihr eure Schularbeiten machen,« oder Musik üben und dergleichen, folgten ohne Widerrede die Kinder dem Rufe und gingen ihren Beschäftigungen nach. Das war ein gutes Beispiel für Mimmi; auch gewann sie durch die Zachmannschen Kinder an mancherlei Interesse, wovon ihr bisher nichts bekannt war. Z. B. spielte sie mit Olly vierhändig kleine, leichtgesetzte Stückchen, wie es eben noch nicht schulpflichtige Kinder spielen, es machte ihr Spaß und sie war eifrig beim Ueben.

Wenn es Regentage gab und die Kinder ihre freie Zeit nicht im Garten verbringen konnten, dann kamen sie des öfteren in die Laube bei Haugs zusammen und formten aus Plastilina allerlei Figuren, Tiere, Männlein und Weiblein, und mit diesen spielten sie dann wunderschön.

Willi war der Menageriebesitzer, der seinen Tierreichtum seinen geschickten Händen verdankte. Die Mädchen indessen machten sich Püppchen und spielten Mann und Frau und Kinder.

Das waren köstliche Stunden, und sie brachten nicht nur die Nachbarkinder einander näher, sondern auch deren Eltern, die gern zuschauten.

Frau Haug fand bald in Frau Zachmann eine liebe Freundin, und es war gut, daß sie dieser ihr Herz ausschütten konnte.

Sie weinte oftmals, wenn sie ihr von ihrem Gatten erzählte, der so früh dahingehen mußte, und sie richtete sich an den Trostworten auf, die Frau Zachmann hatte, wenn sie ihr über den zarten Gesundheitszustand der kleinen Mimmi klagte.

»Die wird noch ganz kräftig,« meinte sie, »aber Sie dürfen das Kind nicht so verhätscheln. Sobald der Winter kommt, muß sie Schlittschuhlaufen und jetzt im Freien turnen, damit sie so rotwangig wird wie meine Olly.«

Es wuchsen die Mädchen heran. Sie kamen gemeinsam in die Schule und machten die Klassen miteinander durch.

Mimmi fiel das Lernen schwerer als Olly, das blutarme Ding fühlte sich oftmals zu matt, um den Unterrichtsstunden folgen zu können.

Kam sie dann blaß und abgespannt nach Hause mit gar zu wenig Appetit, dann standen in Frau Haugs Augen Tränen, und eine heiße Angst um ihr einziges Kind stieg in ihr auf.

So kam es, daß Mimmi alles aufbot, um ihre Kraftlosigkeit vor der Mutter so viel es ging, zu verbergen.

So wie sie voll Rücksichtsnahme und Liebe zu ihrer Mutter war, so war sie auch zu ihren Mitschülerinnen. Kein Wunder, daß auch diese voll Zärtlichkeit an ihr hingen und jetzt, wo es also hieß: wer soll den Vorzug genießen, mit aufs Land in die Ferien zu gehen, da gönnten alle einstimmig diese Erholung Mimmi Haug.

»In Anbetracht dessen,« sprach die Lehrerin, »daß Mimmi am erholungsbedürftigsten ist, freut es mich sehr, daß ihr alle selbstlos gehandelt. Es soll entzückend auf dem Gute sein. Eine Vereinsdame, die für die Allgemeinheit schon so viel Gutes getan, hat die Dame auf unsere Schule, die keine Ferienkolonien besitzt, aufmerksam gemacht, und hat sie gebeten, je eine aus unseren Klassen mit sich zu nehmen. Mir selbst hat die Dame erzählt, daß es dort paradiesisch schön sei, ihre Tochter sei dort einmal auf Besuch gewesen und wußte nicht genug von der Gastgeberin und von der herrlichen Natur, die das Gut umgibt, zu erzählen.

Aber nun Mimmi, wie stellst du dich dazu?«

Mimmis treuherzige blauen Augen blickten zu der Lehrerin, um ihren Mund zuckte es nervös, als sie entgegnete:

»Ich danke Ihnen vielmals, liebes Fräulein, auch meinen Klassenschwestern, daß sie an mich gedacht haben. Ich möchte furchtbar gern mal verreisen, ich war noch nie fort, aber Mama wird es nicht erlauben.«

»Doch, mein Kind, es ist ja für deine Gesundheit. Herzlich gern wird dich dein Muttchen mitgehen lassen. Soll ich selbst mal zu ihr gehen?«

Das Kind antwortete nicht, zuckte mit den Achseln und sah zur Erde.

Als der Unterricht beendet war, liefen Olly und Mimmi um die Wette nach Hause. Da Olly die Kräftigere war, erreichte sie schneller das Haus der Witwe, lief die Treppen hinauf und rief außer sich vor Freude:

»Frau Haug, denken Sie sich das Glück, die Mimmi soll mit einer reichen Dame in die Ferien gehen!«

Inzwischen war auch Mimmi angelangt, und beide Kinder sprachen auf die erstaunte Frau ein.

»Bitte, bitte, Mütterchen, laß mich mitfahren, es soll so wunderschön dort sein ...«

»Aber, Kinder, laßt mich nur erst zu mir kommen, ich bin so erstaunt, ich muß doch erst Näheres hören, mich erkundigen ... Das ist doch so überraschend. Wer ist denn die Dame?«

»Wir kennen sie auch nicht, aber die Lehrerin sagt –«

Ollys Mündchen stand nicht stille, und im Nu wußte Mimmis Mama alles.

»Jetzt wollen wir in Ruhe essen, mein Kind,« sprach sie, »und du, Olly, gehst nun nach Hause, deine liebe Mutter wird dich erwarten. das Uebrige wird sich finden.« –

Wer war die Dame?

Frau Regierungsrat Rittner war als Menschenfreundin bekannt. Sie gab nicht nur mit dem Herzen von der Fülle ihres Reichtums, sondern verstand es auch, praktisch ihre Gaben zu verteilen.

»Ich bin so gesegnet, daß ich meinem Kinde jede Vergünstigung zuteil werden lassen kann, so will ich auch anderen Müttern helfen, ihren Kindern wohlzutun.« Das waren ihre Worte.

Alljährlich brachte sie zehn fremde Kinder mit aufs Land, und wenn sie noch so bleichsüchtig aussahen, sie kamen fast immer rotwangig zu ihren Eltern zurück.

Heute war Empfangstag. Die Mütter der auserwählten Schulkinder stellten sich und ihre Töchterchen vor.

Zu den ersten, die eintrafen, gehörte Frau Haug.

Sie war in ihrem Feiertagsstaat und sah allerliebst aus. Man sah es ihr gar nicht an, daß sie schon ein zehnjähriges Töchterchen hatte.

Ihr Herz klopfte, als sie mit Mimmi die mit roten Läufern belegten Treppen emporschritt.

»Bitte, hier,« sagte der sie führende Diener und öffnete im ersten Stock eine Tür.

»Frau Haug und Töchterchen,« meldete er an.

Eine Dame, wohl anfangs der Fünfziger, trat ihnen entgegen. Ihr freundliches Gesicht lächelte der jungen Frau zu und half über deren Verlegenheit hinweg.

»Sie bringen mir wohl die kleine Schutzbefohlene, Frau Haug?« begann die gutmütige Dame und neigte sich zu Mimmi, die sich befangen hinter der Mutter hielt.

»Nehmen Sie Platz, liebe Frau, und du, kleines Mädchen, gib mir die Hand. Freust du dich auf die Ferien?«

»Ja, sehr,« entgegnete das Kind und lächelte verschämt.

»Wie alt bist du?«

»Zehn Jahre.«

»Sie ist überaus zart für ihr Alter,« wandte sich die Dame an Mimmis Mutter, »sie ist doch nicht krank?« Etwas Besorgnis klang aus der Stimme.

»Das nicht, gnädige Frau, im Gegenteil, selbst von den üblichen Kinderkrankheiten blieb sie verschont, aber sie kommt schwer in die Höhe. Ich biete alles, was ich nur tun kann, auf, sie bekommt gute Milch und hat auch, soweit meine Verhältnisse es gestatten, gute Pflege.«

»Nun, die Landluft wird ihr schon aufhelfen; bringst deinem Muttchen rote Backen mit heim, gelt, mein kleines Mädelchen?«

»Gnädige Frau sind überaus gütig, und ich kann nicht sagen, mit welch dankbarem Gefühl ich hierher gekommen bin – allein es ist das erste Mal, daß ich mich von meinem Kinde trenne. –«

»Es wird Ihnen schwer?«

»Wie man es nimmt, gnädige Frau, ich –«

»O, ich verstehe Sie schon. Es geht mir auch nicht anders. Es ist wohl stets so bei einem Einzigen. Ich konnte mich nicht dazu verstehen, meine Tochter in Pension zu geben, und doch sage ich mir, daß es gut gewesen wäre, wenn sie andere Verhältnisse kennen gelernt hätte, als die, in welchen sie aufgewachsen ist.«

»Es freut mich herzlich, gnädige Frau, daß Sie mich verstehen und mich nicht etwa für undankbar oder für eine törichte Mutter halten, die ihrem Liebling nicht diese Auszeichnung von ganzem Herzen gönnte; es lebt nur solche Bangnis in mir, daß das Kind Heimweh bekommen könnte, und daß es mit den anderen, kräftigeren Kindern, welche Sie so gütig sind, mitzunehmen, mittun möchte, wozu doch ihre Kraft nicht ausreicht, und –«

»O, liebe Frau, das soll Sie nicht beängstigen, dafür ist schon gesorgt, daß ein jedes Kind seiner Veranlagung nach behandelt wird. Ich nehme alljährlich ein sehr zuverlässiges Fräulein mit, das ehedem Diakonissin gewesen ist. Ihr liegt es ob, über die Kinder zu wachen, und ich selbst, das können Sie mir glauben, beschäftige mich gern mit meinen kleinen Gästen. Lasten Sie das Kind frohen Herzens ziehen, ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich die Kleine unter meinen ganz besonderen Schutz nehmen werde.

Und nun« – Frau Rittner erhob sich, »erwarten mich die andern Mütter. Ich hoffe, Sie am Bahnhof zu sehen. Tag und Stunde der Abfahrt wird Ihnen noch bekannt gegeben werden.«

Die Dame gab Mutter und Kind die Hand, und beide waren entlassen.

»Ach, Mütterchen, ich freue mich doch so schrecklich auf meine erste Reise,« plauderte auf dem Heimweg die Kleine. »Und alle Tage schreibe ich dir. Denke doch, Willi Zachmann hat gesagt, wir Schülerinnen dürften auf dem Gute auf Ponys reiten, und ausgefahren werden wir wie feine Damen. Das hat ihm Trude Kunze erzählt, die Frau Regierungsrat voriges Jahr mitgenommen hatte. Mütterchen, kaufst du mir auch einen Strohhut? Solch einen wie Tina Hirzel hat? Ach, Mütterchen, der ist so schön und kostet im Warenhaus gar nicht viel.«

»Sollst ihn haben, Liebling.« antwortete die Mutter und drückte des Kindes Hand. Sie wollte so gern die Freude der Kleinen teilen und konnte es doch nicht. Wie ein Alp lag der Gedanke einer so nahen Trennung auf ihr.

»Vier Wochen sind lang,« sprach sie zu Frau Zachmann, »es wird mir so schrecklich schwer, das Kind fortzugeben.«

*

Nun nahmen die Vorbereitungen zur Reise Frau Haug ganz in Anspruch, je näher die Abreise kam, je froher sah sie ihr entgegen.

Das neue Hütchen, ein Matrosenjäckchen und Faltenröckchen lagen ausgebreitet auf dem Bette. Vor dem Bügelbrette stand Frau Haug und plättete weiße Unterröckchen und Schürzen. Und da lag noch weißer Stickereistoff, davon sollte noch heute ein Sonntagskleid zugeschnitten werden. Eine rosa Schürze und rote Haarbänder hatte Frau Zachmann geschenkt.

Die Nachbarsleute waren ebenso freudig erregt, als ob eins ihrer Kinder mit in die Ferien ginge.

Mimmi schwamm in Glückseligkeit, und schon färbten sich in Vorfreude der zu erwartenden schönen Tage ihre Wangen rosig, und ihre Augen blickten lebhaft und entzückt auf all die schönen neuen Sachen.

Mutter kaufte noch einen kleinen Reisekorb und ein kleines feines Handtäschchen. Es fand sich schließlich noch ein Reisenecessaire mit Kamm, Bürste, Seifennäpfchen etc.

Ach, es war doch gar zu schön, so ausgestattet auf die Reise zu gehen!

»Und, weißt du,« vertraute Mimmi der Olly, als sie am Vorabend der Abreise im Garten spazieren gingen, »du darfst es freilich niemand erzählen, ich sage es dir nur allein, und Mutter würde es beleidigen, da sie so himmlisch gut zu mir ist – aber daß ich allein fahren darf, ohne ihre Begleitung, das freut mich noch mehr. Weißt du, weil ich doch der Mama schreiben kann und von ihr Briefe bekommen werde.«

»Ich werde dir auch schreiben,« sagte Olly. »Und du mußt mir auch ein Andenken mitbringen.«

»Ja, aber was denn? Im Dorfe wird es doch nichts geben.«

»Doch, doch, da gibt es sogar oft sehr schöne Sachen. Töpfchen aus Ton und bunte Glassachen und hübsche Deckchen zum Aussticken. Du wirst schon sehen, was für mich paßt.«

»Olly, teuer darf es nicht sein. Mutter gibt mir 3 Mark mit. Und ihr muß ich doch auch was Schönes kaufen, und dann soll ich dem Stubenmädchen ein Trinkgeld geben.«

»Ach, teuer braucht's nicht zu sein, freilich nicht. Wieviel willst du denn für mich ausgeben?«

»Warte mal, ich muß erst ausrechnen ... also 25 Pfennig für dich; denn für Willi muß ich auch was mitbringen. Und was man Jungens schenkt, das ist immer teuer. Du – dem bringe ich eine Peitsche mit!«

»Das geht nicht, dazu ist er schon zu groß. Fange ihm ein paar recht schöne Schmetterlinge für seine Sammlung. Das freut ihn sehr und kostet dich nichts.«

»Ja, du hast recht. Du bist immer so klug. Und Kastanien und Eicheln – ich habe einen guten Einfall, morgen nähe ich mir noch schnell ein Säckchen, das bringe ich gefüllt wieder heim.«

»Willi hat mir gestern auf der Karte gezeigt, wie ihr fährt. Du, du wirst noch Plattdeutsch lernen. In Pommern liegt das Gut.«

»Und über Berlin fahren wir und –«

Die Unterhaltung der Kinder wurde unterbrochen, Frau Haug rief ihr Töchterchen.

»Kind, jetzt mußt du ins Bett, morgen heißt es früh aufstehen, der Weg zur Bahn ist weit.«

»Wir kommen alle mit,« meinte Olly.

Dann sagten sich die Freundinnen gute Nacht, und Mimmi ging mit der Mutter ins Haus. – –

»Mütterchen, ist es schon Zeit zum Aufstehen?« fragte wiederholt vor Tagesanbruch die kleine Mimmi.

»Schlafe nur noch, mein Goldchen, ich werde schon sagen wenn es Zeit ist.«

»Ach, Muttel, ich komme zu dir ins Bett.«

Warm und innig schmiegte sich das Kind an die Mutter.

»Schlaf, mein Kind, schlaf, damit du morgen frisch und munter bist.« –

Bei Tagesanbruch erhob sich ganz leise Frau Haug, kochte Kaffee und machte den Frühstückstisch zurecht. Für ihren Liebling lag ein Stück Napfkuchen auf dem Tellerchen neben der Tasse. Dann wurde noch Schokolade und Obst in Mimmis Handtäschchen gepackt und Hut und Mäntelchen zurecht gelegt.

»Mein Gott, vier Wochen sind keine Ewigkeit,« tröstete sie sich selbst und nahm sich vor, beim Abschied ja nicht zu weinen, damit das Kind nicht traurig würde.

»Mütterchen, muß ich jetzt aufstehen?« rief verschlafen vom Nebenzimmer aus Mimmi.

»Ja, mein Kind, jetzt ist es Zeit.«

Die Mutter half beim Anziehen, kämmte das lange Haar und flocht es in zwei Zopfe. Ollys Schleifen zierten dieselben.

»Ei, Muttel, Kuchen! Das ist aber lieb von dir, aber – Muttel – ob mir's nicht doch bange nach dir sein wird?«

Es stiegen ihr Tränen auf. Frau Haug mußte an sich halten, um nicht mit zu weinen.

»Kommst ja bald wieder, mein Lieb. Es ist eine Erholungsreise und so viele Kinder sind dort. Du wirst schon kein Heimweh bekommen. Nun iß und trink, Zachmanns werden gleich hier sein. Sie kommen mit zur Bahn. Ich will mich auch schnell fertig machen –«

Damit war die Mama hinaus, ganz schnell, als wollte sie ihr Gesicht nicht zeigen. –

Auf dem Bahnhof waren alle die Mütter, die ihre Kinder der Frau Regierungsrat zuführten, so froh und heiter, daß sich Frau Haug schämte, anders zu sein.

War es denn nicht eine lustige Ferienreise, die ihr Liebling antrat? Weshalb sollte sie denn traurig sein?

»Hier stelle ich Ihnen den Reisemarschall vor!« sprach Frau Regierungsrat, deren schlanke Figur in einem eleganten Reiseanzug fast jugendlich erschien, und wies auf Fräulein Fiedler. »Ihr liegt das Wohl der Kinder ob.«

Fräulein Fiedler begrüßte die kleinen Mädchen und sprach einige herzliche Worte mit den Müttern, und nun hieß es, einsteigen!

Im Nu war die fröhliche Schar in Abteils untergebracht und drängte sich an die Fenster.

Willi Zachmann warf ein Sträußchen, das er bisher abzugeben zu schüchtern war, in das Fenster, vor dem Mimmis strahlendes Gesichtchen sichtbar war.

»Leb wohl, Muttel, geliebtes Muttel! Leb wohl, Olly; auf Wiedersehen, Willi!«

»Auf Wiedersehen!«

»Gute Reise!«

»Haltet euch brav, seid artig!« erscholl es – Tücher wurden geschwenkt – langsam setzte sich der Zug in Bewegung, und heidi, ging's frisch-fröhlich in die Ferien hinein.

Ganz unwillkürlich drängte sich Olly an Frau Haugs Seite und ergriff ihre Hand. Sie sprach kein Wort und schmiegte sich innig an sie an, als wollte sie damit ausdrücken: ich will dir über die Trennung hinweghelfen.

»Mutter sagt, Sie würden in den Ferien oft mit uns ausgehen,« hub das freundliche Kind auf dem Heimweg an, »dann müssen Sie immer mit uns gehen, und wir schreiben miteinander Ansichtspostkarten an Mimmi, nicht?«

»Ja, mein gutes Kind,« entgegnete Frau Haug und streichelte Ollys Hand. »Ich komme mit, und du bist meine kleine Freundin.«

»Das freut mich; und alle Tage komme ich zu Ihnen, damit Sie keine Sehnsucht haben.« –

Am andern Morgen rief es vom Garten aus nach Olly. Hastig kam diese angelaufen.

»Hier bin ich, Frau Haug, soll ich herüberkommen?«

»Nein, meine liebe Olly, ich wollte dir nur sagen, daß Mimmi geschrieben hat. Hier ist die Karte, kannst sie deiner Mama geben. Gott Lob, sie schreibt, daß sie glücklich angekommen sind. Und nun guten Morgen, ich will gleich antworten,« damit schritt Frau Haug ihrem Hause zu.

Auf dem Gute.

Acht Tage waren vergangen. Für die Ferienkinder viel zu schnell. In einem Glücksrausch flog die Zeit dahin. Wie war es hier schön! Ein dreistöckiges breites Herrenhaus lag in einem prachtvollen Park.

Ueberschritt man eine Brücke, so war man im Walde, der sich meilenweit hinstreckte.

Von den Balkons aus übersah man einen breiten See, auf welchem sich allerlei Schiffe und Boote bewegten.

Im Walde waren Turngeräte und lange Tische aufgestellt. Hängematten waren zwischen den saftigen Bäumen angebracht, alles sah verlockend und zur Ruhe ladend aus.

Neun kleine Mädchen wohnten mit dem Fräulein in der zweiten Etage in luftigen Räumen, Mimmi, das zehnte, dagegen im ersten Stock. Ihr Schlafzimmer grenzte an das der Haustochter, Irene Rittner.

»Das Kind muß ich unter meine Flügel nehmen.« hatte Frau Regierungsrat zu dem Fräulein gesagt. »Es ist zart, und die Verantwortung ist mir zu groß.«

Sie litt es auch nicht, daß Mimmi mit den andern im See badete.

»Dazu ist die Kleine zu blutarm,« meinte sie. Für Mimmi waren laue Wannenbäder bestimmt.

In den acht Tagen ihres Hierseins war eine Wandlung mit ihr vorgegangen.

»Drei Pfund hat das Kind zugenommen,« erzählte erfreut Frau Rittner ihren Bekannten, »und sehen Sie, wie es auszusehen beginnt.«

In ihrer Güte machte sie der beglückten Mutter hiervon Mitteilung.

Den ersten ausführlichen Brief erhielt Frau Haug heute von ihrem Töchterchen. Es schrieb:

»Geliebte Mama!

Unsere Reise hierher war wunderschön. Unser Zug fuhr über Berlin. Wir haben auch 'was von den Straßen gesehen. Wenn wir wiederkommen, will uns die gnädige Frau, die so lieb und gut zu uns ist, in ihrem Wagen durch die Straßen fahren lassen. Ich bin froh, daß ich neben Irenens Schlafstube schlafe. Dort ist es aber mal fein! Einmal war es mir sehr bange nach Dir. Da habe ich im Schlafe geweint. Seitdem kommt die gnädige Frau immer nach mir sehen.

Wir bekommen abends jede eine Schüssel Erdbeeren, Milch und Eier. Ich wollte immer Erdbeeren für Dich, liebe Mutter, forttun, aber sie werden schlecht, man muß sie gleich essen. Und das Mittagbrot, das schmeckt aber. Ich esse so viel wie nie. Fräulein sagt, das macht die Waldluft. Wir essen alle im Freien. Dann ruhen wir. Dann spielen wir. Wir fahren auch Kahn. Ach, das ist zu schön.

Noch einen Kuß von Deiner Dich liebenden Tochter
Mimmi.

Bitte, gib doch Olly den einliegenden Brief, aber mache ihn ja nicht auf, weil doch ein Geheimnis drin steht.«

Die Mutter küßte die kindlichen Schriftzüge und blickte dankbar gen Himmel, daß ihr solche Herzensfreude geworden. Jetzt wünschte sie schon, die Ferienzeit möge länger dauern, da ihr Kind dort so gedieh.

Nun nahm sie das Briefchen und ging zu den Nachbarn.

Olly riß ihr das rosa Kuvertchen fast aus der Hand, sodaß ihre Mama sie tadelte. Sie lief in den Garten, um ganz allein diesen ersten Brief, den sie im Leben erhielt, lesen zu können. Da stand:

»Liebe Olly!

Hier ist es wundervoll. Mama wird Dir viel erzählen. Alle sind gut. Bloß Marianne Hedmond, die haben wir nicht lieb. Auch gegen Fräulein ist sie mürrisch. Mich wollte sie verhetzen, damit ich mit Wanda Kuhne nicht mehr gehe. Aber das tue ich nicht.

Nun will ich Dir also schreiben, aber Du darfst es niemand auf der ganzen Welt verraten, es muß unser Geheimnis bleiben: ich habe einen prächtigen Schmetterling gefangen. Ein Pfauenauge für Willi.

Irene, zu der wir alle du sagen können, obgleich sie schon vierzehn Jahre ist und doch das gnädige Fräulein, hat ihn in Spiritus gesetzt. Sie will mir noch schönere fangen helfen, weil sie doch weiß, daß sie Willi bekommen soll.

Ich weiß nicht, was ich Dir mitbringen kann. Wir waren noch nicht im Dorfe.

Ich grüße Dich bestens
Mimmi.

Grüße Deine Eltern, grüße auch Willi. Schreibe mir auch mal. Sage Willi, wir dürfen nicht auf Ponys reiten. Es sind keine hier. Nur ein Ziegengespann und drei Esel. Mich nimmt die gnädige Frau in ihrem Wagen mit spazieren. Ich soll nicht so viel laufen wie die andern.

Was machen unsere Blumen? Singt unser Vögelchen noch? Jetzt muß ich aufhören. Der Gong tönt. Nun wird im Walde gefrühstückt.

Noch einen Kuß von Deiner Dich liebenden
Mimmi.«

Ein verdrießlicher Tag.

Zum ersten Male gab es heute eine Verstimmung.

Die Gutsherrin war sehr erregt und gegen das Fräulein aufgebracht.

Es war ein Regentag, die Kinder saßen in der Glasveranda. Einige spielten »Abnehmen«, einige häkelten, einige lasen, ganz nach Neigung.

Einförmig rauschte der Regen hernieder. Gierig fingen die Blätter der Bäume die Tropfen auf, erfrischt und wie gebadet sahen sie aus. Das Fräulein lag im Liegestuhl mit einem Roman in der Hand.

Da öffnete sich die Glastür, und die Gnädige trat herein.

Noch nie hatten sie die Kinder so heftig gesehen.

»Fräulein,« wandte sie sich an diese, »ich höre soeben, daß die Kinder gestern im Pferdestall waren. Wußten Sie davon?«

»Das allerdings nicht.«

»Nun, ich muß aber sehr bitten, daß die Kleinen sich nicht selbst überlassen bleiben. Johann sagt mir, daß die Fohlen wie wild ausschlagen und die Kinder in größter Gefahr waren. Fräulein, ich bin für jedes der Kinder verantwortlich, wie können Sie sie ohne Aufsicht lassen!«

Die Antwort nicht abwartend, verließ die Dame die Veranda.

Da fuhr das Fräulein auf:

»Wer von euch war im Stall?«

Nun, sie waren alle drin, und da gab es tüchtige Schelte.

Am Nachmittag stand die liebe Sonne wieder hoch am Himmel und küßte alle Regentropfen von Baum und Strauch.

Die Kinder konnten im Freien sein und tummelten sich nach Herzenslust.

Mimmi schob zutraulich ihren Arm in den der kleinen Resi Schulze, mit der sie sich recht befreundet hatte.

»Willst du mir mal einen großen Gefallen tun?«

»Gern.«

»Hilf mir Kletten suchen. Es stehen massig viel hinter dem Zaun, der zur Oekonomie führt. Ganze Büschel sind dort zu finden.«

»Was willst du denn damit?«

»Ein Körbchen machen.«

»Kannst du das?«

»Fein, wenn ich mit Mama spazieren gegangen bin, haben wir am Wege Kletten gepflückt und zu Hause haben wir hübsche Sachen davon gemacht. Einmal habe ich mir ein ganzes Häuschen von Kletten gebaut.« –

Mimmi hielt im Sprechen inne, blickte gespannt geradeaus, und mit dem Rufe: »Der Briefträger kommt!« stürzte sie einem ganz von fern herkommenden Landbriefträger entgegen.

Resi lief natürlich nach, und balde standen beide vor einem mit Amtsmütze und Tasche versehenen Manne mit einem großen Stock in der Hand und einem frischen Bauerngesicht.

»Na, Dern, was wollt ihr denn? Briefe von Muttern, was?«

»Ja, ach, bitte, lieber Briefträger, sehen Sie doch, ob was für Mimmi Haug in Ihrer Mappe ist.«

»Und für Resi Schulze!« ergänzte die andere

»Na, ich will mal nachsehen. Eigentlich müßte ich ja die ganze Mappe im Gutshaus abgeben, aber ich habe auch so 'n kleines Mädel, wie ihr seid, und die ist auch höllisch happich auf Briefe –«

Dabei suchte der gute Mann in der abgeschabten Tasche herum und, Hurra, da hielt er ein kleines blaues Briefchen in der Hand, das eine auffallende Reklamemarke auf der Rückseite zeigte.

»Ach, bloß von Olly, nicht von Mutz!« enttäuscht nahm das Kind ihr Briefchen entgegen, aber schließlich freute sie sich auch damit.

»Such' du Kletten, ich lese indessen,« gebot sie Resi und setzte sich auf eine Bank.

Bevor sie den Brief öffnete, weidete sie sich erst noch an dem hübschen Kuvert und besah sich die Reklamemarke, auf der ein buntes Märchenbild zu sehen war. Nun erst öffnete sie und las:

»Meine liebe Mimmi!

Du kannst Dich drauf verlassen, ich verrate das Geheimnis nicht. Ganz gewiß nicht, und ich habe den Brief unter meinem Kopfkissen verwahrt. Willi kann ihn nicht finden. Aber Pfauenaugen hat er schon sehr viele. Siehe zu, ob Du nicht einen Zitronenfalter fangen kannst. – Ist die Gutstochter schön? Ich gehe alle Tage zu Deiner Mama, es ist ihr gar nicht mehr bange nach Dir, weil ich doch da bin.«

Weiter las die kleine Mimmi nicht. Ein heißer Schmerz befiel sie. War es denn möglich, daß jemand der Mama, ihrem heißgeliebten Muttchen, ihre kleine Mimmi ersetzen konnte? Brennende Eifersucht schnürte ihr Herz zu, und ein namenloser Jammer beschlich sie.

Die hellen Tränen stürzten hervor.

Nein, sie wollte nicht weiter lesen. Diese Olly, o, sie liebte sie nicht mehr. Diese Olly schlich sich in das Herz ihrer Mutter, und sie hatte doch selbst eine solche, o – sie war sehr unglücklich, sehr sehr ...

»Nanu, was ist dir denn?«

Resi, die in ihrer Schürze Kletten gesammelt und damit ankam, war sehr erstaunt, ihre Freundin in Tränen zu finden.

Vor Schluchzen vermochte Mimmi nicht zu antworten. In ihrer Ratlosigkeit lief Resi dem Herrenhause zu.

Unterwegs traf sie Irene, und sie erzählte ihr, daß dort drüben die kleine Mimmi gar so arg weine.

Sogleich ging das junge Mädchen hinüber, nahm Mimmi in ihre Arme und fragte besorgt und liebevoll, was ihr denn fehle.

»Meine – Mama – liebt mich nicht – mehr!«

»Unmöglich, wer sagt dir denn das?«

»Meine – Freundin – schreibt's.«

Da nahm ihr Irene das Briefchen aus der Hand und las selbst.

»Dummerchen, da steht doch gar nichts davon! Und weshalb sollte deine Mutter dich nicht mehr lieben? Deine Freundin bemüht sich, deinem Mütterchen die Trennung nicht so schwer zu machen. Dafür solltest du dankbar sein. Verdrängen kann niemand ein Kind aus dem Herzen seiner Mutter. Es müßte dann ein sehr schlechtes Kind sein, das die Mutterliebe nicht verdient. Komm, trockne deine Tränen, meine Mama hat es nicht gern, wenn die Ferienkinder traurig sind, und du willst sie doch nicht erzürnen?«

»Nein, gewiß nicht, ich hab' sie so lieb!«

»Na, siehst du, jetzt müßte ich auch eifersüchtig sein!«

Irene lachte, nahm Mimmi an die Hand und führte sie mit sich fort.

»Was wolltet ihr denn mit den Kletten anfangen?« fragte sie im Gehen und wies auf Resis gesammelten Schatz.

»Ich wollte ein hübsches Körbchen für die gnädige Frau machen, ich wollte ihr so gern etwas schenken, weil sie sich heute ärgern mußte über alle. Da sollte sie gleich darauf eine Freude haben.«

»Das ist nett von dir.«

»Aber du mußt nichts verraten, bis es fertig ist.«

»Nein, gewiß nicht. Aber du scheinst sehr für Geheimnisse zu sein. Was ist es denn, das deine Freundin nicht verraten darf?«

»Daß ich Willi schöne Schmetterlinge mitbringe.«

»Davon hast du mir schon erzählt. Hat er eine Sammlung?«

»Ja!«

»Sammelt er auch Käfer?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich will dir welche suchen helfen und sie präparieren. Das tue ich sehr gern, und Jungens haben daran immer Freude.«

»Du bist aber gut!«

Mimmi drückte die Hand des Backfischchens. Sie schien getröstet, aber über ihrem Gesichtchen lag doch ein Schatten, und ihre Gedanken waren in der Heimat.

Es war hier wunder-, wunderschön, und alle waren lieb und gut zu ihr, aber – doch – ihr Muttchen – mein Gott, sie erschrak, wenn sie an die lange Fahrt hierher dachte, sie war doch gar zu entfernt von der Mutter, wie hatte sie es denn schon so lange ausgehalten?

Vierzehn Tage war sie schon fort.

O weh! da kamen die Tränen schon wieder, und sie wollte doch nicht weinen, sie durfte doch die gute Dame, die das Weinen nicht mochte, nicht betrüben!

Irene ahnte, was in des Kindes Seele vorging, schnell mußte sie es auf andere Gedanken bringen.

»Wißt ihr was?« schlug sie vor, »mit dem Körbchen hat es noch Zeit, legt alles dort in die Laube und kommt, ich fahre euch Kahn.«

»Deine Mama erlaubt es aber nicht. –«

»Unbesorgt, ich fahre sicher.«

Bald darauf glitt der Kahn durch das stille Wasser, zwischen grünen Ufern von Schilf und Wasserrosen begrenzt.

Allmählich wurde Mimmi ruhiger.

»Die herrlichen Wasserrosen!« Resi Schulz wies entzückt darauf.

»Sieh 'mal, dort drüben ist eine fast rosa. Ist das nicht eine Pracht?«

»Ich liebe diese Blumen ungemein,« sagte Irene. »Sie sind so poetisch. Wißt ihr, daß die Wasserrosen jeden Abend schlafen gehen?«

»Ach, du, du machst uns was vor!« Resi lachte.

»Nein, wirklich nicht, die runden Blätter sind ihre Bettchen, sie rollen sich zusammen und nehmen, sobald die Sonne sinkt, die Rosen auf.«

»Aber da können sie sich doch nicht hineinlegen?«

»Sie schließen ihre Kelche und dann schlafen die Rosen bis zum frühen Morgen.«

»Aber das muß ich mal sehen! Wann gehen die Blumen schlafen?«

»Um diese Zeit, so gegen 6 Uhr. Ich bin oft mit Mama hierher gegangen, und wir haben die Wasserrosen belauscht. Das ist wie ein Märchen.«

»Willst du uns nicht eins erzählen?«

»Jetzt nicht, jetzt fahren wir heim.« –

»Aber deshalb kannst du doch erzählen,« bettelten die Kinder.

»Ein Märchen nicht, aber wenn ihr Freude 'dran habt, will ich ein Gedicht hersagen, das ich erst gestern gelernt. Es ist von Theodor Storm. Aber du mußt auf das Steuer achten, Resi, und du, kleine Mamsell, sitz hübsch still.«

Irene zog etwas die Steuer ein und begann:

Es klippt auf den Gassen im Mondenschein,
das ist die zierliche Kleine,
die geht auf ihren Pantöffelein
behend und mutterseelenallein,
durch die Gassen im Mondenscheine.

Sie geht in ein alt verfallenes Haus;
im Flur ist die Tafel gedecket,
da tanzt vor dem Monde die Maus mit der Maus,
da setzt sich das Kind mit den Mäusen zum Schmaus,
die Tellerlein werden gelecket.

Und leer sind die Schüsseln, die Mäuslein im Nu,
verrascheln in Mauer und Holze;
nun läßt es dem Mägdlein auch länger nicht Ruh',
sie schüttelt ihr Kleidchen, sie schnürt sich die Schuh',
dann tritt sie einher mit Stolze.

Es leuchtet ein Spiegel aus goldnem Gestell,
da lauscht sie hinein mit Lachen;
gleich schaut auch heraus ein Mägdelein hell,
das ist ihr einziger Spielgesell,
nun woll'n sie sich lustig machen.

Sie nickt voll Huld, ihr gehört ja das Reich;
da neigt sich das Spiegelkindlein,
da neigt sich das Kind von dem Spiegel zugleich,
da neigen sich beide gar anmutreich,
da lächeln die rosigen Mündlein.

Und wie sie lächeln, so hebt sich der Fuß.
es rauschen die seidenen Röcklein,
die Händchen werfen sich Kuß um Kuß,
das Kind mit dem Kinde nun tanzen muß,
es tanzen im Nacken die Löcklein.

Der Mond scheint voller und voller herein,
auf dem Estrich gaukeln die Flimmer:
Im Takte schweben die Mägdelein,
bald tauchen sie tief in die Schatten hinein,
bald stehn sie in bläulichem Schimmer.

Nun sinken die Glieder, nun halten sie an
und atmen aus Herzens Grunde;
sie nahen sich schüchtern und beugen sich dann
und knien vor einander und rühren sich an
mit dem zarten, unschuldigen Munde.

Doch müde werden die beiden allein
von all der heimlichen Wonne;
sehnsüchtig flüstert das Mägdelein:
»Ich mag nicht mehr tanzen im Mondenschein,
ach, käme doch endlich die Sonne!«

Sie klettert hinunter ein Trepplein schief
und schlich hinab in den Garten.
Die Sonne schlief, und die Grille schlief:
»Hier will ich sitzen im Grase tief,
und der Sonne will ich warten.«

Doch als nun morgens um Busch und Gestein
verhuschet das Dämmergemunkel,
da werden dem Kindlein die Augen klein;
sie tanzte zu lange beim Mondenschein,
nun schläft sie bei Sonnengefunkel.

Nun liegt sie zwischen den Blumen dicht,
auf grünem, blitzenden Rasen,
und es schauen ihr in das süße Gesicht
die Nachtigall und das Sonnenlicht
und die kleinen neugierigen Hasen.

Während der Kahn langsam dahinglitt, hatte Irene die Strophen gesagt, die beiden Mädelchen lauschten mit geröteten Wangen.

»Da hat sie mit den Mäusen gegessen?« fragte Mimmi.

»Und mit sich allein getanzt? Aber niedlich muß sie gewesen sein,« meinte Resi. »Mimmi, die sah wohl so zierlich wie du aus?«

Mimmi lächelte verlegen, ward ganz rot und murmelte etwas, das niemand verstand.

Irene griff jetzt tüchtig aus, tiefe Furchen hinterließ der Kahn.

»Wir müssen heim, sonst wird man sich ängstigen,« sagte sie.

Gegen abend setzten sich die Mädchen zusammen und sahen Mimmi zu, wie sie ein Körbchen zustande brachte.

»Paßt auf,« belehrte sie. »als Mittelpunkt zum Boden nehme ich die größte Klette. Um sie herum kommen kreisförmig die andern.

Ist der flache Boden gefertigt, werden die Kletten übereinandergesetzt, so hoch, wie man das Körbchen eben haben will. Dann kommt der Henkel, zu diesem setze ich in bestimmter Breite je drei Kletten aneinander. Und nun ist mein Geschenk fertig.«

»Ah!« Die Mädchen waren voll Bewunderung, als Mimmi stolz ihr kleines Geschenk präsentierte.

»Nun kommt,« sagte sie. »wir holen Moos und bunte Blümchen und füllen das Körbchen recht zierlich. Ich stelle es der gnädigen Frau auf den Nachttisch.«

»Du bist aber mal eine Schmeichelkatze! Verstehst dich gut einzukrallen!« sagte Marianne Hedmond.

»Und du bist boshaft.« entgegnete Mimmi, der Tränen kamen. »Ich habe die Frau Regierungsrat so lieb, so herzlich lieb, und wir alle müssen ihr dankbar sein.«

»Das stimmt, und es ist sehr häßlich von dir,« sagte Ella Wolf, »daß du unsere gute Mimmi verdächtigst. Wir wollen auch alle etwas für Frau Rat fertigen und es ihr auf das Zimmer bringen!«

Einstimmig wurde dieser Vorschlag angenommen, und die gute Dame war nicht wenig überrascht, eine ganze Anzahl Bilderrahmen, Kästchen und allerhand Schalen aus Kletten mit Blumen oder Eicheln verziert vorzufinden.

Die Aufmerksamkeit der Kinder freute sie herzlich, und sie sprach ihnen auch in lieben Worten ihren Dank aus. –

*

»O, schon wieder Regen!«

Die kleinen Mädchen schauten vom Frühstückstisch durch die Fenster, an welche der Regen in großen Tropfen schlug.

»Nun können wir nicht in den Wald, nicht über die Wiesen, nicht Blumen pflücken,« so klang es durcheinander.

»Da werdet ihr euch eben mal mit etwas Nützlichem beschäftigen,« warf das Fräulein ein. »Habt ihr keine Handarbeiten mit?«

»Ich – ich – ich –,« so ertönte es. aber es waren nur drei Schülerinnen, die eine solche mitgebracht hatten, so daß das Fräulein den anderen eine Strick- oder Häkelarbeit anfangen mußte.

So verging der Vormittag, ohne daß es sich draußen aufhellte.

Gegen abend schritten die Schülerinnen unter Schirmen der Oekonomie zu, wo sie im Stall kuhwarme Milch zu bekommen pflegten.

Die Mamsell hatte die Kinder sehr lieb gewonnen und plauderte gern mit ihnen. Manch lustiges Liedchen hörten sie von ihr. Sie sang des Sonntags auch gern zur Harmonika, die der Schweizer fein zu spielen verstand.

»Langweilt euch heute wohl recht?« fragte sie. »Es ist so trübes Wetter, gerade so wie im Herbst.«

»Nein,« entgegneten einige der Mädchen, »hier ist es doch immer schön.«

Mimmi aber schmiegte sich an die Mamsell und flüsterte ihr ins Ohr: »Heute habe ich Heimweh. Immer wenn es Regen gab und wir nicht ausgehen konnten, erzählte mir meine liebe Mama Geschichten. Mir ist so bange nach Mama.«

Die Mamsell nahm das Kind in ihre Arme. Dann sagte sie auch zu den andern gewendet: »Wißt ihr was, wenn ihr eure Milch ausgetrunken habt, kommt ihr mit in meine Kammer, ich erzähle euch ein Märchen.«

»Ach ja, bitte,« erscholl es, und nicht lange dauerte es, da führte die Mamsell die Kinder durch einen langen Gang in ihr Stübchen.

Es war sehr dämmerig darin. Eine echte Märchenstimmung herrschte. Die Mamsell setzte sich ans Fenster. Ihr zu Füßen setzten sich auf den Tritt drei der Mädchen; drei andere kletterten auf das etwas harte Sofa, zwei auf den Bettrand, und die noch übrigen beiden holten sich Stühle herbei.

Die Mamsell überschaute vergnügt ihre Zuhörerschar und begann:

Von der Magd, die eigentlich keine Magd war.

In einem fernen Lande lebte eine Prinzessin, von deren Schönheit man überall sprach. Gar viele Prinzen kamen an ihres Vaters Hof, um sie zu freien, aber Schön-Edeltraut schüttelte lächelnd ihr blondes Haupt, wenn ein Freier um ihre Hand bat.

»Mag nicht, mag nicht heiraten,« sprach sie.

So gingen Jahre dahin. Schon ward König Lothe zornig, denn er mochte nicht, daß sein einziges Töchterlein unvermählt blieb. –

Nun wollte es der Zufall, daß ein fremder Prinz auftauchte, der kam von weit, weit her und brachte die kostbarsten Schätze mit. Von so seltener Pracht waren diese, daß man sich weit und breit davon erzählte.

Als die Prinzessin davon hörte, sprach sie den Wunsch aus, sich alles anschauen zu dürfen.

Darob ließ der König Lothe anfragen, ob der fremde Prinz gewillt sei, seine Herrlichkeiten bei Hofe auszustellen.

Die Antwort überraschte. Der fremde Prinz ließ durch seinen Botschafter sagen, wenn die hohen Herrschaften seine Schätze zu sehen wünschten, mögen sie sich auf jener Burg einfinden, auf welcher der Prinz und sein Gefolge Rast gemacht hätten. –

Der König war hierob sehr erregt, aber die Prinzessin klatschte in die Hände und sprach: »Das gefällt mir gerade; laß doch, lieber Vater, einen Hofwagen kommen, ich möcht' auf die Burg.«

»Es sei,« entgegnete der König, der seinem einzigen Töchterchen nichts abschlagen konnte, und so begab sich die Prinzessin, begleitet von Hofdamen und Kavalieren, auf die Burg.

Am Portal stand der fremde Fürst zum Empfang bereit. Er war im Turban und goldstrotzendem Kaftan. Stattlich und schön stand er dort und half der Prinzessin aus dem Wagen.

»Liebwerte Herrin,« redete er sie an und verbeugte sich nach morgenländischer Art, »wolltet Ihr doch Euer Gefolge auf Euch warten lassen. Meine Schatzkammer soll nur der betreten, der, wie ich, aus königlichem Geblüt ist.«

Ganz betroffen schauten die Hofdamen auf die Prinzessin Edeltraut. Diese aber sagte: »Es sei,« und ließ sich vom Prinzen führen.

In der Schatzkammer herrschte Halbdunkel, aus einigen, an Ketten hängenden Kesseln entströmte blaues Licht und verbreitete einen magischen Zauber.

Verwundert blickte sich Edeltraut in dem eigentümlichen Raum um. Ueberall waren Ecken und Pfeiler, und kuppelartig wölbte sich die Decke. Große Truhen standen an den Wänden entlang, sie waren mit Elfenbein und bunten Steinen ausgelegt.

»Herrin,« hub der Fürst an, »wolltet Ihr alle die herrlichen Geschmeide bewundern, die diese Truhen füllen, so müßt Ihr mir gestatten, diese Mixtur in Eure schönen Augen zu träufeln. Dann erst würdet Ihr alles erschauen, wie es in meinem Heimatlande, wo die Sonne hoch steht, erglänzt.«

Wieder sagte die Prinzessin, wie unter seinem Willen gebeugt, »es sei,« neigte ihr Köpfchen und ließ ihre Augen einträufeln.

Kaum war dies geschehen, war Schön-Edeltraut wie verwandelt.

Es war ihr, als hätte sie stets in diesen Räumen geweilt, und als sei ihr der Prinz niemals ein Fremder gewesen. Und all die Kostbarkeiten, welche er vor ihr ausbreitete, kamen ihr wie ihr Eigentum vor.

Erst als es zu dunkeln begann und die letzten Schätze ausgepackt waren, besann sich Edeltraut auf sich selbst.

»Nun muß ich heim,« sagte sie und nahm den Schleier ab, den ihr der Prinz umgetan hatte, »mein Hofstaat wartet.«

»Schön-Edeltraut,« sprach der Fürst und erfaßte ihre Hand, »darf ich morgen zum König, Eurem Vater, kommen, und um Eure Hand anfragen?«

»Es sei,« entgegnete die Prinzessin, neigte grüßend ihr Haupt und verließ mit ihrem Gefolge die Burg.

Andern Tags, als der Fürst auf weißem Zelter in den Hof ritt, gefolgt von Rittern und Knappen und Schildträgern, herrschte eine ungeheure Aufregung. Der König ließ den fremden Fürsten nicht vor sich, da er von seinem Vorhaben gehört, und zu seiner Tochter sprach er erzürnt: »Hast du alle Freier, die ich zum Eidam haben wollte, verschmäht, so sollst du auch den mir Unbekannten nicht haben.«

Da begann die Prinzessin zu weinen und weinte so viele Tränen, daß ihr Kämmerlein ganz naß ward.

Eines Abends, als sie traurig und allein im Erker saß und an den Prinzen dachte, der ihr Herz geraubt, klopfte es ganz leise an die bunte Scheibe. Edeltraut erschrak. Da klopfte es wieder und wieder, so daß Edeltraut das Fenster öffnete. Und siehe da – auf einer Leiter stand der ausländische Prinz und warf ihr Rosen ins Fenster.

»Komm mit mir in mein schönes Land,« sprach er weich. »Alle meine Schätze lege ich dir zu Füßen, komm, fliehe mit mir, und wir werden glücklich unter Palmen wandeln.« Schmeichelnd klang seine Stimme an ihr betörtes Ohr, und nur zu schnell willigte sie ein, mit ihm zu ziehen. Sie vergaß alle ihre Pflichten, vergaß die Liebe des Vaters, die Fürsorge der Mutter, ihr Heimatland und folgte dem schwarzäugigen Jüngling in die weite, weite Ferne. –

Glückselige Monde waren es, welche die Prinzessin im Lande ihres Gemahls verbrachte, und wenn sie die Sehnsucht nach ihren Eltern plagte und ihr Herz in Reue sich verzehrte, dann waren es die liebevollen Worte ihres Gatten, die sie beruhigten.

So ging die Zeit dahin. Feste wurden auf Feste gefeiert. Jagdzüge wurden abgehalten, Gondelfahrten unternommen – Schön-Edeltraut fühlte sich als Herrin eines großen Reiches glücklich. Nur manchmal fuhr sie im Schlafe erschrocken auf, war es nicht, als hörte sie die liebe Stimme ihres Vaters, den sie so tief gekränkt? Und rief nicht die Mutter nach dem undankbaren Kinde, das bei Nacht und Nebel das teure Vaterhaus verlassen?

– Es schlich sich das Heimweh in ihr Herz, bleichte ihre Wangen und ließ ihr bezauberndes Lächeln verschwinden.

Der Prinz sah es mit seinen scharfen Augen erst mit Wehmut, dann im Zorn. Hatte er die ausländische Prinzessin deshalb hierher gebracht, daß sie gar so bald dahin welkte auf fremdem Boden?

»Tränen, Prinzessin Edeltraut, töten die Schönheit,« sagte er ihr einstmals, da er sie weinend fand, und verließ kalt und streng aussehend das Gemach.

Lange, lange ließ er sich nicht bei der Prinzessin sehen, und ohne Abschied war er zur Jagd abgereist. –

Nun ward es noch einsamer um die arme Edeltraut, und da sie die Landessprache nicht genügend beherrschte, vermochte sie sich niemand fest anzuschließen.

Einmal ging sie am See spazieren und sah den Perlenfischern zu. »Ach,« dachte sie, »die Schätze, die haben mich verlockt. Ich war doch daheim so glücklich und froh gewesen, weshalb ging ich nur fort?« – Traurig schritt sie weiter und weiter.

Als sie ins Schloß zurückgekehrt war, nahte sich ihr ein Bote.

»Herrin,« redete er sie an und kreuzte seine Arme über die Brust. »Herrin, Euer hoher Gemahl läßt Euch Gruß entbieten und melden, daß er über das Meer gezogen sei.«

Da ward Schön-Edeltraut ganz bleich, aber kein Wort kam über ihre Lippen.

Müde und gebrochen schlich sie sich in ihr Gemach und saß tief traurig, bis sich der Abend herabsenkte und sie gramerfüllt ihr Lager aufsuchte.

Im Traum nahte sich ihr eine Gestalt, die beugte sich über sie und sprach:

»Edeltraut, du armes, verlassenes Kind, komm, ich zeige dir den Weg zur Heimat, komm, stehe auf, nächtlich verlasse das Haus, grad so wie du gekommen.«

Da rieb sich das unglückliche junge Weib die Augen und setzte sich in ihrem mit Spitzen besetztem Lager auf.

»Nein,« sagte sie, »und wäre es auch Wahrheit, daß mich jemand heimführen wollte, ich verdiene nicht, den Fuß ins Vaterhaus zu setzen.« –

Einmal ging Edeltraut in dem Palmenhain spazieren. Weiter als bisher erstreckte sich ihr Weg. »Was willst du in dem verödeten Schlosse,« dachte sie, »kehre nicht zurück, gehe in die Welt hinein.« Und sie lief, bis sie ihre Füße nicht mehr trugen, und sie vor Müdigkeit bald umsank.

Plötzlich stand ein altes Männchen vor ihr. Ganz verhutzelt sah es aus. Das Gesicht so klein wie ein Handteller, die Augen stechend und das Haar ergraut.

»Ei, du feines Püppchen, wo kommst du denn her?« redete es die Prinzessin an, »scheinst ja so ermattet zu sein, komm in meine Hütte, sie ist nicht weit von hier, ich will dir zu trinken geben.«

»Ja, tue das,« bat Edeltraut, denn sie war dem Verschmachten nahe.

In der Hütte sah es sauber und freundlich aus, so daß Edeltraut sagte: »Laß mich hier Rast machen, ich bin müde und kann nicht weiter.«

»Geh' in die Kammer, da kannst du schlafen,« sagte der Alte und öffnete die Tür. Auf der Erde lag ein Bündel Stroh und zum ersten Mal wohl ruhten die zarten Glieder der Königstochter auf dem harten Lager.

Aber sie schlief fest bis in den andern Tag hinein. Am andern Morgen aß Edeltraut die Suppe, die das Männchen gekocht und saß ihm gegenüber am Holztisch. Das Männlein rauchte ein kleines Pfeifchen und sah sie gar pfiffig an.

»Du, feines Mädelein,« begann der Alte, »du siehst grade so aus, als seist du irgendwo fortgelaufen. Und die feinen, feinen Sachen, die du trägst. Bist am Ende gar eine Prinzessin!«

Edeltraut seufzte. »Die war ich einmal,« dachte sie und laut sagte sie: »Ich bin ein armes Mädchen, das kein Heim hat.«

»Wenn du fein arbeiten willst, kannst bei uns bleiben.«

»Was soll ich denn arbeiten?«

»Sticken. Sieh hier, die Pantoffel, den Tabaksbeutel, die Kissen, alles was hier liegt, dies alles kommt zum Verkauf in die Stadt. Meine Frau, die jetzt unterwegs ist, trägt sie aus.«

»Gern will ich für Euch sticken,« entgegnete Edeltraut, »das habe ich wohl gelernt. Aber Ihr sollt mich niemals fragen, woher ich komme und wohin ich gehen werde.«

»Es sei,« sprach der Alte, und so blieb Edeltraut in der Hütte bei den alten Leuten. –

Einmal setzte sich die ehemalige Prinzessin auf ihrem Strohlager auf und sann nach.

»Wie lange wohl wird es her sein, daß ich hier bin,« fragte sie sich. Ihre Finger waren ganz durchstochen von dem vielen Nähen und ihre Augen blickten nicht mehr so scharf in die Ferne. Tag für Tag saß Edeltraut am Fenster und stickte, bis sich die Nacht herabsenkte. Das gefiel den Alten gar sehr, denn nun füllte sich die Sparbüchse, die auf dem Kamin stand, schnell mit Gold- und Silberstücken.

Wohl war das alte Weiblein erstaunt, als sie, heimkehrend, Edeltraut in ihrer Hütte fand. Alsbald gewann sie sie lieb und zügelte ihre Neugierde, hatte ihr Mann ihr doch gesagt, daß sie nie nach des Mädchens Herkunft fragen dürfe. Sie liebte das Gold, und die weißen Hände der Fremden wußten gar geschickt die wunderfeinsten Spitzentüchlein herzustellen.

Edeltraut aber ward stiller und stiller, und zuletzt brachte sie kein Wort mehr über ihre Lippen.

Einmal, als sie des Sonntags vor der Hütte auf einem Bänkchen saß, setzte sich die Alte zu ihr.

»Wirst ihr etwas erzählen,« dachte sie, »vielleicht heitert sie das auf.

Jungferchen,« begann sie, »das wird dich doch freuen, wenn ich dir erzähle, wie sehr man deine Arbeit gelobt hat. Sollst auch ein Mieder von mir haben und ein schneeweißes Brusttuch und einen hübschen roten Rock, wie ihn hier zu Lande die drallen Mädchen tragen.«

Ein müdes Lächeln huschte über Edeltrauts Antlitz.

»Weißt du,« fuhr die Alte fort, »wer das Spitzentaschentüchlein gekauft hat, das du gefertigt hast? – Eine Prinzessin. Eine wirkliche Prinzessin.«

»Eine Prinzessin? – wo wohnt sie, wie heißt sie?« fragte Edeltraut hastig.

»Gar nicht weit von hier ist ihr Schloß, man nennt sie Prinzessin Wohlgemut, weil sie immer so heiter ist. Eine schöne Dame ist sie und gar nicht stolz, sie hat zu mir gesprochen, wie zu ihresgleichen und hat sich erzählen lasten, wer das spinnenweiße Tüchlein gemacht hat.«

Da erschrak Edeltraut bis ins Herz hinein.

»Und wer, sagtet Ihr, hätte es gefertigt?«

»Ich habe ihr erzählt, daß sich ein so feines Jüngferchen, wie Ihr seid, zu uns gesellt habe, und da meinte die hohe Dame, nächstens käme sie mit ihrem Hofstaat hier vorüber und wolle sich die Händchen ansehen, die so schöne Sachen zu fertigen verstehen. Und deshalb kaufe ich dir gern die neuen Kleider, damit dich die hohe Dame recht hübsch findet.«

Die alte Frau sah nicht die starren Augen Edeltrauts, die in die Ferne schauten, ahnte nichts von dem beklommenen Herzen und sprach weiter und weiter. –

Diesmal fand Edeltraut keinen Schlaf, still und in sich gekehrt lag sie auf ihrem Lager und blickte in die sternhelle Nacht. Wie hatte sich doch ihr Leben gestaltet, seit sie aus dem Elternhause entflohen war:

Arm war sie und verlassen und mußte sich verstecken vor der großen Schande, die sie verfolgte.

Nimmer dürfte die fremde Prinzessin sie finden, denn nur zu bald würde diese sie erkennen, war sie doch manchmal an König Lothes Hofe gewesen.

Wo aber sollte sie hin? – In das Land ihres Gatten, der sie verlassen, vermochte sie nicht mehr, und der Weg zum Vaterhaus war ihr verschlossen.

Es litt sie nicht mehr auf ihrem Lager, hastig erhob sie sich, öffnete die Haustür, die hinaus ins Freie führte und ging weit und immer weiter in den tiefen Wald hinein.

Plötzlich stand sie vor einem von blassem Mondschein umflossenen See. Traurig blickte sie in das still dahin fließende Wasser, ganz eigenartig ward ihr zu Mute, so andächtig, als müsse sie ihre Hände falten und beten.

»Vater – Mutter,« sprach sie vor sich hin, »verzeiht es mir, daß ich euch solch großen Schmerz bereitet habe, ich leide unendlich darunter.«

Heiße Tränen drängten sich der Verlassenen auf und rieselten durch ihre schlanken, weißen Finger.

Da schrak sie plötzlich zusammen.

Hatte nicht jemand ihren Namen gerufen? – Aengstlich schaute sie sich um. Da stand ein kleines Männchen vor ihr.

»Edeltraut,« sprach es und haschte nach ihrer Hand, »komm, ich führe dich heim, komm, ich kenne dich und dein Leid.«

»Wer bist du?« fragte die ehemalige Prinzessin und blickte ängstlich in das faltige Gesicht des Alten, der angetan war mit einem Röcklein aus Schilf und mit Beinkleidern aus Baumfasern.

»Das darf ich dir vorerst nicht sagen. Deine Tränen aber haben mich gerufen, sie flossen zur Erde, und das ist das Zeichen, daß ich eine verirrte Seele heimzuführen habe. Nun komm,« und er zog Edeltraut mit sich fort.

Sie aber riß sich los. »Ich habe mir die Elternliebe verscherzt,« sprach sie, »ich bin nicht wert, daß sie mich wieder aufnehmen.« Da war das Männchen verschwunden, und Edeltraut stand noch trostloser da als vorher.

Weiter und weiter schritt sie nun. Langsam kam der Tag herangekrochen, heller und heller ward es am Himmel, bis die liebe Sonne hervorkam.

Da fühlte sich auch Edeltraut beruhigt.

»Ach,« dachte sie, »wenn du dein Vergehen redlich gebüßt haben wirst, dann kehrst du hier an den See zurück und rufst das Männchen wieder. Dann soll es dich heimführen.«

Darauf wusch sie sich am klaren Wasser, band ihr Kopftuch aufs neue, stäubte ihr Röcklein aus und wanderte weiter. – Nun ward es auch schon lebendig auf den Feldern, die Bauernwagen kamen angerasselt, und Schnitter und Schnitterinnen sprangen herab, denn es war Erntezeit, wo sich emsige Hände regten.

»Holla! Du da,« rief ein Bauer Edeltraut an, »was schaust du denn zu? – Rege doch auch deine Hände, komm, schaffe mit uns.«

Da nahm Edeltraut die Sense, die ihr der Bauer reichte, und begann gleich den andern Korn zu schneiden, und so geschickt stellte sie sich an, daß der Bauer nicht anders dachte, als daß sie eine echte und rechte Magd sei.

»Wenn du recht fleißig sein willst, dann kannst du bei mir in Dienst treten,« sagte er.

»Das wäre die rechte Buße,« dachte die Prinzessin sich und sagte zu. –

So kam sie auf den Haidenhof. Harte Arbeit, Essen, das ihr zarter Körper nicht vertrug, und ein Lager in dumpfer Kammer war ihr Los. Einmal sagte die Großmagd zu Edeltraut:

»Bist immer so traurig, gar nicht, als ob du jung wärst. Komm doch mal mit zum Tanze, heisa, da wirst du schon lachen lernen!«

Trübselig lächelte die ehemalige Prinzessin und schüttelte müde ihr Haupt.

»Die alte Sommer,« fuhr die Großmagd fort, »hat gesagt, mit der Edeltraut sei es nicht geheuer, die müsse aus anderem Holz geschnitzt sein wie unsereins. Und einmal will die alte Sommer unter deinem Halstüchlein ein Kettchen gesehen haben, wie es unsereins nimmer trägt. Sag, wo bist du denn her?«

Da schüttelte Edeltraut ihr Haupt und sagte tieftraurig: »Weiß nicht!«

Nun ging sie noch bleicher als sonst umher, man sah, daß ihr die Arbeit schwer und schwerer wurde, bis sie ganz zusammensank. – Auf hartem Stroh lag sie krank darnieder. Der Großbauer ließ eine kluge Frau kommen, die der Magd Kräuter verordnen sollte.

Aber Edeltraut sagte mit schwacher Stimme: »Liebe Alte, bemühe dich nicht, laß mich ruhig sterben. Aber hier – diese Kette, bringe sie in das jenseitige Land, trage sie zum König, er wird sie erkennen und dich reichlich belohnen, wenn du ihm Grüße bringst von einer Unglücklichen, die ihm mal sehr weh getan hat.«

Da legte sich die arme Prinzessin auf die Seite, und ihre Seele flog gen Himmel.

Die Bauern aber wußten nun, daß die Magd eigentlich keine Magd war. – –

*

Das Märchen war aus. Die Kleinen saßen tief ergriffen da. Einige wischten sich verstohlen die Tränen aus den Augen, und Mimmi sagte: »Die arme, arme Prinzessin. Wäre sie doch mit dem Männlein mitgegangen, das sie zu den Eltern bringen wollte! Und wie konnte sie nur mit dem fremden Prinzen fortgehen, da sie doch ihre guten Eltern hatte.«

Und sie weinte bittere Tränen über die arme Prinzessin, die als Magd gestorben war.

»Ach, das war zu schön,« sagte Ella Wolf. »Zu schön. Wenn es wieder mal schlechtes Wetter ist, dürfen wir da wiederkommen? Sie erzählen doch zu wunderschön!«

Die Mamsell lächelte.

»Gern, aber jetzt müßt ihr ins Gutshaus, man wird euch schon erwarten.«

Mit vielen Dankworten verabschiedeten sich die Kinder. Die Mamsell führte sie über den dunklen Gang ins Freie.

»Italienische Nacht.«

Nun war man in der dritten Woche der Ferienzeit angelangt, und viele der Kinder hatten den Wunsch, die Zeit möge still stehen damit sie noch den ganzen Sommer hierbleiben dürfen.

Wie kleine Prinzessinnen wurden sie gehalten, eine ganze Welt von Schönheit hatte sich ihnen aufgetan, und dies sollte nur noch eine einzige Woche dauern? –

»Holla, Kinder, nicht traurig sein, ausnützen, ausnützen die kurze Zeit!« rief ihnen die Gutsherrin zu und war unerschöpflich im Erfinden von Vergnügungen aller Art für die kleinen Gäste.

Heute war italienische Nacht. Der dunkle Park wurde mit Lampions erleuchtet, hohe Raketen stiegen auf, große Sonnen ließen knatternd ihre Strahlen aufgehen. Flammende Mühlräder drehten sich, um geräuschvoll in Nichts zu versinken.

Eine Anzahl junger Herren und Damen, welche aus der Nachbarschaft auf Besuch gekommen waren, meinten, zur italienischen Nacht gehöre unbedingt eine Wasserfahrt.

Mit Jubel wurde ihr Vorschlag angenommen, und schon eilten die Gäste zum Anlegeplatz. Alle mit ihren bunten Lampions in der Hand.

Auf und nieder fuhren lachend und singend die Insassen der Kähne. Am Ufer standen die Kinder und sahen zu.

»Wenn wir aussteigen, sollt auch ihr ein Strecklein fahren,« wandte sich einer der jungen Herren zu den Schülerinnen.

»Dürfen wir?« fragte eins der Mädchen das Fräulein.

»Ich habe nichts dagegen, wenn es euch Vergnügen macht.«

»O sehr!«

Die Gutsherrin saß mit den älteren Herrschaften im Garten. Die Luft war mild und würzig, es war ein Sommerabend von wunderbarer Pracht.

Vom Ufer her erscholl das Lachen der Jüngeren und der entzückte Ausruf der Kinder, wenn eine das Wasser beleuchtende Rakete besonders hoch ging.

»So, jetzt ist es genug!« Irene Rittner ruderte ans Land, ließ ihre Gäste aussteigen und sprang leichtfüßig auf die eingebaute Rampe.

Herr von Essenburg, der die Kinder zu fahren versprochen hatte, blieb im Kahn.

»Vier Fahrgäste kann ich aufnehmen, wer will zuerst mit?« Alle drängten sich vor.

»Na, komm, du, du, du,« der junge Herr wählte selbst. Es saßen Resi Schulze, Mimmi Haug, Ella Wolf und Sofie Reuter im Kahn.

»Haltet euch aber fein still,« gebot der junge Herr. »Nicht etwa schaukeln. Ich will euch bis hinter die Brücke fahren, da wohnen die Wassernixen,« setzte er lächelnd hinzu.

Leicht glitt der Kahn dahin. Die Mädchen stimmten ein Lied an. Hell klangen die lieblichen Kinderstimmen:

»Es murmeln die Wellen,
Es säuselt der Wind,
Sie schaukeln im Spiele,
Den Nachen gelind.

Wir gleiten hinunter,
Das Wasser entlang
Und singen am Ruder
Den Morgengesang.«

Man näherte sich der Brücke. Herr von Essenburg zog die Ruder an, wandte sich zu den Kindern und neckte sie mit den Wassernixen, die unter der Brücke wohnen.

»Da ist es gruselig,« setzte er hinzu, »nehmt euch in acht, daß ihr nicht gefangen werdet.«

Er lachte, weil die Mädchen wirklich ängstlich wurden, setzte die Ruder ein und fuhr durch die Brücke.

Plötzlich kreischte Ella Wolf auf.

»Eine Nixe, eine Nixe,« stieß sie hervor.

Erschrocken erhoben sich die vier Mädchen zugleich, der Kahn kam ins Schwanken und kippte dicht hinter der Brücke um.

Ein entsetzlicher Schrei ertönte und pflanzte sich bis an das Ufer, und von dort bis zum Park.

Im Nu blitzte ein Scheinwerfer auf, gingen Kähne zur Hilfe.

Es war eine furchtbare Aufregung, ein wirres Durcheinander. Leute, die von der Brücke zugesehen hatten, sprangen ins Wasser. Man sah schwimmende Männer, die zur Hilfe geeilt waren.

Andere liefen ins Gutshaus, wo die Herrin, nichts ahnend, mit ihren Gästen auf dem Altan saß.

Einen markerschütternden Schrei stieß die Regierungsrätin aus und eilte voll Entsetzen zur Unglücksstätte.

Nur zu schnell erloschen die Scheinwerfer wieder, Fackeln wurden daher gebracht.

Jetzt erschallten Rufe über das Wasser.

»Gerettet! Gerettet!« vernahm man.

Aber wo waren die Geretteten?

Am jenseitigen Ufer lagen vier Kinder, deren Arme auf und nieder, auf und nieder gehoben wurden.

Das Fräulein, die ehemalige Schwester, leitete mit verzweifeltem Eifer die Belebungsversuche.

Ein banges Warten. Dann hörte man: Gott sei Dank – das erste, – das zweite – das dritte Kind begann zu atmen. Nur noch das vierte.

Von Ufer zu Ufer rief man es.

Decken und warme Hüllen kamen angefahren, Aether wurde zur Belebung gebracht. Drei der Kinder ruderte man bereits zurück. Stumm und still wurden sie ins Gutshaus getragen.

Die bunten Lämpchen warfen fahlen Schein auf die noch leblosen Gesichter.

Ein ängstliches Flüstern ging durch die Reihen.

Irene schlugen die Zähne aufeinander: »Wo ist – wo ist – die vierte. –«

»Noch nicht erwacht!« leise, furchtsam sagte es jemand ... eine sinnverwirrende Angst schnürte allen die Kehle zu.

Wieder ruderte ein Kahn heran. Bleich und gebrochen saß Herr von Essenburg darin – er brachte eine kleine Leiche.

Ein Schreien und Weinen durchfüllte die Luft, als man das ertrunkene Kind durch die Reihen trug.

Wer war es? Irene wagte nicht zu fragen.

Da stürzte, als habe sie geahnt, daß nicht alle gerettet, die Regierungsrätin durch die Reihen.

»Wer, wer ist ertrunken? Sagt es mir, ich muß das Kind sehen.«

»Mimmi Haug,« antwortete leise der Pfarrer.

»Das – das – das kann ich der Mutter nicht sagen, das überlebe ich nicht,« schrie die unglückliche Frau und brach zusammen.

Eine Nacht der Verzweiflung folgte. Niemand dachte daran, sein Lager aufzusuchen. Irene Rittner, welche sich selbst kaum auf den Füßen halten konnte, wachte am Lager ihrer Mutter. Freunde und Angestellte der Familie blieben im Nebenzimmer.

An den Betten der wieder zum Leben erwachten Mädchen saßen das Fräulein und die Pflegeschwestern aus dem Dorfe.

In ihren Betten schluchzten die anderen Schülerinnen um die arme Mimmi Haug.

Im Wohnzimmer berieten einige Herren mit dem Pfarrer, wie die Nachricht der unglücklichen Mutter beizubringen wäre.


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