Arthur Schnitzler
Flucht in die Finsternis
Arthur Schnitzler

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Flucht in die Finsternis

Novelle

von

Arthur Schnitzler


I

Es klopfte; der Sektionsrat erwachte, und auf sein unwillkürliches »Herein« erschien ohne weiteres der Kellner mit dem regelmäßig für acht Uhr bestellten Frühstück in der Tür. Roberts erster Gedanke war, daß er gestern abend nun doch wieder vergessen hätte, die Tür zu versperren; aber er hatte kaum Zeit, einer Verstimmung über dieses neuerliche Zeichen von Zerstreutheit nachzugeben, da seine Aufmerksamkeit sofort durch die auf der Frühstückstasse neben Tee, Butter und Honig bereitliegenden Briefschaften in Anspruch genommen wurde. Unter anderen, gleichgültigeren fand er ein Schreiben seines Bruders vor, in dem dieser seiner Freude über das nahe bevorstehende Wiedersehen Ausdruck gab und nach Mitteilung unwesentlicher Familienneuigkeiten mit einer nicht unabsichtlichen Beiläufigkeit seiner kürzlich erfolgten Ernennung zum außerordentlichen Professor Erwähnung tat. Robert setzte eine herzliche Glückwunschdepesche auf und ließ sie ohne Verzug zum Amt befördern. Wenn auch Berufspflichten und andere Lebensumstände den persönlichen Verkehr zwischen den Brüdern oft für Tage und Wochen zu unterbrechen pflegten, es kam doch immer wieder ein Ereignis, das – oft gerade in seiner Geringfügigkeit – sie beide ihre Zusammengehörigkeit als unzweifelhaft und unauflöslich empfinden ließ. Dem jüngeren Bruder zumal wollten bei solchen Gelegenheiten alle anderen abgelaufenen und noch bestehenden Beziehungen seines Lebens, sogar seine frühe Ehe mit einer trefflichen, nun längst verstorbenen Frau, als solche von geringerem Rang erscheinen, und immer mehr glaubte er das Verhältnis von Bruder zu Bruder nicht nur für sich als den besten und reinsten Gewinn seines Daseins, sondern auch im allgemeineren Sinne als das einzige von natürlich gesicherter Beständigkeit zu erkennen; sicherer als das zu den Eltern, die man allzu früh in Alter und Tod entschwinden sieht, fester als das zu den Kindern, die man, wie Robert freilich für seine Person niemals erfahren hatte, wenn nicht an andere Menschen, so doch an ihre eigene Jugend zu verlieren bestimmt ist; vor allem aber blieb es jederzeit frei von jenen Trübungen, die, unerwartet aus dunklen Seelengründen aufsteigend, über die Beziehungen zwischen Mann und Weib wolkenhaft heraufzuziehen pflegen.

So nahm Robert des Bruders Brief, der gerade heute, am Tage seiner Abreise, anlangte, wie ein günstiges Vorzeichen entgegen und fühlte sich in seinen Hoffnungen für die Zukunft, in die er nach einer unruhvollen Zeit wie in eine neue Epoche seines Daseins treten sollte, wunderbar gestärkt.

Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als Robert fertig gepackt hatte und sein Zimmer verließ. Es war die Stunde, da die meisten Gäste sich im Bad oder auf Spaziergängen befanden und es grade im näheren Umkreis des Hotels am stillsten war. Robert trat auf den breiten steinernen, weit ins Wasser laufenden Landungssteg, an den gelehnt der kleine helle Dampfer seine Mittagsrast hielt, blickte zu den wenigen, fast unbeweglichen, weißen, gelben und rötlichen Segeln hin, die im Kanal erglänzten, und ließ seine Augen endlich nordwärts gleiten, wo die Enge, allmählich sich verbreiternd, das offene Meer ahnen ließ. Er nahm den Hut ab, um sich die Sonne grade auf den Scheitel brennen zu lassen, atmete tief mit geöffneten Lippen, um den Salzgeschmack auf der Zunge zu spüren, und freute sich der linden Luft, die auf dieser südlichen Insel auch an solchen Spätoktobertagen oft noch mit sommerlicher Wärme schmeichelte. Allmählich kam ihm das Gefühl, als wäre der Moment, den er eben durchlebte, in Wirklichkeit längst vergangen und er selbst, so wie er eben dastand – auf dem Landungssteg, den Hut in der Hand, mit geöffneten Lippen –, ein verschwimmendes Bild seiner eigenen Erinnerung. Er hätte gewünscht, dieses Gefühl, das ihn keineswegs zum erstenmal und durchaus nicht als ein unheimliches, sondern eher als ein erlösendes überkam, länger festhalten zu können; aber mit dem Wunsche selbst war es auch geschwunden. Und nun war ihm, als hätte er mit der Gegenwart sich entzweit; Himmel, Meer und Luft waren fremd, kühl und fern geworden, und ein blühender Augenblick welkte dürftig dahin.

Robert verließ den Steg und beschritt einen der schmalen, wenig begangenen Pfade, die unter Kiefern und Steineichen, zwischen wildwachsendem Gestrüpp, ins Innere der Insel führten. Doch auch die Landschaft schien ihm duftlos, trocken und ihres gewohnten Reizes wie entkleidet. Er freute sich jetzt, daß die Stunde der Abreise nahe war, und in seiner Seele tauchten höchst lebendige Bilder von winterlich-städtischen Vergnügungen auf, nach denen ihn schon lange nicht mehr verlangt hatte. Er sah sich im Theater, auf einem bequemen Samtsessel, der Betrachtung eines heiteren Bühnenspiels hingegeben, sah sich durch hellbeleuchtete, menschenerfüllte Straßen wandeln, zwischen lockenden Auslagefenstern mit köstlichen Juwelen und Lederwaren; und endlich erschien ihm seine eigene Gestalt, ein wenig aufgefrischt und verjüngt, im stillen Winkel eines behaglich-vornehmen Restaurants an der Seite eines weiblichen Wesens, dem seine Phantasie unwillkürlich Albertens anmutige Züge verlieh. Zum erstenmal seit der Trennung dachte er ihrer heute mit einiger Wehmut; er fragte sich, ob es sonderlich klug gewesen war, sie widerstandslos dem jungen Amerikaner zu überlassen, dessen sie, der gefährlichen Nähe entrückt, nach wenigen Tagen gewiß nicht mehr gedacht hätte, und er überlegte, ob es in jenem abendlichen Waldgespräch am Vierwaldstätter See nicht vielmehr seine Pflicht gewesen wäre, die Freundin zu warnen – statt ihr zur Annahme eines Heiratsantrages zu raten, der, trotz aller leidenschaftlichen Bestimmtheit, als Ergebnis einer Bekanntschaft von nur wenigen Tagen doch einigermaßen verdächtig erschien. Freilich täuschte sich Robert auch darüber nicht, daß sein augenblickliches Mißbehagen viel weniger aus solchen verspäteten Gewissenszweifeln als aus der dankbaren und nun beinahe schmerzlich erwachenden Erinnerung seiner Sinne floß.

Verspätet ins Hotel zurückgekehrt, nahm er sein Mittagessen wie immer allein an einem der breiten Saalfenster mit dem Blick aufs Meer. Nachher verabschiedete er sich höflich von einigen Badebekanntschaften und ließ sich endlich für eine kurze Weile am Tisch der Damen Rolf nieder, die auf der Uferterrasse ihren Nachmittagskaffee tranken. Fräulein Paula, der Robert während seines Aufenthalts auf der Insel keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wie ihm überhaupt der Verkehr mit unverheirateten Damen aus guter Familie wenig zusagte, betrachtete ihn heute mit einer Teilnahme, die ihn nachdenklich stimmte. Als er zum Abschied nicht nur der noch immer schönen, etwas hoheitsvollen Mutter, sondern, gegen seine Gewohnheit, auch der Tochter die Hand küßte, fühlte er auf seiner Stirn den warmen Glanz eines freundschaftlich-nahen Blickes ruhen, der gleichsam dunkler wurde, als ihm Roberts Augen begegneten.

Er begab sich ins Klavierzimmer, griff ein paar Akkorde auf dem verstimmten Flügel, verließ aber bald wieder den Raum, hinter dessen herabgelassenen Vorhängen der schwüle Nachmittag dunstete; und auf dem weißen, strahlenden Uferkies hin und her wandelnd, empfand er peinlich die unergründliche Leere jener nutzlosen Stunden vor einer festgesetzten Abreise. Daher entschied er sich, statt abends mit dem regelmäßigen Dampfer, lieber gleich mit einem der kleinen Motorboote, noch im vollen Licht, die kurze Strecke übers Meer zu fahren, und wanderte bis kurz vor Abgang des Zuges in den winklig-hügeligen Straßen der Hafenstadt umher, deren Altertümer zu besichtigen er sich täglich vorgenommen hatte, um es ebensooft und endlich bis zur letzten Stunde aufzuschieben. Als er auf den obersten verwitterten Stufen der Arena stand, vom entweichenden Tagesschein umflossen, stieg, gleich einer dunklen Mahnung, aus der Tiefe des ungeheuren Kreises der Abend zu ihm empor.


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