Arthur Schopenhauer
Die Kunst, Recht zu behalten
Arthur Schopenhauer

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[Dieser Fragment gebliebene Teil war vermutlich als Einleitung gedacht]

I.

(Dies ist der rechte Anfang der Dialektik.) Logik und Dialektik wurden schon von den Alten als Synonyme gebraucht, obgleich λογίζεσθαι, überdenken, überlegen, berechnen, und διαλέγεσθαι, sich unterreden, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Den Namen Dialektik (διαλεκτική, διαλεκτικὴ πραγματεία, διαλεκτικὸς ανήρ) hat (wie Diogenes Laertius berichtet) Plato zuerst gebraucht: und wir finden, daß er im Phädrus, Sophista, Republik Buch VII usw. den regelmäßigen Gebrauch der Vernunft, und das Geübtsein in selbigem darunter versteht. Aristoteles braucht τὰ διαλεκτικά im selben Sinne; er soll aber (nach Laurentius Valla) zuerst λογική im selben Sinne gebraucht haben: wir finden bei ihm λογικὰς δυσχερείας, i. e. argutias, πρότασιν λογικήν, απορίαν λογικήν. – Demnach wäre διαλεκτική älter als λογική. Cicero und Quintilian brauchen in derselben allgemeinen Bedeutung Dialectica [und] Logica. Cicero in Lucullo: Dialecticam inventam esse, veri et falsi quasi disceptatricem. – Stoici enim judicandi vias diligenter persecuti sunt, ea scientia, quam Dialecticen appellant, Cicero, Topica, Kap. 2. – Quintilian: itaque haec pars dialecticae, sive illam disputatricem dicere malimus: letzteres scheint ihm also das lateinische Äquivalent von διαλεκτική. (So weit nach Petri Rami dialectica, Audomari Talaei praelectionibus illustrata, 1569.) Dieser Gebrauch der Worte Logik und Dialektik als Synonyme hat sich auch im Mittelalter und der neuern Zeit, bis heute, erhalten. Jedoch hat man in neuerer Zeit, besonders Kant, »Dialektik« öfter in einem schlimmern Sinne gebraucht als »sophistische Disputierkunst«, und daher die Benennung »Logik« als unschuldiger vorgezogen. Jedoch bedeutet beides von Haus aus dasselbe und in den letzten Jahren hat man sie auch wieder als synonym angesehn.

II.

Es ist Schade, daß »Dialektik« und »Logik« von Alters her als Synonyme gebraucht sind, und es mir daher nicht recht frei steht, ihre Bedeutung zu sondern, wie ich sonst möchte, und »Logik« (von λογίζεσθαι, überdenken, überrechnen, – von λόγος, Wort und Vernunft, die unzertrennlich sind) zu definieren, »die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens, d. h. von der Verfahrungsart der Vernunft« – und »Dialektik« (von διαλέγεσθαι, sich unterreden: jede Unterredung teilt aber entweder Tatsachen oder Meinungen mit: d. h. ist historisch, oder deliberativ), »die Kunst zu disputieren« (dies Wort im modernen Sinne). – Offenbar hat dann die Logik einen rein apriori, ohne empirische Beimischung bestimmbaren Gegenstand, die Gesetze des Denkens, das Verfahren der Vernunft (des λόγος), welches diese, sich selber überlassen, und ungestört, also beim einsamen Denken eines vernünftigen Wesens, welches durch nichts irregeführt würde, befolgt. Dialektik hingegen würde handeln von der Gemeinschaft zweier vernünftiger Wesen, die folglich zusammen denken, woraus sobald sie nicht wie zwei gleichgehende Uhren übereinstimmen, eine Disputation, d. i. ein geistiger Kampf wird. Als reine Vernunft müßten beide Individuen übereinstimmen. Ihre Abweichungen entspringen aus der Verschiedenheit, die der Individualität wesentlich ist, sind also ein empirisches Element. Logik, Wissenschaft des Denkens, d. i. des Verfahrens der reinen Vernunft, wäre also rein apriori konstruierbar; Dialektik großen Teils nur a posteriori aus der Erfahrungserkenntnis von den Störungen, die das reine Denken durch die Verschiedenheit der Individualität beim Zusammendenken zweier Vernünftiger Wesen erleidet, und von den Mitteln, welche Individuen gegeneinander gebrauchen, um jeder sein individuelles Denken, als das reine und objektive geltend zu machen. Denn die menschliche Natur bringt es mit sich, daß wenn beim gemeinsamen Denken, διαλέγεσθαι, d. h. Mitteilen von Meinungen (historische Gespräche ausgeschlossen) A erfährt, daß B's Gedanken über denselben Gegenstand von seinen eigenen abweichen, er nicht zuerst sein eignes Denken revidiert, um den Fehler zu finden, sondern diesen im fremden Denken voraussetzt: d. h. der Mensch ist von Natur rechthaberisch; und was aus dieser Eigenschaft folgt, lehrt die Disziplin, die ich Dialektik nennen möchte, jedoch um Mißverstand zu vermeiden, »Eristische Dialektik« nenne will. Sie wäre demnach die Lehre vom Verfahren der dem Menschen natürlichen Rechthaberei.


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