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Erstes Kapitel.
Vom Sehn.

§ 1.
Verständigkeit der Anschauung. Unterscheidung des Verstandes von der Vernunft, und des Scheines vom Irrthum. Erkenntniß, der Charakter der Thierheit. Anwendung alles Gesagten auf die Anschauung durch das Auge.

Alle Anschauung ist eine intellektuale. Denn ohne den Verstand käme es nimmermehr zur Anschauung, zur Wahrnehmung, Apprehension von Objekten; sondern es bliebe bei der bloßen Empfindung, die allenfalls, als Schmerz oder Wohlbehagen, eine Bedeutung in Bezug auf den Willen haben könnte, übrigens aber ein Wechsel bedeutungsleerer Zustände und nichts einer Erkenntniß Aehnliches wäre. Zur Anschauung, d. i. zum Erkennen eines Objekts, kommt es allererst dadurch, daß der Verstand jeden Eindruck, den der Leib erhält, auf seine Ursache bezieht, diese im a priori angeschaueten Raum dahin versetzt, von wo die Wirkung ausgeht, und so die Ursache als wirkend, als wirklich, d. h. als eine Vorstellung der selben Art und Klasse, wie der Leib ist, anerkennt. Dieser Uebergang von der Wirkung auf die Ursache ist aber ein unmittelbarer, lebendiger, nothwendiger: denn er ist eine Erkenntniß des reinen Verstandes: nicht ist er ein Vernunftschluß, nicht eine Kombination von Begriffen und Urtheilen, nach logischen Gesetzen. Eine solche ist vielmehr das Geschäft der Vernunft, die zur Anschauung nichts beiträgt, sondern deren Objekt eine ganz andere Klasse von Vorstellungen ist, welche auf der Erde dem Menschengeschlecht allein zukommt, nämlich die abstrakten, nicht anschaulichen Vorstellungen, d. i. die Begriffe; durch welche aber dem Menschen seine großen Vorzüge gegeben sind, Sprache, Wissenschaft und vor Allem die, durch Uebersicht des Ganzen des Lebens in Begriffen allein mögliche, Besonnenheit, welche ihn vom Eindruck der Gegenwart unabhängig erhält, und dadurch fähig macht, überlegt, prämeditirt, planmäßig zu handeln, wodurch sein Thun und Treiben sich von dem der Thiere so mächtig unterscheidet, und wodurch endlich auch die Bedingung zu jener überlegten Wahl zwischen mehreren Motiven gegeben ist, vermöge welcher das vollkommenste Selbstbewußtseyn die Entscheidungen seines Willens begleitet. Dies Alles verdankt der Mensch den Begriffen, d. i. der Vernunft. Das Gesetz der Kausalität, als abstrakter Grundsatz, ist freilich, wie alle Grundsätze in abstracto, Reflexion, also Objekt der Vernunft: aber die eigentliche, lebendige, unvermittelte, nothwendige Erkenntniß des Gesetzes der Kausalität geht aller Reflexion, wie aller Erfahrung, vorher und liegt im Verstande. Mittelst derselben werden die Empfindungen des Leibes der Ausgangspunkt für die Anschauung einer Welt, indem nämlich das a priori uns bewußte Gesetz der Kausalität angewandt wird auf das Verhältniß des unmittelbaren Objekts (des Leibes) zu den andern nur mittelbaren Objekten: die Erkenntniß des selben Gesetzes, angewandt auf die mittelbaren Objekte allein und unter einander, giebt, wenn sie einen höhern Grad von Schärfe und Genauigkeit hat, die Klugheit, welche eben so wenig, als die Anschauung überhaupt, durch abstrakte Begriffe beigebracht werden kann: daher vernünftig seyn und klug seyn, zwei sehr verschiedene Eigenschaften sind.

Die Anschauung also, die Erkenntniß von Objekten, von einer objektiven Welt, ist das Werk des Verstandes. Die Sinne sind bloß die Sitze einer gesteigerten Sensibilität, sind Stellen des Leibes, welche für die Einwirkung anderer Körper in höherm Grade empfänglich sind: und zwar steht jeder Sinn einer besondern Art von Einwirkung offen, für welche die übrigen entweder wenig oder gar keine Empfänglichkeit haben. Diese specifische Verschiedenheit der Empfindung jedes der fünf Sinne hat jedoch ihren Grund nicht im Nervensystem selbst, sondern nur in der Art, wie es afficirt wird. Danach kann man jede Sinnesempfindung ansehn als eine Modifikation des Tastsinnes, oder der über den ganzen Leib verbreiteten Fähigkeit zu fühlen. Denn die Substanz der Nerven (abgesehn vom sympathischen System) ist im ganzen Leibe Eine und die selbe, ohne den mindesten Unterschied. Wenn sie nun, vom Lichte durch das Auge, vom Schalle durch das Ohr getroffen, so specifisch verschiedene Empfindungen erhält; so kann Dies nicht an ihr selbst liegen, sondern nur an der Art, wie sie afficirt wird. Diese aber hängt ab theils von dem fremden Agens, von dem sie afficirt wird (Licht, Schall, Duft), theils von der Vorrichtung, durch welche sie dem Eindruck dieses Agens ausgesetzt ist, d. i. von dem Sinnesorgan. Daß im Ohr der Nerv des Labyrinths und der Schnecke, im Gehörwasser schwimmend, die Vibrationen der Luft, durch Vermittelung dieses Wassers, erhält, der Sehenerv aber die Einwirkung des Lichts, durch die im Auge es brechenden Feuchtigkeiten und Linse, dies ist die Ursache der specifischen Verschiedenheit beider Empfindungen; nicht der Nerv selbst. Cabanis, des rapports du physique et du moral: Memoire III, § 5. Demnach könnte auch der Gehörnerv sehn und der Augennerv hören, sobald der äußere Apparat beider seine Stelle vertauschte. – Immer aber ist die Modifikation, welche die Sinne durch solche Einwirkung erleiden, noch keine Anschauung, sondern ist erst der Stoff, den der Verstand in Anschauung umwandelt. Unter allen Sinnen ist das Gesicht der feinsten und mannigfaltigsten Eindrücke von außen fähig: dennoch kann es an sich bloß Empfindung geben, welche erst durch Anwendung des Verstandes auf dieselbe zur Anschauung wird. Könnte Jemand, der vor einer schönen weiten Aussicht steht, auf einen Augenblick alles Verstandes beraubt werden, so würde ihm von der ganzen Aussicht nichts übrig bleiben, als die Empfindung einer sehr mannigfaltigen Affektion seiner Retina, den vielerlei Farbenflecken auf einer Malerpalette ähnlich, – welche gleichsam der rohe Stoff ist, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung schuf. Hier gehn die Seiten an, welche Hr. Prof. Rosas in Wien sich angeeignet hat, worüber und fernere Plagiate desselben berichtet worden ist im »Willen in der Natur«, 2te Aufl S. 14 fg. – Das Kind, in den ersten Wochen seines Lebens, empfindet mit allen Sinnen: aber es schaut nicht an, es apprehendirt nicht: daher starrt es dumm in die Welt hinein. Bald indessen fängt es an den Verstand gebrauchen zu lernen, das ihm vor aller Erfahrung bewußte Gesetz der Kausalität anzuwenden und es mit den eben so a priori gegebenen Formen aller Erkenntniß, Zeit und Raum, zu verbinden: so gelangt es von der Empfindung zur Anschauung, zur Apprehension: und nunmehr blickt es mit klugen, intelligenten Augen in die Welt. Da aber jedes Objekt auf alle fünf Sinne verschieden wirkt, diese Wirkungen dennoch auf eine und die nämliche Ursache zurückleiten, welche sich eben dadurch als Objekt darstellt; so vergleicht das die Anschauung erlernende Kind die verschiedenartigen Eindrücke, welche es vom nämlichen Objekte erhält: es betastet was es sieht, besieht was es betastet, geht dem Klange nach zu dessen Ursache, nimmt Geruch und Geschmack zu Hülfe, bringt endlich auch für das Auge die Entfernung und Beleuchtung in Anschlag, lernt die Wirkung des Lichts und des Schattens kennen und endlich, mit vieler Mühe, auch die Perspektive, deren Kenntniß zu Stande kommt, durch Vereinigung der Gesetze des Raums mit dem der Kausalität, die beide a priori im Bewußtseyn liegen und nur der Anwendung bedürfen, wobei nun sogar die Veränderungen, welche, beim Sehn in verschiedene Entfernungen, theils die innere Konformation der Augen, theils die Lage beider Augen gegen einander erleidet, in Anschlag gebracht werden müssen: und alle diese Kombinationen macht für den Verstand schon das Kind, für die Vernunft, d. h. in abstracto, erst der Optiker. Dergestalt also verarbeitet das Kind die mannigfaltigen Data der Sinnlichkeit, nach den ihm a priori bewußten Gesetzen des Verstandes, zur Anschauung, mit welcher allererst die Welt als Objekt für dasselbe daist. Viel später lernt es die Vernunft gebrauchen: dann fängt es an die Rede zu verstehn, zu sprechen und eigentlich zu denken.

Das hier über die Anschauung Gesagte wird noch einleuchtender werden durch eine speciellere Betrachtung der Sache. Zur Erlernung der Anschauung gehört zu allernächst das Aufrechtsehn der Gegenstände, während ihr Eindruck ein verkehrter ist. Weil nämlich die von einem Körper ausgehenden Lichtstrahlen, bei ihrem Durchgang durch die Pupille, sich kreuzen; so trifft der Eindruck, den sie auf die Nervensubstanz der Retina machen und den man unrichtig ein Bild derselben genannt hat, in verkehrter Ordnung ein, nämlich das von unten kommende Licht zu oberst, das von oben kommende zu unterst, das von der rechten Seite auf der linken und vice versa. Wäre nun, wie man angenommen hat, hier ein wirkliches Bild auf der Retina der Gegenstand der Anschauung, welche dann etwan von einer im Gehirn dahinter sitzenden Seele vollzogen würde, so würden wir den Gegenstand verkehrt sehn, wie dies in jeder dunkeln Kammer, die durch ein bloßes Loch das Licht von äußern Gegenständen empfängt, wirklich geschieht: allein so ist es hier nicht; sondern die Anschauung entsteht dadurch, daß der Verstand den auf der Retina empfundenen Eindruck augenblicklich auf seine Ursache bezieht, welche nun eben dadurch sich im Raum, seiner ihn begleitenden Anschauungsform, als Objekt darstellt. Bei diesem Zurückgehn nun von der Wirkung auf die Ursache, verfolgt er die Richtung, welche die Empfindung der Lichtstrahlen mit sich bringt; wodurch wieder Alles an seine richtige Stelle kommt, indem jetzt am Objekt sich als oben darstellt, was in der Empfindung unten war. – Das zweite zur Erlernung der Anschauung Wesentliche ist, daß das Kind, obwohl es mit zwei Augen sieht, deren jedes ein sogenanntes Bild des Gegenstandes erhält, und zwar so, daß die Richtung vom selbigen Punkt des Gegenstandes zu jedem Auge eine andere ist, dennoch nur einen Gegenstand sehn lernt. Dies geschieht eben dadurch, daß, vermöge der ursprünglichen Erkenntniß des Gesetzes der Kausalität, die Einwirkung eines Lichtpunkts, obwohl jedes Auge in einer andern Richtung treffend, doch als von einem Punkt und Gegenstand ursächlich herrührend anerkannt wird. Die zwei Linien von jenem Punkt durch die Pupillen auf jede Retina heißen die Augenaxen, ihr Winkel an jenem Punkt der optische Winkel. Hat, indem ein Gegenstand betrachtet wird, jeder Bulbus zu seiner Orbita respektiv die selbe Lage, als der andere, wie es im normalen Zustande der Fall ist; so wird in jedem der beiden Augen die Augenaxe auf einander entsprechenden, gleichnamigen Stellen der Retina ruhen. Nun entspricht aber nicht etwan die äußere Seite der einen Retina der äußern Seite der andern; sondern die rechte Seite der linken Retina der rechten Seite der rechten Retina u. s. w. Bei dieser gleichmäßigen Lage der Augen in ihren Orbiten, welche bei allen natürlichen Bewegungen der Augen immer beibehalten wird, lernen wir nun empirisch die auf beiden Retinen einander genau entsprechenden Stellen kennen, und von nun an beziehn wir die auf diesen analogen Stellen entstehenden Affektionen immer nur auf einen und den selben Gegenstand als ihre Ursache. Daher nun, obwohl mit zwei Augen sehend und doppelte Eindrücke erhaltend, erkennen wir Alles nur einfach: das doppelt Empfundene wird nur ein einfaches Angeschautes: eben weil die Anschauung intellektual ist, und nicht bloß sensual. – Daß aber die Konformität der afficirten Stellen jeder Retina es sei, nach welcher wir uns bei jenem Verstandesschluß richten, ist daraus erweislich, daß während die Augenaxen auf einen entfernteren Gegenstand gerichtet sind und dieser den optischen Winkel schließt, alsdann ein näher vor uns stehender Gegenstand doppelt erscheint, eben weil nunmehr das von ihm aus durch die Pupillen auf die Retinen gehende Licht, zwei nicht analoge Stellen dieser trifft: umgekehrt sehn wir, aus dem selben Grund, den entfernteren Gegenstand doppelt, wenn wir die Augen auf den näheren gerichtet haben und auf diesem den optischen Winkel schließen. Auf der meiner Abhandlung »über die vierfache Wurzel« in der zweiten Auflage beigegebenen Tafel findet man die anschauliche Darstellung der Sache, welche zum vollkommenen Verständniß derselben sehr dienlich ist. Eine ausführliche und durch viele Figuren sehr einleuchtend gemachte Darstellung der verschiedenen Lagen der Augenaxen und der durch sie herbeigeführten Phänomene findet man in Robert Smith's Optics, Cambr. 1738.

Mit diesem Verhältniß zwischen den Augenaxen und dem Objekt ist es im Grunde nicht anders, als damit, daß der Eindruck, den ein betasteter Körper auf jeden der zehn Finger macht, und der nach der Lage jedes Fingers gegen ihn verschieden ist, doch als von einem Körper herrührend erkannt wird: nie geht aus dem bloßen Eindruck, immer nur aus der Anwendung des Kausalitätsgesetzes, und mithin des Verstandes, auf ihn, die Erkenntniß eines Objekts hervor. – Daher, beiläufig gesagt, ist es so sehr absurd, die Kenntniß des Kausalitätsgesetzes, als welches die alleinige Form des Verstandes und die Bedingung der Möglichkeit irgend einer objektiven Wahrnehmung ist, erst aus der Erfahrung entspringen zu lassen, z. B. aus dem Widerstand, welchen die Körper unserm Druck entgegensetzen. Denn das Kausalitätsgesetz ist die vorhergängige Bedingung unserer Wahrnehmung dieser Körper, welche wieder erst das Motiv unsers Wirkens auf sie seyn muß. Und wie sollte doch, wenn der Verstand nicht das Gesetz der Kausalität schon besäße und fertig zur Empfindung hinzubrächte, dasselbe hervorgehn aus dem bloßen Gefühl eines Drucks in den Händen, welches ja gar keine Aehnlichkeit damit hat! (Ueber Kausalität zwischen Willen und Leibesaktion vergl. Welt als Wille und Vorstellung, 3. Aufl. Bd. II, S. 41–44, und: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 2. Aufl. S. 74.) Wenn Engländer und Franzosen sich noch mit dergleichen Possen schleppen, kann man es ihrer Einfalt zu Gute halten, weil die Kantische Philosophie bei ihnen noch gar nicht eingedrungen ist und sie sich daher noch mit dem dürftigen Empirismus Locke's und Condillac's herumschlagen. Wenn aber heut zu Tage deutsche Philosophaster sich unterfangen, Zeit, Raum und Kausalität für Erfahrungserkenntnisse auszugeben, also dergleichen seit 70 Jahren völlig beseitigte und explodirte Absurditäten, über die schon ihre Großväter die Achsel zuckten, jetzt wieder zu Markte bringen (wohinter inzwischen gewisse Absichten lauern, die ich in der Vorrede zur zweiten Auflage des »Willens in der Natur« bloßgelegt habe); so verdienen sie, daß man ihnen mit dem Goethe-Schiller'schen Xenion begegene:

»Armer empirischer Teufel! du kennst nicht ein Mal das Dumme
In dir selber: es ist, ach! a priori so dumm.«

Insbesondere rathe ich Jedem, der das Unglück hat, ein Exemplar der dritten Auflage des »Systems der Metaphysik« von Ernst Reinhold, 1854, zu besitzen, diesen Vers auf das Titelblatt zu schreiben. – Eben weil die Apriorität des Kausalitätsgesetzes so sehr evident ist, sagt sogar Goethe, der mit Untersuchungen dieser Art sich sonst nicht beschäftigt, bloß seinem Gefühle folgend: »der eingeborenste Begriff, der nothwendigste, von Ursache und Wirkung.« (»Ueber Naturwissenschaft im Allgemeinen«; in den nachgelassenen Werken, Bd. 10, S. 123.) Doch ich kehre zu unserer Theorie der empirischen Anschauung zurück.

Nachdem die Anschauung längst erlernt ist, kann ein sehr merkwürdiger Fall eintreten, der zu allem Gesagten gleichsam die Rechnungsprobe giebt. Nämlich nachdem wir, viele Jahre hindurch, jeden Augenblick die in der Kindheit erlernte Verarbeitung und Anordnung der Data der Sinnlichkeit nach den Gesetzen des Verstandes geübt haben, können diese Data uns verrückt werden, durch eine Veränderung der Lage der Sinneswerkzeuge. Allbekannt sind zwei Fälle, in denen dies geschieht: das Verschieben der Augen aus ihrer natürlichen, gleichmäßigen Lage, also das Schielen, und zweitens das Uebereinanderlegen des Mittel- und Zeige-Fingers. Wir sehn und tasten jetzt einen Gegenstand doppelt. Der Verstand verfährt wie immer richtig: allein er erhält lauter falsche Data: denn die vom selbigen Punkte gegen beide Augen gehenden Strahlen treffen nicht mehr auf beiden Netzhäuten die einander entsprechenden Stellen, und die äußern Seiten beider Finger berühren die entgegengesetzten Flächen der selben Kugel, was bei der natürlichen Lage der Finger nie seyn konnte. Hieraus entsteht das Doppeltsehn und das Doppelttasten, als ein falscher Schein, der gar nicht wegzubringen ist; weil der Verstand die so mühsam erlernte Anwendung nicht sogleich wieder fahren läßt, sondern immer noch die bisherige Lage der Sinnesorgane voraussetzt. – Aber eine noch auffallendere, weil viel seltenere Rechnungsprobe zu unserer Theorie giebt der umgekehrte Fall, nämlich daß man zwei Gegenstände als einen erblickt; welches dadurch geschieht, daß jeder von beiden mit einem andern Auge gesehn wird, aber in jedem Auge die gleichnamigen, d. h. denen im andern entsprechenden Stellen der Retina afficirt. Man füge zwei gleiche Pappröhren parallel an einander, so daß der Raum zwischen ihnen gleich sei dem Raum zwischen den Augen. Im Objektiv-Ende jeder Röhre sei etwan ein Achtgroschenstück in senkrechter Stellung befestigt. Indem man nun mit beiden Augen durch die Röhren sieht, wird sich nur eine Röhre und ein Achtgroschenstück darstellen; weil die Augenaxen den optischen Winkel, der dieser Entfernung angemessen wäre, nicht schließen können, sondern ganz parallel bleiben, indem jedes seiner Röhre folgt, wodurch nun in jedem Auge die entsprechenden Stellen der Retina von einem andern Achtgroschenstück getroffen werden, welchen doppelten Eindruck jetzt der Verstand einem und dem selben Gegenstande zuschreibt und daher nur ein Objekt apprehendirt, wo doch zwei sind. – Hierauf beruht auch das neuerlich erfundene Stereoskop. Zu diesem nämlich werden zwei Daguerrotype des selben Objekts aufgenommen, jedoch mit dem geringen Unterschiede der Lage desselben, welcher der Parallaxe vom einen zum andern Auge entspricht: diese werden nun, in dem eben dieser Parallaxe angemessenen sehr stumpfen Winkel, an einander gefügt und dann durch den Binokulartubus betrachtet. Der Erfolg ist 1) daß die einander symmetrisch entsprechenden Stellen beider Retinen von den gleichen Punkten der beiden Bilder getroffen werden; und 2) daß jedes der beiden Augen, auf dem ihm vorliegenden Bilde, auch noch den Theil des abgebildeten Körpers sieht, der dem andern Auge, wegen der Parallaxe seines Standpunkts, bedeckt bleibt; – wodurch erlangt wird, daß die zwei Bilder nicht nur in der intuitiven Apprehension des Verstandes zu Einem zusammenschmelzen, sondern auch, in Folge des zweiten Umstandes, vollkommen als ein solider Körper sich darstellen; – eine Täuschung, welche ein bloßes Gemälde, auch bei der größten Kunst und Vollendung, nie hervorbringt; weil es uns seine Gegenstände stets nur so zeigt, wie ein Einäugiger sie sehn würde. Ich wüßte nicht, wie ein Beweis der Intellektualität der Anschauung schlagender seyn könnte. Auch wird man nie, ohne die Erkenntniß dieser, das Stereoskop verstehn; sondern vergeblich es mit rein physiologischen Erklärungen versuchen.

Wir sehn nun also alle jene Illusionen dadurch entstehn, daß die Data, auf welche der Verstand seine Gesetze anzuwenden in der frühesten Kindheit gelernt und ein ganzes Leben hindurch sich gewöhnt hat, ihm verschoben werden, indem man sie anders stellt, als sie im natürlichen Verlauf der Dinge zu stehn kommen. Zugleich nun aber bietet diese Betrachtung uns eine so deutliche Ansicht des Unterschiedes zwischen Verstand und Vernunft dar, daß ich nicht umhin kann, darauf aufmerksam zu machen. Nämlich, eine solche Illusion läßt sich zwar für die Vernunft beseitigen, nicht aber für den Verstand zerstören, der, eben weil er reiner Verstand ist, unvernünftig ist. Ich meine Dies: bei einer solchen absichtlich veranstalteten Illusion, wissen wir sehr wohl, in abstracto, also für die Vernunft, daß z. B. nur ein Objekt daist, obwohl wir mit schielenden Augen und verschränkten Fingern zwei sehn und tasten, oder daß zwei dasind, obwohl wir nur eines sehn: aber trotz dieser abstrakten Erkenntniß bleibt die Illusion selbst noch immer unverrückt stehn. Denn der Verstand und die Sinnlichkeit sind für die Sätze der Vernunft unzugänglich, d. h. eben unvernünftig. Auch ergiebt sich hier, was eigentlich Schein und was Irrthum sei: jener der Trug des Verstandes, dieser der Trug der Vernunft: jener der Realität, dieser der Wahrheit entgegengesetzt. Schein entsteht allemal entweder dadurch, daß der stets gesetzmäßigen und unveränderlichen Apprehension des Verstandes ein ungewöhnlicher (d. h. von dem, auf welchen er seine Funktionen anzuwenden gelernt hat, verschiedener) Zustand der Sinnesorgane untergelegt wird; oder dadurch, daß eine Wirkung, welche die Sinne sonst täglich und stündlich durch eine und die selbe Ursache erhalten, ein Mal durch eine ganz andere Ursache hervorgebracht wird: so z. B. wenn man eine Malerei für ein Rilievo ansieht, oder ein ins Wasser getauchter Stab gebrochen erscheint, oder der Konkavspiegel einen Gegenstand als vor ihm schwebend, der Konvexspiegel als hinter ihm befindlich zeigt, oder der Mond am Horizont viel größer, als am Zenith sich darstellt, welches nicht auf Strahlenbrechung, sondern allein auf der vom Verstande vollzogenen, unmittelbaren Abschätzung seiner Größe nach seiner Entfernung und dieser, wie bei irdischen Gegenständen, nach der Luftperspektive, d. h. nach der Trübung durch Dünste, beruht.– Irrthum hingegen ist ein Urtheil der Vernunft, welches nicht zu etwas außer ihm in derjenigen Beziehung steht, die der Satz vom Grund, in derjenigen Gestalt, in welcher er für die Vernunft als solche gilt, erfordert, also ein wirkliches, aber falsches Urtheil, eine grundlose Annahme in abstracto. Schein kann Irrthum veranlassen: dergleichen wäre z. B. beim angeführten Fall das Urtheil: »Hier sind zwei Kugeln«, welches zu nichts in der eben besagten Beziehung steht, also keinen Grund hat. Hingegen wäre das Urtheil: »Ich fühle eine Einwirkung gleich der von zwei Kugeln«, wahr: denn es steht zur empfundenen Affektion in der angegebenen Beziehung. Der Irrthum läßt sich tilgen, eben durch ein Urtheil, welches wahr ist und den Schein zum Grunde hat, d. h. durch eine Aussage des Scheins als solchen. Der Schein aber läßt sich nicht tilgen: z. B. durch die abstrakte Vernunfterkenntniß, daß die Abschätzung nach der Luftperspektive und die in horizontaler Linie stärkere Trübung durch Dünste den Mond vergrößert, wird er nicht kleiner. Jedoch kann der Schein allmälig verschwinden, wenn seine Ursache bleibend ist und dadurch das Ungewohnte gewohnt wird. Wenn man z. B. die Augen immer in der schielenden Lage läßt; so sucht der Verstand seine Apprehension zu berichtigen und, durch richtige Auffassung der äußern Ursache, Uebereinstimmung zwischen den Wahrnehmungen auf verschiedenen Wegen, z. B. zwischen Sehn und Tasten, hervorzubringen. Er thut dann von Neuem was er im Kinde that: er lernt die Stellen auf jeder Retina kennen, welche der von einem Punkt ausgehende Strahl jetzt, bei der neuen Lage der Augen, trifft. Darum sieht der habituell Schielende doch Alles nur einfach. Wenn aber Jemand durch einen Zufall, z. B. eine Lähmung der Augenmuskeln, plötzlich zu einem konstanten Schielen gezwungen wird, so sieht er in der ersten Zeit fortdauernd Alles doppelt. Dies bezeugt der Fall den Cheselden (Anatomy, p. 324, 3d ed.) erzählt, daß durch einen Schlag auf den Kopf, den ein Mann erhielt, seine Augen eine bleibende verdrehte Stellung annahmen: er sah nunmehr Alles doppelt, nach einiger Zeit aber wieder einfach, obgleich die unparallele Lage der Augen blieb. Eine ähnliche Krankengeschichte steht in der ophthalmologischen Bibliothek, Bd. 3, 3tes St. S. 164. Wäre der dort geschilderte Kranke nicht bald geheilt worden, so würde er zwar fortdauernd geschielt, aber endlich nicht mehr doppelt gesehn haben. Noch ein Fall dieser Art wird erzählt von Home in seiner Vorlesung in den philos. transact. for 1797. – Eben so würde wer immer die Finger übereinandergeschlagen behielte, zuletzt auch nicht mehr doppelt tasten. Solange aber Einer jeden Tag in einem andern optischen Winkel schielt, wird er Alles doppelt sehn. – Uebrigens mag es immer seyn, was Büffon behauptet (hist, de l'acad. d. Sciences 1743), daß die sehr stark und nach innen Schielenden mit dem verdrehten Auge gar nicht sehn: nur wird dieses nicht von allen Fällen des Schielens gelten.

Da nun also keine Anschauung ohne Verstand ist, so haben unstreitig alle Thiere Verstand: ja, er unterscheidet Thiere von Pflanzen, wie die Vernunft Menschen von Thieren. Denn der eigentlich auszeichnende Charakter der Thierheit ist das Erkennen, und dieses erfordert durchaus Verstand. Man hat auf vielerleiweise versucht, ein Unterscheidungszeichen zwischen Thieren und Pflanzen festzusetzen, und nie etwas ganz Genügendes gefunden. Das Treffendeste blieb noch immer motus spontaneus in victu sumendo. Aber dies ist nur ein durch das Erkennen begründetes Phänomen, also diesem unterzuordnen. Denn eine wahrhaft willkürliche, nicht aus mechanischen, chemischen oder physiologischen Ursachen erfolgende Bewegung geschieht durchaus nach einem erkannten Objekt, welches das Motiv jener Bewegung wird. Sogar das Thier, welches der Pflanze am nächsten steht, der Polyp, wenn er mit seinen Armen seinen Raub ergreift und ihn zum Munde führt, hat ihn (wiewohl noch ohne gesonderte Augen) gesehn, wahrgenommen, und selbst zu dieser Anschauung wäre es nimmermehr ohne Verstand gekommen: das angeschaute Objekt ist das Motiv der Bewegung des Polypen. – Ich würde den Unterschied zwischen unorganischem Körper, Pflanze und Thier also festsetzen: Unorganischer Körper ist Dasjenige, dessen sämmtliche Bewegungen aus einer äußern Ursache geschehn, die, dem Grade nach, der Wirkung gleich ist, so daß aus der Ursache die Wirkung sich messen und berechnen läßt, und auch die Wirkung eine völlig gleiche Gegenwirkung in der Ursache hervorbringt. Pflanze ist, was Bewegungen hat, deren Ursachen durchaus nicht, dem Grade nach, den Wirkungen gleich sind und folglich nicht den Maaßstab für letztere geben, auch nicht eine gleiche Gegenwirkung erleiden: solche Ursachen heißen Reize. Nicht bloß die Bewegungen der sensitiven Pflanzen und des hedysarum gyrans, sondern alle Assimilation, Wachsthum, Neigung zum Licht u. s. w. der Pflanzen, ist Bewegung auf Reize. Thier endlich ist Das, dessen Bewegungen nicht direkt und einfach nach dem Gesetz der Kausalität, sondern nach dem der Motivation erfolgen, welche die durch das Erkennen hindurchgegangene und durch dasselbe vermittelte Kausalität ist: nur Das ist folglich Thier, was erkennt, und das Erkennen ist der eigentliche Charakter der Thierheit. Man wende nicht ein, das Erkennen könne kein charakteristisches Merkmal abgeben, weil wir, als außer dem zu beurtheilenden Wesen befindlich, nicht wissen können, ob es erkenne oder nicht. Denn Dies können wir allerdings, indem wir nämlich beurtheilen, ob Dasjenige, worauf seine Bewegungen erfolgen, auf dasselbe als Reiz oder als Motiv gewirkt habe; worüber nie ein Zweifel übrig bleiben kann. Denn obgleich Reize sich auf die angegebene Weise von Ursachen unterscheiden, so haben sie doch noch Dies mit ihnen gemein, daß sie, um zu wirken, allemal des Kontakts, oft sogar der Intussusception, stets aber einer gewissen Dauer und Intensität der Einwirkung bedürfen; da hingegen das als Motiv wirkende Objekt nur wahrgenommen zu seyn braucht, gleichviel wie lange, wie entfernt, wie deutlich, sobald es nur wirklich wahrgenommen ist. Daß in manchem Betracht das Thier zugleich Pflanze, ja auch unorganischer Körper ist, versteht sich von selbst. – Diese hier nur aphoristisch und kurz dargelegte, sehr wichtige Unterscheidung der drei Kausalitätsstufen findet man gründlicher und specieller ausgeführt in den »Beiden Grundproblemen der Ethik«, Kap. 3 der ersten Preisschrift, S. 30 ff. [2. Aufl. S. 29 ff.], sodann auch in der 2ten Auflage der Abhandlung »über die vierfache Wurzel« § 20, S. 45.

Ich komme jetzt endlich zu Dem, was die Beziehung des bisher Gesagten auf unsern eigentlichen Gegenstand, die Farben, enthält, und gehe damit zu einem gar speciellen und untergeordneten Theil der Anschauung der Körperwelt über: denn wie der bis hieher in Betrachtung genommene intellektuale Antheil derselben eigentlich die Funktion der so beträchtlichen 3 bis 5 Pfund wiegenden Nervenmasse des Gehirns ist; so habe ich im folgenden Kapitel bloß die Funktion eines feinen Nervenhäutchens, auf dem Hintergrunde des Augapfels, der Retina, zu betrachten, als deren besonders modificirte Thätigkeit ich die Farbe, welche als eine allenfalls entbehrliche Zugabe die angeschauten Körper bekleidet, nachweisen werde. Nämlich die Anschauung, d. h. die Apprehension einer objektiven, den Raum in seinen drei Dimensionen ausfüllenden Körperwelt, entsteht, wie oben im Allgemeinen gezeigt, im bereits angezogenen § 21 der Abhandlung »über die vierfache Wurzel« aber näher ausgeführt worden ist, durch den Verstand, für den Verstand, im Verstande, welcher, wie auch die ihm zum Grunde liegenden Formen Raum und Zeit, die Funktion des Gehirns ist. Die Sinne sind bloß die Ausgangspunkte dieser Anschauung der Welt. Ihre Modifikationen sind daher vor aller Anschauung gegeben, als bloße Empfindungen, sind die Data, aus denen erst im Verstande die erkennende Anschauung wird. Zu diesen gehört ganz vorzüglich der Eindruck des Lichts auf das Auge und demnächst die Farbe, als eine Modifikation dieses Eindrucks. Diese sind also die Affektion des Auges, sind die Wirkung selbst, welche daist, auch ohne daß sie auf eine Ursache bezogen werde. Das neugeborene Kind empfindet Licht und Farbe, ehe es den leuchtenden, oder gefärbten Gegenstand als solchen erkennt und anschaut. Auch ändert kein Schielen die Farbe. Verwandelt der Verstand die Empfindung in Anschauung, dann wird freilich auch diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen und übertragen, und dem einwirkenden Körper Licht, oder Farbe, als Qualitäten, d. h. Wirkungsarten, beigelegt. Dennoch wird er nur als das diese Wirkung Hervorbringende anerkannt. »Der Körper ist roth« bedeutet, daß er im Auge die rothe Farbe bewirkt. Seyn ist überhaupt mit Wirken gleichbedeutend: daher auch im Deutschen, überaus treffend und mit unbewußtem Tiefsinn, Alles was ist, wirklich, d. i. wirkend, genannt wird. – Dadurch daß wir die Farbe als einem Körper inhärirend auffassen, wird ihre diesem vorhergegangene unmittelbare Wahrnehmung durchaus nicht geändert: sie ist und bleibt Affektion des Auges: bloß als deren Ursache wird der Gegenstand angeschaut: die Farbe selbst aber ist allein die Wirkung, ist der im Auge hervorgebrachte Zustand, und als solcher unabhängig vom Gegenstande, der nur für den Verstand daist: denn alle Anschauung ist eine intellektuale.


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