Heinrich Schliemann
Selbstbiographie
Heinrich Schliemann

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2. Erste Reise nach Ithaka, dem Peloponnes und Troja

(1868-1869)

Ausgrabung auf dem Berg Aëtos – Vorlesungen aus Homer – Erster Besuch von Bunarbaschi – Lage von Hissarlik

Endlich war es mir möglich, den Traum meines Lebens zu verwirklichen, den Schauplatz der Ereignisse, die für mich ein so tiefes Interesse gehabt, und das Vaterland der Helden, deren Abenteuer meine Kindheit entzückt und getröstet hatten, in erwünschter Muße zu besuchen. So brach ich im April 1868 auf und ging über Rom und Neapel nach Korfu, Kephalonia und Ithaka, welches letztere ich gründlich durchforschte.«

In Ithaka bezeichnete das Volk den Berg Aëtos wegen einer altertümlichen Ringmauer, welche den Gipfel umgibt, als die Burg des Odysseus. Wie sich Heinrich Schliemann an dieser Stelle zum erstenmal zu einer Ausgrabung entschloß, und mit welchen Gedanken er sie ausführte, berichtet er in seinem Buche »Ithaka, der Peloponnes und Troja«:

»Der Gipfel des Aëtos ist mit großen, waagerecht liegenden Steinen besäet; doch sah ich hier und da einige Meter mit Gesträuch und Stauden bedeckt, welche mir anzeigten, daß hier auch Erde vorhanden sei. Sofort entschloß ich mich, überall, wo die Beschaffenheit des Bodens es erlauben würde, Ausgrabungen anzustellen. Da ich aber keine Werkzeuge bei mir hatte, so mußte ich meine Nachforschungen bis auf den folgenden Tag verschieben.

Die Hitze war drückend; mein Thermometer zeigte 52 Grad Celsius; ich fühlte brennenden Durst und hatte weder Wasser noch Wein bei mir. Aber die Begeisterung, welche ich in mir fühlte, da ich mich mitten unter den Ruinen vom Palaste des Odysseus befand, war so groß, daß ich Hitze und Durst vergaß. Bald untersuchte ich die Örtlichkeit, bald las ich in der Odyssee die Beschreibung der rührenden Szenen, deren Schauplatz dieser Ort gewesen ist; bald bewunderte ich die herrliche Rundsicht, welche sich auf allen Seiten vor meinen Augen entrollte und kaum derjenigen nachstand, an welcher ich mich acht Tage vorher in Sizilien vom Gipfel des Ätna aus erfreut hatte.

Am folgenden Tage, den 10. Juli, nachdem ich im Meere gebadet hatte, machte ich mich vom Dorfe, wo ich übernachtet, um 5 Uhr morgens mit vier Arbeitern auf den Weg. Von Schweiß durchnäßt, langten wir um 7 Uhr auf dem Gipfel des Aëtos an. Zuerst ließ ich durch die vier Männer das Gesträuch mit der Wurzel ausreißen, dann den nordöstlichen Winkel aufgraben, wo nach meiner Vermutung sich der herrliche Ölbaum befunden haben mußte, aus welchem Odysseus sein Hochzeitsbett verfertigte und um dessen Standort er sein Schlafzimmer baute (Od. XXlII, 183-204). ›Im Innern des Hofes wuchs ein dichtbelaubter Ölbaum, hoch, blühend und stark wie eine Säule; rings um ihn herum baute ich aus großen Steinen das Ehegemach, bis ich es vollendet hatte, deckte es mit einem Dach und verschloß es mit dichten, fest eingefugten Türen; darauf hieb ich die Zweige des dichtbelaubten Ölbaumes ab, bearbeitete die Oberfläche des Stammes von der Wurzel aus, glättete ihn geschickt mit dem Erze nach der Richtschnur, machte daraus den Fuß des Bettes und durchbohrte ihn überall mit dem Bohrer; auf diesem Fuße baute ich das ganze Bett auf, belegte es mit Gold, Silber und Elfenbein und spannte Riemen von Rindsleder, mit glänzendem Purpur gefärbt, darin aus.‹

Indes wir fanden nichts als Trümmer von Ziegeln und Töpferwaren, und in einer Tiefe von 66 Zentimeter legten wir den Felsen bloß. In diesem Felsen waren allerdings viele Spalten, in welche die Wurzeln des Ölbaumes hätten eindringen können; aber es war jede Hoffnung für mich verschwunden, hier archäologische Gegenstände zu finden.

Ich ließ darauf den Boden nebenan aufgraben, weil ich zwei Quadersteine entdeckt hatte, welche, wie es schien, einer Mauer angehört hatten, und nach dreistündiger Arbeit förderten die Arbeiter die beiden unteren Lagen eines kleinen Gebäudes zutage: die Steine desselben waren gut behauen und reichlich mit weißem Zement verbunden, also stammte der Bau erst aus später, vielleicht römischer Zeit.

Während meine Arbeiter mit dieser Ausgrabung beschäftigt waren, untersuchte ich die ganze Baustelle des Palastes mit der größten Aufmerksamkeit, und als ich einen dicken Stein gefunden hatte, dessen Ende eine kleine Kurvenlinie zu beschreiben schien, löste ich mit dem Messer die Erde vom Steine ab und sah, daß dieser einen Halbkreis bildete. Als ich mit dem Messer zu graben fortfuhr, bemerkte ich bald, daß man den Kreis auf der Seite durch kleine übereinandergeschichtete Steine vervollständigt hatte, die sozusagen eine Mauer im Kleinen bildeten. Ich wollte anfänglich diesen Kreis mit dem Messer aushöhlen, konnte aber meinen Zweck nicht erreichen, weil die Erde mit einer weißen Substanz, welche ich als die Asche kalzinierter Knochen erkannte, gemischt und fast so hart wie der Stein selbst war. Ich machte mich also daran mit der Hacke zu graben; aber kaum war ich 10 Zentimeter tief eingedrungen, so zerbrach ich eine schöne, aber ganz kleine, mit menschlicher Asche angefüllte Vase. Ich fuhr mit der größten Vorsicht zu graben fort und fand ungefähr zwanzig ganz verschiedene Vasen von bizarrer Form. Einige lagen, andere standen. Leider zerbrach ich die meisten derselben beim Herausnehmen wegen der Härte der Erde und aus Mangel an guten Wirkzeugen und konnte nur fünf in unversehrtem Zustande fortbringen. Die größte von ihnen ist nicht höher als 11 Zentimeter. Zwei davon hatten recht hübsche Malereien, als ich sie aus der Erde zog; sie wurden aber fast unkenntlich, sobald ich sie der Sonne aussetzte. Außerdem fand ich in diesem kleinen Familienkirchhofe die gekrümmte Klinge eines Opfermessers, stark mit Rost überzogen, ein Götzenbild von Ton, welches eine Göttin mit zwei Flöten im Munde darstellt; dann die Trümmer eines eisernen Degens, einen Eberzahn, mehrere kleine Tierknochen und endlich eine Handhabe aus ineinandergeschlungenen Bronzefäden. Fünf Jahre meines Lebens hätte ich für eine Inschrift hingegeben, aber leider! war keine vorhanden.

Obgleich das Alter dieser Gegenstände schwer zu bestimmen ist, so scheint es mir doch gewiß, daß die Vasen weit älter sind als die ältesten Vasen von Cumä im Museum zu Neapel, und es ist wohl möglich, daß ich in meinen fünf kleinen Urnen die Asche des Odysseus und der Penelope oder ihre Nachkommen bewahre.« So fest vertraute er auf seinen Homer und auf sein Finderglück. Sieben Jahre später, nach der Entdeckung der Fürstenschätze von Troja und Mykenä, hätte er sich das Grab des Herrschers von Ithaka prunkvoller vorgestellt! Er fährt fort in dem Berichte über diesen Tag:

»Nichts erregt mehr Durst, als die schwere Arbeit des Ausgrabens bei einer Hitze von 52 Grad in der Sonne. Mir hatten zwar drei ungeheure Krüge voll Wasser und eine große, vier Liter Wein enthaltende Flasche mitgebracht. Der Wein reichte für uns aus, weil der Rebensaft Ithakas dreimal stärker ist als Bordeauxwein, aber unser Wasservorrat war bald erschöpft, und zweimal waren wir gezwungen, ihn zu erneuern.

Meine vier Arbeiter hatten die Ausgrabung des nachhomerischen Hauses in derselben Zeit beendigt, in welcher ich mit der Ausgrabung des kleinen kreisrunden Kirchhofes fertig war. Ich hatte allerdings mehr Erfolg gehabt als sie; doch ich machte ihnen keinen Vorwurf darüber, da sie tüchtig gearbeitet hatten, und mehr als tausend Jahre können vergehen, ehe der bloßgelegte Raum wieder von atmosphärischem Staub ausgefüllt wird.

Der Mittag kam, und wir hatten seit 5 Uhr morgens nichts gegessen; wir machten uns daher an unser Frühstück unter einem Ölbaum, ungefähr 15 Meter unterhalb des Gipfels. Unser Mahl bestand in trockenem Brot, Wein und Wasser, dessen Temperatur nicht unter 30 Grad war. Aber Erzeugnisse des Bodens von Ithaka waren es, welche ich genoß, und zwar im Palasthofe des Odysseus, vielleicht an derselben Stelle, wo er Tränen vergoß, als er seinen Lieblingshund Argos wiedersah, der vor Freude starb, als er seinen Herrn nach zwanzigjähriger Abwesenheit wiedererkannte, und wo der göttliche Sauhirt die berühmten Worte sprach:

‛Ήμιου γάρ τ'αρετη̃σ αποαίνυται ευρύοπα Ζεύσ
’Ανέρος ευ̃τ' άν μιν κατὰ δούλιον η̃μαρ έλησιν

›Denn der allwaltende Jupiter nimmt die Hälfte des Wertes dem Manne, sobald der Tag der Knechtschaft ihn erreicht hat.‹

Ich kann wohl sagen, daß ich niemals in meinem Leben mit größeren Appetit gegessen habe als bei diesem frugalen Mahle im Schlosse des Odysseus. Nach dem Frühstück ruhten meine Arbeiter anderthalb Stunden aus, während ich, die Hacke in der Hand, das Terrain auf der Baustelle des Palastes zwischen den Einschließungsmauern untersuchte, um womöglich weitere Entdeckungen zu machen. Überall wo die Beschaffenheit des Bodens die Möglichkeit zuließ, etwas zu finden, machte ich Merkzeichen, um an diesen Stellen mit den Arbeitern Ausgrabungen zu veranstalten. Um 2 Uhr machten sie sich wieder an die Arbeit und setzten sie bis 5 Uhr fort, aber ohne den geringsten Erfolg. Da ich indes die Ausgrabungen am Morgen des folgenden Tages von neuem beginnen wollte, so ließen wir die Werkzeuge oben auf dem Berge und kehrten nach Vathy zurück, wo wir abends 7 Uhr ankamen.«

Bei seinen Streifzügen durch Ithaka bestätigte sich ihm allenthalben, daß die Örtlichkeit der Insel mit den Angaben der Odyssee übereinstimmte. In rohem, kyklopischem Gemäuer erkannte er die Ställe des Eumaios wieder und fand am Meeresstrande die Tropfsteinhöhle der Nymphen, in welcher die Phäaken den schlummernden Odysseus niederlegten. Wie er zum »Felde des Laertes« kommt, erzählt er:

»Bald kam ich auf dem Felde des Laertes an, wo ich mich niedersetzte, um auszuruhen und den 24. Gesang der Odyssee zu lesen. Die Ankunft eines Fremden ist schon in der Hauptstadt von Ithaka ein Ereignis; wieviel mehr noch auf dem Lande. Kaum hatte ich mich gesetzt, so drängten sich die Dorfbewohner um mich und überhäuften mich mit Fragen. Ich hielt es für das klügste, ihnen den 24. Gesang der Odyssee vom 205. bis 412. Vers laut vorzulesen und Wort für Wort in ihren Dialekt zu übersetzen. Grenzenlos war ihre Begeisterung, als sie in der wohlklingenden Sprache Homers, in der Sprache ihrer glorreichen Vorfahren vor 3000 Jahren, die schrecklichen Leiden erzählen hörten, welche der alte König Laertes gerade an der Stelle erduldet hatte, wo wir versammelt waren, und bei der Schilderung seiner hohen Freude, als er an demselben Orte nach zwanzigjähriger Trennung seinen geliebten Sohn Odysseus, den er für tot gehalten halte, wiederfand. Aller Augen schwammen in Tränen, und als ich meine Vorlesung beendet hatte, kamen Männer, Frauen und Kinder alle an mich heran und umarmten mich mit den Worten: Μεγάλην χαρὰν μα̃σ έκαμες, κατὰ πολλά σε ευχαριστου̃μεν (Du hast uns eine große Freude gemacht, wir danken dir tausendmal). Man trug mich im Triumph ins Dorf, wo alle miteinander wetteiferten, mir ihre Gastfreundschaft in reichstem Maße zuteil werden zu lassen, ohne die geringste Entschädigung dafür annehmen zu wollen. Man wollte mich nicht eher abreisen lassen, als bis ich einen zweiten Besuch im Dorfe versprochen hatte.

Endlich, gegen 10 Uhr morgens, setzte ich meinen Marsch auf dem Abhange des Berges Anoge (des alten Neritos) fort, und nach anderthalb Stunden kamen wir in dem reizenden Dorfe Leuke an. Man war schon von meinem Besuche unterrichtet, und die Einwohner, mit dem Priester an der Spitze, kamen mir in einer beträchtlichen Entfernung vom Dorfe entgegen, empfingen mich mit dem Ausdruck der lebhaftesten Freude und gaben sich nicht eher zufrieden, als bis ich allen die Hand gedrückt hatte. Es war Mittag, als wir im Dorfe ankamen, und da ich noch die Stelle des alten Polistales und seine Akropolis, das Dorf Stavros und das Kloster der heiligen Jungfrau auf dem Gipfel des Anoge zu besuchen vorhatte, so wollte ich mich in Leuke nicht aufhalten. Aber man bat mich so dringlich, einige Stellen aus der Odyssee vorzulesen, daß ich mich endlich gezwungen sah, nachzugeben. Um von allen verstanden zu werden, nahm ich einen Tisch unter einer Platane mitten im Dorfe als Tribüne und las mit lauter Stimme den 23. Gesang der Odyssee von Vers 1 bis 247 vor, wo erzählt wird, wie die Königin von Ithaka, die keuscheste und beste der Frauen, ihren angebeteten Gemahl nach zwanzigjähriger Trennung wiedererkennt. Obgleich ich dieses Kapitel schon unzählig oft gelesen habe, so war ich doch stets beim Lesen desselben lebhaft gerührt, und den nämlichen Eindruck machten diese prächtigen Verse auf meine Zuhörer; alle weinten, und ich weinte mit. Nach Beendigung meiner Vorlesung wollte, man mich durchaus bis zum folgenden Tage im Dorfe behalten, aber ich lehnte dies entschieden ab. Mit großer Mühe gelang es mir endlich, mich von diesen braven Dorfbewohnern zu trennen, aber nicht ohne vorher mit ihnen angestoßen und jeden geküßt zu haben.«

So wanderte der Sechsundvierzigjährige begeisterten Herzens zu den Stätten, von denen Homer gesungen, und sie enthüllten sich seinem naiven Sinne in der heutigen Umgebung. Nach Ithaka waren sein nächstes Ziel die nahe beieinander in der argivischen Landschaft des Peloponnes gelegenen Burgen von Mykenä und Tiryns. Vor dem Burgtor von Mykenä, über welchem die Löwen noch heute wie vor drei Jahrtausenden ihre Wacht halten, kam er auf den Gedanken, daß den Worten des Pausanias nach die Gräber des Agamemnon und des Atreus innerhalb der Mauer der Burg, nicht innerhalb des weiteren Mauerkreises der Stadt Mykenä zu denken seien, wie man bisher angenommen hatte. Er sah, daß dort über den gewaltigen Trümmern heroischer Herrlichkeiten viel Schutt lag, welcher die Schätze des goldreichen Mykenä bergen konnte. Aber für diesmal ging er an dieser Aufgabe vorüber, sein Interesse war gebannt an die vornehmlichen Schauplätze von Ilias und Odyssee, er eilte nach Troja. Im Piräus schiffte er sich nach Konstantinopel ein, um noch am Tage der Ankunft von dort zu den Dardanellen zurückzukehren, bei welchen das Schiff auf seiner ununterbrochenen Fahrt vordem nicht angehalten hatte.

Karte der Iroas (nach Schuchhardi).

Fast allgemein betrachtete man damals als die Stätte der homerischen Stadt Ilios die steile Höhe oberhalb des Dorfes Bunarbaschi, an welcher vorbei sich der Skamanderfluß den Eintritt in die Ebene erzwingt, die an der Nordwestecke Kleinasiens mündet. Denn dort wollte am Ende des vorigen Jahrhunderts ein französischer Gelehrter eine warme und eine kalte Quelle gesehen haben, genau entsprechend den Quellen, an welchen nach den Versen der Ilias die Frauen und schönen Töchter der Troer ihre glänzenden Gewänder wuschen; und ein Reisender wie Moltke hatte den Entscheid gegeben, daß man an dieser Stelle jederzeit sich anbauen würde, wenn es gälte, eine unersteigbare Burg zu gründen. Aber diesmal ist der Feldherr unterlegen.

»Ich gestehe«, schreibt Schliemann bei seiner Ankunft in Bunarbaschi, »daß ich meine Rührung kaum bewältigen konnte, als ich die ungeheuere Ebene von Troja vor mir sah, deren Bild mir schon in den Träumen meiner ersten Kindheit vorgeschwebt hatte. Nur schien sie mir beim ersten Blick zu lang zu sein und Troja viel zu entfernt vom Meer zu liegen, wenn Bunarbaschi wirklich innerhalb des Bezirks der alten Stadt erbaut ist, wie fast alle Archäologen, welche den Ort besucht haben, behaupten.« Dieser Zweifel war in seiner genauen Kenntnis des Homer begründet. Die Worte Homers galten ihm, wie er selbst es ausdrückte, als ein Evangelium, sein Glaube daran war stark genug, ihn von vornherein über die gelehrten Skrupel hinwegzusetzen, wonach die Andeutungen der Örtlichkeit in den Versen der Ilias nur das Werk frei sie erschaffender dichterischer Phantasien feien. Die aufrichtige Begeisterung für die schlichte Wahrheit homerischer Schilderungen, welche das Leben des Mannes mit einem neuen Inhalt erfüllt hatte, empfand den Zweifel an den Tatsachen des besungenen Kampfes als einen beleidigenden Zweifel an der Ehrlichkeit der Person des ihn erhebenden Dichters. Da nun in der Ilias die Kämpfe der Griechen und Trojaner vom Schiffslager zur Stadt des Priamos hin und her wogten und die Entfernung dazwischen an einem Tage mehrfach durchmessen wurde, so stellte Schliemann an sein Ilion die Forderung, daß es an einem andern Orte näher der Küste gelegen habe als das drei Stunden davon entfernte Bunarbaschi. Wie hätte Achill den Hektor dreimal um die Mauern dieser Höhe verfolgen können, deren Abhänge nach dem Skamander zu kaum zu erklimmen sind? Bei der eingehenden Untersuchung der Gegend stellte sich heraus, daß es eine warme und eine kalte Quelle dort nicht gab, sondern was man dafür gehalten hatte, war ein Bezirk von an vierzig einzelnen Quellen ganz gleicher Wärme. Um aber vollkommen sicher zu gehen, so griff er auch hier wieder sofort zum Spaten; indessen die angestellten Ausgrabungen in und um die kleine Bergfeste herum, welche die Höhe von Bunarbaschi krönt, hatten nicht das für Troja erwartete Ergebnis. Wie Schliemann in dieser verwahrlosten Gegend lebte, wo die Hütten ein Ungeziefer beherbergen, vor welchem der Reisende flüchtet, um sein Nachtquartier im Freien aufzuschlagen, mögen folgende Zeilen veranschaulichen. »Erst um 5 Uhr abends verließ ich die kleine Zitadelle, und nachdem ich wiederum von Süden nach Norden den ganzen Raum, welchen man für die Stelle des alten Troja hält, durchwandert halte, stieg ich zum Skamander hinab und nahm mein Abendbrot ein, das nur in Gerstenbrot und Flußwasser bestand. Das Brot war durch die Hitze so trocken geworden, daß ich es nicht brechen konnte; ich legte es eine Viertelstunde ins Wasser, wodurch es weich wurde wie Kuchen. Ich aß mit Vergnügen und trank dazu aus dem Fluß. Das Trinken war jedoch beschwerlich; ich hatte keinen Becher und mußte mich jedesmal über den Fluß neigen, wobei ich mich auf die Arme stützte, welche bis zu den Ellbogen in den Morast einsanken. Aber doch war es eine große Freude für mich, das Wasser des Skamander zu trinken, und ich dachte lebhaft daran, wie tausend andere sich bereitwillig weit größeren Beschwerden unterwerfen würden, um diesen göttlichen Fluß zu sehen und sein Wasser zu kosten.« Dieser Enthusiasmus für den Fluß, an welchem der Kampf der Helden getobt, war bei ihm nicht Phrase. Auch während der späteren Ausgrabungen auf Hissarlik verachtete er die frischeren Quellen in der Nähe und ließ für seine Person das Wasser so lange aus dem Skamander schöpfen, bis er durch wiederkehrende Fieberanfälle die Schädlichkeit desselben an sich erfuhr.

Also Bunarbaschi war Troja nicht. Wohl aber liegt nur eine Stunde vom Hellespont entfernt und von allen in Frage kommenden Punkten am weitesten dem Meer zu vorgeschoben der niedrige Hügel von Hissarlik, der letzte Ausläufer des Plateaus, welches die Täler zweier Flüsse trennt, wie sie die Ilias voraussetzt, des Skamander und des Simois. »Sowie man den Fuß auf die trojanische Ebene setzt, wird man sofort beim Anblick des schönen Hügels von Hissarlik von Erstaunen ergriffen, der von der Natur dazu bestimmt zu sein scheint, eine große Stadt mit ihrer Zitadelle zu tragen. In der Tat würde diese Stellung, wenn sie gut befestigt wäre, die ganze Ebene von Troja beherrschen, und in der ganzen Landschaft ist kein Punkt, der mit diesem verglichen werden kann.« Von der niederen Höhe schweift der Blick über die Fluren und sanften Hügelketten entlang der Küste, weiter über das Meer hin zu dem Götterberg der Insel Samothrake und landeinwärts zum Ida. Eine Burg hier oben ließ sich, wie es in der Ilias geschieht, als in der Ebene gelegen bezeichnen. Von hier, von der Plattform des Skäischen Tores herab mochten Priamos und Helena die wogenden Reihen der Griechenscharen auf dem Schlachtfeld überschauen und deren wohlbekannte Führer erkennen; von hier aus konnte die Stille der Nacht den Schall der troischen Siegeslieder hinübertragen bis zum Lager des Agamemnon am Meere.

Hissarlik von Westen.

Der Boden des Hügels von Hissarlik gehörte und gehört noch heute fast zur Hälfte Herrn Frank Calvert, dem amerikanischen Konsul in den Dardanellen. Dieser hatte in einer seiner vielen gelegentlichen Grabungen im Gebiete der Troas festgestellt, daß erst der Verfall von Tempeln und größeren Bauten spätgriechischer und römischer Zeit die heutige Ausdehnung des Hügels bewirkt habe. Es war dadurch gesichert, daß hier die Stelle der späten Neugründung Ilions lag. Daß im Kern des Hügels die Burg des Priamos stecken könne, war die Überzeugung Calverts, welcher sich darin einigen vereinzelt gebliebenen Gelehrten anschloß. Durch die eigene Arbeit davon überführt, daß die herrschende Ansetzung bei Bunarbaschi aufzugeben sei, und durchdrungen, daß nur auf diesen Platz die Szene der Ilias passe, nahm Schliemann den Gedanken Calverts auf und schrieb in dem Werk »Ithaka, der Peloponnes und Troja«, welches er Anfang 1869 veröffentlichte: »Um zu den Ruinen der Paläste des Priamos und seiner Söhne sowie zu denen der Tempel der Minerva und des Apollo zu gelangen, wird man den ganzen künstlichen Teil dieses Hügels fortschaffen müssen. Alsdann wird sich sicherlich ergeben, daß die Zitadelle von Troja sich noch eine bedeutende Strecke über das anstoßende Plateau ausdehnte; denn die Ruinen vom Palast des Odysseus, von Tiryns und von der Zitadelle in Mykenä sowie die große Schatzkammer Agamemnons beweisen deutlich, daß die Bauwerke des heroischen Zeitalters große Ausdehnungen hatten.« Wie viele Reisende waren durch die Landschaft gezogen, um den Kampfplatz von Achill und Hektor zu sehen! Aber ihre Forschungen waren bei einfacher Besichtigung der Gegend sozusagen an der Oberfläche geblieben. Schliemann verlieh der Glaube an Homer das sichere Vertrauen, daß eine auf den Grund gehende Ausgrabung die Trümmer der homerischen Welt uns vor die Augen stellen müsse. Die große Aufgabe, die sich hier bot, zu lösen, erfüllte ihn von nun an voll und ganz.

Ein Exemplar seines Reiseberichts nebst einer altgriechisch geschriebenen Dissertation sandte er an die Universität seines mecklenburgischen Vaterlandes, Rostock, und diese erteilte ihm dafür die philosophische Doktorwürde.


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