Johanna Schopenhauer
Reise durch England und Schottland
Johanna Schopenhauer

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ÖFFENTLICHE VERGNÜGUNGEN

Theater

Nicht allein an der Sprache erkennt man die verschiedenen Nationen, welche Europa bewohnen, auch am Gange, am Tone, an der Gebärde. Jede derselben unterscheidet sich von der anderen durch schwer zu bezeichnende, aber deshalb nicht weniger sichtbare und untrügliche Kennzeichen.

Auch auf die bildende Kunst hat dieser angeborenen und angeeignete Unterschied der Nationen großen Einfluß. Kein Niederländer malt wie ein Italiener, kein Franzose wie beide; alle müssen ihrer Nationalität treu bleiben. Die Gestalten, die Gebärden, der Himmel, die Beleuchtung, die wir von Jugend auf sehen, prägen sich uns mit unauslöschlichen Zügen ein. Wir können nur wiedergeben, was wir in uns tragen, und der Unterschied der Schulen liegt mehr an dem Himmel, unter dem sie entstanden, als an den Meistern, die man für ihre Stifter erkennt.

Bei der theatralischen Kunst blickt diese Nationalität noch deutlicher hervor, und wäre es möglich, einem Schauspiel zuzusehen, ohne daß man ein Wort davon hörte, so müßte doch der kundige Beobachter gleich entscheiden können, ob er ein englisches, französisches oder deutsches Theater vor sich sähe. Alle drei können in ihrer Art vortrefflich sein und werden dennoch dem Fremden mißfallen. Denn dieser, mit der Individualität der Nationen noch nicht bekannt genug, will nach seinem eigenen, von hause mitgebrachten Maßstabe messen. Nur nach und nach wird er entdecken, daß das, was ihm zuerst widerwärtig, unnatürlich, übertrieben erschien, dennoch treu, wahr und bewundernswürdig ist.

Betrachtet man eine theatralische Vorstellung als ein vollendetes, abgerundetes Ganze, so haben wir Deutschen vor den anderen Nationen keinen Vorzug, so viel vortreffliche einzelne Künstler wir auch aufzuweisen haben. Das Weimarische Hoftheater, begünstigt durch ein Zusammentreffen vieler seltener, außerordentlicher Umstände, war vielleicht das einzige in Deutschland, auf welchem man noch zuweilen einzelne Darstellungen einiger Meisterwerke der vorzüglichsten Dichter erblickte, da sich, durch das Zusammenpassen jedes Teils zum Ganzen, der Vollkommenheit näherten.

Daß der deutsche Schauspieler allen alles sein muß, ist ein Unglück; dadurch wird er verhindert, sein Talent auszubilden für das seiner Persönlichkeit am besten zusagende Fach. In Paris und London ist das anders. Jeder widmet sich den Rollen, zu welchen seine Individualität ihn ruft. Mit dem Alter nimmt man es dort weit weniger genau als bei uns. Gerechter als wir, bedenkt man: wieviel dazu gehört, eine hohe Stufe in irgend einer Kunst zu erringen. Kein vollendeter Künstler ward geboren. Jahre voll Anstrengung und Studium gehören dazu, um das große Talent auszubilden; oft ist die Jugend entflohen, wenn jenes erst in vollem Glanze strahlt. In Frankreich und England erkennt man dies und läßt sich lieber willig durch Schminke, Kleidung, Beleuchtung täuschen, als daß man den höchsten Genuß, den die Kunst gewähren kann, verschmähte, weil der Künstler einige Jahre zuviel zählt.

Der vorzügliche deutsche Schauspieler ist in Gebärde, Ton, Deklamation und Stellung bei weitem der gemäßigste, weil Maßhalten und Ernst in der Natur des Deutschen liegen. Wir erscheinen unseren Nachbarn kalt, aus demselben Grunde, aus welchem sie uns übertrieben erscheinen. Ebenso wird der westfälische Bauer gewiß glauben, der Provenzale oder Gascogner wolle ihn totschlagen, wenn jener ihm bloß nach seiner Landessitte einen guten Morgen bietet.

Nennt man ein nach festgesetzten Regeln genau gebildetes Ganzes ein vollendetes Kunstwerk, so hat die französische Tragödie vor allen anderen den Vorzug. Streng abgemessen sind Zeit und Ort. Jeder Vers, jedes Wort findet im Parterre Richter, die keinen Verstoß gegen einmal festgesetzte Regeln hingehen lassen. Gesetze des sogenannten Wohlstandes, wie keine andere Nation sie kennt, binden den Dichter wie den Schauspieler. Beide dürfen sich nur in scharf gezogenen Schranken bewegen. Das auf diese Weise mühevoll hervorgebrachte Kunstwerk blendet, setzt in Erstaunen, erregt Bewunderung; aber wir bleiben ohne Teilnahme dabei, und ein Frösteln, das wir ungern Langeweile nennen möchten, bemächtigt sich unser. Die Stellungen der berühmtesten Schauspieler, schön und kunstreich, wie sie sind, erinnern doch immer an jene akademischen Figuren, die wir auch auf den französischen Gemälden finden, und von denen es auch ihren besten Meistern nicht gelingt, sich ganz zu befreien. Der Geist der Tragödie ist nicht der Geist der Nation, die von jeher alles leicht nahm, was das Schicksal auch immer über Sterbliche verhängen mag. Die Sprache selbst, ihr Mangel an Tonfall, widerstrebt der höheren Poesie, widerstrebt jeder Deklamation. Alles wird bloß durch Kunst hervorgebracht, es ist, als hörte man einen auf das kunstreichste gebildeten Sänger, dem aber die Natur eine sonore Stimme versagte. In der höheren Komödie hingegen steht der Franzose auf der ersten Stufe. Da ist Geist, Leben, Witz, Laune und der fein gebildete Konversationston zu treffen, welcher ihn auch im gemeinen Leben vor allen Nationen auszeichnet.

Das englische Theater steht auf dem ganz entgegengesetzten Punkte. Keine Regel beschränkt den Dichter, keine den Schauspieler. Ungebunden überlassen beide sich ihrem Genius. Alles steht dem Dichter zu Gebot, Verse und Prosa, ewiger Wechsel der Szene, Ausdehnung der Zeit ins Unendliche, alle möglichen Motive. Wie schwer es sei, von dieser unbeschränkten Gewalt den rechten Gebrauch zu machen, lehrt der Mangel an guten neuen Tragödien; nur Shakespeares Riesengeist konnte sie zum Rechten anwenden; noch immer steht er allein da, das Volk verehrt ihn als seinen einzigen Dichter und drängt sich unermüdet zu seinen Meisterwerken.

Die englische Komödie gibt ein treues, oft etwas überladenes Bild des häuslichen und geselligen Lebens, der Fehler, der Tugenden, der Lächerlichkeiten, die man in den verschiedenen Ständen trifft. Die Eigenheiten der verschiedenen Provinzen, der Schotten und Iren, besonders ihrer Dialekte, erhöhen das Komische derselben und werden mit vieler Treue dargestellt.

Charakter-Komödien, wie die Franzosen deren meisterhafte besitzen, in denen sich alles um eine Rolle dreht, die dadurch bis ins kleinste Detail herausgehoben wird, kennt der Engländer nicht. Dafür wimmeln alle Stücke von Personen, die uns als Karikaturen erscheinen, die es aber bei diesem originellen Volke nicht sind. Nur die stärksten Züge ein wenig verflacht und gemildert, und man trifft überall im geselligen Leben die Urbilder dazu an.

Selbst bei den besseren der gezeichneten Karikaturen, an denen wir uns auch zuweilen in Deutschland ergötzen, ist dieses schon der Fall; Ähnlichkeit liegt immer zugrunde, und bei weitem nicht so mit fremden Zügen überladen, als man im Auslande wohl glaubt.

So streng man sonst in England in allen Zirkeln, die aus Männern und Frauen gemischt sind, auf Dezenz hält, so nachsichtig ist man in dieser Hinsicht auf dem Theater. Frauen, die im geselligen Leben jedes nur von fern ihr Zartgefühl beleidigende Wort empört, sehen Szenen an, von denen jede Französin sich zürnend wegwenden würde und die gewiß das Pariser Publikum mit dem entschiedensten Unwillen aufnähme.

Der englische Tragiker spielt natürlicher als der französische, feuriger als der deutsche. Zu treu kopiert er die Natur und überschreitet oft die Grenze des Schönen. Der wütendste Ausdruck des Leidens, selbst der laute Schrei körperlichen Schmerzes, alle Verzerrungen des Wahnsinns, konvulsivisches Zucken des Sterbenden, nichts wird dem Publikum erlassen, welches in diesem allem die höchste Kunst zu sehen glaubt und mit gesträubtem Haare dann am lautesten in Beifallsbezeugungen ausbricht, wenn es vor Schrecken schaudert.

Die Größte des Schauspielhauses zwingt die Schauspieler, überlaut zu sprechen, denn der im entferntesten Winkel sitzende Matrose will für seine Sixpence so gut alles hören und vernehmen als die vornehmste Lady in der ersten Loge. Deutliche Aussprache ist demnach die erste Forderung, welche das englische Publikum an den Schauspieler macht. Dieser muß daher mit der äußersten Anstrengung jedes Wort, jede Silbe abstoßend betonen. Bei den mittelmäßigen Künstlern bringt dies eine sehr unangenehme, oft lächerliche Wirkung hervor; nur die besten von ihnen wissen mit unglaublicher Mühe diese Schwierigkeit zu bekämpfen.

Aber auch die besseren Schauspieler heben gewissen Tiraden hervor, welche auf Patriotismus, Freiheit und Nationalität Bezug haben, und von denen sie voraus wissen, daß das Publikum sie jedes Mal beklatscht. Diese Stellen werden ganz an dasselbe gerichtet, und die Mitspielenden während einer solchen Hauptaktion gar nicht beachtet; ihre Zeit tritt später wieder ein. Periodenweise deklamiert der Schauspieler seine Rede ab. Zwischen jedem Satze wird eine hinlängliche Pause für den Beifall gelassen, dann weitergesprochen, dann wieder geschwiegen, so daß das Ganze sich wie ein Melodram ausnimmt, zu welchem das Publikum das Akkompagnement liefert.

Die englische Deklamation hat ohnehin einen eigenen singenden Ton, ohne große Modulation, etwas dem Fremden affektiert scheinendes Pathetisches, das sich nicht beschreiben läßt; bei etwas Aufmerksamkeit aber findet man ihn im gemeinen Leben wieder, bei jedem durch Leidenschaft gehobenen Gespräch. Es ist die der englischen Sprache eigene Melodie; jede Sprache hat die ihrige.

Im Komischen, besonders im Possenspiel, übertreffen die Engländer vielleicht alle anderen Nationen. Schon der bekannte, angeborene Ernst dieses Volkes macht seine seltene Lustigkeit umso ergötzlicher. Die Späße sind nicht immer die feinsten, oft ein wenig breit und plump, aber sie reizen unwiderstehlich zum Lachen; einige Schauspieler, zum Beispiel MundenJoseph, beliebter Komiker, von der zeitgenössischen Kritik jedoch als Grimassenschneider einschränkend beurteilt., brauchen nur sich zu zeigen, und das Haus erbebt bis in seinen tiefsten Grund von der rauschendsten, lautesten Freude. Viel will dies sagen bei einer Nation, welche das Lachen für unanständig hält und dem Gebildeten höchstens nur ein Lächeln erlaubt. Hier siegt die Natur, unterstützt von der Kunst, und Regel und Zwang sind vergessen.

Opern werden selten gegeben, ein englisches Rezitativ ist undenkbar, und der Engländer findet die Abwechslung von Rede und Gesang unnatürlich. Das Volk liebt überhaupt die Musik wenig. Doch spielt man zuweilen als Nachspiel irgend eine kleine Oper, und es fehlt nicht an guten Sängern und Sängerinnen, um sie für ein englisches Ohr ganz angenehm aufzuführen.

Das englische Publikum im Theater

Dies verdient ein eigenes Kapitel, denn es ist einzig in der Welt. Wie es despotisch über die bretterne Welt herrscht, davon hat man in ganz Europa keinen Begriff, auch in Frankreich nicht, wo man doch noch weit von der Langmut der Deutschen entfernt ist.

Oft, wir gestehen es, wenn wir sahen, wieviel sich das deutsche Publikum von seinen Lieblingen gefallen läßt, wünschten wir diese nur auf wenige Monate auf die englische Bühne, damit sie erkennen lernten, wie wohl es ihnen zu Hause geht.

Im Ganzen läßt sich das Verfahren dieser Insulaner durchaus nicht rechtfertigen. Jedes zu leise gesprochene Wort, jede Vernachlässigung, jedes Stocken wird unbarmherzig geahndet; nur gegen Debütierende zeigt man große Nachsicht und muntert sie auf alle Weise auf. Daher kam es aber auch, daß wir nie einen Londoner Schauspieler sahen, der seine Rolle nicht gelernt hätte. Der Souffleur mit seinem alle Illusion vernichtenden Kasten ist gänzlich von der Bühne verbannt; nur ganz dem Publikum verborgen, stehen auf beiden Seiten in den Kulissen Einhelfer, die emsig für sich nachlesen und dem Schauspieler notdürftig zu Hilfe kommen, wenn diesen einmal sein Gedächtnis verläßt.

Wie überall, so hat auch hier der auf den höchsten Spitzen befindliche Teil des Publikums die lauteste Stimme; jedes Liedchen, jede Arie, welche diesen Erhabenen gefällt, muß zweimal, oft dreimal gesungen werden. Und ihnen gefällt vieles. Selbst die stolze Billington mußte in unserem Beisein sich gefallen lassen, eine Bravour-Arie und ein Duett zweimal zu singen. Entsteht eine Unruhe, ein Streit im Parterre oder auf der Galerie, wird jemand krank und muß weggebracht werden, gleich erschallt von oben herab der Befehl an die Schauspieler, inne zu halten, bis die Ruhe wieder hergestellt oder der Unruhestifter hinausgeworfen ist. Bisweilen wird der Lärm so arg, daß die Schauspieler das Theater verlassen müssen, bei der Wiederkehr werden sie mit Händeklatschen empfangen, und genau, wo sie aufhörten, fangen sie wieder an.

Wie es bei allem diesem um die Illusion stehe, darum kümmert sich niemand; die Hauptsache ist, daß jeder für sein Geld alles sehe und höre, was es zu sehen und zu hören gibt.

Zuweilen werden die Zuschauer Schauspieler. Ein Matrose kam, wie wir eben im Theater waren, einst auf den Einfall, in einem Zwischenakt ein Liedchen zu singen. Gleich wurde von oben herab Stillschweigen geboten, und alles gehorchte. Der Matrose sang für das, was er war, gut genug und mit einer ganz erträglichen Stimme, dabei ganz furchtlos, obgleich sein Auditorium zum Teil aus den Vornehmsten des Reichs bestand. Er fand vielen Beifall und sollte noch einmal singen. Jetzt wollte er es aber zu schön machen, überstieg sich über seine Kräfte und warf mitten in einer Roulade förmlich um. Ein allgemeines Gelächter endigte für diesmal die Szene.

Einrichtungen der beiden großen Londoner Theater in Hinsicht auf die Zuschauer

Um halb sieben Uhr soll jede Vorstellung anfangen, doch wird es fast immer sieben Uhr, und auch diese Stunden ist noch zu früh für ein Publikum, das im Durchschnitt erst gegen sechs Uhr und oft weit später noch zu Mittag speist. Die Vorstellungen dauern so lange, daß jede nicht englische Geduld ermüden muß. Selten kommt man vor Mitternacht nach Hause. Kurz und gut ist nun einmal nicht das Symbol der Engländer: überall lieben sie lange Sitzungen, im Parlament, an der Tafel und auch im Theater.

Jeden Abend müssen zwei Stücke gegeben werden, eines von fünf Akten und ein Nachspiel, welches auch oft zwei bis drei Aufzüge hat. Gewöhnlich spielt man zuletzt irgend eine Posse, selten eine kleine Oper, oft irgend ein den neuen englischen Romanen nachgeformtes Unding voll Nacht und Graus. Ob übrigens das Nachspiel zum ersten Stück passend gewählt ist, ob es nicht mit den durch jenes erregten Empfindungen auf das schreiendste kontrastiert - dies kümmert niemanden; genug, der Zuschauer bekommt volles Maß für sein Geld.

Beide großen Theater von Drury Lane und Covent Garden sind vom Monat September bis Ende Junius geöffnet, dann werden sie geschlossen und das kleinere Sommer-Theater zu Haymarket kommt an die Reihe. Im Monat Mai und Junius werden die meisten Benefiz-Vorstellungen für die älteren und besseren Schauspieler gegeben; sie gehören mit zu deren Gehalt. Dann währen diese Vorstellungen oft bis nach ein Uhr; denn um das Publikum vollkommen gut zu bewirten, schiebt man noch allerhand Sächelchen in die Zwischenakte ein, bald ein Liedchen, bald einen Tanz. Diese gefallen gewöhnlich den hohen Zuschauern, müssen zwei- bis dreimal wiederholt werden und kosten viel Zeit.

Die Logen sind sehr geräumig und so gebaut, daß man aus allen gleich gut sehen kann. Sie enthalten sämtlich mehrere Reihen Bänke, die sich übereinander erheben; so ist's auch im Parterre, welches sich, ohne Parkett oder Parterre noble, vom Orchester bis ans Ende des Hauses erstreckt.

In allen Reihen Logen werden die Plätze gleich zu sechs Schilling bezahlt, das Parterre kostet etwas über die Hälfte. Über die Logen erheben sich noch zwei Galerien, zu zwei und einem Schilling die Person, und hoch über der letzten Galerie ganz im Hintergrunde thronen, wie unsichtbar, die respektablen Personen, die, wir wir eben erzählten, gewöhnlich den Ton angeben. Niedrige Abteilungen trennen jede Loge von ihren nächsten Nachbarn. Hell wie Tageslicht erleuchtet, angefüllt mit Zuschauern, gewähren sie einen bezaubernden Anblick. Die Etikette will, daß alle Damen im vollen Putz das Theater besuchen, wenn sie auf die vordersten Sitze in den Logen Anspruch machen, besonders in denen des ersten und zweiten Ranges. Keine Dame wird mit einem tiefen Hut hineingelassen, ein kleiner, mit Federn oder Blumen gezierter Putzhut ist erlaubt. Im Parterre dagegen erscheint man in gewöhnlicher Kleidung mit großen Hüten, die aber ohne Widerrede abgenommen werden müssen, wenn es verlangt wird. Frauenzimmer des Mittelstandes und Herren jedes Standes besuchen das Parterre. Es ist ein ganz anständiger Platz, nur muß man früh, oft vor Öffnung des Hauses kommen, um eine gute Stelle zu finden; denn kein Vorherbestellen findet dort statt.

In die beiden ersten Logenreihen wird zu Anfang keine Dame hineingelassen, die nicht zuvor ihren Namen ins Logenbuch hat aufschreiben und dadurch ihren Platz bestellen lassen. Dies geschieht, um die öffentlichen Stadtnymphen von diesen Logen zu entfernen, welche für die ersten und unbescholtensten Familien des Reichs bestimmt sind. Jenen Damen sind eigene Sitze im Hintergrund des Schauspielhauses angewiesen.

Mit dem Einschreiben des Namens gewinnt man das Recht, mehrere Plätze, in welcher Reihe Bänke man will, bis zu Ende des ersten Aufzuges für sich aufbewahren zu lassen. Man kann seinen eigenen Bedienten hinschicken, oder, was gewöhnlicher ist, einen Shilling bezahlen. Für diesen Preis wird jemand von dem Logenwärter hineingestellt. Bis Ende des ersten Aktes werden diese leeren Plätze freigelassen, später hat jeder das Recht, sich ihrer zu bemächtigten. Niemand darf für mehr Plätze bezahlen, als er braucht, und täte man es, mietete man auch eine ganze Loge, es würde nichts helfen. Der Engländer behauptet: niemand dürfe durch sein Geld einen anderen, der auch bezahlt, vom Genusse eines öffentlichen Vergnügens ausschließen, wenn es der Raum erlaubt. Deshalb findet auch in den englischen Theatern kein Abonnement statt. Selbst die königliche Familie muß ihre Loge vorher bestellen, die sich übrigens durch nichts von den übrigen unterscheidet und ohne Unterschied wie die übrigen besetzt wird, wenn niemand vom königlichen Hause da ist.

Nach dem dritten Akt wird jedermann für den halben Preis hineingelassen; dieser Gebrauch ist sehr unangenehm für den besseren Teil der Gesellschaft. Mit großem Geräusche schwärmen dann jene Nachtvögel, die man so gern aus diesem Kreise abhielte, herbei, und alle Vorkehrungen dienten nur, sie von den ersten Reihen der Sitze in den Logen zu vertreiben. Die schlechteste Gesellschaft, freilich vorschriftsmäßig gekleidet, verbreitet sich dann durch's ganze Haus; deshalb gehen auch Damen nie ohne männliche Begleitung ins Theater, und kein Mann tritt einem hinter ihm sitzenden, ihm unbekannten Frauenzimmer seinen Platz ab, aus Furcht, die neben ihm Sitzenden in eine unpassende Nachbarschaft zu bringen. Dies ist einer von den Fällen, in welchen ein Fremder, der diese Sitte nicht kennt, aus großer Höflichkeit unhöflich werden könnte.

Drury Lane

Das Haus, das Johanna besuchte, stammte aus dem Jahre 1794 und brannte 1809 wieder ab. Die Gründung des Drury Lane Theaters geht auf Thomas Killigrew zurück, der mit königlichem Patent 1662 hier ein Theater gebaut hatte, das aber ebenfalls mehrmals restauriert und umgebaut wurde. Das Patent besagte, daß nur Drury Lane und Covent Garden das Recht hatten, reine Schauspiele aufzuführen; daher durch Jahrhunderte die Stellung dieser beiden Bühnen. Seit 1802 hatte mit dem Abgang der Geschwister Kemble, Robert Kemble und Sarah Siddons, Drury Lane die Führung gegenüber Covent Garden verloren, und sein besonders skrupelloser Direktor Sheridan wirtschaftete das Haus auch finanziell ab. 1812 wurde ein neues Haus eröffnet, das in wenig veränderter Form bis heute besteht. Dieses Theater ist von innen eines der größten und schönsten in der Welt; die Außenseite desselben sahen wir nicht vollendet. In einem schwerfälligen Stil erbaut, wie fast alle öffentlichen Gebäude Londons, scheint es trotz seiner Größe von einem ungewöhnlich hohen Dache fast erdrückt zu werden. Dies Dach ist indessen für das Ganze von unschätzbarem Nutzen, nicht allein wegen der Flugwerke und übrigen Maschinen, die darin angebracht sind, sondern weil es einen eisernen Vorhang enthält, der im Fall, daß während der Vorstellung Feuer auf dem Theater auskäme, sogleich herabgelassen wird und den Teil des Hauses, welchen die Zuschauer erfüllen, vor aller Gefahr sichert.

Von innen ist das Haus hell gemalt, geschmackvoll dekoriert; es enthält vier Reihen Logen, ohne die Galerien. Wenigstens fünfzig glänzende kristallene Kronleuchter und noch viel mehr Spiegelwandleuchter sind ringsum in zierlicher Ordnung angebracht, mehrere Hundert von Wachslichtern brennen darauf, und doch schwindet ihr Glanz gegen den des Theaters, sowie der Vorhang aufgeht. Erleuchtet durch eine Unzahl von Lampen strahlt dieses wie im hellsten Sonnenscheine.

Die Dekorationen sind des Ganzen würdig; der hintere Vorhang derselben ist eigentlich kein Vorhang, er wird nicht aufgerollt, sondern zerlegt sich in mehrere Teile, je nachdem der Gegenstand ist, den er vorstellt; diese einzelnen Teile trennen sich wieder in kleinere, schieben sich ineinander und werden so in die Höhe gezogen. So steigen sie auch herab und entwickeln sich mit Zauberschnelle, keine Spalte deutet ihre Zusammensetzung an. Diese Einrichtung hat den Vorteil, daß die Dekorationen durch das Aufrollen nicht beschädigt werden, daß sie keine Falten und Streifen zeigen und nie so in Bewegung kommen wie unsere Vorhänge, die uns oft in den friedlichsten Szenen ein Erdbeben vergegenwärtigen.

Die glänzendsten Sterne des theatralischen Himmels hatten sich, wie wir in London waren, in Covent Garden vereint; doch blieb Drury Lane, besonders im komischen Fach, noch reich genug, um durch sehr ausgezeichnete Vorstellungen zu erfreuen. Vor allem glänzte Mme. JordanWilhelm, Herzog von Clarence, König Wilhelm IV. von 1830-37, hatte Dorothy Jordan 1785 im Drury Lane zum ersten Mal auf der Bühne gesehen und sich in die junge Frau verliebt. Sie lebten 20 Jahre miteinander, hatten 10 Kinder; 5 andere, die aus einer Beziehung vor Wilhelm bestanden, hatten sie in der Nachbarschaft untergebracht. Zwischen ihren Geburten trat sie weiter auf. Ein Jahr nach Johannas Aufenthalt kam es dann zum Bruch, da Wilhelm sich mit Heiratsabsichten trug, Dorothy ging ins Ausland und starb in Frankreich in bitterster Not. hervor, die Geliebte, oder, wie einige behaupteten, die heimlich angetraute Gemahlin des damaligen Herzogs von Clarence, des jetzigen Königs, der auch vor der Welt sie auf alle Weise ehrte und sie immer in seiner Equipage mit seiner Livree ins Theater fahren ließ. Beim Anblick dieser wunderbar reizenden Frau mußte man ganz vergessen, daß sie schon ziemlich weit über die erste Blüte der Jugend hinaus und für jugendliche Rollen etwas zu stark geworden war. Der fröhlich schalkhafte Ausdruck ihres sehr hübschen Gesichts, ihr angenehmes sonores Organ, die naive Grazie und Wahrheit in jeder ihrer Bewegungen bezauberten unwiderstehlich und ließen nichts vermissen.

Wir wollen hier einer Vorstellung in Drury Lane gedenken, die uns vor allen gefiel. Man spielte Shakespeares »Much Ado about Nothing« (Viel Lärm um nichts). In Deutschland sehen wir zuweilen eine Verkrüppelung dieses herrlichen Lustspiels unter dem Namen: »Die Quälgeister«von dem Mannheimer Schauspieler Beck. Johanna besuchte diese Vorstellung bei ihrem ersten London-Aufenthalt, am 30. Mai, wenige Tage nach ihrer Ankunft in England., und es unterhält auch da noch, soviel Mühe sich dessen Verfasser gegeben hat, es zur Mittelmäßigkeit herabzuziehen, so unbeholfen sich auch Shakespeare in der engen Uniform eines modernen Leutnants oder Hauptmanns bewegt. Welch ein ganz anderer Genuß aber ist es, dieses Stück mit wenigen Weglassungen, die unsere Sitten durchaus notwendig machen, in seinem ursprünglichen Glanze zu sehen! Madame Jordan als Beatrice und Mr. BannisterJohn; »den besten niederen Komiker auf der Bühne« nannte ihn Leigh Hunt in seinen »Critical Essays«, 1807. als Benedickt waren ganz an ihrem Orte. Die Szenen zwischen beiden, wo ein Witz den anderen wie ein Wort das andere jagt, muß man von beiden gesehen haben, um zu glauben, daß etwas auswendig Gelerntes mit dieser Wahrheit wiedergegeben werden kann. Die langsam pathetische Abstoßung der Worte, deren wir oben gedachten, war hier wie bei allen guten englischen Komikern ganz verschwunden; alles ging Schlag auf Schlag, dennoch verlor kein Zuhörer in dem ungeheuren Hause nur eine Silbe. Freilich, sowie die Verse und mit ihnen der Ernst wieder eintreten, erscheint auch wieder der feierliche Predigerton. Über alles ergötzlich waren der Richter Dogberry und seine Gesellen mit ihrem breiten Bauerndialekte. Das ganze große Haus bebte vom unaufhaltsamen Gelächter der Zuschauer; sowie sie erschienen, mußten sie oft innehalten, um nur gehört zu werden.

Mme. Bland, eine kurze, dicke, ältliche Favoritin des Publikums, die für eine vortreffliche Sängerin galt, weil sie gewaltig schrie und dabei deutlich aussprach, sang in einem Zwischenakt eine englische Liebesromanze, »Poor crazy Jane« (die arme wahnsinnige Hanna). Es sind die einfachen Klagen eines von seinem Geliebten betrogenen und darüber wahnsinnig gewordenen Mädchens. Die Musik war nicht sonderlich; doch mußte sie unter lautem Beifall zweimal wiederholt werden. Hierzulande gilt der Text mehr als die Musik, und solche Schilderungen des höchsten menschlichen Elends sind einmal die größte Freude der Engländer. Mit ihrem Gefühl geht es ihnen wie mit dem Cayennepfeffer: nur das möglichst Starke vermag bei ihnen Herz und Magen zu reizen.

Den Beschluß machte für diesen Abend, oder wie man hierzulande passender sagt, für diese Nacht, eine große, meistenteils von Italienern aufgeführte Pantomime; ein Schauspiel, das wir in dieser Vollkommenheit noch nirgends sahen. Ein Zauberer saß auf seinem Throne, umgeben von dienenden Geistern aller Art. Im Hintergrunde, hinter einem eisernen Gitter, erblickte man den alten Pantalon, Harlekin, Colombine und den treuen Diener Pierrot, alle in Todesschlummer versunken, in Särgen liegen. Der Zauberer mußte notwendig verreisen, und alles kam darauf an, daß jemand einstweilen an seiner Stelle auf dem Throne säße und das Szepter aufrecht hielte, ohne einzuschlafen. Ein kleiner, neckischer Kobold, unübertrefflich von einem Signor Grimaldider Clown Grimaldi gehörte seit seiner Kindheit dem Haus an und war ein über alle Maßen beliebter, aber auch von der Kritik gerühmter Pantomime. gespielt, wird zu diesem Ehrenamt erlesen und weiß sich nicht wenig damit. Der Zauberer ermahnt ihn auf's Dringendste, ja nicht einzuschlafen, und fährt ab in seinem Drachenwagen. Eine Weile geht es vortrefflich; der kleine närrische Kobold ist außer sich vor Freuden auf dem weiten prächtigen Thron. Nun aber meldet sich der Schlaf, umsonst widersteht er aus allen Kräften, umsonst nimmt er aus einer ungeheuren Dose eine so starke Prise, daß er dreimal niesen muß, bei jedem Niesen wenigstens drei Ellen hoch vom Sitze in die Höhe geschnellt wird, in der Luft sich ein paar mal überschlägt und immer wieder auf den Sitz zurückplumpt. Die Natur siegt, er schläft ein, das Zepter entsinkt einen Moment seiner Hand, der Zauber ist zerstört, und der bunteste Wirrwarr hebt an. Die Schlafenden erstehen hoch erfreut aus ihren Särgen, alles verschwindet. Harlekin und die Seinen sind nun auf ewiger Flucht, überall, in tausend Abwechslungen, lassen sie sich häuslich nieder und fangen an, ihr lustiges Wesen zu treiben, überall verfolgt sie der Kobold. Ewiger Szenenwechsel, Dekorationen, so prächtig man sie nur erdenken kann, Verwandlungen, bei denen man verleitet wird, an Hexerei zu glauben, folgen in der schnellsten Mannigfaltigkeit, daß das Auge kaum Zeit hat, alles zu bemerken. Die Mimiker waren alle vortrefflich, wie die Dekorationen; ein echter komischer Zug jagte den andern. Das Haus erscholl vom unaufhaltsamsten Gelächter; alles lachte, alles war erfreut, aber gewiß niemand imstande, zu Hause zu erzählen, was er gesehen hatte. Gegen ein Uhr endigte das Schauspiel.

Covent Garden

Das Haus, das Johanna besuchte, war 1792 durch den Architekten Henry Holland wesentlich vergrößert worden (3600 Plätze statt vorher 2000). Hauptattraktion war ein eiserner Vorhang, der aber dennoch nicht verhindern konnte, daß das Haus 1806 einer Brandkatastrophe zum Opfer fiel; Neubau 1809. Nach einem neuerlichen Brand erstand es 1858 in seiner modernen Gestalt unter dem Namen Covent Garden Opera House. Das Haus, nicht völlig so groß als das von Drury Lane, aber nicht weniger elegant dekoriert, erscheint fast noch blendender, noch prächtiger als jenes, denn viele große und kleinere angebrachte Spiegel vervielfältigen die Menge der strahlenden Wachskerzen ins Unendliche.

Hier auf diesen Brettern sah man oft in einer einzigen Vorstellung die berühmtesten Künstler vereint. Zuerst nennen wir Mme. Siddons, die, seit wir sie sahen, das Theater verlassen hatte.Sarah (1755-1830), geniale Tragödin. Garrick holte sie 1775 zum ersten Mal ans Drury Lane, doch konnte sie sich nicht durchsetzen und kam 1782, nun schon berühmt, ein zweites Mal an diese Bühne. Ihre Glanzrolle, die Lady Macbeth, hat sie allein in London 139 Mal gespielt. Gerde in der Spielzeit 1804/05 verlor sie etwas das Publikumsinteresse, da sich dieses dem dreizehnjährigen Wunderknaben Master Betty zuwandte, der Hamlet und Richard III. spielte. 1802-12 spielte sie im Covent Garden, zog sich dann vom Theater zurück, trat aber noch mehrmals auf. Sie war eine hohe königliche Gestalt. Als ob Melpomene, wie alte Meister sie uns darstellen, das Piedestal verlassen hätte, um unter den Lebenden zu wandeln, so trat sie einher, groß, schön, im einfachen Ebenmaß. Ihr ganzes Wesen war zur Tragödie geschaffen, der Ausdruck, die Form ihres schönen Gesichts paßte nur für das Trauerspiel, unmöglich konnte man sie sich fröhlich oder gar lachend denken. Unbeschreiblich melodisch war ihre Stimme, sanft und durchdringend zugleich, sie hatte unnachahmlich klagende Töne in ihrer Brust. Schon lange war sie nicht mehr jung, aber die Zeit konnte ihr wenig rauben; bei diesen edlen regelmäßig schönen Zügen vermißte niemand den Glanz der Jugend; sie war ziemlich stark; aber auch dies machte keinen Übelstand bei ihrer hohen Gestalt. Sie wäre ein Ideal gewesen, über das hinaus man sich nichts denken konnte, hätte sie sich nicht zuweilen von der Lust, dem Publikum zu gefallen, hinreißen lassen, ihr großes Talent zu mißbrauchen. So aber überschritt sie oft die Grenzen des Schönen und ward fürchterlich.

Als Isabella zum Beispiel in dem Trauerspiel: »The Fair Penitent« (Die schöne Büssende)von Nicholas Rowe, seit der Uraufführung (1703) vielgespieltes Repertoirestück., wo sie im fünften Akt den Dolch sich ins Herz stößt, verschied sie mit einem lauten, konvulsivischen, herz- und nervenzerreißenden Gelächter, das ziemlich lange anhielt und den Zuschauern die Haare zu Berge sträubte. Aber so etwas will der Engländer, und halb London strömte ins Theater, um Mme. Siddons lachen zu hören, obgleich die Damen Krämpfe und Ohnmachten davontrugen.

Ihr wahrer Triumph aber war wohl die Rolle der Lady Macbeth: denn in dieser hatte sie ein weites offenes Feld für ihr großes Talent. In der Szene des Nachtwandelns machte ihr bloßer Anblick jeden Blutstropfen erstarren.

Ihr Bruder Kemble verdiente ihr Bruder zu sein.John Philipp, Bruder der Sarah Siddons, doch nicht von ihrer genialen Begabung. Seine entscheidende Leistung lag auf dem Gebiete der Regie, in seinem Bestreben, Kostüm und Szenerie sinnvoll in den Gesamteindruck einer Aufführung einzugliedern, worauf man bis dahin wenig Wert legte. Seine Gestalt war noch sehr edel und schön, obgleich auch er die Jugendjahre weit überschritten hatte. Zuweilen schien er vielleicht ein wenig monoton, aber sein Spiel war immer durchdacht und motiviert, und immer erkannte man darin seine Lehrerin.

Der junge Siddons, der noch obendrein seiner Mutter sprechend ähnlich sieht, und seine Frau, die mit Jugend und Schönheit ein großes Talent für sanfte, duldende, liebende Rollen vereint, zeichneten sich ebenfalls aus, teils durch das, was sie schon damals leisteten, teils durch die Hoffnungen, die sie, gebildet in dieser Schule, für die Zukunft gaben. Unmöglich kann man die Rolle der Julia lieblicher dargestellt sehen als von der jüngeren Mme. Siddons.

Ein Meister anderer Art war Cooke. Die Natur versagte ihm eine schöne Gestalt; dafür gab sie ihm eine desto ausdrucksvollere Physiognomie, besonders für die Rollen, die er sich erwählt hatte, Tyrannen, Bösewichte; kalte, kühne, trotzige Charaktere spielte er unübertrefflich. Sein Triumph aber war Richard der Dritte. Nie war diese Rolle vor ihm so dargestellt worden, nie wird sie nach ihm es werden; er machte darin Epoche. Seine Feinde behaupteten sogar, er spiele sie immer, in allen seinen anderen Rollen blicke immer Richard der Dritte hervor. Gestalt, Ton, Blick, Gang, alles war in dieser Rolle Wahrheit an ihm. Wo er unverhüllt boshaft erschien, schauderte man vor seiner kalten Besonnenheit, wo er heuchelte, bestach er selbst die Zuschauer. Wenn er mit kaltem Hohne alles, selbst seine eigene Häßlichkeit bespöttelte, wenn er in wilder Verzweiflung »Ein Pferd! ein Pferd! Mein Königreich für'n Pferd!« rief, wenn er mit heuchlerischer Demut das Herz der Lady Anna am Sarge ihres Gemahls eroberte – immer war er sich gleich, immer groß und wahr.

In Hinsicht der sonst hier gewöhnlichen Pracht vernachlässigt man oft die Shakespearschen Meisterwerke, die schon ihres inneren Werts wegen immer ein gefülltes Haus bringen, und verwendet den Flitter lieber an neueren Darstellungen, die durch nichts anderes glänzen können. Dennoch muß man jene Stücke gerade auf diesem Theater sehen, um der großen Schauspieler willen, welche in den Hauptrollen wahrhaft glänzen.

Die Nebenrollen fallen freilich umso unangenehmer auf. Das langsame, einem Gebelle ähnliche Perorieren der mittelmäßigen Schauspieler wird erst lächerlich, dann unerträglich. Freilich mag es sehr schwer sein, so laut zu sprechen und doch noch Modulation in der Stimme zu behalten.

Leider spielt man fast alle Shakespearschen Stücke, die noch gegeben werden, nach den Umarbeitungen Garricks, der wie viele seinesgleichen in dem Wahne stand, ein großer Schauspieler müsse auch ein guter Dichter sein, und deshalb sich mit dem großen Meister ganz unerlaubte Freiheiten herausnahmDavid Garrick (1717-79), berühmter englischer Schauspieler, Stückeschreiber und Theaterdirektor. Verkörperte eine neue Schauspielkunst, die auf Schlichtheit und Natürlichkeit Wert legte.. In »Romeo und Julia« zum Beispiel erwacht Julia, wie Romeo noch sterbend ist; dies verursacht eine unaushaltbare Szene; die Amme ist ganz gestrichen. »Hamlet« wird dem Originale ziemlich treu gegeben, nur bleibt Fortinbras am Ende weg. Hamlet ist Kembles Hauptrolle, er spielt sie bis in die kleinsten Details, als hätte er »Wilhelm Meister« gelesen.

Was Cooke und Kemble in der Tragödie, das waren Munden, Fawcett, Lewis in der Komödie, vor allem MundenWilliam Lewis, Inbegriff des jungen Gecken. Dumme Bediente, alberne Jungen, wunderliche alte Herren waren sein Hauptfach und Polonius im »Hamlet« sein Triumph. Übrigens übertraf er in Gesichterschneiden und närrischen Stellungen alles, was wir je gesehen haben. Stürmisch geht es in Covent Garden her wie in Drury Lane. Einst, bei einer Benefizvorstellung von »Menschenhaß und Reue«von August Kotzebue. Die erfolgreiche englische Fassung hieß »The Stranger or Misanthropy and Repentance«, welche in den komischen Rollen besonders vortrefflich dargestellt ward, trat im Zwischenakt ein junger Mann mit einem Hornpipe aufdazu führt Johanna in einer Fußnote an: »ein in Matrosenkleidung getanztes Solo, wie man es auch zuweilen auf deutschen Bühnen sieht.«. Sehr unschuldigerweise gefiel er den hohen Gönnern, denn er tanzte herrlich schlecht. Man forderte Wiederholung des Tanzes, aber der junge Herr war so ungefällig, nicht zu erscheinen. Nun entstand ein Lärmen, als sollte das Haus einstürzen wie weiland die Mauern von Jericho vor dem Trompetenschalle. Wer solch einem Aufruhr zum ersten Mal beiwohnt, kann sich in der Tat der Furcht nicht erwehren; es übersteigt allen menschlichen Begriff. Ein Schauspieler stand auf der Bühne und wartete, bis die Schreihälse einmal würden pausieren müssen. Der Moment kam endlich; mit tiefen Bücklingen trat er hervor und erbat sich die Erlaubnis, ein Lied zu singen, dabei versicherte er, der andere Gentleman würde gleich darauf tanzen, er erhole sich nur ein wenig. Jetzt war der Beifall ebenso rauschend als zuvor der Tadel; der Sänger sang ein närrisches Lied von einem Yorkshiremanebenfalls Johanna: »Die Bewohner von Yorkshire sind wegen ihrer schlauen Gewandtheit zum Sprichwort geworden. Man sagt von ihnen: give him a saddle and he will find a horse, d.i. gebt ihm einen Sattel, ein Pferd findet er schon.«; es hatte unendliche Verse, mußte aber dennoch zweimal wiederholt werden. Daß der Sänger sich nicht lange darum bitten ließ, versteht sich von selbst. Sowie das Lied geendigt war, trat der Tänzer wieder auf, man ließ ihn gelassen tanzen und pfiff ihn hinterher aus.

Im folgenden Zwischenakt ahmte ein Schauspieler die bekanntesten Mitglieder beider Theater auf's täuschendste nach; etwas, das doch wohl bei keiner Bühne anderer Nationen geduldet werden würde. Gang, Sprache, Deklamation, alles war zum Verwechseln; mit lautem Beifall rief das Publikum den Namen des jedes Mal dargestellten Schauspielers aus. Sehr interessant war es, dieselbe Stelle einer Tragödie mehrere Mal hintereinander auf ganz verschiedene Weise deklamieren zu hören. Auf alles dieses folgte noch ein Nachspiel, ohne welches das Publikum gewiß nicht ruhig nach Hause gegangen wäre, obgleich schon fast der Tag wieder anbrach.

Den größten Lärm aber erlebten wir in Sheridans Umarbeitung von »Rollas Tod«, im »Pizarro«. Bis jetzt hatte man dieses Stück nur in Drury Lane, aber vielmal hintereinander gegeben, denn Sheridan war bekanntlich Mitdirektor jenes Theaters. Jetzt ward es mit neuen prächtigen Dekorationen auch im Covent Garden angekündigt. Mme. Siddons sollte die Cora, Kemble den Rolla, Cooke den Pizarro spielen. Alle Logen waren längst auf diesen Tag vorbestellt, alles war voll Erwartung.

Die Direktion von Drury Lane konnte den Triumph von Covent Garden unmöglich gleichgültig ansehen, und sie ergriff sonderbare Mittel ihn zu vereiteln. Für's erste kündigte sie dasselbe Stück für den nämlichen Abend an. Der Fall, daß das nämliche Stück an einem Abend in beiden Häusern gegeben werden sollte, war damals nicht vorgekommen, solange die Londoner Theater existierten. Sodann gab sie den Tag vor der Vorstellung ein prächtiges Mittagessen, Herrn Cooke zu Ehren. Daß auf englische Weise dabei viel getrunken ward, daß der Held des Tags mit einem ziemlichen Rausche nach Hause gebracht werden mußte, war in der Regel. Abends darauf, als das Schauspiel anfing, fand sich eine ungeheure Menge Zuschauer ein, die glänzendste Versammlung, die man seit langer Zeit in Covent Garden gesehen hatte. Zu Anfang ging alles vortrefflich, bis Cooke als Pizarro auftrat und – trotz aller Anstrengung – nicht imstande war, auch nur ein lautes Wort hervorzubringen. Er versuchte zwei, drei Mal zu reden, umsonst, er mußte verstummen. Nur zu gut hatten die Schauspieler von Drury Lane die Schwäche ihres ehemaligen Mitgenossen gekannt und berechnet, denn jedes Mal war Cooke den Tag nach einem Rausche durchaus heiser, so daß er unmöglich spielen konnte. Das Übel dauerte nur den einen Tag, deshalb hatte man ihn abends vorher so hoch fetiert. Der Zorn, das Wüten des Publikums überstieg nun alle Grenzen; das vom wildesten Orkan aufgeregte Meer ist nur ein schwaches Bild des unbeschreiblichen Tobens des Parterres und der Galerien. In den Logen blieb man ziemlich ruhig, die Damen zitterten, alle waren leichenblaß, und einige wurden ohnmächtig hinausgebracht. Alle Schauspieler mußten auf dem Theater bleiben. Mme. Siddons, Kemble, der in der indischen Tracht wunderschön aussah, standen ängstlich verlegen dem entsetzlichen Lärm gegenüber, denn sowie sie nur Miene machten, das Theater zu verlassen, drohte man es zu stürmen. Cooke war wie vernichtet im Hintergrunde. So lärmte man eine starke Stunde durch; unbegreiflich blieb es uns, wie es die Lungen nur aushielten. Kemble versuchte endlich Cookes plötzliche Krankheit und ein anderes Stück für den heutigen Abend anzukündigen, kaum ließ man ihn zu Worte kommen. »Pizarro, Pizarro!« riefen tausend Stimmen, »Cooke ist betrunken!« riefen andere und achteten nicht darauf, daß Kemble mit den demütigsten Gebärden das Gegenteil versicherte. Das Toben nahm jeden Augenblick zu, die Schauspieler schienen sich ängstlich untereinander um Rat zu fragen. Nun trat Kemble wieder vor und fragte: ob das Publikum dem jungen Siddons erlauben wolle, den Pizarro mit dem Buch in der Hand zu spielen. Lauter Beifall erfolgte, der Sturm legte sich, Cooke schlich sich von der Bühne fort, und das Stück wurde genau von da an weitergespielt, wo man erst abgebrochen hatte.

Unbegreiflich war uns die Fassung, mit der alle, besonders Mme. Siddons und Kemble, nach einem solchen Auftritt fortspielten; sie übertrafen sich selbst, die Dekorationen waren wunderschön, und auch Pizarro nahm sich trotz des Buchs besser aus als man erwarten konnte. Alles war vergeben und vergessen, nur da Kemble das Stück für den folgenden Tag wieder ankündigte, rief man ihm von allen Seiten zu: »Sagt Cooke, er solle sich nicht wieder betrinken!«

Die italienische Große Oper

das große Theater am Haymarket, bis 1714 The Queen's, nachher The King's Theatre genannt. 1789 abgebrannt, 1791 neu eröffnet (dieses Haus stand in seiner Größe kaum der Mailänder Scala nach), 1867 wieder abgebrannt und 1892 abgerissen, da niemand mehr Geldmittel für dieses kostspielige Theater aufbringen wollte. Von diesem großen Theater, dem Stolz der Nation, wenden wir uns jetzt zur italienischen Oper.

Obgleich die Vornehmsten es beschützten, so ist dieses Theater dennoch dem Volke verhaßt, weil es auf alle Weise dem Nationalgeiste entgegenstrebt. John Bull geht höchstens einmal hin, um sich hernach zeitlebens darüber lustig zu machen. Die fremde Sprache, das ganze ausländische Wesen, vor allem die französischen Tänzer erscheinen ihm wie ebenso viele Entheiligungen des vaterländischen Bodens. Längst wäre die ganze Anstalt zugrunde gegangen, wenn nicht der Großen Eitelkeit, Prachtliebe und Vorliebe für das Ausländische sie erhielte; deutlich sieht man, daß sie hier nicht gedeihen kann und trotz der großen Summen, die darauf verwendet werden, nur kümmerlich vegetiert.

Das Haus, noch größer als Drury Lane, enthält außer dem Parterre fünf Reihen Logen und zwei Galerien. Über und über mit Malereien überladen, schien es, ungeachtet der sehr glänzenden Erleuchtung, dennoch dunkler als die anderen Schauspielhäuser. Die Verzierungen waren ziemlich geschmacklos, überall schwärmen Amoretten zwischen tausend Schnörkeln und Girlanden auf dunklem Grunde; das Ganze erschien bunt, aber nicht heiter.

Dieses Theater ist der glänzendste Vereinigungspunkt des hohen Adels, dem es hauptsächlich seine Erhaltung verdankt; wer sonst auch noch auf feinen Ton, auf Bildung, auf hohen Stil Anspruch macht, der tut wenigstens als besuche er es fleißig und sei jedes Mal entzückt, wenn er auch noch so oft mit geschlossenem Munde während der Vorstellung gähnen mußte. Alle Logen von unten bis oben sind zu Preisen vermietet, für welche man in mancher Stadt des festen Landes ein ganzes Haus nicht allein mieten, sondern sogar kaufen könnte.

Vom Monat Dezember bis Ende Junius sieht man wöchentlich zweimal, dienstags und sonnabends, in diesen Logen die schönsten, berühmtesten, reichsten und vornehmsten Damen des Reichs in ihrem prunkvollsten Schmucke versammelt. Strahlend von Diamanten sitzen sie in langen Reihen und gewähren einen Anblick, der das eigentliche Schauspiel weit übertrifft. Wer nicht abonniert ist, muß ins Parterre, welches hier an Rang den Logen gleichgehalten wird. Das Billett kostet eine halbe Guinee, und die Etikette befiehlt auch hier in Gala zu erscheinen, die Herren in Escarpines, den Dreieck unterm Arme, die Damen auf's schönste geschmückt; sonst wird man auf die erste Galerie gewiesen, die halb soviel kostet als das Parterre. Ob sich aber dort im sechsten Stockwerk viel sehen und hören läßt, müssen wir billig bezweifeln.

Unser Schicksal wollte, daß wir die von Winter komponierte Oper »Calypso« sehen sollten, denn an eine Wahl ist hier nicht zu denkenPeter von Winter (1754-1825), einst international angesehener Komponist, seit 1788 in München Hofkapellmeister. Schrieb über 40 Opern, ferner Oratorien, Messen, Kantaten und Kammermusik. Zur Einstudierung seiner Oper »Calypso« weilte Winter 1803-05 in London.. Mehrere Wochen hindurch erscheint eine und dieselbe Oper, ein und dasselbe Ballett ununterbrochen hintereinander fort, bis Sänger und Tänzer es müde sind; denn das Publikum in den Logen ermüdet nicht, immer das nämliche zu sehen und es vortrefflich zu finden. Kaum dreimal werden den Winter über die Vorstellungen gewechselt.

Die berühmte Billington erschien als Calypso wenig zu ihrem VorteileElizabeth, geb. Weichsel; geboren in London als Tochter eines deutschen Musikers, gestorben 1818. 1794-1801 weilte sie in Italien, kehrte dann nach London zurück und blieb bis 1809 am Theater.. Ihre reichlichen vierzig Jahre konnte man übersehen, wäre sie nur nicht so unerlaubt dick gewesen, wie wir noch nie eine weibliche Gestalt auf dem Theater erblickten, hätte sie sich nur bemüht, durch Spiel und Ausdruck Jugend und Gestalt zu ersetzen. Aber sie hielt es unter ihrer Würde, Schauspielerin zu sein; bewegungslos stand sie da und sang, und glaubte damit schon ein übriges getan zu haben. Die Engländer hielten sie für die erste Sängerin der Welt. Ihre Stimme war in der Tat rein, voll und besonders in der Höhe von großem Umfang, dabei kunstmäßig gebildet, aber Ausdruck und Vortrag fehlten ihr ganz. Wie es ihr vorgeschrieben war, so sang sie alles richtig hintereinander ab, gleich einem Uhrwerke; brachte hin und wieder Kadenzen und Triller an, wobei dem Zuhörer der Atem verging, und glaubte so die höchste Stufe der Kunst erreicht zu haben. So ein Triller von einer Viertelstunde, darüber geht dem Engländer kein Gesang der Welt.

Alle übrigen Sänger und Sängerinnen, größtenteils Italiener, waren fast noch weniger als mittelmäßig. Unter den schlechtesten als die schlechteste zeichnete sich die zweite Sängerin aus, und man sagte uns, die Direktion hätte sie bloß engagiert, weil ihr die Kleider ihrer Vorgängerin wie angegossen paßten.

Das Orchester war lobenswert, die Dekorationen recht hübsch, aber bei weitem nicht mit denen der anderen Theater in London zu vergleichen. Die ganze Anstalt schien uns mit einer Mesquinerie betrieben, die sowohl der großen Summen, welche darauf verwendet werden, als des Publikums, das sich dort versammelt, unwürdig ist.

Sehr vergnügt sahen wir den Signore Telemaco endlich seinen Luftsprung machen und freuten uns auf das Ballett. Leider aber hatte auch dieses drei Akte und schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Es war ein moralisches, sentimentales Wesen. Mlle. Parisot, L'Arborie, dessen Frau und noch einige, deren Namen uns nicht beifallen, waren vortrefflich. Die Haupttänzer sind es immer; denn man engagiert alljährlich ausgezeichnete Künstler aus Paris für die Saison um große Preise. Desto schlechter stechen aber die anderen Tänzer, noch mehr die Figuranten dagegen ab, sowohl in Hinsicht der Kunst als der Kleidung; nirgends eine Spur des Geistes, der uns im Pariser Ballett in eine andere Welt versetzt.

Nach ein Uhr kamen wir ermüdet, als hätten wir mitgetanzt, zu Hause an, um sieben Uhr waren wir schon hingefahren.

Vauxhall

der Vergnügungspark entstand um die Mitte des 17. Jahrhunderts und wurde gegen 1830 aufgelassen. Vauxhall, ursprünglich der Name eines Dorfes, heute ein Stadtteil von London, diente in der Zeit der Blüte des Vergnügungsortes auch für ähnliche Anlagen in anderen Städten, so auch in Edinburgh, von dem Johanna berichtet. Reizender, blendender, feenhafter läßt sich nichts denken als dieser, in einer kleinen Entfernung von London am Ufer der Themse gelegene Garten, besonders in sogenannten Galanächsten, wenn er zur Feier des Geburtstages irgend eines Mitglieds der königlichen Familie in doppelter Erleuchtung prangt. Gegen fünfzehntausend wohlgekleidete Männer und Frauen wandeln dann im Schimmer unzähliger Lampen auf diesem magischen Flecken Erde zwischen schönen Bäumen und blühenden Sträuchern im fröhlichsten Gedränge umher. Musik tönt durch die laue Sommernacht, alles atmet Lust und Vergnügen; es ist, als beträte man das Paradies der Mohammedaner. Nirgends sieht man herrlichere Gestalten als hier, wo die in allen Farben prangende sonnenhelle Beleuchtung jeden Reiz erhöht.

Gleich der Eintritt in diesen Zauberort überrascht und blendet. In der Mitte eines großen, ringsum mit schönen Bäumen umgebenen Platzes erhebt sich das Orchester hoch in die Luft. Aus tausendfarbigen Lampen zusammengesetzt, strahlt es blitzend gegen den dunklen nächtlichen Himmel wie ein aus Edelsteinen erbauter Feenpalast. Leicht und lustig steht das phantastische Gebäude da, und doch innerlich fest genug, um nahe an hundert Personen sicher zu tragen.

Hinter den ebenfalls erleuchteten Bäumen ziehen sich oben bedeckte Arkaden hin, unter welchen mehrere hundert kleine Bogen und Pavillons angebracht sind. Auch an diesen Arkaden reiht sich Lampe an Lampe; oben, unten, an den Seiten, überall funkelndes Licht und brennende Farbenpracht. Von diesem Platze aus laufen mehrere hell erleuchtete Alleen neben einigen dunklen. Letztere betritt die gute Gesellschaft nie. Transparente Gemälde endigen die erleuchteten Alleen; Säle mit Statuen, Transparenten, Blumen und kristallenen Girlanden geziert, bieten Schutz gegen Kälte, Wind und plötzlich einfallenden Regen. In einigen vom Orchester entlegenen Sälen spielen kleine Musikchöre.

Mehr als hundert wohlgekleidete, gewandte Aufwärter stehen neben den Bogen, welche den großen Platz umgeben. Jedes Winks bereit, besetzen sie im Nu die darin fertig gedeckt stehenden Tische mit allem, was man an einem solchen Orte von kalten Speisen und Getränken verlangen kann.

Das Orchester besteht größtenteils aus Blasinstrumenten. Wir hörten hier unter anderen ein Konzert auf der Trompete in einer Vollkommenheit, deren Möglichkeit wir nie geträumt hätten. Ein im Dienste des Prinzen von Wales stehender Künstler blies es.

Auch die beliebtesten englischen Theatersänger, einige wenige der vornehmsten ausgenommen, lassen sich hier mit einzelnen Arien, Volksliedern, Kanons und vielstimmigen Gesängen hören. Im Freien klingt jede Musik gut, aber der Effekt, den diese aus dem Feentempel erschallenden mächtigen Töne in der funkelnden, schweigenden Nacht hervorbringen, ist unbeschreiblich; denn trotz der großen Menschenmenge hört man doch nirgends wilden Lärm auf diesem Platze. Schweigend oder flüsternd wandelt alles umher und horcht der Musik, bis eine Glocke uns in einen etwas abgelegenen Teil des Gartens ruft.

Dort sehen wir in einem großen, sich bewegenden Gemälde einen Wasserfall auf das täuschendste dargestellt. Man hört das wilde Rauschen der Flut und sieht sie in stäubenden Schaum sich verwandeln. Die Szene belebt noch eine am Fuße des Wasserfalls angebrachte Brücke, über welche mancherlei Fuhrwerke, Fußgänger, Reiter und Tiere passieren, alles auf's natürlichste und täuschendste dargeboten.

Von hier kehrt man zum Orchester zurück, von welchem um diese Zeit gewöhnlich eine große Arie oder sonst ein ausgesuchtes Tonstück erschallt; dann lustwandelt man in den hellen Alleen und besucht die verschiedenen Säle. Pfeilschnell verfliegt die Zeit; ehe man es erwartete, ist's Mitternacht. Eine zweite Glocke ruft uns in einen anderen Teil des Gartens, zu einem artigen Feuerwerke, bei welchem man aber freilich nicht an die Flammenpracht im Wiener Prater denken muß. Nach dem Feuerwerke verteilt sich der größte Teil der Gesellschaft in die Logen, wo man in kleinen, selbstgewählten Kreisen fröhlich zu Abend ißt und dabei die draußen umher wandelnde schöne Welt die Musterung passieren läßt.

Späterhin wird auf dem grünen Rasen in der Nähe des Orchesters getanzt. Die Damen, welche hier tanzen, mögen freilich wohl nicht die unbescholtensten sein. Schwerlich würde sich in London ein Mädchen von gutem Rufe zu einer solchen öffentlichen Ausstellung verstehen; auch bemerkten wir fast immer dieselben Tänzerinnen und schließen daraus, daß sie vom Unternehmer der Anstalt hier zu tanzen engagiert sind. Indessen, sie tanzten mit dem Ausdruck der Freude und dennoch anständig, so daß sie eine vollkommene Illusion hervorbrachten. Alle waren schön, jung und wohlgekleidet, und so fragte niemand danach: wer sie wohl eigentlich sein möchten?

Gewöhnlich bricht der Tag über alle diese Freuden an, doch pflegt die gute Gesellschaft sich vor zwei Uhr zu entfernen; später artet der Ton aus und wird zuweilen zu wild und baccantisch, als daß man gern dabei verweilen möchte.

Konzerte

Berühmte Virtuosen, welche in London binnen wenigen Jahren ein Vermögen erwarben, das sie auf dem festen Lande während einer ganzen Lebenszeit nicht erworben hätten, wissen am besten, wie man hier die Musik liebt.

Die Nation selbst ist eigentlich nicht musikalisch. Es fehlt ihr nicht bloß an Talent, sondern auch an Gehör und Geschmack. Daher gibt's nichts Ungefälligeres, Monotoneres als die englische Volksmusik. Wir haben schon früher bemerkt, daß hier der Text mehr gilt als die Melodie, deutliche Aussprache mehr als alle Kunst des Sängers.

So ist's beim Volk und der mittleren Klasse; die Großen aber, welche auf Reisen Gelegenheit hatten, das Bessere kennenzulernen, nehmen ausländische Talente gern in Schutz und belohnen sie mehr als fürstlich. Viele von ihnen haben in ihren Häusern zu bestimmten Tagen musikalische Vereine, an welchen fremde berühmte Tonkünstler teilnehmen. Wohl dem, der mit einer einzigen Bekanntschaft oder Adresse nach London kommt; sein Glück ist gemacht.

Verschiedene große Subskriptionskonzerte existieren den Winter über in London, wo alle bedeutenden fremden und einheimischen Virtuosen engagiert sind. Auch diese Konzerte, die ziemlich kostbar sind, werden größtenteils von den Vornehmeren besucht und erhalten. Das glänzendste derselben wird während der beiden letzten sogenannten Wintermonate wöchentlich einmal in Hanover Square, in einem schönen, hochgewölbten Saale gegeben, an welchen zwei brillante Konversationszimmer stoßen. Es ist hauptsächlich der Vokalmusik geweiht. Nie hat uns ein Konzert mehr Vergnügen gewährt als dies. Das sehr glänzende Auditorium war still und aufmerksam. Londons beste Sänger wetteiferten miteinander. Mme. Billington, die uns im Konzerte weit besser gefiel als zuvor in der Oper, Mme. Storace, Mme. Dusseck, die Frau des berühmten KlavierspielersTochter Domenico Corris, eines Opernkomponisten. Corri gründete 1797 mit seinem Schwiegersohn Dusseck in London einen Musikverlag, der aber bald fallierte. Johann Ladislaus Dusseck (geb. 1761 in Böhmen, gest. 1812 in Paris) war ein bedeutender, vor allem aber sehr effektvoller Virtuose am Pianoforte., sangen sehr angenehm. Letztere ließ sich auch auf der Harfe hören, die sie meisterhaft spielte. Besonders entzückte uns der Tenorist Brahameigentlich Abraham, John; (1774-1856). Bedeutender Sänger, der zeit seines Lebens in London wirkte. In Webers »Oberon«, der für London komponiert wurde, war er der erste Hüon., welcher damals vielleicht die schönste Stimme hatte, die existierte. Er ist eigentlich ein Israelit und heißt Abraham. Arien, Duette und vierstimmige Musikstücke wechselten miteinander ab, manches mußte wiederholt werden, denn der Engländer, hoch oder niedrig, läßt sich's nicht nehmen, für sein Geld zu befehlen, ohne Umstände und Ansehen der Person. Die Künstler müssen gehorchen, wenn's ihnen auch noch so schwer wird, und sich's am Ende noch zur Ehre rechnen, wenn sie encored werden, wie man's hierzulande nennt.

Am Ende des Konzerts sang ein siebenjähriger Knabe, der Sohn des Unternehmers, ein italienisches Liedchen, gut genug für sein Alter. Die Gutmütigkeit des englischen Volks, die gern jedes aufkeimende Talent aufmuntert, zeigte sich hier. Auch er wurde encored, obgleich es schon Geduld erforderte, das kindliche Stimmchen gleich nach Brahams männlich schönem Gesange auch nur einmal anzuhören.

Palast von St. James. Die Parks von Kensington Gardens

Kein Fürst, auch nicht der kleinste regierende Herr, dessen Besitzungen kaum auf der Karte zu finden sind, hat eine schlechtere Residenz als der König von England. Kaum traut man seinen Augen, wenn man das alte, winkelige, rostige Gebäude ansieht, das mit dem stolzen Titel: St. James Palast prangtnach dem Brand von Whitehall (1691) die ständige Residenz der englischen Könige von Wilhelm III. bis Georg IV.; 1809 zerstörte ein Feuer den Ostflügel, so daß wenig mehr vom alten Tudor Palast übrigblieb.. Auch bewohnte König Georg der Dritte es gelegentlich nicht, und nur zum Schein prunkte ein großes Bette mit rotsamtenen Vorhängen im großen Leverzimmer.

Alle Hoffeierlichkeiten wurden zwar nach althergebrachter Weise in diesem königlichen Rattenneste gehalten; aber die hohen Herrschaften begaben sich immer vorher incognito hin und wohnten eigentlich im Palaste der Königin, Buckingham House genannt [1703 von John Sheffield, Herzog von Buckingham, erbaut, 1761 von Georg III. angekauft und von Georg IV. 1825 nach Plänen von Nash umgebaut und später noch mehrmals ergänzt, zum letzten Mal 1913 von Aston Webb. Seit dem Regierungsantritt der Königin Victoria (1837) Residenz der englischen Herrscher: Buckingham Palace., einem etwas moderneren Gebäude, welches aber auch, weit entfernt von aller königlicher Pracht, weder sehr groß noch sehr schön aus bloßen Ziegelsteinen erbaut war. Es liegt in dem an den Palast von St. James anstoßenden St. James Park, der Lieblingspromenade der Londoner.

Dieser Park ist eigentlich nur eine sehr schöne große Wiese, durchschnitten von angenehmen Fußwegen, belebt durch einen ihn durchkreuzenden Kanal und geziert mit hin und wieder zerstreuten Gruppen schöner alter Bäume. Alles darin ist einfach, aber unaussprechlich angenehm durch den Kontrast dieser ländlichen Stille mit dem Geräusche der großen Hauptstadt, aus welchem man unmittelbar hineintritt.

Am westlichen Ende des Parks liegt Buckingham House mit seinen Gärten. Der Green Park zieht sich längs diesen hin, ebenfalls eine zur Promenade eingerichtete Wiese, mit wenigen Bäumen besetzt. Der Hyde Park begrenzt beide; größer als sie, geht er bis an die Gärten von Kensington; ein in mannigfaltigen Krümmungen sich hindurchwindender silberheller Strom verschönt ihn; Kühe und schöne Pferde weiden am Ufer, alles ist frisch und grün, als wäre man hundert Meilen von der Stadt.

Wenn man vom Hyde Park aus in die Gärten von Kensington tritt, wähnt man am Eingange eines uralten heiligen Hains zu sein; so majestätisch erheben die hohen, schönen Bäume, der ausgezeichnetste Schmuck jener Gärten, ihr prächtiges Laubgewölbe. Diese Gärten, das gewöhnliche Ziel der Spaziergänger, gehören ebenfalls dem Könige und stehen, solange die schöne Jahreszeit währt, von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends dem wohlgekleideten Publikum offen. Sie sind nicht im neuesten Geschmacke angelegt, man findet noch nach alter Weise breite, nach der Schnur gezogene Alleen darin und eine gewisse Symmetrie, von welcher die neue Gartenkunst nichts wissen will; desto besser aber eignen sie sich zur Promenade einer großen Hauptstadt. Angefüllt mit Spaziergängern, die unter diesen prächtigen Bäumen lustwandeln, machten sie einen ebenso reizenden als imposanten Eindruck.

Der zu diesen Gärten gehörende Palast von Kensington verdient nur wegen seines Eigentümers diesen prächtigen Namen. Die königliche Familie kommt nie hin, er wird von einigen Privatpersonen bewohnt, welche vom König die Erlaubnis dazu erhielten.

Jeden Sonntag nachmittags bei schönem Wetter wimmelt im Sommer der St. James Park von wohlgekleideten Spaziergängern, die zwar Nobodies sind, sich aber doch ebenso gut ausnehmen, als würden sie wirklich mitgezählt. Alles was die Woche hindurch sich in den Ladengewölben und Arbeitszimmern der City abmühte und kein Haus zu hüten hat, eilt dann hinaus, um frische Luft zu schöpfen, grüne Bäume zu sehen und wohl auch seinen Sonntagsputz zu zeigen.

Der Anblick dieser wohlgekleideten Menge ist sehr angenehm; weit interessanter aber noch der, den der Hyde Park im Frühling gewährt. An schönen Sonntagsmorgen, nach Londoner Rechnung zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags, fährt, reitet und geht dann die schöne Welt dort spazieren. Eine unzählbare Menge der schönsten Equipagen, der herrlichsten Pferde bedecken in dieser Zeit den durch Hyde Park führenden Fuhrweg bis Kensington; kein Fiaker, kein öffentliches Fuhrwerk darf diesen Weg befahren; nichts darf sich zeigen, was uns daran erinnern könnte, daß es auch Leute in der Welt gibt, die nicht reich und vornehm sind. Der Anblick der vielen schönen Reiter und Pferde, der tausend Equipagen von allen Formen und Größen, der schönen Frauen und lieblichen Kinderköpfchen, die aus diesen herausgucken, ist einer der prächtigsten, den nur irgendeine große Hauptstadt gewähren kann. Nichts gibt einen anschaulicheren Beweis der Opulenz und Bevölkerung Londons.

Auch die Spaziergänge wimmeln von Spazierengehenden, die zum Teil jene schimmernden Equipagen verließen, um hier zu lustwandeln und Bekannte zu treffen. Besonders brillant sind dann die Alleen von Kensington; man hat berechnet, daß an solchen Tagen bisweilen hunderttausend Menschen zugleich sich in den Parks und den Gärten von Kensington des blauen Himmels und der schönen Erde freuen.

Auch im Winter versammeln sich oft viele tausend Menschen dort, besonders, wenn bei starker Kälte der Strom im Hyde Park mit Eis bedeckt ist. Dann zeigen die Schlittschuhläufer ihre Künste, man eilt hin, sie zu bewundern; für Erfrischungen und Wärme ist in dazu erbauten Pavillons gesorgt, und was noch besser ist, für Hilfe bei möglichen Unglücksfällen, durch eine sehr zweckmäßige, an den Ufern des Stroms errichtete Rettungsanstalt.

Des Königs Geburtstag

Dieser Tag, der vierte Junius, welchen auch der Nachfolger Georges des Dritten als seinen Geburtstag angenommen hatte, ist für die Londoner feiner Welt der wichtigste im ganzen Jahre, der Wendepunkt, welcher den Sommer von dem Winter scheidet, er gibt für die nächsten zwölf Monate den Ton an für Moden, Equipagen; alles wird für diesen Tag und nach diesem Tag berechnet. So war es wenigstens, solange des alten Königs Gesundheit ihm erlaubte, sich öffentlich sehen zu lassen. Sein späteres anhaltendes Übelsein wird freilich in Hinsicht des an diesem Tage üblichen Zeremoniellen manche Änderung herbeigeführt haben, doch die Hauptsache blieb gewiß, solange er lebte, und es wird auch später, solange es Könige von England gibt.

Schon Monate vorher sind alle Sattler, Wagenfabrikanten, Schneider, Juweliere und Modehändler in großer, eilender Geschäftigkeit; neue Kleider, neuer Putz werden ersonnen und gemacht, Juwelen umfaßt, Pracht-Equipagen und glänzende Livreen angeschafft, alles wird aufgeboten, um an diesem Tage eine Stunde lang zu glänzen, denn viel länger währt die ganze Herrlichkeit nicht. Die Zeitungen tun freilich das ihrige nach besten Kräften, um diesen Glanz, soviel an ihnen liegt, zu verewigen. Sie füllen viele Tage hindurch lange Kolonnen mit Beschreibungen desselben aus, jedes Quästchens an den Damenkleidern, jeder Stickerei an den Galaperücken der Herren wird ehrenvoll darin gedacht, auch Wagen und Livreen werden nicht vergessen; aber was hilft das alles? Solch eine papierene Ewigkeit ist in unseren Tagen von gar kurzer Dauer.

Im Park von St. James bemerkten wir an diesem Tage um ein Uhr viele Leute vor einer kleinen Hintertüre des Palastes, die den König dort aussteigen sehen wollten, wenn er vom Buckingham House käme. Kanonendonner verkündete einstweilen die Feier des Tages; Erwartung, Freude, Liebe strahlte von allen Gesichtern, denn das Volk hing mit kindlicher Liebe an dem guten alten Georg, unter dessen langer Regierung der größte Teil desselben geboren ward. Wir warteten seine Ankunft nicht ab, um nicht zu sehr ins Gedränge zu geraten, sondern begaben uns in die schöne und breite Straße von St. James, welche gerade zum Haupteingange des Palastes führt. Von dem Balkon eines Privathauses konnten wir dort den Zug der Glückwünschenden bequem ansehen.

Es war ein schöner, lebensfroher Anblick! Kein Fenster, kein Balkon der ziemlich langen Straße blieb unbesetzt, frohe Gesichter schauten aus allen herab; Kopf an Kopf, dicht gedrängt, sogar die Dächer wimmelten von Zuschauern; eine unzählbare Menge wohlgekleideter Leute drängte sich auf der Straße weit über den Fußpfad hinaus, so daß in der Mitte kaum Platz für die Wagen blieb. Eine Menge Equipagen und Mietwagen bildeten an der einen Seite eine lange, stillstehende Reihe. Fast lauter hübsche Frauen und Mädchen blickten neben den reizendsten Kinderköpfchen neugierig daraus hervor in das bunte Gewühl. Vor dem Schlosse paradierte die schöne königliche Garde zu Pferd, reich gekleidete Hofbediente standen am Tore desselben, auch die hundert Yeomen des Königs, eigentlich eine Art SchweizergardeKing's Body Guard Yeomen of the Guard, 1485 als Leibwache für den Herrscher aufgestellt. Nicht zu verwechseln mit den Yeomen Warders, die im Tower den Dienst versehen und bedeutend früher gegründet wurden.. Ihre Kleidung ist noch genau dieselbe, die sie im fünfzehnten Jahrhundert war, bunt und wunderlich anzuschauen. Das Volk nennt diese Trabanten des Königs Ochsenfresser, the King's Beefeaters, und ihre wohlgenährten Figuren scheinen diesen Ehrentitel reichlich zu verdienen. So sonderbar sie in der über und über mit Gold besetzten, scharlachroten altenglischen Kleidung, mit den auf Brust und Rücken glänzenden silbernen Schilden und dem flachen, mit bunten Schleifen gezierten Barett auch aussehen, so gibt ihre Erscheinung dem Feste doch etwas Feierliches, Altväterisches, das uns in vergangene Zeiten versetzt. Dieser Eindruck wurde noch vermehrt, als die lange Reihe der Leute von der Feuer-Assekuranz-Kompagnie aus dem Palaste, wo sie ihren Glückwunsch abgelegt hatten, in Prozessionen nach einer Taverne zog, um dort auf des Königs Gesundheit feierlichst zu trinken. Auch diese erschienen in wunderlicher, karmesinroter Kleidung. Vor ihnen her wurde das beliebte God save the King geblasenin dem zu jener Zeit stark feuergefährdeten London gab es keine städtische Feuerwehr, sondern die Phönix Versicherungsgesellschaft hielt sich eine Truppe von Leuten, die eingesetzt wurden, wenn ein bei der Gesellschaft versichertes Haus in Brand geriet..

Durch alles dieses hindurch bewegte sich langsam die unabsehbare Reihe Kutschen, in welchen die Gratulanten nach Hofe fuhren. Diese gaben den reichsten und mannigfaltigsten Anblick. Nirgends kann man prächtigere Kutschen von der neuesten, noch nie zuvor gesehenen Form, nirgends schönere, stolzere Pferde erblicken. Ein Schwarm reichgekleideter Livreebedienten umgab die Schritt vor Schritt langsam fahrenden Wagen, ungeduldig schnoben die Pferde, aber der mit einer großen, runden Perücke versehene, auf dem befransten Bocke majestätisch thronende Kutscher hielt sie in Respekt. Wie in anderen Ländern Schnurrbärte, so sind in England solche dicken runden Perücken Abzeichen der Kutscher, und je vornehmer der Herr, je größer sind die Perücken.

Die reichgekleideten Herren und Damen in den Kutschen schienen sich bei der langsamen Kavalkade ein wenig zu langweilen. Die Damen nahmen sich von oben nicht sehr graziös aus in dem überladenen Putze und der steifen, ängstlichen Stellung; fast wie die überfüllte umgestülpte Schachtel einer Modenhändlerin, ein formloser Berg von Flor, Blumen, Federn und tausend schönen Sachen.

Der Lord Mayor und die Sheriffs der City in ihrer schwarzen Amtskleidung, mit schweren goldenen Ketten geschmückt, fuhren in großen, über und über vergoldeten altmodischen, doch neuen Staatswagen, an welchen überall fast ebenso vergoldete Bediente mit großen Federhüten hingen. Zum Teil ziemlich rosige Hofkutschen (die uns an die Dresdner Fahrten nach Pillnitz erinnerten) machten von Zeit zu Zeit von ihrem Vorrechte Gebrauch, aus der Reihe hinaus allen anderen vorbeizufahren.

Die Herzöge von York, von Glocester und andere Glieder der königlichen Familie saßen in beinahe ganz gläsernen Staatswagen, so daß man sie von allen Seiten deutlich sehen konnte.

In alle diese Pracht mischten sich ganz gewöhnliche Fiaker und behaupteten ihren Platz in der glänzenden Reihe so gut wie die anderen. Größtenteils saßen Offiziere und Geistliche darin, ja ein Spottvogel neben uns wollte in einem derselben drei Bischöfe erblicken, die so, das Stück für sechs Pence, an den Hof fuhren.

Zur Seite dieses langen Zuges trabten brillant gekleidete Portechaisenträger ihren Hundstrott, mit schön aufgeputzten Portechaisen, deren Deckel des hohen Standes der darin sitzenden glänzenden Dame, und ein Schwarm reichgekleideter Livreebediensteten begleitete jede derselben.

Von ein bis sechs Uhr währte dieser Zug ununterbrochen fort, ohne zu stocken; die Herren und Damen stiegen aus, sowie sie ankamen, machten dem König und der Königin ihr Kompliment, vielleicht ohne im Gewühl der Menge einmal bemerkt zu werden, und fuhren dann wieder fort, um anderen Neuankommenden Platz zu machen. Dies war die ganze Freude, mit so vielem Aufwande an Geld, Zeit und Vorsorge errungen.

Nach der Cour gab die Königin ein Familiendinner, das einzige im ganzen Jahre; auf dieses folgte ein Konzert, zu welchem der dafür besoldete Hofpoet jedesmal eine neue sogenannte Ode machen muß. Auch zum Konzert werden nur wenige von den Vornehmsten auserwählt und zugelassen. Sonst pflegte diesem Konzerte noch ein Ball zu folgen, der höchstens zwei Stunden währte und bei welchem die strenge Rangordnung und Etikette den Vorsitz hatte; seit einigen Jahren aber begnügt man sich mit übrigen Freuden des Tages.

Abends waren einige öffentliche Gebäude, die Theater und die Häuser der Kaufleute und Handwerker, welche den Hof bedienen, ziemlich hübsch illuminiert, und damit endigte dieser wichtige Tag.

Pension für Mädchen

der fünfzehnjährige Arthur notierte dazu: »Mittwoch den 1sten Juny. Wir waren diesen Mittag bey Hrn. Harris, er wohnt dicht vor London, hat aber von seinem Hause eine sehr schöne Aussicht. Wir fuhren diesen Abend mit ihm nach einer Pension (Boarding-School) von jungen Mädchen, wo Hr. Harris auch zwey Töchter hatte. Sie lernen hier auch tanzen, und hatten heute eine Art Ball, wo sie alle in Gegenwart ihrer Eltern, und andrer, die als Zuschauer hinkommen, tanzen. Es war ein allerliebster Anblick hier über 40 junge Mädchen, von acht bis sechzehn Jahren, wirklich mit vielem Anstand, unter sich, und alle gleich gekleidet, tanzen zu sehn. Nachher wurden ein Paar Tänze getanzt in die sich auch Herren mengten, und die ich auch mittanzte.« Oft begegneten wir sonntags auf unseren kleinen Lustreisen in der Gegend bei London einem Zuge von dreißig bis vierzig jungen Mädchen, auf dem Fußpfade neben der Landstraße andächtig zur Kirche wandelnd. Es war ein lieblicher Anblick. Schneeweiß gekleidet, mit artigen Strohhüten, gingen sie paarweise hintereinander fort, einige in eben aufblühender jugendlicher Schönheit, andere frisch und rot in knospender Kindheit. Mehrere Aufseherinnen begleiteten sie, strenge wachend über jeden Tritt, jede Miene, damit ja kein Freudensprung, kein lautes Lachen ihnen auf dem ernsten Wege entschlüpfte. Zuweilen kam von der anderen Seite ein ähnlicher Zug Knaben daher, dem nämlichen Ziele zuwandelnd, begleitet von seinen Lehrern. Die Aufseher und Aufseherinnen und grüßten sich wohl als Bekannte, aber die Kinder schielten sich nur von der Seite ein wenig an und wandelten mit gezwungenem Ernst weiter. Es waren die Zöglinge aus irgendeiner der vielen Pensionen, welche jeden Sonntag zweimal feierlich zum Gottesdienste getrieben werden. Dörfer und Flecken ringsumher wimmeln von solchen Erziehungsanstalten, die alle gedeihen, da fast niemand seine Kinder zu Hause erzieht, wo sie zu viel Unordnung und Unruhe machen würden. Sowie Knaben und Mädchen aus der Kinderstube kommen, werden sie in jene Erziehungsanstalten gegeben und kehren erst nach ganz vollendeter Erziehung, beinahe erwachsen, in das väterliche Haus zurück.

Die Mädchen lernen in diesen Anstalten von allem etwas, aber wenig Gründliches. Man lehrt sie Geschichte und Geographie; dennoch weiß eine Engländerin selten, wie es außer ihrem Vaterlande aussieht und was dort in früheren Zeiten sich begeben hat. Auch in der französischen und italienischen Sprache erhalten sie Unterricht, aber dem Fremden, der nicht Englisch kann, ist damit nichts gebessert; schwerlich wird er in der Gesellschaft eine Dame finden, die ihm in einer fremden Sprache Rede stünde. Musik und Zeichnen wird sehr oberflächlich und gewöhnlich nur betrieben, um beides späterhin so bald als möglich wieder zu vergessen. Die Mädchen lernen sticken, Papierblumen machen, sie fabrizieren artige Papparbeiten, Kästchen von vergoldetem Papier, Vasen von Eierschalen, tausend zierliche Dinge; aber was man eigentlich für's Haus braucht, bleibt ihnen gewöhnlich unbekannt. Der Hauptzweck des größten Teils der Vorsteherinnen solcher Anstalten ist vor allen Dingen, einmal im Jahre mit ihren Zöglingen recht zu glänzen, wenn sich die Eltern und Verwandten derselben bei dem großen Prüfungsfeste versammeln. Mehrere Monate vor diesem Feste hört schon aller ernstliche Unterricht auf, alles wird angewendet, um die Kinder für den wichtigen Tag zu dressieren. Musikstücke werden ihnen eingelernt, die sie vor der entzückten Versammlung mechanisch ableiern sollen, Zeichnungen werden mit Hilfe des Lehrmeisters verfertigt und dergleichen mehr. Die Hauptsache aber bleibt, sie für den Ball, der abends gegeben wird, abzurichten, und der Tanzmeister kommt mehrere Wochen lang kaum aus dem Hause.

Eine Dame unserer Bekanntschaft, deren Töchter in dem nahe bei London gelegenen Flecken Southwark in Pension waren, führte uns zu solch einem Fest dahin. Die Vorsteherin des sehr großen Hauses empfing uns mit vieler Artigkeit. Wir wurden in einen großen Saal geführt, an dessen einem Ende die hocherfreuten Mütter und übrigen Verwandten der jungen Mädchen saßen; die Zöglinge selbst waren am entgegengesetzten Ende auf mehreren Reihen amphitheatralisch übereinander sich erhebender Bänke wie zur Schau ausgestellt. Auch gewährten sie einen sehr reizenden Anblick. Man denke sich fünfzig junge Mädchen von acht bis sechzehn Jahren, hübsch, in blühender Gesundheit, einfach, aber geschmackvoll in die Uniform des Hauses gekleidet, mit schneeweißen kurzen Kleidern und blauen Schuhen. Ein silbernes Netz um's Haar, eine silberne Schärpe um den Leib war ihr ganzer Putz; so saßen sie da, glühend vor rascher jugendlicher Erwartung und Freude.

Unter Anleitung des Tanzmeisters begann endlich der Ball. Die Mädchen tanzten unter sich lauter ganz bescheidene Tänze; keinen Walzer, keinen Shawltanz, keine künstlichen Sprünge, sondern eine Art Menuette zu sechs bis acht Paaren, welche der Tanzmeister für sie eigens komponiert hatte und die wohl sonst nirgends in der Welt getanzt werden als in Pensionsanstalten wie dieser. Die geschickten Tänzerinnen hatten kleine Solos darin, um sich recht zu zeigen. Nach Endigung jedes Tanzes wurden sie von Müttern und Verwandten gelobt und geliebkost. Nur zwei arme kleine Holländerinnen standen traurig und unbemerkt in einer Ecke allein, niemand bekümmerte sich um die Fremden, die aus ihrem Vaterlande hierher zur Erziehung geschickt waren. Wir, Fremdlinge wie sie, fühlten uns ihnen verwandt, riefen sie zu uns, erzählten ihnen, daß wir unlängst aus ihrem Vaterlände kämen, und hatten bald den Trost, auch aus ihren kindlichen klaren Augen die Freude leuchten zu sehen. Als die auf die Länge etwas langweilige Paradetänze abgetan waren, kamen einige englische und schottische an die Reihe. Froh, des Zwangs entledigt zu sein, hüpften die lieblichen Kinder unbefangener umher, und einige junge anwesende Vettern und Brüder erhielten die Erlaubnis, sich mit ihnen herumzudrehen.

Mit stiller Rührung sahen wir ihre sorglose Freude. Tanzend bereiteten sich die holden Geschöpfe zu dem Leben, das sie jetzt, in dem Augenblick, da wir dies niederschrieben, schon längst mit seinem ganzen Ernste ergriffen hat. Erwartungsvoll blickten damals so viele helle Augen der Zukunft entgegen, als wäre auch sie ein Tanz der Freude; jetzt füllen sich diese Augen beim Andenken an jene unwiederbringlich hingeschwundenen Tage wahrscheinlich mit Tränen der Sehnsucht. Ahnend dachten wir damals ihrer Zukunft und verließen sie, noch mitten in der Freude, mit stillen Wünschen für die Zukunft.

Pension für Knaben

Gewöhnlich sind es Landprediger, die irgend ein großes schönes Lokal, unfern der Kirche, in welcher sie predigen, mieten oder kaufen und neben ihren Berufsgeschäften dieses Erziehungsgeschäft treiben, wobei sich die sehr ehrwürdigen Herren ungemein wohl befinden.dazu notierte Johanna in einer Fußnote. »Most reverend Sir, sehr ehrwürdiger Herr, der Titel der englischen Geistlichen.«

Wir hatten Gelegenheit, die Erziehungsanstalt des Herrn Lancaster in Wimbledon, acht englische Meilen von London, genau kennenzulernen. Sie gilt für eine der besten, selbst Lord Nelson ließ zwei seiner Neffen da erziehenAdmiral, Lord, lebte zu dieser Zeit zurückgezogen mit Lady Hamilton in der Grafschaft Surry. Am 21. Oktober 1805 schlug die englische Flotte unter seinem Befehl die spanisch-französische bei Trafalgar vernichtend. Er selbst kam dabei ums Leben. Im Grunde gleichen sich alle; nur die Zahl der Zöglinge, die größere oder beschränktere Einrichtung des Ganzen unterscheidet sie voneinander.

Der sehr ehrwürdige Herr zu Wimbledon befaßte sich gar nicht mit dem Unterrichte; unsichtbar für seine Schüler saß er den Tag über in seinem Studierzimmer, wo er eine Anzahl junger Fremder, die bloß als Kostgänger, nicht als Schüler in seinem Hause lebten, im Englischen unterrichtete. Nur mittags, nach vollendeten Schulstunden erschien er auf einem Katheder im Schulzimmer, um sich von den Lehrern Rapport abstatten zu lassen. Vier Lehrer, die im Hause wohnten und von denen wechselweise einer jede Woche die Spezialaufsicht über die Schüler hatte, gaben den notwendigen Unterricht, und zwar alle zugleich in dem nämlichen großen Zimmer. Jeder steht auf einem kleinen Katheder, und die Schüler gehen wechselnd, pelotonweise von einem zum anderen. Dies währt vier Stunden lang ununterbrochen von acht bis zwölf.

Die Schule wird mit Gebet eröffnet und geschlossen, ganz nach der englischen Liturgie, wobei auch des Königs, seines Hauses, der Schwangeren und Säugenden usw. von den Knaben christlich gedacht werden muß.

Die Knaben erhalten Unterricht in den alten Sprache, in Geographie, Geschichte, Schreiben, Rechnen und der französischen Sprache. Wer Fechten, Musik, Tanzen und Zeichnen lernen will, muß es besonders bezahlen; die Lehrer dazu kommen wöchentlich einige Male von London herüber; an alles übrige Wissenswerte, was unsere Kinder in Deutschland lernen, wird nicht gedacht.

Die Zöglinge essen zusammen, ziemlich schlecht, unter Aufsicht des die Woche habenden Lehrers, werden zu bestimmten Zeiten von ihm auf der Gemeinhut des Dorfes spazieren getrieben, spielen unter seiner Aufsicht auf dem großen Hofe und werden täglich in einem großen Bassin gebadet, auch im Winter, wo dann erst das Eis aufgehauen werden muß.

Alles, Lehre, Strafe, die ganze Behandlung der Kinder, wird nach angenommenen Gesetzen mechanisch betrieben, ohne Rücksicht auf Alter, Charakter und Fähigkeit. Wie könnte es anders sein, ihrer sind sechzig, zwischen sechs und sechzehn Jahren; alle Wochen wechselt der die Aufsicht habende Lehrer und dankt Gott, daß er auf drei Wochen die Last los ist und sich bei der sehr reichlich besetzten Tafel des sehr ehrwürdigen Herrn mit den Kostgängern und der übrigen Gesellschaft, von der in der Woche ausgestandenen Not und Mangel erholen kann. Kein Lehrer lernt die Kinder genauer kennen, da jeder sie nur ungefähr zwölf Wochen im Jahre in so verschiedenen Zeiträumen unter seiner Aufsicht hat.

Die Kostgänger haben dagegen ein herrliches Leben, denn sie bringen dem ehrwürdigen Herrn dreimal soviel Guineen als die Schüler. Nur einige Schüler, deren Eltern es zu bezahlen vermögen, gehören auch dazu. Diese nehmen zwar an den Schulstunden teil, essen aber an dem gut besetzten Tische, können nach Herzenswunsch im Lustgarten und im Obstgarten ihr Wesen treiben, während ihre Kameraden auf dem öden Hofe bleiben müssen und entsetzlich geprügelt werden, wenn sie sich einmal in jene verbotenen Reviere eingeschlichen haben. So müssen die Kinder schon in der Jugend lernen, daß dem Reichen alles erlaubt, und Geld daher das höchste Ziel ist, wonach man zu trachten hat.

Hat ein Knabe einen Fehler begangen, seine Lektion nicht gelernt oder beim Spiel Unordnung gemacht, so wird ihm vom Lehrer zur Strafe aufgegeben, eine Seite Griechisch oder Latein auswendig zu lernen. Wenn er diese zur bestimmten Zeit nicht auswendig weiß, so schreibt der Lehrer seinen Namen auf und legt ihn auf's Katheder des Herrn Lancaster. Abends werden dann die so Verklagten zu ihm ins Studierzimmer gerufen, so viel ihrer sind, alle zugleich. Er redet sie mit Sir oder Gentleman an und fragt, ohne fernere Untersuchung ihres Vergehens, ob sie ihre Aufgabe gewußt haben? Sie müssen natürlich mit »Nein« antworten. Ohne sich auf etwas Weiteres einzulassen, fragt er: was sie dafür verdient hätten? Sie antworten: geprügelt zu werden, und ohne Aufschub vollzieht der sehr ehrwürdige Herr an ihnen dies Urteil mit eigener Hand, oft an sieben oder acht nacheinander, ohne Rücksicht, ob der Knabe sechs oder sechzehn Jahre alt ist, und dazu auf die beschimpfendste Weise.

Haben zwei Knaben miteinander Streit gehabt oder sich geschlagen, so verklagt einer den anderen; wenn aber auch seine Klage noch so sonnenklar wäre, er bekommt kein Recht, solange der Beklagte leugnet. Der Kläger muß Zeugen mitbringen; sagen dagegen er und seine Zeugen noch so augenscheinlich die Unwahrheit, der Beklagte wird bestraft, wenn er nicht andere Zeugen beibringen kann, die seine Unschuld beweisen. Alles wird nach der Form abgetan wie vor englischen Richterstühlen; den Charakter der Kinder zu ergründen, ihr Gefühl für Recht und Unrecht im höheren Sinn, ihre Liebe für das eigentliche Wissen zu bilden, daran denkt niemand.

Wir enthalten uns aller Bemerkungen über eine solche Erziehungsmethode, jeder macht sie gewiß selbst und fühlt, welchen Vorzug auch in dieser Rücksicht wir Deutsche vor jenen stolzen Insulanern haben, und welche Resultate sich von einer solchen frühen Behandlung erwarten lassen.

Sonntagmorgens werden die Schüler im Schulzimmer versammelt. Herr Lancaster ist nicht Prediger in Wimbledon, sondern Merton, einem eine halbe Stunde weit entlegenen Dorfe; aber zu seiner Übung hält er seinen Schülern die Predigt, die er mittags dort halten wird, erst einmal in der Frühe. Damit verbindet er den in der englischen Liturgie vorgeschriebenen Gottesdienst, so daß das Ganze eine starke Stunde währt. Um elf Uhr werden sie in sauberen Sonntagskleidern paarweise auf dem Hofe rangiert und treten dann in Begleitung der vier Lehrer den Marsch nach der Wimbledoner Kirche an, wo sie bei Predigt, Gesang und Litanei zwei Stunden verweilen müssen. Nachmittags werden sie wieder auf die nämliche Weise zur Kirche getrieben, und abends um acht Uhr wird abermals in der Schulstube großer Gottesdienst gehalten, wobei wieder des Königs und seines Hauses gedacht wird. Zwischen allen diesen Andachtsübungen müssen sie in der Bibel lesen und dürfen in Begleitung der Lehrer einen Spaziergang machen; alle Spiele aber und alle lauten Ausbrüche der Freude sind hoch verpönt, und werden streng bestraft.

Das Britische Museum

größtes Nationalmuseum Großbritanniens (Geschichte, Archäologie, Kunst und Völkerkunde) und Nationalbibliothek; die naturgeschichtlichen Sammlungen sind heute in Kensington untergebracht. 1753 kam die Sammlung des irischen Arztes Hans Sloane an das Museum, das im Montagu House untergebracht wurde. Als die Erweiterung der Sammlungen den Raum beschränkt werden ließ, erbauten die Brüder Smirke in den Jahren 1823-55 das neue Museum. Diese reiche, in einem schönen Lokal aufgestellte Sammlung verdient, der großen Nation anzugehören, deren Namen sie führt. Der unermüdliche Sammler, Sir Hans Sloane, legte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts den Grund dazu, indem er sein eigenes, sehr bedeutendes Museum der Nation vermachte. Mehrere große Sammlungen wurden damit vereinigt, und so erreichte das Ganze den Grad von Vollständigkeit, auf welchem es sich heute befindet.

Die prächtige Vasensammlung des Sir William Hamilton ist die schönste Zierde desselben;Altertumsforscher (1730-1803); nahm als Gesandter in Neapel an der Entdeckung von Herculanum und Pompeji teil; Gatte der durch Lord Nelson bekannt gewordenen Lady Hamilton. Die Vasensammlung, die er dem Britischen Museum verkaufte, ist durch die 240 Umrisse Tischbeins bekanntgeworden. Hamilton schrieb ein grundlegendes Werk der Vasenkunde: »Antiquités étrusques, grècques et romaines«, 4 Bde., Neapel 1966-67. froh verweilten wir im Anschauen dieser schönen Formen, welche, von den englischen Fabrikanten glücklich benützt, durch ganz Europa die bis dahin Mode gewesenen häßlichen, verkrüppelten Formen verbannten und nach und nach unserem Hausgeräte die jetzt übliche schöne, geschmackvolle Gestalt gaben.

Alles, was uns an die goldene Zeit, an die schönen Jahrhunderte der Römer und Griechen erinnern konnte, fanden wir hier vereint. Mannigfaltiger Schmuck, Siegelringe, Lampen, Hausgötter, unendliches kleines Gerät, aus den Gräbern von Pompeji und Herkulaneum auf's Neue zum freundlichen Tageslicht gefördert, vergegenwärtigte uns das heitere, gefällige Dasein der Alten; wir lebten mit ihnen, solange wir in diesen Zimmern verweilten.

Schnell streiften wir hernach durch die Säle, welche das Naturalienkabinett, die ausgestopften Tiere und Mineralien enthalten, so auch durch das sehr beträchtliche Münzkabinett. Wenn man in seiner Zeit so beschränkt ist, wie wir es hier waren, so muß man entbehrend zu genießen wissen und lieber vieles aufopfern und nur etwas mit Muße betrachten, um davon eine bestimmte interessante Erinnerung mit sich zu nehmen. Momentanes Verweilen bei vielen Gegenständen verwirrt und ermüdet ohne allen Nutzen.

Auch die von Kapitän CookJames (1728-79), Forscher und Weltumsegler. Seine Reisebeschreibungen, in Deutschland durch G. Forster bearbeitet, haben ihn sehr bekannt gemacht. aus dem fünften Weltteile mitgebrachten Merkwürdigkeiten, die hier ein ganzes Zimmer anfüllen, betrachten wir nur im Vorübergehen.

Mehrere Zimmer enthalten in Schränken, mit Drahtgittern versehen, die große, reichhaltige Bibliothek. Außer eine großen Zahl älterer, zum Teil sehr seltener Bücher, faßt sie beinahe alles, was bis auf den heuten Tag in England herauskommt; denn von jedem mit Privilegium gedruckten Buche muß ein Exemplar hier abgeliefert werden. Wir verweilten nur einige Zeit in dem Zimmer, in welchem sich die Manuskripte befinden.

Nicht nur alte Handschriften aller Art, von den beschriebenen Palmblättern und in Stein gehauenen ägyptischen Hieroglyphen an bis auf die krausen, bunten Schriftzüge der Mönche des Mittelalters, werden hier aufbewahrt, sondern auch zahllose Briefe und Manuskripte der interessantesten und berühmtesten Menschen späterer Zeiten; eine unendliche Fundgrube für den Geschichtsforscher, dem ein freundliches Geschick erlaubt, sie mit Muße und Auswahl zu benutzen. Und welch ein Feld würde sich hier dem Anekdotenjäger und Zeitblättler eröffnen, der nach Willkür fouragieren könnte! Wie viele Bände interessanter Briefe könnten da ausgewählt werden, zum Nutz und Frommen unseres lese- und schreibsüchtigen Zeitalters, vor welchem kein Schreibtisch, kein Portefeuille mehr sicher ist! Briefe vieler englischer Könige und Königinnen, vieler Männer, die auf ihr Zeitalter wirkten, füllen, wohlgeordnet in Mappen, eine Menge Schränke.

Man war so gefällig, uns manches zu zeigen; unter anderem einen ganzen Band eigenhändiger, mitunter ziemlich zweideutiger Briefe der Königin Elisabeth an ihren unglücklichen Liebling, Grafen Essex. Ihre Handschrift ist merkwürdig. Diesen nicht schönen, aber mit Schnörkeln überladenen, sehr großen Buchstaben sieht man es an, daß sie langsam und vorsichtig geformt wurden, und trotz aller Schmeichelworte, die sie ihrem Geliebten hinzirkelte, möchte man in etwas verändertem Sinne mit Schillers Maria Stuart ausrufen: »Aus diesen Zügen spricht kein Herz!« Auch von dieser unglücklichen Nebenbuhlerin Elisabeths werden hier viel Briefe aufbewahrt, größtenteils in französischer Sprache. Besonders rührend war uns der, welchen sie an Elisabeth liebend und vertrauend schrieb, sowie sie die englische Grenze betreten hatte, ohne die traurige Zukunft zu ahnen, die sie sich mit diesem Schritt bereitete.

Man zeigte uns auch den Entwurf einer ziemlich langen Rede, welche Wilhelm der ErobererI. (1066-87); geb. 1027 oder 1028 als Sohn Herzog Roberts II., des Teufels, von der Normandie. 1051-52 weilte er als Gast König Eduards des Bekenners in England, der ihm die Krone versprochen haben soll. Sein Anspruch auf England – er ließ sich 1066 in Westminster krönen – stieß das Land in langwierige kriegerische Unruhen und Aufstände; dennoch gelang es ihm, ein autokratisches Königtum in England zu errichten und ein streng durchgeführtes feudales Lehenssystem zu begründen. an das englische Volk halten wollte. Sie ist durchaus von seiner Hand in französischer Sprache geschrieben, ziemlich unorthographisch und voll Korrekturen und ausgestrichener Stellen. Nach ihrem Inhalte war er bloß aus Liebe zu dem Volke herübergekommen, um dieses glücklich zu machen.

Unter den neuen Manuskripten bemerkten wir Popes »Essay on Man«, so wie er ihn zuerst niederschrieb, ebenfalls voll Verbesserungen und Änderungen. Nicht ohne Grund nennt ihn einer seiner Zeitgenossen den Papier sparenden Pope, paper sparing Pope. Das ganze Gedicht ist auf kleinen Papierstücken sehr schlecht und unleserlich niedergeschrieben, auf Briefkuverte, Visitenkarten, Einladungsbillette, ja sogar auf den Rändern alter Zeitungsblätter, und dann mit Stecknadeln und seidenen Fäden bestmöglichst zusammengeflickt.

Auf einem Pulte mitten in diesem Zimmer thront triumphierend das Heiligtum der Engländer, die ursprüngliche Magna Chartaliberatum, The Great Charter; Privileg für die englischen Stände, am 15. VI1215 von Johann ohne Land unter Druck von Klerus, Adel und Städten erlassen; sie sichert Freiheit der Kirche, Feudalordnung, Widerstandsrecht gegen willkürliche Bestrafung, persönliche Freiheit und persönlichen Besitz., unter Glas und Rahmen. Lange war sie verloren und ward glücklicherweise in dem Moment entdeckt, in welchem ein Schneider seine entheiligende Schere schon ansetzte, um Riemchen zum Maßnehmen daraus zu schneiden. Jetzt wird sie hier, wenn auch etwas verblichen, etwas zernagt vom Zahn der Zeit, dennoch sicher, kommenden Jahrhunderten aufbewahrt und von jedem echten Briten mit Ehrfurcht betrachtet.

Gern wären wir an einem anderen Tage ins Museum zurückgekehrt, aber die bestehende Einrichtung erschwerte uns diesen zweiten Besuch. Zuviel Fremde wünschten das Museum zu sehen, als daß die nämlichen öfter als einmal dazu kommen könnten. Nur wenige Personen dürfen zugleich zugelassen werden, und man muß sich lange zuvor um die Erlaubnis dazu anmelden. Donnerstag morgens wird es zwar öffentlich gezeigt, aber es ist weder Freude noch Nutzen dabei, von ziemlich unwissenden Aufsehern mit einer Menge von Leuten durch die Zimmer gedrängt zu werden. Wer zu wissenschaftlichem Zwecke diese Sammlungen benutzen will, kann auf gewisse Bedingungen die Erlaubnis dazu von den Vorstehern erhalten. Ein mit Schreibmaterialien und allem Erforderlichen wohlversehenes ruhiges Zimmer steht einige Stunden des Tages den Arbeitenden offen.

Herrn Whitbreads Brauerei

Wieviel Anstalten zu einem Kruge Porter! Welch ein Treiben und Knarren und Rasseln aller Maschinen! Biertonnen, größer wie ein Haus in den Hochlanden! Kühlfässer wie Meere! – Diese Brauerei verdiente in Walhalla für Odins Helden den stärkenden Gerstentrank zu bereiten.

Ohne fernere Ausrufungen können wir versichern, daß sie wenigstens zu Londons ersten Sehenswürdigkeiten gehört. Der alte König, welcher sie einmal mit seiner ganzen Familie besuchte, nahm im Brauhause ein Frühstück ein, das dem Eigentümer auf fünfzehnhundert Pfund Sterling zu stehen kam, und der berühmte englische Dichter, Peter PindarPseudonym für John Wolcot (1738-1819); Arzt und Geistlicher. 1778 kam er nach London und wurde ein gefürchteter Satiriker, der weder vor der königlichen Akademie noch vor dem Herrscherhaus zurückschreckte., war beflissen, diese merkwürdige Begebenheit in wohlgesetzten Reimen auf die Nachwelt zu bringen. Unter anderem fragte damals der König Herrn Whitbread: wie viel Fässer er besitze? Die Antwort war: »Der Länge nach dicht aneinandergelegt, möchten sie wohl von London bis Windsor reichen.« Bekanntlich liegt Windsor zweiundzwanzig englische Meilen von London: sieht man aber diese ungeheure Anstalt, so erscheint die Behauptung Herrn Whitbreads gar nicht unwahrscheinlich.

Eine nicht große, im Souterrain angebrachte Dampfmaschine ist die Triebfeder des ganzen ungeheuren Werks, die sauberste, einfachste, geräuschloseste, die wir je sahen. Man hat berechnet, daß sie die Arbeit von siebzig, Tag und Nacht beschäftigten Pferden verrichtet. Sie schafft das nötige Wasser herbei, leitet den fertigen Porter durch unterirdische Kanäle quer über die Straße in ein anderes Gebäude, wo er in Fässer gefüllt wird, bringt die Fässer zum Aufladen aus dem Keller herauf, mahlt das Malz, rührt es in den zwanzig Fuß tiefen Malzkufen und windet es vermittelst einer schraubenartigen Vorrichtung bis oben hinauf in die Spitze des Gebäudes.

Dort sind auch die ungeheuer großen, aber nur sechs Zoll tiefen Kühlschiffe oder Zisternen zum Abkühlen des Porters; wahre Seen, von denen man uns versicherte, sie würden fünf englische Acker Land bedecken; auch braucht der Porter nur sechs Stunden darin zu stehen, um kalt zu werden. Alles in dieser großen Anstalt trägt das Gepräge der höchsten Reinlichkeit und Ordnung und geht mit anscheinender Leichtigkeit vonstatten.

Täglich werden zur Verbesserung des schon so Vollkommenen neue Erfindungen gemacht; besonders ist man auf Ersparung der Feuerung bedacht, welche die drei großen Kessel, jeder zu fünfhundert Fuß, erfordern. Zweihundert Arbeiter werden täglich beschäftigt und achtzig ungeheuer große Pferde. Letztere sind vielleicht die größten Tiere ihrer Rasse, die es gibt; denn die Hufeisen eines derselben, welches krankheitshalber getötet werden mußte, wogen vierundzwanzig Pfund. Wahre Pferderiesen!

In einem Gebäude, hoch und groß wie eine Kirche, stehen neunundvierzig große Fässer, in welchen der Porter aufbewahrt wird, bis man ihn zum Gebrauch in kleinere abfüllt. Dadurch, daß er eine Zeitlang in so großer Masse beisammenbleibt, soll er vorzüglich verbessert werden. Wäre das Faß, welches Diogenes bewohnte, von solchem Kaliber gewesen, so konnte der Philosoph füglich an einem runden Tische zwölf Personen bewirten und noch ein artiges Boudoir für sich behalten. Das größte dieser Fässer hat oben eine Art Balkon, zu welchem eine Treppe führt, es ist siebenundzwanzig Fuß hoch und hält zweiundzwanzig Fuß im Diameter; von oben bis unten ist es mit eisernen, etwa vier Zoll voneinander entfernten Reifen beschlagen, unten gegen den Boden liegt Reif an Reif. Alle sind von starkem Eichenholz, mehrere enthalten dreitausendfünfhundert gewöhnliche Fässer; der Heidelberger Kollege käme in dieser respektablen Gesellschaft um seinen Ruhm.

Als wir das Haus verließen, waren wir wie betrunken vom Geruche des Porters; man müßte in dieser Atmosphäre schon von der Luft leben können. Die darin beschäftigten Arbeiter sahen indessen gar nicht aus, als ob sie sich auf solche Experimente einließen.

Greenwich

Mitten im Geräusche der in ewiger Arbeit emsig sich bewegenden City, an der Londoner Brücke, schifften wir uns auf einem der Boote ein, die, so wie die Fiaker in den Straßen, auf der Themse numeriert und unter polizeilicher Aufsicht dem Publikum zu Gebote stehen.

Diese Brücke, die älteste der drei, welche in London über die Themse führen, war schon seit einiger Zeit bestimmt abgebrochen zu werden, um einer auf einem einzigen Bogen ruhenden eisernen Platz zu machen. Wie die Brücke jetzt dastand, waren ihre Bogen viel zu eng für den mächtigen Strom, den sie beherrscht. Ungestüm drängt er sich wild brausend hindurch und verschlingt jährlich mehrere Opfer, welche die Verwegenheit, trotz der augenscheinlichen Gefahr hier durchzuschiffen, mit dem Leben bezahlen müssen.

Unabsehbar erstreckt sich in einer langen Reihe viele Meilen weit der Wald von Masten, durch den wir schifften. Der Strom wimmelt wie die befahrenste Landstraße von Barken und kleinen Fahrzeugen aller Art; eben ankommende oder abgehende große Schiffe bewegen sich majestätisch durch sie hin, von allen Seiten ertönt das Rufen des fröhlichen Schiffsvolks, Lebewohl und Willkommen schallen durcheinander; die mit Auf- und Abladen beschäftigten Arbeiter an den Schiffen, die Schiffswerften am Ufer, alles verkündigt hier den Markt der Welt.

Sowie wir uns von London entfernten, boten die Ufer des Stromes uns von beiden Seiten die mannigfaltigsten, lachendsten Aussichten. Endlich, fünf englische Meilen von der Stadt, breitete sich das Invalidenhospital von Greenwich1694 gegründet und in dem durch Christopher Wren fertiggestellten Bau untergebracht; gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgelassen. Heute Marineschule. mit seiner schönen Terrasse und allen seinen reizenden Umgebungen prächtig und groß vor unseren Augen aus.

Diese Freistatt, welche die Nation dem vom Kampfe mit den wilden Elementen endlich ermüdeten Helden darbietet, ist mit Recht ihr Stolz; denn die Welt hat dessengleichen nicht. Eigentlich sind es vier voneinander ganz abgesondert liegende Gebäude, die aber, von der Wasserseite gesehen, wie ein einziger großer Palast sich ausnehmen, geziert mit Säulen, Balustraden und aller Pracht der neueren Architektur. Eine große Terrasse, die eine entzückende Aussicht nach London zu bietet, zieht sich davor hin bis an den Strom, zu welchem man auf breiten steinernen Treppen hinabsteigt. Hier bestieg Georg der Erste(1660-1727); Kurfürst von Hannover, erster englischer Monarch aus dem Hause von Hannover, das mit dem Ableben der Königin Victoria 1901 erlosch. Georg I. betrat am 29. September 1714 hier zum ersten Mal englischen Boden. zuerst das Land, über welches er herrschen sollte. Mit welchen Erwartungen mag er nach St. James gefahren sein, wenn er vom Hospital auf die Residenz der Könige schloß!

Das ganze Gebäude ist aus schönen Quadersteinen erbaut. Vorzüglich bewundert man die mit fast verschwenderischer Pracht geschmückte Kapelle. Sie prangt mit Marmorsäulen, einem gut gemalten Plafond und jeder einem solchen Orte geziemenden Zierde. Einige schöne große Hallen dienen den Invaliden zum Spazierengehen bei schlechtem Wetter, besonders zeichnet sich die größte, mit einer Kuppel versehene Halle aus; sie ist hundertsechs Fuß lang und hat einen gut gemalten Plafond, schöne Säulen und Malereien. Ein angenehmer Park mit einer auf einem Hügel erbauten Sternwarte umgibt das Gebäude von der anderen Seite.

Es war ein schöner, menschenfreundlicher Gedanke, diese Ruhestätte am Ufer der Themse zu erbauen, im Angesichte aller ankommenden und auslaufenden Schiffe. Die abgelebten Helden haben hier den Tummelplatz ihres ehemaligen Lebens noch immer vor Augen; und dem in See stechenden Schiffer gibt der Anblick dieses Ruhehafens Trost und Mut. Nahe an dreitausend Veteranen ruhen hier von ihrem mühevollen Leben aus. Sie wohnen fürstlich, werden gut genährt und gepflegt, alle zwei Jahre neu, anständig, bequem gekleidet und erhalten wöchentlich ein gar nicht unbedeutendes Taschengeld zu ihren kleinen Bedürfnissen und Vergnügungen. In Krankheiten werden sie mit Sorgfalt gewartet. Sie sind nicht, wie in anderen Verpflegungsanstalten, von allem, was ihr Leben bedeutend machte, geschieden, sie leben und weben noch darin und kämpfen mit alten Kampfgenossen nochmals alle ihre gewonnenen Schlachten in froher Erinnerung, vor Gemälden, welche diese vorstellen und die Wände ihrer Speise- und Wohnsäle schmücken.

Besonders gut eingerichtet fanden wir die Schlafstellen. In langen, hohen, luftigen Sälen, welche zur Winterszeit von mehreren großen Kaminen erwärmt werden, sind auf der den Fenstern entgegengesetzten Seite eine Reihe Schiffskajüten ähnlicher Kabinette dicht aneinander gebracht. Jedes derselben hat neben der nach dem Saale ausgehenden Tür zwei Fenster und ist groß genug, um ein nach englischer Art geräumiges Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Koffer zu enthalten. Es gibt nichts Netteres und Saubereres als diese kleinen Zimmerchen; jedes hat einen Teppich, Fenster und Bett sind mit reinlichen Vorhängen versehen, an den Wänden auf dazu angebrachten Leisten stehen die zierlichen Tabaks- und Teekästen, Gläser, Tassen und dergleichen in gefälliger Ordnung. Kupferstiche zieren die Wände. Jeder hängt daran nach Gefallen Bildnisse des Königs, der Königin oder berühmter Seehelden auf; dazwischen Seeschlachten, Häfen und auch wohl manche lustige Karikatur.

Hundertvierzig Witwen verdienter Seemänner wohnen ebenfalls im Hause, sie verrichten darin alle weiblichen Arbeiten, pflegen die Kranken und werden in aller Hinsichte ebenso gut gehalten als die Veteranen selbst. Auch für die Waisen der gebliebenen Seemänner ist hier gesorgt; denn einige hundert Knaben werden in einem abgesonderten Teile des Hauses zum Gewerbe ihrer verstorbenen Väter erzogen. Noch dreitausend Invaliden, die im Hause nicht Platz fanden, erhalten außer demselben Pensionen.

Die St. Paulskirche

ein barockes Meisterwerk, von Christopher Wren zwischen 1675 und 1710 erbaut in Form eines lateinischen Kreuzes, auf Anordnung Jakobs II. und gegen den Wunsch des Architekten, dessen Pläne ein griechisches Kreuz vorsahen. Dazu eine Anmerkung Johannas: »Man zeigt noch in St. Paul ein Modell von dem ersten Plan des Baumeisters Sir Christopher Wren. Die damaligen regierenden Zeloten verwarfen ihn wegen seines heidnischen Ansehens, und wählten dafür die jetzige Kreuzform.« Die Behauptung Johannas, die Kirche wäre nach der Peterskirche in Rom die größte, ist irrig; die Kathedralen von Mailand, Sevilla und Florenz sind ebenfalls größer. Das Äußere von St. Paul ist durch Kupferstiche allbekannt. Leider übersieht man auf diesen das ungeheure Ganze besser als in der Wirklichkeit, in deren Umgebungen es nirgends einen guten Standpunkt dafür gibt. Diese Kirche, nach der Peterskirche in Rom die größte in Europa, liegt auf einem viel zu kleinen Kirchhof eingeklemmt zwischen Häusern, umgeben von engen Straßen. Auch im Innern findet sich keine Stelle, von der man sie ganz übersehen könnte, überall drängt sich die Architektur vor und verhindert eine reine Übersicht.

Mit allen diesen Fehlern macht dieses wunderbare große Gebäude dennoch einen imposanten Eindruck. Es scheint ganz leer, denn leicht übersieht man einige wenige Statuen und eine kleine, zum Gottesdienst eingerichtete Abteilung. Diese befindet sich in einem der Flügel, welche die Kreuzform bilden, in der die Kirche erbaut ist. Überall herrscht ehrfurchtgebietende, schauerliche Stille und Einsamkeit; nichts wird man von dem kleinlichen Geräte gewahr, welches die Menschen nötig zu haben glauben, um sich mit dessen Hilfe zur Gottheit zu erheben. Es ist ein Tempel im höchsten Sinne des Worts. Ein feierliches Grauen, eine Art Bangigkeit, die uns fast den Atem raubte, ergriff uns, als wir, mitten in der Kirche stehend, da hinauf blickten, wo beinahe unabsehbar der Dom sich wölbt, »ein zweiter Himmel in dem Himmel«. Es war kein erhebendes, es war mehr ein beängstigendes Gefühl. Die wenigen Menschen um uns her schwanden fast vor unseren Blicken und machten durch ihre Kleinheit die gewaltige Größe dieser Steinmasse uns erst recht anschaulich.

Es wurde sehr schwer, sich von diesem ersten Eindrucke loszureißen. Solche Pygmäen waren es doch auch, dachten wir endlich, welche dies erstaunenswerte Werk durch vereinte Kraft emportürmten, und ein einziger unter ihnen bildete es vor in seinem Geiste, noch ehe es sich in die Lüfte erhob. Ja, er dachte es sich noch weit herrlicher, als es jetzt dasteht, er allein leitete die Kräfte der vielen Hunderte, die arbeiteten und sich abmühten und doch nicht deutlich wußten, was sie taten. Jetzt ruhen der Werkmeister und die Arbeiter; aber ihr Werk wird stehen, trotzend der mächtigen Zeit, in herrlichen Ruinen, wenn die ganze volkreiche Stadt längst eine Wüste ward wie Palmyra und Persepolis.

Beherzter blickten wir nun hinauf und wandelten in dem hohen Raume, in welchem unserer Tritte feierlich widerhallten; wie lauter Donner ertönte es durch das weite Gewölbe, als man oben auf der Galerie, die am Fuße des Doms rings um denselben hinläuft, eine Tür zuwarf. Wir stiegen hinauf zu dieser Galerie; wunderbar ist der Blick von dort hinab und hinauf. In der Höhe glaubt man eine zweite Kirche sich erheben zu sehen, so hoch ist noch immer von hier das Gewölbe des Doms. In der Tiefe scheint der aus großen schwarzen und weißen Marmorquadern zusammengesetzte Fußboden wie feines Mosaik. Die Galerie heißt die Flüstergalerie, Whispering Gallery, weil das an die Mauer gelegte Ohr auf einer Stelle derselben alles deutlich vernimmt, was auf der entgegengesetzten Seite ganz leise gegen die Wand gesprochen wird.

Von dieser Galerie stiegen wir noch weiter, bis außen, wo auf der höchsten Höhe des Doms sich die sogenannte Laterne erhebt. Wir betraten die ihren Fuß umgebende Galerie mit der Hoffnung, von hier aus die Stadt und die zunächst umgebende Gegend zu übersehen. Der heitere Tag berechtigte uns zu dieser Hoffnung, aber der Steinkohlenrauch der vielen Feueressen verbarg uns die Nähe und der dem englischen Himmel eigene nebelartige Duft die Ferne.

Ein Trupp Matrosen, den wir mit großem Geräusche heraufsteigen hörten, trieb uns hinunter.

Wie wir durch Ludgate Hill, eine dem Kirchhof zunächst gelegene sehr volkreiche Straße nach Hause gingen, sahen wir alle Fußgänger still stehen und ängstlich nach dem von unten sehr klein scheinenden Kreuze hinblicken, welches über einer Kugel oben auf der Laterne des Doms von St. Paul befestigt ist. Auch wir sahen natürlicherweise hin und bemerkten etwas oben am äußersten Ende des Kreuzes sich Bewegendes. Mit Hilfe eines Glases entdeckten wir endlich einen der Matrosen, die uns vorhin in der Kirche begegneten. Er machte sich das halsbrechende Vergnügen, auf dieser entsetzlichen Höhe allerhand gefährliche Stellungen anzunehmen, den Hut zu schwenken, auf einem Beine zu stehen, bloß um die Zuschauer unten in ängstliche Bewunderung zu versetzen. Ihm, der auf dem wilden Meere, oben im hohen schwankenden Mastkorbe, gewiß längst jede Idee von Schwindel verlernt hatte, mochte dieser doch immer unbewegliche Standpunkt trotz seiner Höhe wohl gar nicht gefährlich dünken, während uns andere beim bloßen Anblick banges Grausen ergriff.

Der Tower

alte Stadtfestung und Gefängnis von London; ältester Teil (White Tower) von Wilhelm dem Eroberer erbaut. Die Gräben wurden 1843 trocken gelegt. Der Tierpark wurde 1834 in den zoologischen Garten in Regent's Park gebracht. Wir wollen die Löwen sehen, sagen die englischen Pächter- und Landjunkerfamilien, wenn sie eine Wallfahrt nach der Hauptstadt und ihren Merkwürdigkeiten unternehmen. Diese Löwen, eigentlich die im Tower aufbewahrte königliche Menagerie, dienen ihnen, als die Hauptmerkwürdigkeiten der Stadt, zur Bezeichnung alles Sehenswerten in derselben. Leider sind die edlen Tiere mitsamt ihrer Residenz durch diese Popularität etwas verrufen, und ein Fremder von gutem Tone wagt es kaum, den Tower zu besuchen. Wir gingen indessen doch hin, auf die Gefahr etwas gar Unmodisches, mit dem hohen Stil ganz Unverträgliches zu unternehmen, und suchten den Tower mit seinen Löwen am äußersten Ende der City auf, wo er nahe am Ufer der Themse liegt.

Grämlich und düster blickt dieser uralte Schauplatz unzähliger Greuel mit seinen grauen Türmen über den ihn umgebenden Wassergraben. In einem dicht über demselben erbauten, ziemlich niedrigen Gewölbe ist die Pforte angebracht, durch welche die Staatsverbrecher hineingeführt wurden. Sie heißt das Tor der Verräter, Traitor's Gate; man brachte die Unseligen von der Themse bis zu diesem Eingange, der sich hinter ihnen oft für immer verschloß.

Wir gingen durch das Tor des Haupteinganges hinein, welches zur Not für eine Kutsche Raum hat. Man machte uns aufmerksam auf die kleinen vergitterten Fenster über dem Tore. Sie befinden sich in dem Zimmer, in welchem der entsetzliche Richard der Dritte die beiden jungen Söhne seines Bruders ersticken ließ, als sie eben sanft und ruhig im festen Schlummer der Kindheit dalagen und von keiner Gefahr träumten. Uns gelüstete nicht, das Mordzimmer zu betreten.

Eine alte Sage gibt Julius Cäsar für den ersten Erbauer dieser Veste an; die Geschichte aber sagt uns, daß Wilhelm der Eroberer in der Mitte des elften Jahrhunderts den Grund dazu legte, um seine vielgeliebten Londoner im gehörigen Respekt zu erhalten. Man sieht es dem sehr weitläufigen Ganzen an, daß kein fester Plan bei dessen Gründung vorwaltete, sondern während der Regierung mehrerer Könige bald hier, bald da daran gebaut und zugesetzt ward.

Jetzt gleicht der Tower fast einer kleinen Stadt; er umschließt in seinem Bezirke mehrere Straßen, eine Kirche, Magazine, Kasernen für die Garnison, Häuser für die Offiziere, Zeughäuser, die Münze, nebst Wohnungen für die dabei beschäftigten Offizianten und sonst noch mancherlei Gebäude. Ein breiter Wassergraben läuft ringsumher, und zwischen diesem Graben und der Themse befindet sich eine Art Terrasse, auf welcher sechzig Kanonen stehen, die bei feierlichen Gelegenheiten abgefeuert werden. Der Tower wird, wie es bei Festungen Gebrauch ist, mit Sonnenuntergange geschlossen. Die Yeomen oder Ochsenfresser haben die Wache darin und dienen zugleich den besuchenden Fremden als Ciceronen. Hier sind sie ganz augenscheinlich am rechten Platze; ihre Kleidung und ihr ganzes Ansehen trägt gleich am Eintritte dazu bei, uns in frühe dunkle Jahrhunderte zu versetzen.

Die Münze mit den dazugehörigen Gebäuden nimmt ein gutes Drittel des Towers ein. Sie wird nicht gezeigt. Uns blieb der weiße Turm, die Schatzkammer und die Löwen zu sehen. Letzteren machten wir zuerst unseren Besuch.

Nicht nur Löwen werden hier in einer besonderen Abteilung in starken Käfigen bewahrt, auch Panther, Leoparden, Tiger und mehrere Arten wilder Bewohner der Wüsten, grimmige stattliche Bestien, denen man es ansieht, daß sie gut gehalten werden. Nach englischer Sitte hat jede derselben außer dem Schlafkabinette noch ein Wohnzimmer in ihrem Käfig, wo sie Besuch annimmt. Alle prangen mit christlichen Namen, besonders die Löwinnen; da findet man eine Miß Howe, Miß Jenny, Miß Charlotte, Miß Nanny, als wäre man auf einer englischen Assemblee. Viele dieser Tiere wurden hier im Tower geboren und erzogen, und es ist merkwürdig, daß diese gerade die wildesten und unbändigsten sind.

Die Kronjuwelen, welche ebenfalls der Tower aufbewahrt, zeigt man auf eine wunderlich ängstliche Weise, die sehr gegen die Liberalität absticht, mit welcher Fremde im Dresdner grünen Gewölbe herumgeführt werden. Der uns leitende Ochsenfresser öffnete uns eine kleine Türe, wir traten hinein und mußten uns alle in einer Reihe auf eine dastehende Bank setzen. Die Tür ward hinter uns abgeschlossen, und wir befanden uns in einem kleinen steinernen, ganz dunklen Gewölbe wie in einem Gefängnis. Die unerwartete Finsternis blendete uns; es währte lange, ehe wir dicht vor uns ein starkes eisernes Gitter entdeckten und hinter demselben eine alte Frau zwischen zwei Lichtern.

Dieser etwas drachenähnliche Hüter unterirdischer Schätze zeigte uns nun viele Kostbarkeiten. Manches Stück davon war wegen der alten, mitunter sehr feinen Arbeit merkwürdig; zum Beispiel ein goldener Adler, dessen Hals das heilige Öl zur Salbung der Könige enthält; der goldene Löffel, in welchen der Bischof bei der Krönung dieses Öl gießt, und vieles uralte Tischgeräte von Gold und Silber. Dann sahen wir auch das mit französischen Lilien verzierte Zepter, den Reichsapfel, viele Kronen und mehr dergleichen Dinge, die bei Krönungen und anderen festlichen Gelegenheiten noch zum Teil gebraucht werden. Eine Perle von unschätzbarem Werte, ein Smaragd, der im Umfange sieben Zoll groß ist, und ein wunderschöner Rubin schmücken die Krone, welche der König im Parlamente auf dem Haupte trägt; die Krone des Prinzen von Wales wird im Parlamente vor diesen hingesetzt, als ein Zeichen, daß er noch nicht berechtigt ist, sie zu tragen. Alle diese Herrlichkeiten blitzen von köstlichen Edelsteinen. In der düsteren Höhle sahen sie wie ein von bösen Geistern bewachter Feenschatz aus; ihr Wert wird über zwei Millionen Pfund Sterling angegeben, ohne die seltenen Steine, deren Wert man gar nicht bestimmen kann.

Von hier wandten wir uns zum weißen Turme, der aber weder ein Turm noch weiß ist, sondern ein großes viereckiges Gebäude mitten in der Festung, alt, grau und rostig anzuschauen. Vier Wachttürme krönen dessen Zinnen, von welchen einer zur Sternwarte eingerichtet ist.

Im ersten Stock sahen wir die der großen spanischen Armada abgenommenen Trophäen. Lauter alte, zum Teil recht sonderbar erdachte Mordgewehre. Eine Menge Daumenschrauben befinden sich dabei; die Spanier führten sie bei sich, um damit bei ihrer Landung von den besiegten Engländern Auskunft über etwa verborgene Schätze zu erpressen.

In diesem Saale ist eine lebensgroße Puppe zu schauen, welche die Königin Elisabeth vorstellt, wie sie eben im Begriffe ist, einen weißen Zelter zu besteigen. Sie trägt die Kleider, welche Ihre Majestät trug, da sie nach diesem merkwürdigen Siege zum Volke sprachUntergang der spanischen Armada im Kampf gegen die englische Flotte unter Sir Francis Drake 1588.. Wir möchten aber keiner Schauspielerin raten, sich zur Rolle der Elisabeth nach diesem Muster zu kostümieren. Die gute Dame sieht schrecklich aus, besonders das zu einem hohen, breiten Turme aufgekräuselte Haar, welches gar nicht mehr wie Haar aussieht, und die unendliche, spitzig zulaufende, in einen Harnisch gepreßte Taille.

Hier sahen wir auch das Beil, unter welchem der Anna Boleyn schönes Haupt fielzweite Gattin Heinrichs VIII.; 1536 enthauptet., und mehr dergleichen traurige Merkwürdigkeiten, von denen der Tower wimmelt.

Die Waffen neuerer Zeit sind in einem anderen sehr großen Saale aufgestellt. Nimmer hätten wir diesen Mordgewehren zugetraut, daß sie einen so hübschen Anblick gewähren könnten. Sie sind hier auf's Zierlichste und mit einer Art Erfindungsgeist und Geschmack geordnet; die Wände blitzen von Bajonetten, Pistolen, Degen und Säbeln, in tausend verschiedenen Formen gestellt; da sieht man daraus zusammengesetzte Kirchenfenster, eine Orgel, Wappen, Sterne, Schlangen; die Decke ruht auf Pfeilern von Musketen, um welche zierliche Girlanden von Pistolen sich winden.

In einem anderen großen Saale sind alle Könige Englands, von Wilhelm dem Eroberer an bis auf Georg den Zweiten in einer langen stattlichen Reihe, zu Pferde, in voller Rüstung zu schauen. Die zum Teil sehr prächtigen Rüstungen sind die nämlichen, welche ihre Inhaber bei Lebzeiten trugen. Auch Georg der Zweite hat eine über und über vergoldete Rüstung an; der Ochsenfresser, unser Cicerone, versicherte uns sehr naiv, dieser Herr habe solche nie getragen. Der berühmte John of Gaunt, Sohn Eduards des Dritten, muß ein Riese ohnegleichen gewesen sein; seine Rüstung ist sieben Fuß hoch, Schwert und Lanze dem angemessen. Auch Heinrich der Achte war gewiß ein ansehnlicher Herr; die für ihn in seinem achtzehnten Jahre verfertigte Rüstung gibt der des John of Gaunt an Größe wenig nach.

Der Palast von Westminster

Der Palast brannte 1834 ab. Im heutigen Parlamentsgebäude sind nur die Westminster Hall und die Krypta und der Kreuzgang der St. Stephens Chapel aus der Zeit von Johannas Besuch. Als Hauptgerichtshof diente die Hall bis 1883. Sie stammt vom Palast Richards II. aus dem Jahre 1398. In diesen Überbleibseln eines uralten, von Eduard dem Bekenner erbauten Palastes thront jetzt die Göttin Themis. Gleich den Königen von England ist auch sie schlecht logiert, und ihre Residenz sieht von innen und außen sehr zerfallen aus. Neugierig, den Schauplatz so vieler merkwürdiger Entscheidungen, den Tummelplatz der berühmtesten Redner der Welt zu sehen, eilten wir eines Morgens hin.

Zuerst traten wir in die Westminster Halle. Es ist ein hoher, gewölbter Saal, zweihundertfünfundsiebzig Fuß land und vierundsiebzig breit. Man hält ihn in England für den größten in Europa, dessen Decke nicht auf Säulen ruht. Dies mögen wir nicht bestreiten, aber trotz seiner Größe gewährt er keinen brillanten Anblick. Die Wände sind ohne alle Verzierungen, und die künstlich geschnitzte Decke von Eichenholz nimmt sich, von unten aus gesehen, schon wegen der braunen Farbe des Holzes nicht besonders aus. In der Nähe betrachtet, sollen diese Verzierungen im gotischen Geschmacke nicht ohne Kunstwert sein.

In früheren Zeiten diente diese Halle bei großen Festen und Schmausereien den Königen zum Speisesaal. Richard der Zweite soll darin auf einmal zehntausend Personen bewirtet haben. Oft ward hier das Parlament versammelt, hier war der große Gerichtshof, in welchem der König persönlich präsidierte. Der unglückliche Karl der Erstewegen seiner absolutistischen Bestrebungen stand er im Gegensatz zu Parlament und Cromwell. Als er mit den Schotten zu paktieren suchte, wurde er wegen Hochverrats vor ein außerordentliches Gericht gestellt, am 25. Januar 1649 zum Tode verurteilt und am 30. vor seinem Palast Whitehall enthauptet. ward in dieser Halle verhört und verurteilt, und noch jetzt versammeln sich hier die Richter bei wichtigen seltenen Rechtsfällen, wenn ein Pair des Reichs oder irgendeine andere sehr wichtige Person angeklagt wird. Gewöhnlich aber dient diese Halle den Advokaten und ihren Klienten zur Promenade, bis die Reihe sie trifft, bei Gericht vorgelassen zu werden.

Wir sahen hier viele der ersteren in schwarzen Mänteln, mit großen, weißgepuderten Perücken auf- und abwandeln. Sehr ungeniert ging es übrigens zu, jeder wandelte, wohin es ihm beliebte; keine Wache, kein Türsteher, niemand, der auf Ordnung hielte, war sichtbar. Auch wir eilten ungestört umher, traten von ungefähr hinter einen an der Seitenwand der Halle angebrachten Vorhang und sahen uns plötzlich zu unserem Erstaunen in einem nicht großen, nicht schönen, aber ziemlich dunklen Zimmer, das uns wie eine Dorfkapelle vorkam. Auf einer kleinen Erhöhung hinter einem Tische saß ein schwarzbemäntelter Herr mit einer gewaltig respektablen Staatsperücke. Es sprach sehr angelegentlich und eindringend; wir aber verstanden kein Wort von dem, was er sagte, denn eine Menge Leute gingen mit großen Geräusche aus und ein und machten einen Lärm, als wären sie für sich allein zu Hause. Zuweilen rief wohl irgend jemand: »Silence!«, aber niemand kehrte sich sonderlich daran, der Lärm dauerte fort nach wie vor. Rund um den Tisch saßen dreißig bis vierzig andere Herren auf Bänken, ebenfalls mit schwarzen Talaren und weißen, obgleich etwas kleineren Perücken. Alle schienen emsig beflissen, dem Redner zuzuhören, so gut es sich bei so bewandten Umständen tun ließ. Zu unserem Erstaunen vernahmen wir, dies sei der hohe Gerichtshof, High Court of Chancery, und der Herr obenan der Lordkanzler, die anderen wären die Richter, welche in diesem unruhigen Winkel sich versammelten, um sehr bedeutende Prozesse zu entscheiden. Man kann indessen von ihrer Entscheidung noch an das Oberhaus appellieren.

Verwundert über die leichte Art, mit der hier die wichtigsten Dinge betrieben werden, irrten wir eine Weile im alten Palaste umher, durch viele uralte gewölbte Gänge, Treppen auf und ab, kreuz und quer; zuletzt fanden wir uns wieder nahe an der großen Halle, im Gerichtshofe von Kingsbench, Court of Kingsbench.

Hier sah es nicht besser aus als im hohen Gerichtshofe; derselbe Lärm, dieselbe Unordnung. Zwei Herren, mit Perücken angetan, die auf einer größeren Erhöhung sich befanden, präsidierten; einer von ihnen war der Oberrichter, Lord Ellenborough. Vor ihnen, hinter Schranken, standen ein paar arme Teufel mit wahren Armesündergesichtern, über deren Haupt es eben herzugehen schien.

Vor dem Gerichtshofe von Kingsbench werden fast alle Kriminal- und Polizeiverbrechen gerichtet; der berühmte Mr. ErskineThomas, englischer Advokat und Staatsmann, seit 1805 Lord und Lordkanzler. Verteidiger von Thomas Paine. und sonst noch mehrere ausgezeichnete Rechtsgelehrte treten hier oft als Verteidiger oder Kläger vor die Schranken. Hoffentlich gönnt man diesen Männern mehr Aufmerksamkeit, als sonst hier gebräuchlich ist. Nie und nirgends sahen wir das, was doch erst das ernsteste Geschäft der Welt ist, die Entscheidung zwischen Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld, Lohn und Strafe, Leben und Tod, auf eine so leichtsinnige Weise betreiben. Keine Spur war zu erblicken von dem imponierenden Ernste, der von jedem Richterstuhle unzertrennlich sein sollte. Unbegreiflich ist es nur, wie Richter und Advokaten diesen Lärm ertragen, ohne alle Aufmerksamkeit für ihr Geschäft zu verlieren. Wir eilten hinaus und resignierten gern darauf, noch zwei Gerichtshöfe zu sehen, die sich ebenfalls im Palaste von Westminster befinden und in welchen es nicht besser hergeht als in den beiden, welche wir besuchten.

Da das Parlament leider nicht versammelt war, so wollten wir doch wenigstens das Lokal sehen, in welchem das Oberhaus zusammenkommt. Dies ist ein alter, mittelmäßig großer, räucheriger Saal. Verblichene gewirkte Tapeten, welche den Sieg über die Armada vorstellen, bekleiden die Wände; man rühmt ihren Kunstwert, aber die verheerende Zeit und der ihr treulich beistehende Staub und Schmutz haben sie dermaßen entstellt, daß wenig mehr von ihrem ehemaligen Glanze zu entdecken ist. Am oberen Ende des Saals, auf einer Erhöhung, steht der königliche Thron, der wie der Baldachin einer vom Trödel geholten, altmodischen, rotdamastenen Himmelbettstelle sich ausnimmt. Daneben, zur rechten Hand, stand ein ebenso alter und unscheinbarer Lehnstuhl für den Prinzen von Wales und zur Linken sechs Stühle für die übrigen Prinzen. Mitten im Saal liegen vier große viereckige, mit rotem Zeuge bezogenen Wollsäcke für die Lords, welche zugleich Richter sind; die übrigen Lords finden ihre Plätze auf einigen zu beiden Seiten stehenden Reihen Bänken. Ein sehr großer Kamin vollendet das Ganze; er ist mit einer Barriere von eisernem Gitterwerke versehen, vermutlich damit niemand im Eifer des Debattierens hineinfalle.

So sieht der Saal aus, in welchem oft das Schicksal von Millionen entschieden wird, der Saal, in welchem die ersten und mächtigsten Glieder einer Nation sich versammeln, welche gern dem ganzen Erdball Gesetze gäbe und noch nie fremde annahm. Vielleicht ist gerade diese Unscheinbarkeit der sprechende Beweis des Stolzes, der, auf innerem Bewußtsein ruhend, allen äußeren Glanz verachtet.

Im Unterhause sieht es nicht glänzender aus; nur der Thron und die Wollsäcke fallen weg, sonst ist die Einrichtung des Saals ungefähr die nämliche. Die Wände sind mit braunem Holze getäfelt, und an einer Seite, oben, befindet sich eine Galerie für die, welche den Sitzungen als Zuschauer beiwohnen wollen. Keine Frauen werden hier während derselben zugelassen. Auch möchten wenige es ertragen können, sich zur Erhaltung eines guten Platzes schon um neun oder zehn Uhr morgens einzufinden und dann oft bis Mitternacht dort auszudauern. Indessen ist doch dafür gesorgt, daß man nicht verhungere; denn ein Gastwirt hält in einem unter dem nämlichen Dache befindlichen Kaffeezimmer Erfrischungen für die Mitglieder des Unterhauses bereit; auch Fremden ist's erlaubt, sich in seiner Küche zu erquicken und zu stärken. Es ist Sitte, daß man nach einer solchen Exkursion seinen Platz in der Galerie unbesetzt wiederfindet.

Ursprünglich war der Saal des Unterhauses eine Kapelle, vom Könige StephanStephan von Blois, Enkel Wilhelm des Eroberers, von 1135-1154 König von England. dem Schutzheiligen seines Namens gewidmet. Der prachtliebende Eduard der Dritte stellte sie in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts wieder her. Heinrich der Sechste gab ihr ihre jetzige Bestimmung, ließ sie dazu einrichten und durch mancherlei Abteilungen zu Gängen und Nebenzimmern verkleinern. Leider ward dadurch eins der schönsten Werke gotischer Kunst so gut als vernichtet. Vor mehreren Jahren riß man einen Teil der Vertäfelung, welche die Wände bekleidet, herab, um den Saal zu vergrößern. Mit Erstaunen entdeckte man die Überbleibsel der reichen Verzierungen an der ursprünglichen Mauer und schloß mit Bedauern aus diesem Wenigen auf die ehemalige Pracht des Ganzen. Man fand unschätzbare Spuren der Kunst jener Zeiten, wunderkünstliches Schnitzwerk, Malereien und Vergoldungen, frisch und glänzend, als wären sie von gestern; besonders am östlichen Ende der Kapelle, wo man noch deutliche Spuren des Hochaltars sah. Seitenwände und Decke waren dort mit schönem Schnitzwerke und alten Wappenbildern ganz bedeckt; dazwischen einige lebensgroße gemalte Figuren und ein uraltes Gemälde, die Anbetung der Hirten vorstellend, für den Freund der Kunstgeschichte von unendlichem Werte. Alles wurde barbarischerweise zerstört und gänzlich vernichtet, um dem jetzt existierenden traurigen Saale Platz zu machen, als gäbe es in ganz London keinen anderen Raum, in welchem die Herren des Unterhauses sich versammeln könnten. Von aller dieser Herrlichkeit blieb nur ein einziges schönes gotisches Fenster, durch welches die Sonne jetzt trübe blickt, als vermisse sie den ehemaligen Glanz.

Von außen sah das ganze Gebäude traurig und verfallen aus, sowie auch die schöne, gegenüberstehende, dazugehörige Kirche, die berühmte Abtei von Westminster. Man wendete wenig Mühe und Kosten daran, diese Denkmäler früherer Zeiten zu erhalten, und sie schienen allmählich ihrem Untergange zusinken zu wollen.

Die Westminster Abtei

Diese Behausung berühmter Toter steht öde und trauernd, selbst einem großen Grabmale vergangener Jahrhunderte ähnlich. Die alte Herrlichkeit und Schönheit der in der gewöhnlichen Kreuzform erbauten gotischen Kirche kann man von außen nur ahnen; denn hier so wenig wie bei St. Paul ist ein Standpunkt zu finden, von welchem es möglich wäre, das Ganze zu überblicken. Zwei schöne viereckige Türme krönen die hohe Zinne; jeder derselben ist nach gotischer Art mit mehreren kleinen, leicht in die Luft sich erhebenden Türmchen geziert; ein prächtiges Portal führt in das innere Heiligtum.

Vom Eingange an der Westseite überblickt man den ganzen Plan desselben. Einem versteinerten heiligen Haine gleich, steht es vor uns in seiner ehrwürdigen erhabenen Pracht. Schlanke und doch verhältnismäßig starke Pfeiler tragen das hohe, wie von Geisterhänden kühn geschaffene Gewölbe, an welchem Bogen über Bogen sich leicht und luftig erheben. Jeder dieser Pfeiler besteht aus eine Gruppe von fünf Pfeilern, die sich zu einem einzigen vereinen. Das durch die hohen bemalten Fenster verschleiert eindringende Sonnenlicht verbreitet heilige Dämmerung ringsumher, über alle die unzähligen, mit unendlichem Kunstfleiße gearbeiteten Verzierungen, welche diesen ehrwürdigen Tempel schmücken.

Alles Alte darin ist groß, herzerhebend und erfreulich; desto unangenehmer sticht alles Neuere dagegen ab. Besonders fremd nimmt sich der moderne, von weißem Marmor im sogenannten griechischen Geschmacke erbaute Altar in dem wunderherrlichen alten Chor aus, in welchem die englischen Könige gekrönt werden.

Auch die unzähligen Monumente, welche diese Kirche eigentlich überfüllen, zerstören die Einheit des Gebäudes. Ohne Ordnung und Wahl stehen sie durcheinander, als hätte man sie vor irgendeinem Unfalle hierher geflüchtet und einstweilen hingestellt, wo eben ein freies Plätzchen zu finden war. Obendrein scheinen die wenigsten, wenn man sie als Kunstwerke betrachtet, diese Sorgfalt zu verdienen. Viele sehen in dieser hohen Umgebung nur um so kleinlicher aus; oft sind Mauern aufgeführt, an die sie lehnen, und obgleich es ein schöner Gedanke ist, daß eine große Nation hier in ihrem heiligsten Tempel, bei den Gräbern ihrer Könige, das Andenken großer, verdienter Männer dankbar aufbewahrt, so kann man sich doch nicht enthalten zu wünschen, daß dieses auf eine weniger störende Weise geschehen sein möchte. Ein großer Teil der Ausführung des schönen Zwecks geht durch die Art verloren, mit welcher alles unter- und übereinander gestellt ist. Durch Staub, Schmutz und unzählige Spinnweben muß man sich drängen, um manches Monument in seinem engen Winkel zu betrachten, und dabei den Kummer zu fühlen, das wahrhaft Schöne und Große durch soviel Mittelmäßigkeit verdrängt und entstellt zu sehen.

Eine Ecke in einem der kürzeren Flügel ward dem höheren Talent gewidmet. Sehr unpoetisch nennt man diese Abteilung den Poetenwinkel, The Poets Corner. Hier finden wir Goldsmith, Händel, Shakespeare, Garrick, Chaucer, Buttler, Thomson, Gay, Johnson, Milton, Dryden und viele andere, nur nach Swift, Sterne und Pope suchen wir vergebens. Der Platz ist sehr enge, und mancher hochgefeierte Name muß sich in diesem Pantheon aus Mangel an Raum mit einem unscheinbaren Winkel behelfen. Ein Medaillon mit dem Profil des durch Talent und Schicksal unserem Hölty so nah verwandten Goldsmith ist über der Türe angebracht. Händel sitzt schreibend und aufhorchend, als belausche er die Melodie der Sphären und eile, sie auf dem Papiere festzuhalten. Im königlichen Schmucke tritt Garrick hinter einem Vorhange hervor und schaut entzückt und geblendet die neue Szene. Gedankenvoll lehnt Shakespeare an einem Postament und zeigt auf eine herabhängende Pergamentrolle mit folgender Inschrift aus seinem »Sturm«:

»So werden
Die wolkenhohen Türme, die Paläste,
Die hehren Tempel, selbst der große Ball,
Ja, was daran nur Teil hat, untergehen,
Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug
Wie der zu träumen, und dies kleine Leben
Umfaßt ein Schlaf.«

Unter den im übrigen Teil der Kirche zerstreuten Denkmälern wird das dem Lord Mansfield gewidmete von den Engländern besonders hoch gehalten. Es ist vom jüngeren Flaxmann gearbeitet. Dieses und das des Lords Chatham, Vater des berühmten William Pittim Gegensatz zu seinem Vater der jüngere Pitt genannt (1759-1806). War zweimal Premierminister. Seine größten Verdienste um das Staats- und Wirtschaftsleben Großbritanniens waren die Ostindische Bill, die Verfassung Kanadas und die Union mit Irland. Vorkämpfer gegen Napoleon., wurden jedes mit sechstausend Pfund Sterling bezahlt. Lord Mansfield, in der weiten, der plastischen Kunst gar nicht vorteilhaften Tracht der englischen Richter, sitzt in ziemlich ungraziöser Stellung auf dem Richterstuhle; eine Hand stützt sich auf's Knie, die andere hält eine Pergamentrolle. Neben seinem Sitze, etwas niedriger, stehen Weisheit und Gerechtigkeit, hinter ihm der die Fackel auslöschende Tod, gewagt genug in der Gestalt einer schönen, nackten, weiblichen Figur dargestellt.

Hoch auf dem Piedestal, in Rednerstellung, steht Lord Chatham; viele Tugenden weinen zu seinen Füßen und lassen es unentschieden, ob seine Rede sie rührt, oder ob er Dinge sagt, über welche die Tugend weinen muß.

Auch die traurigen Manen des unglücklichen Majors Andree, der im amerikanischen Kriege vom erbitterten Feinde als Spion gehängt ward, finden hier ein ehrenvolles, seinem Andenken geweihtes Monument.

Zwölf an die Kirche sich anschließende Kapellen enthalten die Asche der Könige und einiger sehr vornehmer Familien. Seit Elisabeths Zeiten ward keinem Könige ein Monument hier errichtet, obgleich alle hier begraben liegen.

Gern betrachteten wir jene alten Denkmäler; fast alle sind große, viereckige Sarkophage, auf welchen die Statue des Verstorbenen in völliger Staatskleidung ausgestreckt daliegt, mit gefalteten Händen, ruhig wie im Schlummer. Keine Zerrbilder fanden wir wie in Paris aux petits Augustins, wo Franz der Erste, Maria von Medici und Karl der Neunte in den gräßlichsten Verzerrungen des Sterbens, mit wild zerstreutem Haare, fast nackt, in entsetzlichen Konvulsionen auf ihren Gräbern abgebildet liegen. Gerührt standen wir hier am Grabe der Maria Stuart. Man hat sie unweit ihrer Todfeindin und Mörderin gebettet; das Gesicht ihrer Statue war durch die Zeit fast unkenntlich geworden.

Die älteste der zwölf Kapellen enthält das Grab Eduards des Bekenners; es war mit Mosaik von farbigen Steinen geziert, welche leider größtenteils von ungezogenen Altertumsfreunden ausgebrochen und mitgenommen wurden.

Eduard der ErsteKönig von England (1272-1307); er kehrte 1274 aus dem Heiligen Land zurück, nachdem er mehrere Jahre dort gekämpft hatte. ruht ebenfalls hier; neben ihm seine Gemahlin, Eleonore von Kastilien, dieses Muster ehelicher Lieber und Treue bis in den Tod. Als ihr Gemahl noch Kronprinz war, zog auch er 1274 zum frommen Kriege ins gelobte Land. Eleonore begleitete ihn, achtete nicht der weiten, gefahrvollen Reise, wollte lieber alles Ungemach dulden, als von dem so hoch Geliebten entfernt leben. Gestärkt durch ihren Anblick, angefeuert durch ihren Mut, richtete er siegend unter den Sarazenen bald große Verwüstungen an. Die Ungläubigen rächten sich aber fürchterlich und tückisch. Sie sandten Meuchelmörder gegen ihn aus, die ihn mit einem tödlich vergifteten Pfeile am Arme verletzten. Die Mörder fielen zwar unter den rächenden Schwertern seiner Getreuen, aber Eduard ward bewußtlos in sein Zelt getragen. Die Ärzte gaben ihn ohne Rettung verloren, wenn nicht einer seiner Diener das Gift aus der Wunde zu saugen und das Leben des Gebieters mit Aufopferung des eigenen Lebens zu erhalten sich entschlösse. Starr und stumm standen all um das Sterbebette ihres künftigen Königs; sie hatten oft dem Tode in seiner furchtbarsten Gestalt getrotzt, dennoch konnte keiner zu diesem Opfer sich entschließen. Da eilte Eleonore herbei; niemand durfte es wagen, sie zu hindern; sie warf sich auf den verwundeten Arm, und bald schlug der Gerettete die Augen wieder auf. Mit welchem Gefühl er auf diese Weise sich dem Leben wiedergeschenkt sah, wie sie, fürchtend ihn auf's neue zu vergiften, es nicht wagte, ihn zum letzten Mal an die treue Brust zu drücken, und nur von ferne, zitternd vor Freude, vor ihm stand, dafür haben wir keine Worte. Konnte das Gift diesem engelreinen Wesen nicht schaden? War es vielleicht nur bei einer äußeren Verletzung tödlich? Dies wissen wir nicht; genug, Eleonore lebte noch mehrere Jahre ein glückliches, schönes Leben an der Seite ihres Gatten, teilte bald darauf mit ihm den Thron und fand erst neunzehn Jahre später hier ihre letzte Ruhestätte.

So erzählt die Sage, und zu schön, um ihre Wahrheit zu bezweifeln, obschon einige berühmte Geschichtsschreiber diese rührende Begebenheit nicht erwähnen.

Auch auf diesem Sarkophage ist die Gestalt der darunter Schlummernden abgebildet. Die Kunst war damals noch in der Kindheit, aber diesmal führte ihr Genius den Meißel des Künstlers, ein schützender Engel wachte über das Bild und barg es vor der zerstörenden Zeit. Eleonorens Gesicht strahlt noch von hoher Schönheit und wunderbarer Güte und Milde auf dieser ihre Züge der Nachwelt aufbewahrenden, wohlerhaltenen Abbildung.

Die Gräber Eduards des Dritten und Heinrichs des Dritten sind ebenfalls in dieser Kapelle.

Das Monument Heinrichs des Dritten, ein merkwürdiges Denkmal alter Kunst, ist reich verziert mit Porphyr, Mosaik und Vergoldungen; seine in Erz gegossene Statue ruht darauf. Hier stehen auch die alten Sessel, auf welchen die Könige bei der Krönung sitzen; in einen derselben ist der Stein eingefügt, welcher den Königen von Schottland zum Königsthrone diente. Eduard der Erste ließ ihn von Scone, welches die Leser aus dem ersten Teile dieser Erinnerungen kennen, hierher bringen.

Die dicht daran stoßende Kapelle Heinrichs des Fünften ist wegen ihrer altertümlichen Pracht eine der merkwürdigsten. Leider liegt der gute König ohne Kopf auf seinem Grabmale, auch Reichsapfel und Zepter sind seinen Händen entrissen. Alles dies war, dem solide Pracht liebenden Geschmack jener Zeit gemäß, ganz von gediegenem Silber und konnte selbst in diesem Heiligtume der schlauen Habsucht listiger Diebe nicht entgehen.

Neun andere Kapellen, verschiedenen Heiligen geweiht, deren Namen sie noch führen, enthalten viele für den Altertumsforscher höchst merkwürdige Gegenstände, viele Belege zur Geschichte des Kunstgeschmacks und der Lebensweise im Mittelalter; selbst das uralte hölzerne Monument des sächsischen Königs Sebert, welcher zuerst an diesem Orte eine Kirche erbaute.

Merkwürdig war uns das Grab eines Grafen Leicester wegen seiner Ähnlichkeit und zugleich Unähnlichkeit mit dem berühmten Bettstelle des Grafen von Gleichen. Gar stattlich ruht der edle Graf im ritterlichen Schmucke, mitten auf dem ungeheuer breiten Sarkophage, den er sich selbst errichten ließ; neben ihm, zur rechten Hand, in holder Bescheidenheit, seine erste Gemahlin; aber der ziemlich weite Platz zur Linken ist leer. Seine zweite Gemahlin konnte unmöglich sich entschließen, ihrer wenn auch toten Nebenbuhlerin im Range zu weichen, sie wollte durchaus nicht mit der linken Hand vorlieb nehmen, während ihre Vorgängerin zur Rechten läge. Noch auf dem Totenbette war es bis zum letzten Augenblicke die angelegentlichsten Sorge der rangsüchtigen Frau, solche Unbilde zu verhindern. Sie erreichte ihren Zweck, man begrub sie anderswohin; niemand weiß, wo ihre Gebeine ruhen. Das Andenken ihres Lebens wäre längst verschollen, wenn nicht das ihrer Torheit auf dieser leeren Stelle kommenden Jahrhunderten aufbewahrt worden wäre.

Alle diese Kapellen sind mit der Westminster Abtei unter einem Dache, nur die letzte und schönste, die Kapelle Heinrichs des Siebenten, ist daran angebaut, so daß nur der Eingang dazu in der Kirche steht.

Dies Gebäude ist eines der schönsten seiner Zeit, aber leider sahen wir es in einem unverantwortlich vernachlässigten Zustande, mehr noch als die Kirche selbst. Kaum wurde das Dach desselben notdürftig unterhalten; hätte man die langsam zerstörende Zeit noch länger ungehindert fortwüten lassen, so wäre bald alles zu einer schönen Ruine zusammengesunken, die überall sich besser ausgenommen haben würde als an dieser, dem heiligen Andenken großer Vorfahren geweihten Stelle. Von außen ist die Kapelle mit aller Pracht der gotischen Baukunst geschmückt, das Ganze im schönsten Ebenmaße, leicht und erfreulich. Vierzehn schöne durchbrochene Türme sind die Hauptzierde. Zum Eingange, von der Kirche aus, dient ein prächtiges, in Stein gehauenes Portal, welches drei sehr künstlich gearbeitete Gittertüren von vergoldetem Eisen verschließen. Die Decke ist über und über mit schöner Bildhauerarbeit von Stein geschmückt, schöne, gewölbte Bogen, unterstützt von Pfeilern im reinsten Ebenmaße, prächtige Fenster, herrliches Schnitzwerk, alle Pracht gotischer Architektur ist hier zu finden. Unmöglich kann man dieses schöne Überbleibsel früherer Zeit zu hoch preisen, und wohl wäre es wünschenswert, daß die Kapelle einen Freund und Verehrer fände, wie der Dom von Köln ihn an dem Herrn von Boisserée fand,Sulpiz und Melchior, zwei Brüder, gebürtige Kölner, deutsche Kunstsammler und -historiker, mit Goethe befreundet. Sulpiz (1783-1854) vor allem war es, der durch eine Beschreibung die Vollendung des Kölner Doms anregte.

Zum üblen Erhaltungszustand hat Johanna in der Ausgabe von 1830 in einer Anmerkung ergänzt: »Dieser Wunsch ist seit dem ersten Erscheinen dieses Buches erfüllt, und auch für die bessere Erhaltung der Westminsterabtei wird Sorge getragen.« welcher der kommenden Zeit wenigstens im treuen Bilde ein Andenken der sichtbar hinsinkenden Herrlichkeit aufbewahrte.

Mitten in der Kapelle steht das Grab Heinrichs des Siebenten von schwarzem Basalt, verziert mit vergoldeter Bronze, umgeben von einem ebensolchen, sehr prächtigen Geländer. Sechs Basisreliefs und vier Statuen von vergoldetem Erze schmücken dies Werk des Florentiners Pietro Torregiano.

Außer diesen wirklich merkwürdigen und ehrwürdigen Kunstwerken werden hier auch aufbewahrte Wachsbilder alter Könige und Königinnen in alten Glasschränken gezeigt. Wahre Vogelscheuchen, die dem Untergange längst hätten übergeben werden sollen. Nur das leiht ihnen einiges Interesse, daß sie mit den nämlichen Kleidern angetan sind, welche die hohen Herrschaften bei Lebzeiten trugen. Wüßte besonders die Königin Elisabeth, welch ein häßliches Bild von ihr die Nachwelt hier anstaunt, so würde die ihr im Leben so eigen gewesene Eitelkeit ihr noch im Grabe keine Ruhe lassen.


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