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»Noch ein bischen höher, mehr nach der Mitte zu So ist's gut, so wird es recht hübsch sein, und jetzt tummle Dich, guter Freund, daß Du die Guirlande noch hübsch um das Schild herum fertig bringst und der Stiefel recht schön in die Mitte zu stehen kommt! Denn der Stiefel ist die Hauptsache, das ist das Zeichen des ehrlichen Handwerks, und das Handwerk ist es, das heute seinen Triumph feiern soll.«
So rief der Dreher Gerbel einem Gesellen zu, der an der Thurmwohnung Meister Rempelmann's vor dem Jakobsthore auf einer angelehnten Leiter stand und mit einigen Andern beschäftigt war, das Gemäuer zu schmücken, Thüren und Fenster mit Gewinden und y Kränzen zu verzieren. Auf dem breiten Platze davor standen viele Leute, bunt, wie der Zufall sie zusammengeführt, durcheinander, sahen den Festvorbereitungen zu und harrten des Schauspiels, das noch kommen sollte.
Rempelmann's Bube in seinem besten Anzug saß auf der freien Thurmstiege und hütete das kleine Schwesterchen, das neben ihm auf dem Platze vor der Stubenthür herumrutschte und in dem Vorrath von Blumen und Blättern herumtastete, welcher dort zur Verzierung aufgehäuft war. Die Meisterin selbst hatte keine Ruhe und lief immer hin und wieder, Treppe auf und Treppe ab. Schon seit dem frühesten Morgengrauen hatte sie zwar Alles in Haus und Wohnung aufs Tüpfelchen bereitet und hergerichtet; dennoch war es ihr immer, als hätte sie noch etwas vergessen, als sei noch etwas übrig zu thun. Dann lief sie eilig hinauf, um, wenn sie oben stand, sich vergeblich zu besinnen, was sie gewollt; sie fand nichts zu thun, als allenfalls einen Stuhl von einem Platze auf den andern zu rücken oder zum zehnten Male einen Lappen zu ergreifen und von Kommode und Standuhr das allerletzte Stäubchen abzuwischen. Eben war sie wieder in die Stube gekommen und strich das Tischtuch glatt, welches zur Mahlzeit für den heimkehrenden Vater und Meister schon aufgebreitet war. Vergnügt streiften ihre Blicke darüber weg und in der Stube umher. Die Wangen der hübschen Meisterin brannten; es war, als ob sie zehn Jährchen jünger und schöner geworden sei. »Ich weiß gar nicht, wie mir ist«, sagte sie lachend zu sich selbst, indem sie vor dem kleinen Spiegel, der in der Ecke hing, sich das Scheitelhaar zurechtstrich. »Ich kenne mich selbst nicht mehr, wenn ich denke, was für eine Jammergestalt gestern noch aus dem Spiegel herausgesehen hat, und jetzt zeigt er mir einen rothen Kopf, als wenn ich zu tief in den Krug geguckt hätte.«
Gerbel's Eintritt unterbrach sie in ihrem Selbstgespräch. »Nun, Frau Rempelmann«, rief er, indem er vergnügt die Hände rieb, wie Jemand, der von seinem Werke vollkommen befriedigt ist, »denken Sie jetzt noch daran, an den Tag der großen Illumination? Ich bin damals auch an Ihrem Thurm vorbeigekommen und habe gesehen, wie Ihr Mann seinen Stiefel beleuchtet hat. Damals hab' ich auch nicht gedacht, daß wir einmal so zusammenkommen und miteinander beschäftigt sein sollten, das Schusterschild wieder herauszuputzen.«
»Freilich wohl«, seufzte die Frau; »wem hätte es einfallen können, daß es so gehen würde? Wer mir damals gesagt hätte, daß so großes Elend, solche Schande über mich kommen würde –«
»Nun, nun, tröste sich die Frau! Damit hat's ein Ende«, sagte Gerbel. »Es ist wie bei einem Wetter. Das Gewölk ist vorbeigezogen, und der kalte Schlag, den es gethan hat, hat nur erschreckt und nicht gezündet. Da scheint die Sonne hintennach desto schöner.«
»Weiß Gott«, rief die Meisterin wieder, »ich meine, der Himmel ist nie so schön blau gewesen wie heute. Wenn ich denke, daß wirklich alle Noth ein Ende hat, daß der Vater wieder heimkommt, mein guter Mann, mein lieber, braver Meister, so ist es mir, als wenn ich in einem Traume wäre, und alle Augenblicke fürchte ich, daß ich wach werde, und daß die ganze Herrlichkeit verfliegt.«
»Das kann ich mir denken«, sagte Gerbel lachend. »Aber es ist doch Wahrheit, und es freut mich fast so sehr, als es Sie selber freuen kann. Ich habe den Rempelmann immer für brav und rechtlich gehalten, hab' es gleich im ersten Augenblick gesagt: Ich glaub' es nicht, daß ein solcher Mann über Nacht ein Dieb und ein schlechter Kerl werden soll; und nun freut's mich in die Seele hinein, daß ich so Recht behalten habe. Ich hab' es immer gesagt, es ist nichts als ein Streich von dem Sparberger, der heuchlerischen Wucherseele, und wenn ich's auch nicht beweisen kann, ich bleibe doch dabei, daß es wahr ist, und nun erst gerade recht.«
»Warum das?« fragte die Meisterin.
»Weil er nicht einmal heute zu Ihnen kommt«, antwortete der Dreher. »Wenn er ein gutes Gewissen hätte, so hätte er gleich, wie das erste Wort davon laut geworden ist, daß er dem Rempelmann mit seinem Verdachte Unrecht gethan hat, zu Ihnen kommen müssen, und wenn er Sie nicht um Verzeihung bitten wollte, hätte er wenigstens ein Wörtchen sagen müssen, wie leid es ihm thue, daß Sie seinetwegen in solchen Verdacht gekommen, und wie froh er sei, daß sein Nachbar nun gerechtfertigt dastehe. Das hätte ich gethan, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, und er hätte es auch thun müssen, wenn er ein halbwegs gutes Gewissen hätte. Statt dessen ist Knall und Fall bei ihm eine wichtige Geschäftsreise vorgekommen. Er hat es gar nicht einmal abwarten können, bis der Rempelmann frei ist, und hat sich die Freude entgehen lassen, zu sehen, wie der unschuldig Verurtheilte von den Zünften und Innungen feierlich, unter Sang und Klang in sein Haus und sein Geschäft, zu Weib und Kind zurückgeführt wird.«
Die Meisterin fuhr mit der Hand über die Augen, in die ihr das Wasser aufgestiegen war. »Ist es denn wahr«, rief sie dann, »daß man uns eine solche Ehre anthun will? Wollen die Zünfte wirklich zu uns kommen? Das hab' ich gar nicht für möglich gehalten. Ich hab' immer gefürchtet –«
»Weiß schon, Frau, was Sie sagen wollen«, entgegnete Gerbel. »Aber das gehört sich einmal nicht anders. In Ihrem Manne ist Alles beleidigt, was Handwerk heißt, und weil seine Unschuld so ans Licht gekommen ist, ist es eine Freude und eine Ehre für Alles, was zum Handwerk gehört. Das haben ich und meine Freunde in der Versammlung gesagt, und wir haben es durchgesetzt, wenn auch Einige nicht daran gewollt haben.«
»Also hat's doch Widerspruch gegeben!« sagte die Schusterin ängstlich. »Warum doch?«
»Ach was!« rief Gerbel. »Man muß die Leute reden lassen. Allen kann man's nicht recht machen. Besser wär' es freilich, wenn das auch noch aufgeklärt würde, daß – na, ich sehe schon, es ist das Beste, wenn ich Ihnen Alles sage. Es gibt Leute, welche meinen, wenn auch die Wahrheit mit dem fremden Manne aufgekommen sei, der Ihnen das Geld gegeben hat, so bleibe doch noch immer ein Umstand, die Geschichte mit den Stiefelspuren im Garten; die will den Leuten nicht aus dem Kopfe. Wenn man nur herausbringen könnte, wie es damit zugegangen ist! Wissen Sie denn gar kein Mittel und Weg dazu?«
Die Schusterin sah den Fragenden ernst und traurig an. »Also glauben uns die Leute noch immer nicht! Obwohl sie sich überzeugt haben, daß wir mit dem Gelde die Wahrheit gesagt haben, halten sie uns doch noch für so schlecht!«
Wie nachsinnend fiel ihr Blick durch das Fenster auf den Platz und streifte über die vor dem Thore versammelte Menschenmenge, als mit einem Male ein dunkles Roth ihr Angesicht überflog. »Der!« murmelte sie vor sich hin. »Was will der? Er wird doch nicht zu uns kommen?« Dann von einem raschen Gedanken durchzuckt, wandte sie sich zu Gerbel, faßte ihn am Arme und drängte ihn gegen die Kammerthür. »Gehen Sie dahinein!« sagte sie mit fliegendem Athem. »Halten Sie sich still, und horchen Sie genau auf Alles, was gesprochen wird! Vielleicht weiß ich Mittel und Weg.«
Der Meister war kaum in der Kammer verschwunden, als ein etwas unsicherer Schritt die freie Thurmtreppe heraufkam und die Stimme des schwäbischen Gärtners sich vernehmen ließ, der draußen mit dem Knaben ein Gespräch anknüpfte. »Warum kommst denn gar nimmer zu mir, Michele?« hörte die Frau ihn sagen. »Du weißt ja, wie gern ich Dich hab'. Komm' nur zu mir, Büeble! Ich hab' gar schöne Weichsel und Frühbirn!«
Der Knabe erwiderte nichts. Eingedenk des strengen Verbotes, jeden Umgang mit dem verdächtigen und verhaßten Gärtner zu unterlassen, schwieg er hartnäckig, und damit er nicht in Versuchung käme, zu antworten, beugte er den Kopf zu Boden und beschäftigte sich mit dem Kinde, als ob er die Frage gar nicht vernommen hätte.
Die Schusterin hatte hastig die Thür aufgerissen, um das Gespräch zu unterbrechen. Sie hatte sich vorgenommen, den Burschen freundlich zu empfangen; aber als er wirklich vor ihr stand, vermochte sie im ersten Augenblick nicht, sich so sehr zu bemeistern. Es war daher kein Wunder, wenn Schiebele ein paar Schritte überrascht zurücktrat, so vollständig war in ihrem Angesicht die wahre Empfindung ihres Abscheus gegen ihn ausgedrückt. Sein Aussehen war auch nicht geeignet, diese Empfindung abzuschwächen. Gesicht und Gestalt des Burschen waren nicht eben unangenehm, aber der ganze Eindruck wurde durch die Augen zerstört, deren mattgraue Farbe und unsichere Bewegung zusammen das bildeten, was man im gewöhnlichen Leben einen falschen Blick nennt. Dazu kam, daß der Bursche in der letzten Zeit begonnen hatte, sich dem Trunke hinzugeben. Eben schien er wieder von einem solchen Vergnügen zu kommen, denn seine Augen schwammen in Feuchtigkeit, daß sie ein starres, gläsernes Ansehen hatten; das Gesicht war geröthet und eine leichte Unsicherheit in Gang und Bewegung verrieth, daß er über dem Bestreben, die Gedanken, die ihn quälen mochten zu vergessen, die volle Herrschaft über seine Glieder und Sinne verloren habe.
Der Gärtner hielt einen mächtigen Kranz in der Hand, geflochten aus den kostbarsten Blumen der schönen Jahreszeit, in welcher der Flor des Sommers noch nicht verblichen ist und der Herbst bereits in Astern und Dahlien seine Erstlingsgrüße zu schicken beginnt. Als die Thür unerwartet aufging, vermochte er nur zu stottern und hielt statt einer Anrede der Schusterin den Blumenkranz entgegen. Bald gefaßt kämpfte diese den aufwallenden Unwillen in sich nieder und vermochte nun, mit lächelnder Miene und freundlichem Tone ihn willkommen zu heißen. »Wie«, sagte sie »der Herr Nachbar Schiebele geben uns auch die Ehre?«
Der von seiner Leidenschaftlichkeit verblendete und jetzt vom Trunke noch mehr erhitzte Bursche verlor bei dem Anblick der hübschen Frau und bei der Freundlichkeit, womit sie ihn zum ersten Male begrüßte, vollends den Rest der schwachen Besinnung, den er noch besessen hatte. »Freilich bin ichs, Frau Nachbarin«, rief er unsicher. »An einem Tag, wie der heutig', kann ich als nächster Nachbar doch nit zurückbleibe. Ich hab' Ihne auch ein schön's Kränzle bunde; den müsse Sie annehme.«
»Warum sollt' ich nicht?« sagte die Schusterin mit verstellter Artigkeit, die man ihrem sonstigen schlichten Wesen kaum zugetraut hätte. »An einem Tage, wie der heutige, da muß man eben Manches vergessen und ein Auge zudrücken. Kommen Sie nur herein ins Zimmer, Herr Nachbar! Ich kann doch den schönen Kranz nicht so zwischen Thür und Angel in Empfang nehmen!«
Der Gärtner wußte nicht, wie ihm geschah. Wie eine vom Lichte geblendete Mücke schwirrte er dem Scheine nach und befand sich in der nächsten Sekunde allein in der Stube mit der hübschen Frau, welche, gar nicht unfreundlich oder vollends grob, wie sonst, ihm sogar einen Stuhl zurecht setzte und ihn wie den angenehmsten Besuch zum Niedersitzen einlud.
»Nein«, rief sie immer wieder, »so was Schönes wie diesen Kranz hab' ich noch gar nie gesehen! Der ist zu schön, als daß man ihn draußen aufhängen sollte. Den behalt' ich in der Stube. Da über dem Spiegel soll er hängen bleiben zum ewigen Angedenken!«
»Wie freu' ich mich, schön's Weible«, sagte der Gärtner, »daß Sie einmal, wie's scheint, den unchristlichen Haß gege' mich aufgebe wolle! Den hab' ich wahrhaftig nit verdient. Ich hab's alleweil guet mit Ihne g'meint, und selbigsmal – Sie wisse ja, was ich mein' – da habe Sie mich nur falsch verstande. Da hat mich nur mein guets Herz verführt und ich hab' 'dacht, ich thät' Sie am beste tröste, wenn ich Ihne sage thät, Sie solle sich an Ihre Mann nit kehre, und solle lieber denke, er sei Ihne ganz verlore. Das hab' ich ja nit wisse könne, daß der falsche Schein gar so stark gegen ihn sein könnt'.«
»Ja, das ist wahr«, sagte die Schusterin mit einem eigenthümlichen Blicke auf den Gärtner, »der Schein trügt. Aber reden wir nicht mehr davon! Wenn ich nur wüßte, wie ich mich für den schönen Kranz bedanken sollte!«
»Ach du lieb's Herrgottle!« rief der Gärtner immer verwirrter. »Rede Sie doch nit vom Danken! Ein so schön's Weible könnt' sich leicht bedanke, wenn sie wollt'. Wenn Sie nur nit alleweil sein wollte, wie ein fahrender Drach'! Wenn Sie mich nur ein einzig's Mal mit einem halb so freundlichen Blick anguckt hätte, wie jetzt, da wär' wohl Manches anders, da wär' Manches nit g'schehe.«
Die Schusterin bebte zusammen, denn der Bursche war kühner geworden; er näherte sich ihr und legte den Arm um ihre Hüfte. Sie zuckte und mußte sich Gewalt anthun, ihn nicht von sich zu stoßen. »So?« brachte sie mühsam hervor. »Wie ist denn das zu verstehen? Was wäre denn nicht geschehen? Und was nicht gewesen ist, könnte denn das nicht noch werden?«
»Freilich, freilich könnt's«, kicherte der Schwabe. »Aber es wird halt jetzt doch viel härter halte, jetzt, wo der Mann wieder daheim ist.«
»O deswegen!« rief die Schusterin in steigender Bewegung. »Nach meinem Mann thät' ich just nicht so viel fragen. Bei dem, was ich im Sinn hab', redet er mir gewiß nichts ein.«
»Ja, wenn das wär'!« fuhr der Bursche fort, indem er sie lüstern an sich drückte. »Was ist denn für ein gueter Geist über die Frau komme, daß sie auf einmal so zuetraulich ist? Warum war sie denn früher gar so spröd und wild?«
»Warum?« fragte die Schusterin und ballte ungesehen die Hände. »Vermuthlich wohl, weil ich jetzt erst sehe, wie der Herr Gärtner von mir denkt und daß er gar ein so guter Freund ist von uns. Ich hätt' mich wohl bedanken sollen, wie Sie die Zeugschaft gegen uns abgelegt haben? Denn das«, fügte sie leichthin und vollkommen unverfänglich hinzu, »das werden Sie mir doch nicht widersprechen wollen, daß es mit der Einbruchsgeschichte ein kleines Häkchen hat.«
»Freilich, freilich«, lachte Schiebele mit dummer Pfiffigkeit. »Es hat damit schon einen großen Haken. Sie ist eben eine g'scheidte Frau und hat gar ein fein's Näsle. Es ist mir leid g'nug g'wese selbigsmal und ich hab's nit gern gethan; aber ich hab' halt müesse.«
»Sie haben gemußt?« fragte die Schusterin möglichst gleichgültig, indem sie vom Tische weg ein paar Schritte näher gegen die Kammerthür machte. »Ja, wie wäre denn das?«
»Wie das wär'?« fragte der Gärtner, der ihr folgte, weil er ihr Zurückziehen in die Tiefe der Stube für seine Wünsche günstig auslegte. »Ich hab' müesse, weil ich sonst meinen gueten Dienst verlore hätt'. Es ist nit so leicht, heutzutag' einen solchen gueten Platz wieder z'kriege, bei dem so allerhand abfallt, weil's so vielerlei Heimlichkeite gibt. Der Alt' hat's absolut so habe wolle.«
»Der Alte? Wer ist denn das?«
»Wer sonst als mein Herr, der Herr Agent Sparberger?« sagte Schiebele, indem er die Hände der erglühenden Frau mit Küssen bedeckte. »Er kann den Meister einmal nit ausstehe und hat'n mit G'walt aus'm Thurm fort habe wolle. Da hab' ich mich von ihm verblende lasse. Ich hab' auch nit g'meint, daß's so übel ausfalle thät', und wenn das nit g'wese wär', so wär's auch wirklich zum Lache g'wese, vor allem gar die G'schicht' mit dene Stiefel.«
»Mit den Stiefeln?« fragte die Schusterin, welche kaum mehr Athem genug fand. »Ah so! Mit den Stiefeln, die uns gestohlen worden sind, meinen Sie?«
»Ach was«, sagte der Gärtner lachend, »g'stohlen hab' ich sie nit. Sie sind in'n Garte 'nunterg'falle und da hab' ich sie g'funde und zu mir g'nomme. Ich hab' 'dacht, die könnt man mal brauche, wenn's gilt, a Späßle z'mache. Wie dann der Alt' nit ausg'lasse hat und alleweil in mich 'drunge ist, ich sollt' was ausstudire, um den Schuster fortz'schaffe, hab' ich sie am selbige Abend an'zoge und bin damit durch'n Garte 'gange, eh' ich sie wieder an ihren Ort g'stellt hab'. Drum«, fuhr er mit lautem Lachen fort, »drum habe die Stiefel auch so accurat in die Spure 'paßt.«
»Ist das wahr?« sagte die Schusterin so erregt, daß sie kaum mehr an sich halten konnte. »Das wäre freilich zum Lachen, wenn's nicht so traurig gewesen wär'. Aber wie ist es dann mit dem Einbruch selbst gewesen?«
»Nix ist's damit g'wese«, entgegnete Schiebele, »gar nix als lauter Spiegelfechterei. Der Alt' selber hat mit der Kreuzhaue 's Schloß verruinire helfe. Es ist ihm kein Kreuzer g'stohle worden. Er hat's so habe wolle, und ich hab' ihm halt sein' Wille thue müsse. Aber ich will's schon wieder guet mache, schön's Weible, denn Sie ist ja jetzt vernünftig worden und weiß, was Sie z'thue hat.«
»Ja, das weiß ich!« rief losbrechend Frau Rempelmann, indem sie die Thür zur Kammer aufriß. »Kommen Sie heraus, Herr Gerbel! Jetzt ist das ganze Schandstück am Tage.«
»Das ist es«, rief der Meister, der raschen Schrittes und mit leuchtendem Blicke aus der Thür trat, »und alle Welt soll erfahren, daß es so ist! Die ganze abscheuliche Bosheit soll ans Licht, daß Niemand mehr an der Ehrlichkeit eines braven Mannes zweifeln kann.«
Der Gärtner stand bei der unerwarteten Wendung der Sache und bei dem Anblick des Meisters so verblüfft, als habe er einen betäubenden Schlag vor die Stirn bekommen und müsse sich auf das, was vorgegangen, erst besinnen. Einen Augenblick starrte er die Frau und den Meister wie geistesabwesend an, dann loderte ein lichter Funken in ihm auf. Rasch und geduckt wie ein Thier, das die Gelegenheit wahrnimmt, einer Falle zu entspringen, eilte er der Thür zu. Gerbel aber, der das schon erwartet haben mochte, stand bereits an derselben und schleuderte ihn zurück, daß er taumelnd vor Schrecken am Tische zu Boden fiel.
»Da lieg'«, rief er, »und warte, bis sie Dich und Deinen Genossen holen, den meineidigen Verleumder, und Euch thun, was Euch gehört!«
Der letzte Rest der fliehenden Trunkenheit kämpfte in dem Burschen mit dem Entsetzen und der Wuth, sich überlistet zu sehen. Grimm glühte in seinen tückischen grauen Augen; in ohnmächtiger Bosheit ballte er die Fäuste und preßte die eigenen Zähne tief in dieselben, daß sie zu bluten anfingen; aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er vermochte nur ein dumpfes Knurren hervorzubringen.
In diesem Augenblicke schmetterten von draußen die lauten Töne fröhlicher Musik, und das Rufen des Volkes verkündete die Annäherung des Festzugs. »Sie kommen«, rief Gerbel. Die Schusterin aber vermochte es nicht, in den Ruf einzustimmen. Obwohl sie denselben erwartet hatte und darauf vorbereitet war, wurde sie von der Wucht des Augenblicks doch so sehr überwältigt, daß sie sich an dem Tische anhalten mußte und die paar Schritte zur Thür nicht zurücklegen konnte. Draußen sprang auch Michel empor und schrie: »Der Vater kommt! Mutter, der Vater kommt!«
»Er kommt, er kommt wirklich!« stammelte sie, indem der Bube die Thür aufriß und ihr das Schwesterchen auf den Arm gab; weiter aber als vor die Thür vermochte sie nicht zu kommen, die Füße versagten ihr den Dienst. Es war aber auch unnöthig, daß sie sich weiter entfernte. Im Augenblick war die Musikbande, welche dem Zuge voranschritt, aus dem breiten, dunklen Bogen des Jakobsthors getreten, hatte mit einer Schwenkung den Platz vor dem Thurm betreten und sich dort aufgestellt, während vor und neben demselben sich die Träger der Fahnen, Standarten und andern Zunftzeichen in weitem Halbkreise aufstellten. Im Thor selbst kamen die ältesten Meister der verschiedenen Gewerbe angeschritten, in ihrer Mitte Meister Rempelmann. Bis dahin war er im Stande gewesen, den langsam feierlichen Schritt des Zuges einzuhalten; jetzt, als er sein Wohnhaus vor sich liegen, als er auf der Treppe Weib und Kinder sah, wie sie zitternd ihm entgegenstrebten und ihm nicht entgegenzueilen vermochten, da hielt auch er nicht länger an sich. Unbekümmert um die ganze Feierlichkeit, durchbrach er die Reihen und war nach wenigen Schritten an der Treppe. »Grete!« rief er, »Kinder!« und lag im nächsten Augenblick wortlos in den Armen der Seinigen. Hinter der glücklichen Gruppe aber stand Meister Gerbel, schwang den Hut über dem Kopfe und rief mit schallender Stimme: »Heil dem wackern Manne, der aus einer so schweren Prüfung gereinigt zurückgekehrt! Heil unserm braven, redlichen Mitbürger! Er lebe hoch!« Die Musik fiel mit einem schmetternden Tusche ein, die zahllose Versammlung schwenkte die Hüte und Mützen und brach in ein tausendstimmiges Jubelgeschrei aus. Die Glücklichen hörten es nicht. Fest und lange hielten sie einander umschlungen; als das erste Getümmel vorüber war, stimmten die Sänger des Zuges die einfache, ergreifende Weise »Nun danket alle Gott!« an und alle Anwesenden stimmten ein in den erschütternden Choral.
»Mitbürger! Freunde!« rief Gerbel wieder, als ein Augenblick der Ruhe eingetreten war. »Ich habe die Freude, Euch noch eine Mittheilung zu machen, welche auch den letzten Schleier von der räthselhaften Angelegenheit unseres der Welt wiedergegebenen Freundes und Mitmeisters gehoben hat. Der Einbruch, dessen er beschuldigt werden wollte, hat gar nicht stattgefunden; er ist nur zum Schein angegeben worden, um den Meister Rempelmann, dessen Redlichkeit ihn zu einem unangenehmen Nachbar machte, aus der Umgebung fortzubringen. Der Agent Sparberger war der Anstifter, sein Gärtner der Thäter und Helfershelfer. Vor wenigen Augenblicken habe ich selbst sein unumwundenes Geständniß mit eigenen Ohren gehört. Hier habe ich den Elenden eingeschlossen, um ihn den Armen der Gerechtigkeit zu überliefern.«
Er trat in die offene Thür, sah sich aber vergeblich nach Schiebele um, von dem nirgends eine Spur zu erblicken war. Die Ankunft des Zuges und die Angst vor dem ihm bevorstehenden Schicksal hatten den Burschen vollkommen nüchtern gemacht; er hatte nach einem Ausweg der Rettung gespäht und einen solchen gefunden, wie das offenstehende Stubenfenster zeigte. Rasch entschlossen hatte er es geöffnet, war hinausgestiegen und hatte sich den Anschein gegeben, als sei er beschäftigt, noch etwas an den dort angebrachten Guirlanden und Kränzen zu ordnen. Er stieg auf eine in der Nähe lehnende vergessene Leiter und gelangte so unbeachtet und unangehalten durch die Menge, welche ihn allgemein für einen Gärtner hielt, der sich bei der Verzierung des Hauses verspätet.
»Verdammt!« rief der Dreher ärgerlich. »Jetzt ist uns der Galgenvogel doch entwischt!« Schimpfend und lachend drängte das Volk durcheinander und erzählte sich, wie es den Burschen wohl gesehen und nicht entfernt geahnt, welche Bewandtniß es mit ihm habe. Das Gelächter und die allgemeine Lustigkeit gingen aber bald in Entrüstung und Unwillen über gegen die schändliche That. Durch Ausrufungen und Schimpfreden aller Art machten die bewegten Gemüther sich anfangs Luft, bald aber regte sich die Lust, von Worten zu Thätlichkeiten überzugehen. Erst vereinzelt und schwach, dann immer öfter und lauter ließen sich Rufe hören, daß man das nicht so ungestraft hingehen lassen dürfe; man müsse dem falschen Ankläger, der seine Lüge noch durch einen Eid vor Gericht bestätigt habe, sogleich einen Denkzettel geben. Diese Aufforderungen fanden um so williger Gehör, als der Agent wegen seiner Geschäfte und seines Handels mit Lebensmitteln ohnehin eine anrüchige Persönlichkeit und von der öffentlichen Meinung beschuldigt war, daß er Wucher treibe und nicht wählerisch sei in den Mitteln, wenn es gelte, einen Gewinn zu machen. Schon wandte sich die Strömung der Menge gegen das Landhaus und den Garten, schon hatten einzelne der Hitzigsten und Kühnsten sich auf die Mauerbrüstung geschwungen, begannen über das Eisengitter zu klettern und die Stangen desselben loszuwiegen, als Rempelmann dies gewahr ward und mit Winken und Rufen nach einigen Augenblicken es dahin brachte, daß man von dem Unternehmen abließ. »Stille!« rief einer aus der Menge. »Ruhe! Meister Rempelmann will uns was sagen.«
»Ich verstehe nicht zu reden«, sagte Rempelmann, als es still geworden war, »und ich habe auch nichts zu sagen als eine Bitte. Der heutige Tag ist ein großer Freudentag für mich und die Meinigen. Da werdet Ihr mir eine Bitte nicht abschlagen; das ist die, daß wegen des Unrechts, das mir geschehen ist, nicht ein anderes Unrecht ausgeübt werde. Ich bin froh, daß der schlechte Mensch, der an mir zum lügnerischen Ankläger geworden ist, entwischt ist. Darum bitte ich, liebe Landsleute, laßt auch das Haus und den unschuldigen Garten in Ruhe und verderbt mir meinen Freudentag nicht!«
»Ja, ja!« rief es tausendstimmig entgegen. »Der heutige Tag gehört dem Rempelmann; heute muß geschehen, was er haben will. Er soll leben – hoch und abermals hoch und zum dritten Mal hoch!«
In das lärmende Rufen fiel rauschend die Musik ein und ging sogleich in die Melodie des Marsches über, mit welcher der Zug herangekommen war. Dadurch kam Ordnung in die Menge; unter stetem Zurufen wogte dieselbe an dem Thurm vorüber in den Thorbogen hinein. Ferner und ferner verklangen das Rufen und die festlichen Töne der Musik, und bald war es einsam auf dem weiten Platze; nur Rempelmann, den Arm um sein Weib und seine Kinder geschlungen, stand noch auf der Thurmtreppe seines Hauses.
»Jetzt sind wir allein«, sagte er dann. »Jetzt können wir uns erst recht freuen, daß wir einander wieder haben. Komm' herein, Grete! Kommt herein, Kinder! Die Thür, aus der ich so elend herausgegangen bin, geht für uns wieder auf in alter Freude und Glückseligkeit. Meine liebe, meine einfache Stube, da bist du wieder! Da bin ich wieder in dir!« fuhr er eintretend fort, und sein Blick blieb auf dem Handwerkszeug haften, das sauber und ungebraucht an Nägeln und Stiften an der Wand aufgehangen war. »Mein Handwerkszeug!« rief er, indem er Leisten und Pfriemen wie etwas der Empfindung und eines Gegengefühls Fähiges an die Brust drückte, während Thränen aus den Augen des sonst starken und nicht leicht zur Rührung geneigten Mannes rieselten. »Mein Handwerkszeug, da bist du auch wieder, hast lange feiern müssen! Das wird dir wohl zu Herzen gegangen sein. Ich glaub's, ich glaub's; du bist ans Müßiggehen nicht gewöhnt worden bei mir. Wir zwei haben redlich geschafft mit einander, und wir wollen's wieder. Nicht wahr? Wir wollen wieder fest zusammenhalten, und wir auch, meine Lieben«, fuhr er fort, die Seinigen wieder an sich ziehend, »wir auch. Unser Herrgott ist mit uns gewesen; wir wollen ihm danken und auf ihn vertrauen, wo es auch sein mag.«
»Wo es auch sein mag?« sagte die Frau und blickte von seiner Brust zu ihm empor. »Wie meinst Du denn das? Wo sollten wir sein als hier?«
»Frage nicht! Rede jetzt nicht, Grete!« sagte der Schuster. »Mir geht allerhand im Kopfe herum. Jetzt wollen wir uns freuen, daß wir einander wieder haben, daß wir nach so langer, bitterer Zeit wieder an einem Tische beisammen sitzen, daß wir wieder frei vor Gott und der Welt die Augen aufschlagen dürfen, und daß mein Schild, mein ehrlicher Stiefel da draußen, wieder zu Ehren gekommen ist!«
Der Festzug der Gewerke, der Meister und Gesellen, war inzwischen im Innern der Stadt angelangt und eben im Begriff, auf einen der größern Plätze einzubiegen, in welchen mehrere ansehnliche Straßen ausmündeten, während an der Seite ein gekrümmtes Gäßchen in weitem Bogen nach den frühern Wällen und Stadtmauern hinführte. Meister Gerbel schritt ruhig mit seinen Genossen dahin, in lebhaftem Gespräch über das eben Erlebte, den Vorfall mit dem Gärtner und das kluge Benehmen der hübschen Schusterin ausführlich und wiederholt erzählend. Plötzlich brachen die voranziehenden Musikanten mitten in der Melodie grell ab, die Vordersten des Zuges mit den Fahnen geriethen in Unordnung, daß derselbe nicht weiter kommen konnte und ein vollkommener Stillstand eintrat.
»Was gibt's denn? Warum hält der Zug?« fragte Gerbel einen Commis, der eifrig daran war, Thüren und Fenster des an der Ecke befindlichen Kramladens zu schließen. »Es kommt mir vor, als wollten Sie gar den Laden schließen. Was gibt es denn?«
»Was wird es geben«, sagte der Kaufmann, welcher unter die Thür herbeieilte, mit einem Arm in seinem Straßenrock, mit dem andern noch in der Jacke steckend, die er gewöhnlich im Geschäfte zu tragen pflegte. »Der Zug kann eben nicht weiter. Der ganze Platz ist voll Menschen; da kommt Niemand durch.«
Die Fahnenträger und Musikanten, die sich inzwischen bereits hiervon überzeugt hatten, kamen zurück und eilten in die Nebengasse, um Fahnen und Instrumente so schnell als möglich in Sicherheit zu bringen.
»Wir gehen gleich mit einander, Herr Gerbel«, sagte der Kaufmann. »Was es eigentlich gibt, weiß ich selbst nicht recht. Aber ich höre, daß an allen Straßenecken Proclamationen angeschlagen sind, bogengroße Placate, worin alle Gesetze, die seit Jahr und Tag gegeben worden sind, auf unbestimmte Zeit außer Wirksamkeit gesetzt werden.«
»Nicht möglich«, erwiderte Gerbel. »Das wäre ja das offenbare Signal zum Aufruhr.«
»Es ist doch nicht anders«, entgegnete Rund. »Darum will ich fort und will's lesen, weil ich es selbst kaum glauben kann.«
»Ja, es ist schon so«, rief ein vorübereilender Bürger, dessen Anzug verrieth, daß er eben aus der Werkstatt weggelaufen war. »Ich hab's mit eigenen Augen gelesen. Es ist eine Proclamation von der Herzogin-Mutter. Der Herzog, heißt es darin, sei wegen dringender Geschäfte verreist und habe ihr die Vollmacht und die Regentschaft übertragen. Zur Herstellung der Ruhe und Ordnung finde sie es für nothwendig, alle seit dem Tode des alten Herzogs erlassenen Gesetze auf eine Weile aufzuheben und die alten wieder in Kraft treten zu lassen.«
»Die alten Gesetze?« sagte Gerbel. »Was kann damit gemeint sein? Sollten sie uns die freie Presse wieder nehmen wollen und das Versammlungsrecht, das neue Gerichtsverfahren und die Religionsfreiheit?«
»Freilich«, erwiderte der Bürger, »es ist Alles aufgehoben. Das Placat ermahnt Jeden bei schwerer Strafe zur Ruhe und zum Gehorsam. Gegen die Ungehorsamen, heißt es, seien alle Vorkehrungen getroffen, und wer es wage, die Ruhe zu stören, der solle standrechtlich und nach Kriegsgebrauch sogleich behandelt und verurtheilt werden.«
Um den Erzählenden hatte sich im Augenblick ein immer anwachsender Kreis von Zuhörern aller Art gebildet, welche in den verschiedensten Ausrufungen ihre Theilnahme kundgaben. »Das darf der Herzog nicht!« rief es durcheinander. »Wir wollen nichts wissen von Krieg und Standrecht; wir wollen uns die Freiheiten, die man uns endlich gegeben hat, nicht wieder so nehmen lassen. Kommt, wir wollen aufs Rathhaus, wollen eine Versammlung halten und berathen, was zu thun ist!«
»Ach was Rathhaus«, rief ein Anderer. »Da gibt's keine Versammlung als mit dem Gewehr und keinen andern Versammlungsort als auf der Straße. Ruft die Bürger heraus, daß sich Alles bewaffnet! Man muß Barrikaden bauen. Bürger heraus! Waffen heraus! Schlagt die Thurmstuben ein und läutet Sturm! Hurrah!«
Unter wildem Geschrei wälzte sich die Menge hinweg, durch neu zuströmende Schaaren immer wieder ersetzt und vermehrt.
»Hallo, es geht los«, rief ein Maurergeselle, der mit mehreren Andern von einem Bau heruntergelaufen kam. »Tummelt Euch, Kameraden, daß wir nicht zu spät kommen! Es ist nichts zu fürchten dabei. Die Soldaten thun uns nichts; ich weiß, sie machen Gewehr bei Fuß, und wenn sie doch schießen müssen, so beißen sie die Kugeln ab von den Patronen.«
»Schlimm genug«, sagte ein Bürger, indem er den Wegeilenden nachsah, »wenn das Euer ganzer Trost ist!« »Das meine ich auch«, erwiderte einer der Umstehenden in abgerissener Soldatentracht. »Es hat gestern schon geheißen, daß unsere Soldaten in den Kasernen bleiben und daß fremde Truppen aus dem Nachbarlande kommen sollen. Sie sollen schon unterwegs sein.«
»Wer sagt das?« rief Kaufmann Rund, indem er den Redenden an der Brust faßte und tüchtig schüttelte. »Bedenkst Du auch, Mensch, was Du daherredest? Daß das Leben von vielen Tausenden vielleicht auf dem Spiele steht, wenn Du lügst?«
»Ich lüge nicht«, sagte der ausgediente Soldat. »Ich habe Bekannte genug in der Kaserne, und ich bin gestern drinnen gewesen; da war's schon längst kein Geheimniß mehr, daß die Fremden bestellt sind.«
»Gestern schon!« rief Rund. »Und heute erläßt man die Proclamation! Also offenbar ein vorgefaßter und wohlbedachter Plan! Wir sind verrathen und verkauft, noch dazu von unserm eigenen Landesherrn, dem wir nichts zu Leide gethan haben, der uns die Fremden auf den Leib gehetzt, blos weil ihn das Gute reut, was er uns gethan hat! Das leiden wir nicht. Nicht wahr, Landsleute und Bürger, wir wehren uns dagegen?«
»Ja, ja«, schrie Alles durcheinander, »wir leiden es nicht. Hin zu der Residenz! Wir wollen es der Herzogin sagen!«
Wieder setzte sich eine Schaar in Bewegung, von dem Kaufmann geführt, an dessen Arm der Drechslermeister eifrig dahinschritt. »Ich fürchte nur«, sagte letzterer, »daß es zu spät ist. Gleich am ersten Tage, wie es hieß, der Minister sei abgesetzt, da wäre es an der Zeit gewesen, loszuschlagen; da wäre das Eisen noch warm gewesen und hätte sich schmieden lassen. Damals waren sie droben noch nicht vorbereitet, und Alles wäre leicht zu erreichen gewesen. Jetzt sind sie bis an die Zähne gerüstet; unten ist das Feuer verflogen, und es soll mich sehr wundern, ob das Volk, wenn es Ernst wird, Stand hält, wie das erste Mal.«
»Sorgen Sie nicht!« sagte Rund. »Ich bin gewiß, das Volk wird in Masse aufstehen, wie in den ersten Tagen, und wird diesmal die Waffen nicht eher aus der Hand legen, als bis die Errungenschaften alle unzerstörbar befestigt sind.«
»Ich wünsche es«, sagte Gerbel; »aber ich bleibe dabei, daß vor drei Tagen der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, wie das Gerede ging, Minister Führer sei abgedankt. Da war es Zeit, daß der Mann aus dem Volke, der für das Volk gewirkt hat, auch vom Volke gehalten worden wäre.«
»Sie mögen zum Theil Recht haben«, sagte Rund, »aber es ist immer gut, daß wir keinen Anlaß zur Einschreitung gegeben haben. Nun haben sie keine Ausrede, mit der Reaction hervorzurücken; jetzt müssen sie Alles aus freien Stücken thun und zeigen, daß es eine längst abgekartete Geschichte ist! Jetzt ist es klar, was sie wollen, und das Recht ist auf unserer Seite.«
»Das Recht!« rief Gerbel. »Wenn es einmal so weit gekommen ist, da reicht man mit der Goldwage nicht mehr aus. Ich will lieber im Anfang ein bischen Unrecht haben und am Ende Recht behalten, als aus lauter Rechtsgefühl stillhalten, wie ein Schaf, das der Metzger absticht und das zu ihm sagt: Stich nur zu, du böser Metzger, wag' es nur – ich halte still, aber wenn du wirklich stichst, dann werde ich dich beim lieben Gott verklagen. Es geschieht dem dummen Schafe recht, daß es abgestochen wird. Wenn ihm einmal das Messer an der Kehle sitzt, ist es zu spät, und wenn es sich auch noch aufrafft, so muß es sich doch an der Wunde verbluten. Ich fürchte, ich fürchte, das Volk besinnt sich, nachdem es den Mann hat fallen lassen, für eine Sache einzustehen, die ihm nicht gleich an Magen und Beutel geht wie damals die Verbrauchssteuer, die der alte Herzog eingeführt hatte. Aber wenn es so fortgeht, kann es schon geschehen, daß die Verbrauchssteuer auch wieder kommt. Hieß es nicht, daß alle Gesetze wieder gelten sollen, die der alte Herzog gegeben hat? Nun, da habt Ihr's! Da ist die Verbrauchssteuer auch darunter.«
Wüthendes Geschrei aus den Straßen, denen sie entgegengeschritten, unterbrach das Gespräch, Zugleich ertönten einzelne Glockenschläge von den Thürmen, wie sie den Ausbruch eines Brandes in den Häusern wie in den Gemüthern zu verkünden pflegen.
»Hört Ihr stürmen?« tobte es. »Der Residenz zu! Die alte Herzogin muß heraus.«
»Zum Brückenthor!« schrieen Andere. »Auf den Domplatz! Dort helft bauen! Die fremden Soldaten sind schon im Anmarsch!«
Ein Gebrüll der Wuth antwortete der Aufforderung. Noch wenige Sekunden, und die Bewegung hatte Alles in sich hineingerissen, wie eine überschwemmende Flut, welche, höher und höher steigend, in gewaltigem Wirbel Alles mit sich hinwegspült und siegreich mit ihren unheilvollen Spuren bedeckt. Bald brauste der Strom der Empörung fessellos durch alle Straßen der Stadt. Die Menge der Rufenden und Bewaffneten wuchs jeden Augenblick. Da kamen die Müßigen, denen jeder Lärm willkommen war, der sie von der Arbeit befreite und ihnen einige ungebundene Tage versprach; die Schlechten freuten sich einer Bewegung, von der sie sich Nutzen und Beute versprachen; die Seelen der Redlichen erglühten über die schmähliche Art, wie die kurz vorher verliehenen Rechte und Freiheiten, ein unveräußerliches Eigenthum des Menschen, ihnen wieder entzogen werden sollten; die Heuchler hießen den Losbruch willkommen, weil sie dessen Ueberwältigung voraussahen und mit der Uebermacht die Gelegenheit erhofften, an manchem Verhaßten unbeachtet und ungestraft Rache nehmen zu können. Dazu kamen noch Schaaren der Aengstlichen und Neugierigen, welche hin und wieder rennend den Lärm und die Aufregung durch die geschäftige Besorgniß erhöhten, mit welcher sie Gerücht um Gerücht hin und wieder trugen oder in Häusern und Wohnungen sich verkriechend diese hinter sich absperrten.
Ein Hauptarm des Tumultes wälzte sich nach einem der größten Plätze der Stadt, wo die Hauptkirche, nach allen Seiten freistehend, auf dem erhabenen Unterbau mächtiger Stufen sich wie auf einem Hügel erhob; ein stolzes Bauwerk, von gewaltigen runden Kuppeln überragt, zwar etwas überladen mit Säulen und Architraven, auch mit Figuren und Blumenarabesken etwas zu freigebig geschickt, im Ganzen aber doch ein Gebäude von mächtigem Eindruck, das die Gedanken und Anschauungen des Jahrhunderts, in welchem der Geist alter Kunst aus dem Schutt wieder aufzusteigen begann, als Denkmal verkörperte und wie in überlegenem Bewußtsein der Dauer den Platz, sowie die Stadt und die wimmelnden Straßen weithin beherrschend überblickte. So groß der Platz war, führten doch nur einige kleinere Gäßchen auf denselben; nur dem Dome gegenüber streckte sich in gerader Linie eine ansehnliche und lange Straße, wie eine breite herrliche Anfahrt, einem schön gebauten Thore entgegen, das sichtbar nicht zur Vertheidigung, sondern nur zur Zierde errichtet war und als wohlthuender Augenpunkt das Ganze angenehm abschloß. Zwischen den Flankenthürmen desselben, in geringer Entfernung, ward eine mächtige steinerne Brücke sichtbar, die den in einem tiefen Bette dahinströmenden Fluß mit mehreren gewaltigen Bogen überspannte.
Die Häuser der Vornehmen und die Paläste der Adligen, welche den Platz in weitem Viereck umgaben, waren fest verschlossen, als wären sie unbewohnt; auch der ganze Platz war beinahe leer; denn bei seiner Größe schwanden die Menschenmassen, die über denselben hinwegstürmten, zu unbedeutenden zerstreuten Haufen herab. Nur gegen Thor und Brücke hin war das Gedränge stärker; dort war eine ansehnliche Schaar eifrig bemüht, aus Häusern, Hofräumen und Gewölben Balken, Fässer, Ballen und anderes Geräthe herbeizuschaffen, das tauglich schien, daraus ein starkes Bollwerk zu bilden; von dieser Seite mußte der gefürchtete Einzug und Angriff der fremden Truppen kommen. Gegenüber, hinter dem Dome, war eine kleinere Schaar beschäftigt, eine andere Straße von geringerer Breite in gleicher Weise abzusperren und das Pflaster aufzureißen, damit das Brückenthor nicht umgangen und die Besatzung nicht im Rücken gefaßt werden konnte.
Vor dem Dome, an der Langseite desselben, wo eine schön geschnitzte Eichenthür zur Sakristei führte, hielten einige glänzende Carrossen mit prachtvollen, reich in Silber geschirrten Pferden, umgeben und bedient von einer Anzahl Lakaien in tressenschimmernden Livreen. Nur einige Kinder und Frauen standen in der Nähe und fanden trotz der allgemeinen Unruhe Muße, die Pracht und den Reichthum zu bewundern und die Besitzer dieser Herrlichkeiten zu erwarten, welche jeden Augenblick aus der Kirche kommen mußten. Ein Jäger trat jetzt aus der Thür und gab, mit dem grünbefiederten Hute winkend, das Zeichen, daß die Einsegnung des Brautpaars, welches im Dome so eben für immer verbunden worden war, vorüber sei; augenblicklich kam Bewegung in die ganze Versammlung. Die Pferde benagten und beschäumten die prächtigen Gebisse und trampelten durcheinander; die Räder begannen zu rollen, die Bedienten riefen, die Wagenschläge klappten, als Graf Schroffenstein der Vater in großer Uniform, die Brust auf beiden Seiten mit Orden überdeckt, auf den Stufen erschien. Neben ihm stand eine andere, schlanke Gestalt in tadellos feinem schwarzen Anzug, von welchem das unscheinbare schmale rothe Bändchen im Knopfloch eben durch seine Kleinheit und grelle Farbe desto lebhafter hervorstach. Der Anzug saß dem Manne so bequem, er bewegte sich so leicht in demselben, als hätte er nie einen andern getragen, und nur ein vertrautes Auge vermochte die scharf geprägten Züge van Overbergen's wiederzuerkennen.
»Nun«, flüsterte er Schroffenstein mit triumphirendem Lächeln zu, »sind Sie jetzt mit mir zufrieden? Hab' ich mein Wort gehalten?«
Der Graf konnte nicht antworten, denn im nämlichen Augenblicke erschien das Brautpaar auf der Schwelle; Clemens von Schroffenstein in voller Galauniform, strahlend von Genugthuung und Freude, Primitiva in einem Kleide von weißem Atlas, über welches wie über die dem Haare eingeflochtenen mattgrünen Myrtenzweige ein weiter weicher Schleier herabfiel, einem Gewölke gleich, das sich niedersenkt, um der Erde einen Engel zu entführen. Aus den Wangen der Braut schien jeder Tropfen Blut gewichen, sie war weißer als Gewand und Schleier, sonst aber war ihre Haltung fest, ihr Auge trocken und kalt und ihr Antlitz von jener eisigen Ruhe beherrscht, die das Herz um den Preis eines langen, stürmischen Kampfes sich selbst abringt, einer Feuerstelle vergleichbar, auf welcher es die Flamme zu löschen gelang, auf welcher aber mit derselben auch der letzte Funke in der Asche getödtet scheint. Sie beachtete nicht die artigen, zärtlichen Worte, welche Clemens ihr zuflüsterte. Kalt nahm sie seinen Arm an und ließ sich an den Wagen geleiten, wo er als ihr angetrauter Gatte neben ihr Platz nahm.
Der Wagen rollte dahin, dem Straßeneingang zu, an welchem ein Haufe von Arbeitern und Tagelöhnern das Pflaster aufgerissen und aus übereinander geworfenen Steinen, Laternenpfählen und Bretern eine Brustwehr gebildet hatte. »Halt«, schrie es dem heranrollenden Wagen entgegen. »Zurück! Da passirt nichts.«
»Was gibt es hier?« rief Schroffenstein aus dem Schlage, während der Bediente augenblicklich vom Tritte gesprungen war und das Vorgefallene meldete. »Sie sollen die Straße frei machen auf der Stelle! Ich habe nicht Zeit und Lust zu warten.«
»Oho!« rief einer der Gesellen, ein riesiger Steinhauer. »Wer redet denn da mit uns im Commandoton? Den muß ich mir doch genauer ansehen. Ah, sieh da, ein Offizier und noch dazu ein Bräutigam! Thut mir leid, Herr, aber ich kann Ihnen nicht helfen – hier darf Niemand durch.«
»Aber ich muß«, rief Schroffenstein. »In jener Straße ist meine Wohnung.«
»Hilft nichts«, erwiderte der Geselle. »Dann steigen Sie aus und gehen Sie zu Fuß! Sie werden wohl nicht zu vornehm sein, auf den gemeinen Erdboden zu treten, wie wir.«
»Unverschämter!« rief Schroffenstein. Primitiva aber faßte seinen Arm und unterbrach ihn. »Mein Gott«, sagte sie, »reizen Sie doch die erbitterten Menschen nicht noch mehr! Lassen Sie den Wagen wenden; wir wollen lieber einen Umweg machen!«
»Den Wagen wenden? Einen Umweg machen? Niemals! Ich will doch sehen, ob ihre Frechheit auch Stand hält, wenn sie einem Manne gegenüber stehen!«
Ehe Primitiva ihn zurückhalten konnte, war er aus dem Wagen gesprungen und schritt gegen das Bollwerk hin, indem er seine Bedienten, sowie die von den übrigen Wagen herbeirief und ihnen befahl, Hand anzulegen und die Straße frei zu machen. Den Dienern mochte der Auftrag nicht geheuer scheinen, sie hielten sich zögernd in der Entfernung, Schroffenstein aber, in blindem Zorne auflodernd, rief ihnen zu: »Habt Ihr den Muth nicht, Ihr feigen Burschen, so will ich selbst Hand anlegen und das Gesindel lehren, Platz zu machen!«
»Was? Gesindel?« brüllte der Steinmetz und mit ihm fünfzig andere Burschen. Schroffenstein stand bereits an den Balken und hatte einen derselben erfaßt; im selben Augenblicke jedoch taumelte er zurück; denn aus der brüllenden Menge waren Steine nach ihm geflogen und einer der größten hatte ihn am Kopfe getroffen, daß er lautlos und blutüberströmt zusammensank.
Primitiva, die ihm nachgeeilt war, kam eben recht, den andringenden Haufen von ihm abzuwehren. »Zurück, Ihr Leute!« rief sie. »Bedenkt, was Ihr thut! Er ist verwundet. Laßt ihn ruhig hinwegbringen! Wollt Ihr Euch an einem wehrlosen Verwundeten vergreifen?«
Der Steinhauer sah ihr mit festem Blicke in das blasse Angesicht. »Ja, gnädiges Fräulein«, sagte er, »wenn man so mit uns redet, dann ist's was Anderes. Es thut mir leid, daß wir Ihnen den Hochzeitstag so verdorben haben, aber unsere Schuld ist's nicht. Nehmen Sie den Herrn mit und gehen Sie Ihrer Wege! Hier durch können Sie aber nicht. – Laßt ihn gehen, Kameraden! Er hat seinen Denkzettel, das Fräulein aber soll sehen, daß sie es nicht mit Gesindel zu thun gehabt hat.«
Röchelnd, gleich einem Sterbenden, wurde Schroffenstein in den Wagen gebracht, der sich dann langsam wendete und der andern Straße zufuhr, während die Bedienten und einige Andere von der Hochzeitsgesellschaft den Vater Schroffenstein zurückhielten, welcher, bleich wie der Tod, den Fall des einzigen Sohnes gesehen und nun, von blinder Wuth hingerissen, auf die Aufrührer losstürzen wollte. »Gehen Sie!« rief Overbergen, ihn in den Wagen drängend. »Setzen Sie sich nicht auch nutzloserweise aus! Sparen Sie Alles für die Stunde der Rache! Sie ist nicht mehr fern, und mich dünkt, der Hammer hat schon ausgehoben, um sie zu schlagen.«
Die Barrikade am Brückenthore war inzwischen vollständig ausgebaut und furchtbar befestigt, sodaß deren Vertheidigung ein Kinderspiel, der Angriff aber fast ein Ding der Unmöglichkeit zu sein schien. Besetzt war sie von einer tollkühnen und fast besinnungslosen Schaar, die keinen andern Gedanken mehr hatte als Kampf und Tod. Viele davon hatten schon den ersten Aufruhr mitgemacht; auch der alte Windreuter war unter ihnen und, wie damals, einer der Anführer, wenn auch nicht mit demselben Feuer und der alten Lebhaftigkeit. Der Metzger Hahn in der blauen Blouse war der Nächste an ihm; in einiger Entfernung, das Gewehr zwischen den Füßen und mit dem Schafte desselben Zeichen in den Staub schreibend, saß der schwarze Huber.
»Wie meinst Du, alte Kriegsgurgel«, rief Hahn, »daß es heute gehen wird? Ich denke, an dem Bau da sollen sich Einige die Zähne ausbeißen.«
»Das denk' ich auch«, sagte Windreuter. »Aber ich wüßte nicht, was ich gäbe, wenn der Herr Riedl da wäre.« Er hielt die Hand über die Augen und sah durch das Thor auf die Brücke hinaus. »Es zeigt sich noch immer nichts; nur dort, ganz in der Entfernung, ist es, als wenn sich eine Staubwolke erhöbe. Eigentlich ist mir's lieb, wenn wir nicht mit unsern Landsleuten, sondern mit den Fremden zu thun bekommen. Wenn sie auch Soldaten und Menschenkinder sind, sie verdienen es nicht besser, weil sie sich zu Schergen brauchen lassen gegen die Freiheit eines andern Volkes.«
»Nun also, wenn Du glaubst, daß wir durchdringen«, sagte Hahn, »warum machst Du dann so ein saures Gesicht? Du bist gar nicht mehr so resolut wie das erste Mal und läßt den Kopf hängen wie der schwarze Huber da. Aber bei dem weiß man doch wenigstens, warum er so tiefsinnig ist; seit ihm die Marie gestorben, ist er nicht der halbe Mensch mehr.«
»Was redest Du in den Tag hinein?« sagte Windreuter aufstehend. »Weißt Du, was inzwischen Alles geschehen und an einem vorübergegangen sein kann?« Und wieder um sich her blickend, fügte er wie beunruhigt hinzu: »Wenn nur der Herr Riedl da wäre!«
»Na, ich denke, es soll auch ohne den studirten Herrn gehen; der thät' uns doch nur geniren«, rief Hahn. »Wenn's mir nachgeht, so soll heut' gehörig aufgeräumt werden – ich will nicht umsonst wieder in die Blouse gekrochen sein!«
»Treffen wir uns da wieder, Alter?« sagte Huber, indem er mit schwermüthigem Lachen Windreuter die Hand entgegenstreckte. »Siehst Du, so geht's, wenn man halbe Arbeit thut. Wie wir das erste Mal auf der Barrikade zusammenkamen, haben wir die Republik leben lassen, aber Ihr wolltet nichts davon wissen. Da hieß es: Der Herzog ist gut; gegen ihn haben wir nichts. Nur die Minister sollen weg, nur die Steuer soll weg! Ihr habt mich fast zerrissen, weil ich anders geredet habe. Da habt Ihr's nun, was herauskommt mit der Güte bei solchen Herren. Bist Du jetzt noch Deiner Meinung?«
»Ach, ich habe gar keine Meinung mehr«, entgegnete Windreuter. »Aber das ist mir verdächtig, daß sich so lange nichts zeigt, und daß der Staub, den ich vorhin bemerkt habe, auf einmal verschwunden ist. Ich fürchte, sie ziehen am Flusse unten in der Tiefe hin und kommen uns unversehens über den Hals. Es wäre gut, wenn einer hinausginge auf die Brücke, um Kundschaft zu bringen.«
»Das will ich thun«, sagte Huber, sprang mit einem Satze über das Bollwerk hinunter und eilte der Brücke zu. Hinter das Geländer geduckt, spähte er in das Flußbett hinab. Dann richtete er sich empor und rief gegen das Thor zurück: »Seht Euch vor! Sie kommen!«
Im selben Augenblicke krachte der erste Schuß vom Flusse herauf und eine wohlgezielte Kugel legte den Späher in den Staub, in dem er nach wenigen Zuckungen sterbend sich streckte. Gleichzeitig tauchten zu beiden Seiten der Brücke aus dem tiefen Gestade Massen von Soldaten auf, die, um den Gegnern keinen Zielpunkt abzugeben, möglichst rasch nach beiden Seiten abschwenkten; über die Brücke kam eine Colonne im Sturmschritt heran und sandte, als sie am Ausgang derselben angekommen war, einen Trompeter vor, welcher zur Uebergabe auffordern sollte. Er kam nicht dazu, denn ein über seinen Kopf abgefeuerter Schuß überzeugte die anrückenden Feinde, daß man bereit sei, es mit ihnen aufzunehmen.
»Habt Acht!« scholl jetzt das Commandowort auf der Barrikade. »Nehmt Euren Mann aufs Korn! Schießt gleichzeitig! Keine Kugel darf umsonst aus dem Lauf. Feuer!« Und eine starke Gewehrsalve krachte den Angreifern entgegen. Diese aber hatten im Momente des Schusses mit soldatischer Gewandtheit sich theils zur Erde geworfen, theils die Glieder nach beiden Seiten geöffnet; ein paar durch ihre Reihen verdeckt gewesene Geschütze öffneten ihre Mündungen gegen das Thor und seine Vertheidiger, unter welche in der nächsten Sekunde ein prasselnder Kartätschenhagel krachend und schmetternd einschlug. Ein großer Theil der Kämpfenden wurde niedergeworfen und verwundet; dennoch hielten sie Stand, so sehr auch ihre Reihen gelichtet waren.
»Die Kanoniere aufs Korn genommen!« rief es wieder; aber sei es, daß bereits Verwirrung über die Gewalt des Angriffs unter sie gekommen, sei es, daß das Feuer der Begeisterung in ihnen schon zu erlöschen begann, die Schüsse trafen nicht mehr mit derselben Sicherheit wie sonst, sie thaten dem Feinde fast keinen Schaden, und als die zweite Kartätschenladung sich unter sie entlud, die Balken zertrümmerte und die Betten und Matratzen anzündete, welche zum Schutze über diese herabgelassen waren, da war der Kampf von seiten der Vertheidiger des Bollwerks bald nur noch ein mehr oder weniger versteckter Rückzug. Der Dampf der brennenden Betten trieb sie zurück, weil er ihnen den Athem benahm und die Schützen durch denselben nicht mehr zu zielen vermochten. Gleichzeitig drangen dumpfe, gewaltige Schläge durch den Kampfeslärm. Schreiend kam im Rücken der Barrikade ein Mann dahergelaufen. »Flieht!« schrie er. »Rette sich, was noch laufen kann! Sie brechen die Häuser durch; sie schlagen die Wände ein! Geschwind, ehe sie Euch in den Rücken kommen!«
Damit war das Zeichen zur Auflösung der Schaar gegeben. Die Meisten warfen die Gewehre weg und rannten in wilder Flucht die Straße hinauf, um nicht in derselben betreten zu werden, und zwar um so eiliger, als auch von einer andern Seite her der eigenthümlich kurze Trommelschlag sich hören ließ, welcher die feindlichen Nachbartruppen kennzeichnete. »Sie kommen auch von der andern Seite«, heulte es ihnen entgegen. »Eine Abtheilung war in dem herzoglichen Schlosse versteckt. »Sie sind schon bei Nacht und in den Uniformen unserer eigenen Truppen gekommen. Flieht! Alles ist verloren!«
In kurzer Zeit waren die Straßen wie ausgekehrt. Das Wildwasser war abgelaufen und hatte, wie die zurücktretende Flut die Trümmer auf dem Strande, nichts zurückgelassen als Todte und Verwundete, welche, unfähig sich zu retten, oder mit dem Tode ringend, von den auf allen Seiten andringenden Feinden zu Gefangenen gemacht und in die Spitäler gebracht wurden, um aus diesen vielleicht einem furchtbarern Loose, als es ein schneller Kampfestod gewesen wäre, entgegenzugehen. Noch war der Abend nicht vollends hereingebrochen und schon lag die tiefste Ruhe über der unglücklichen Stadt und ihren noch unglücklichem Bewohnern. Mit der Schnelligkeit eines Zaubers waren beinahe alle Spuren des Kampfes von den Straßen verschwunden, und ohne die Patrouillen und Streifen, deren schwerer, gemessener Schritt die Straßen erdröhnen machte, wäre es nicht zu glauben gewesen, daß noch vor wenigen Stunden ein so erbitterter Kampf durch dieselben getobt. In dem einsamen Hause hinter der Stadtmauer war es nicht minder schweigsam. Auch dort hatte der Tod angepocht und forderte, wenn auch minder ungestüm, doch mit gleicher Unerbittlichkeit Einlaß. Während er draußen als schreckhafter Dämon mit dem Medusenantlitz seine Opfer zu plötzlicher, furchtbarer Umarmung an sich riß, hatte er sich hier wie ein Friedensgenius auf sanftem Fittig und mit lächelndem Antlitz niedergelassen. Der Schlag, welcher den geliebten Sohn so unvermuthet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, gestürzt, ihn von ihrem Herzen gerissen und in eine ungewisse Zukunft hinausgeschleudert, hatte der Mutter Herz mit getroffen, so schwer, daß es sich nicht mehr davon zu erholen vermochte. Wohl hatte das Unwohlsein, das sie bei der ersten Nachricht befallen, tags darauf sich vollständig verloren, nach wenigen Stunden aber war es wiedergekehrt, heftiger, zerstörender als zuvor. Die zerrütteten Nerven drohten ihren Dienst einzustellen und wären wohl in schnellem Tode erstarrt, hätte nicht die Willensstärke der Leidenden ihre letzten Kräfte zusammengehalten; sie erkannte die Nähe ihres Endes und war bereit, ihm entgegenzugehen, aber das treue Herz sträubte sich, eher still zu stehen, als bis es noch einmal an dem geliebten andern Herzen geruht, für das es allein geschlagen im Leben.
Das kleine Zimmer war nur durch eine Lampe erhellt, welche, von einem Schirm verdeckt, nur ein schwaches und dämmerndes Licht auf Wände und Gegenstände zu werfen vermochte, während bei ihrem Flackern eigenthümliche Schatten an der Decke hin und wieder huschten. Auf dem Bette lag die Räthin gleich einer Schlafenden. Ihr Athem ging so schwach, daß er höchstens durch ein an den Mund gehaltenes Federchen zu erkennen war. Manchmal spielte ein schwaches Zucken um den Mund, daß die Lippen bebten, als wollten sie sich zu einer Frage öffnen; dann lag sie wieder starr in Schlummer, Ohnmacht oder beginnendem Tode. In dem Wohnzimmer nebenan saß die Magd einem Manne gegenüber, der die Arme auf den Tisch gestemmt hatte und das Gesicht in die Hände verbarg.
Es war Beppo, der alte Diener.
Wenn er auch sein Gesicht nicht zeigte, war er doch nicht zu verkennen; wenn auch das weiße Haar seines Scheitels beträchtlich dünner und der Rock, den er trug, viel fadenscheiniger geworden wie damals, als er noch in diesem Hause geweilt, es war noch der der alte getreue Bursche. Regungslos und ohne Erwiderung hörte er den leise geflüsterten Worten der Magd zu, welche mit redseliger Breite alles seit seiner Entfernung Vorgefallene erzählte, höchlich darüber erfreut, daß sie Jemand gefunden, dem sie Alles vertrauen durfte; denn vor dem alten Beppo, der vor seiner Entfernung wie ein Stück mit der Familie alt gewordenen Hausraths gewesen war, mit dem sie selbst schon jahrelang zusammen gedient hatte, brauchte sie kein Geheimniß zu haben und keine Rückhaltung zu beobachten.
»So steht es«, schloß sie endlich ihren Bericht. »Das ganze Haus ist nicht mehr zu kennen. Alles hat sich verändert, Alles ist fort und ist zersprengt, und da ist auch kein Kitt zu finden, der es wieder zusammenhält. Wenn die Frau Räthin, die schon jetzt mehr todt als lebendig ist, auch noch die Augen zumacht, so dürfen wir unser Bündel schnüren und wieder schauen, wo wir ein Unterkommen finden. Das hätte man sich auch nicht träumen lassen vor einem Jahre!« Sie hielt inne, als ob sie eine Antwort erwartete. Als keine erfolgte, fuhr sie fort: »Sie freilich, Herr Beppo, wird das nicht wunder nehmen. Sie haben auch erfahren, wie es im Leben geht; wenn man irgendwohin kommt und ist nur ein paar Tage weggewesen, findet man oft Alles ganz anders wieder, als man es verlassen hat. Sie müssen's auch nicht gefunden haben, wie Sie geglaubt haben, sonst wären Sie nicht zurück aus Italien, aus Ihrem Vaterlande. Ich weiß es wohl, wie die Frau Räthin Sie ausgezankt und Ihnen abgeredet hat; aber Sie sind nicht zu halten gewesen, Sie wollten durchaus fort und sagten, Sie würden niemals wiederkommen. Ich höre es noch. Es war draußen auf dem Gange, neben meiner Küchenstube. ›Ich komme nicht wieder‹, sagten Sie; ›ich will in Rom mein Grab finden‹, und jetzt sind Sie doch lebendig wieder da und haben das Grab nicht gefunden.«
»Doch, doch«, erwiderte der Alte aufblickend mit schwerem Seufzer; »wenn auch nicht das Grab für mich selbst, aber doch ein Grab. Io ho trovato Roma – è un sepolcro tutta la città.«
Halbe, unverständliche Laute vom Bette der Kranken her unterbrachen das Gespräch. Beide gingen näher und trafen zu ihrer Verwunderung die Räthin nicht liegend, sondern hoch im Bette aufgerichtet und im Begriffe, dasselbe zu verlassen. »Haltet mich nicht auf!« murmelte sie mit dem unstäten Blicke des Irrsinns, als die Magd sie zurückhielt und nach ihrem Vorhaben befragte. »Mein Mann hat mir gerufen; er ist unten im Garten. Ich darf ihn nicht länger warten lassen; es ist schon so lange her, daß er von mir fort ist.«
»Beruhigen Sie sich, Frau Räthin!« sagte Beppo. »Es ist schon spät und finstere Nacht. Der Herr Rath kommt heute nicht mehr. Warten Sie bis morgen!«
»Bis morgen?« sagte die Räthin, indem sie ihn scheu ansah, als müsse sie sich besinnen, um ihn wiederzuerkennen. »Nein, er hat es versprochen, wie er vorhin bei mir war. Ihr müßt ihn ja auch gesehen haben; da hat er mir versprochen, mich abzuholen noch diese Nacht. Aber ich will doch warten. Er wird gewiß wieder rufen. Ihr werdet sehen, daß er kommt; er hat es versprochen, und mein Mann hat immer Wort gehalten.«
»Das glaub' ich auch«, flüsterte die Magd halblaut vor sich hin. »Sie übersteht die Nacht nicht, und wenn der Herr Professor – verzeih' mir's Gott, daß ich ihn immer so nenne – wenn ihr Herr Sohn nicht bald kommt, trifft er sie nicht mehr am Leben. Ich will hinuntergehen und schauen, ob noch nichts von ihm zu erblicken ist. Sie bleiben wohl indessen da, Beppo? Die Frau Räthin ist ja wieder ruhig und wieder auf ihre Kissen zurückgesunken, als ob sie schon hinübergegangen wäre.«
»Ich bleibe«, sagte Beppo leise, indem er an dem Lager Platz nahm, während die Magd die Stube verließ. Es war nichts in dieser zu hören als der leise Schlag der großen Uhr im Wohnzimmer, die wie eine summende Stimme die Sekunden zu zählen schien, welche dem Leben noch gegönnt waren, das sie durch so viele Jahre getreulich mit wandellosem Gange begleitet hatte.
Mit einem Male erhob sich die Räthin wieder, setzte sich auf, blickte mit vollständig klaren Augen wie zu den Zeiten, da sie noch in aller Kraft das Hausregiment geführt, um sich und sagte mit fester, ruhiger Stimme: »Geh hinunter, Beppo, und öffne das Thor! Mein Sohn ist unten.«
»Sie phantasirt noch immer«, sagte Beppo vor sich hin und wandte sich dann zu ihr: »Der Herr Professor ist nicht da, Frau Räthin! Es kommt Ihnen nur so vor. Sie sollten sich nicht aufregen; das könnte Ihnen schaden. Er wird schon kommen, er wird gewiß kommen, aber noch ist er nicht da.«
»Er ist da«, erwiderte die Frau gelassen, aber noch bestimmter. »Geh, sag' ich. Ich sehe ihn vor dem Thore stehen. Er und ich haben keine Zeit zu verlieren.«
»Ich muß mich nur anstellen, als ob ich ihr den Willen thäte«, brummte Beppo und ging ins Wohnzimmer gegen die Thür, als er zu seinem Staunen Tritte vernahm, welche auf dem Gange eilig näher kamen. Bald ging die Thür auf, und Friedrich, von Riedl begleitet, trat ein. »Wie geht es meiner Mutter?« rief er mit fliegendem Athem. »Ist sie noch am Leben? Kann ich sie sehen?« Beppo vermochte nicht zu antworten. Er deutete nach dem Zimmer; zugleich aber hatte er die Hand seines einstigen Herrn ergriffen und drückte sie zu heißem Kusse an den Mund. Dieser achtete nicht darauf, denn aus dem Zimmer erklang die Stimme der Räthin so voll und deutlich wie im Leben und bei voller Gesundheit.
»Komm, mein Friedrich!« sagte sie. »Ich lebe noch und bin stark genug, Dich zu sehen. Gott hat mir eine große Gnade erwiesen, daß er mich diesen Augenblick noch erleben ließ.«
Friedrich eilte auf das Lager zu, schloß die Frau unter stürzenden Thränen in die Arme und überdeckte das bleiche, eingefallene Antlitz mit heißen Küssen. Dann glitt er am Bette nieder in die Kniee, während sie beide Hände auf sein Haupt legte und lange schweigend zum Himmel emporsah. Ihr Auge zeigte, daß sie innerlich betete mit der ganzen Inbrunst einer liebenden Mutter. Dann flog es auf einmal wie ein grauer Schatten über ihre Züge. »Ich danke Dir, mein Sohn«, sagte sie zurücksinkend und mit Anstrengung, »ich danke Dir, daß Du zu mir gekommen bist. Du hast mir Dein Leben lang nur Freude bereitet. Daß ich Dich noch gesehen habe, war mir die größte Freude. Dafür geht mein Segen mit Dir und wird Dich nie verlassen. Bleibe brav, mein Sohn, wie Du bist, gedenke Deiner Mutter und lebe wohl!«
Das letzte Wort verlor sich in einem schwachen Seufzer; die langgespannte Lebenskraft entfloh mit ihm. Mit laut ausbrechendem Schluchzen warf sich Führer über die Entschlafene und drückte dann mit bebender Hand die frommen Augen zu, die mit so treuer Mutterliebe über ihn gewacht hatten.
Nach einer Weile trat Riedl ein und führte den tief Erschütterten aus dem Zimmer. »Sei stark, Freund!« sagte er. »Weihe der Dahingegangenen den gerechten Zoll Deiner Liebe und Dankbarkeit, aber vergiß nicht, wie sehr Deine Zeit gemessen ist! Ich habe Dich glücklich hierher gebracht; ich möchte Dich auch glücklich wieder hinausbringen.«
»Ich werde folgen«, entgegnete Führer. »Nur noch einen Augenblick gönne mir, mich zu fassen! Niemand denkt in dem Tumult dieses Abends an mich; ich werde wohl ungestört bleiben.«
»Ich wünsche es«, sagte Riedl, »aber gar zu fest möchte ich mich nicht darauf verlassen. Wir haben es mit einem Gegner zu thun, dessen Hauptkunst im Spioniren besteht, und darum beeile Dich, triff Deine Anordnungen, nimm aus Deinem Zimmer, was Du vielleicht noch mitzunehmen wünschest, sage der Todten noch ein Lebewohl und dann laß uns schnell von hinnen!«
Führer folgte. Er ging in sein Zimmer und steckte nach kurzem Besinnen einige Schriften und Wertpapiere zu sich; dann trat er wieder heraus und wollte sich noch einmal zu der Leiche begeben, als mit stark dröhnendem Klange die Hausglocke gezogen wurde; gleichzeitig stürzte die Magd angstvoll ins Zimmer. »Um Gotteswillen, gnädiger Herr!« rief sie. »Unten sind Personen vom Gericht, die Sie suchen. Das ganze Gäßchen ist voll Soldaten.«
»Da siehst Du, wie sehr ich Recht hatte!« rief Riedl. »Was ist nun zu thun?«
»Wer weiß, ob es mir gilt«, sagte Führer. »Es kann eine Patrouille sein, die durch die Straße geht.«
»Nein, gnädiger Herr«, rief die Magd. »Ich habe durch die Spalte hinausgesehen; es sind Soldaten und ein Herr vom Gericht, und sie haben nach Ihnen gefragt. Beppo hält sie auf, so gut er kann; er thut, als wenn er den Schlüssel verlegt hätte und nicht aufmachen könnte.«
»Das kann nicht lange währen«, rief Riedl. »Du darfst nicht in ihre Hände fallen, mein Freund! Was ist aber zu thun? Hat das Haus keinen andern Ausweg als das Thor?«
»Nein«, sagte Führer ruhig. »Wozu auch? Wir haben eines solchen nie bedurft.«
»Da höre ich wieder den Idealisten«, rief Riedl, »den Schwärmer! Da wohnt er in dem Hause wie in einer Mausefalle, die nur einen Eingang, aber keinen Ausgang hat! Kann man denn nicht über die Mauer?«
»Das würde vielleicht angehen«, entgegnete Führer; »aber wenn es auch anginge, ich werde diesen Weg nicht benutzen. Ich will hören, ob man wirklich nach mir verlangt, und wenn es so ist, so werde ich nicht fliehen; ich will mich, wenn man eine Verantwortung von mir fordert, ihr nicht entziehen.«
»Unverbesserlicher Thor!« rief Riedl ärgerlich. »Das setzt Deiner Schwärmerei vollends die Krone auf. Willst Du Dich gefangen nehmen, verhören, verurtheilen lassen?«
»Verurtheilen? Mich? Weshalb?«
»Das wird man Dir schon sagen. Aber es ist jetzt nicht mehr zu ändern. Ich höre sie schon auf der Stiege. Gut denn! Wenigstens will ich fort; ich will durch die Bibliothek in das Thurmzimmer. Dort will ich mich verbergen, bis die Luft wieder rein ist, und wenn es sein muß, verschmähe ich den Weg über die Mauer nicht, wie Du. Lebe wohl!« fuhr er fort, indem er ihm stürmisch und fast gerührt um den Hals fiel und ihn küßte. »Lebe wohl, Du thörichter, Du unverbesserlicher – Du lieber Mensch! Ich will mich für Dich erhalten. Wenn sie mich hier fänden, würden sie mich auch unschädlich machen. Lebe wohl! Du wirst zur rechten Zeit von mir hören.«
Er verschwand eben recht im Seitenzimmer, als die Thür aufgerissen ward und der Gerichtsrath Weber auf der Schwelle erschien, von Dienern und Soldaten umgeben. »Also doch?« rief der Rath, als er Führer erblickte, im Tone des Triumphes. »Haben wir die Schlange wirklich in ihrem Neste ertappt? Im Namen der Herzogin-Regentin, mein Herr, verhafte ich Sie wegen Hochverraths. Folgen Sie mir willig! Sie sehen, daß an ein Entkommen nicht zu denken ist.«
»Wer sagt Ihnen, daß ich entkommen will?« entgegnete Führer ruhig. »Ich bin bereit, Ihnen zu folgen. Erlauben Sie nur, daß ich noch von jener Todten Abschied nehme, welche glücklicherweise Ihren Eintritt nicht mehr vernommen hat!«
Fest und gelassen trat er an das Bett, faßte die kalte, schon erstarrende Mutterhand und drückte noch einen Kuß auf die fühllosen Lippen. Dann trat er in voller Manneswürde vor den Commissar. »Führen Sie mich, wohin Ihnen befohlen ist, mein Herr! Ich bin Ihr Gefangener!«