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Der Mann im Theater

Kürzlich sah ich mir in einem unserer städtischen Theater die Erstaufführung des Lustspiels eines noch unbekannten Autors an.

Ich saß im Parkett ziemlich vorn bei der Bühne auf einem Eckplatz dicht bei dem breiten Gang, der an der Seitenwand zur Rechten hinführte. Etwas nach rechts von mir, neben der Bühne, stand ein großer, mäßig geheizter, eiserner Ofen; neben meinem Sitz aber, jenseits einer Schnur, welche die Parkettsitze gegen den Gang abgrenzt, an einem Holzpfeiler noch ein Rohrstuhl, vor welchem es dann keine weiteren Sitzgelegenheiten mehr gab.

Da ich früh gekommen war, vertrieb ich mir, nachdem ich den Zettel studiert hatte, die Zeit damit, zuzusehen, wie sich der Raum allmählich füllte, bis ich schließlich, als mir das über geworden war, ohne weiter an was zu denken, bloß noch so vor mich hin nach rechts in den der Lichtersparnis wegen von drei elektrischen Birnen schummrig beleuchteten, angenehm leeren Seitengang hineinsah.

Den Duft einer Apfelsine in der Nase, die von irgendwem hinter mir gegessen wurde, hatte ich, kaum mit etwas anderem beschäftigt, als daß der Ofen besser geheizt sein konnte, einige Minuten so vor mich hin gesehen, als ich jemand mit einem Schritt, der für mich so halb unbewußt etwas Auffallendes haben mochte, vorn vom Eingang her den Gang herabkommen hörte.

Ich wandte mich über die Schnur vor und sah den Gang hinauf. Er war nach wie vor leer, bloß unter einer von den elektrischen Birnen standen drei junge Mädchen, die mit einigen jungen Männern ihre Unterhaltung hatten. Dicht bei der Schnur aber sah ich einen Mann daherkommen.

Er erregte sofort mein Interesse.

Er war reichlich über mittelgroß, hatte ein langes, flach- und zugleich vollwangiges, bleiches, doch nicht krank bleiches, bartloses Gesicht, aschblondes, bürstenartig, doch nicht sehr hoch emporstarrendes, dichtes Haar, eine kurze, gerade Nase, ein volles, etwas vorragendes, breites Kinn. Die eher niedrige Stirn fiel schräg gerade ab und wirkte gegen die breite Unterpartie des Gesichtes zu schmal. Die steif kurze, aschblonde Haarbürste machte oben mit ihr einen stumpfen Winkel. Der Mann hatte kleine, runde, graublaue Augen, die zu nahe gegen die schmale Nasenwurzel beieinander standen. Einen ganz altmodischen weißen Klappkragen trug er und drunter einen schon mehr als nüchternen, schwarzen, steif flachen, kleinen Schlips. In den Schultern war er eckig, doch wirkte die Brust gegen die vortretende Bauchpartie schmal. Er hatte ein enganliegendes und ziemlich hoch zugeknöpftes, graubraunes Jackett an, das so lang war, daß es ihm fast bis an die Knie runterreichte, und gleichfarbige Beinkleider, die von zwei von oben bis unten gleichmäßig runden, kräftigen Beinen so ziemlich ausgefüllt wurden. Die Füße waren auffallend groß; auch die knochigen, roten Hände. Es machte den Eindruck, als trage er keine Manschetten. In der einen Hand hielt er mit einer Art von steifer Sorgfalt etwas von sich ab, den Theaterzettel.

Seine Haltung war eine aufrechte, doch hielt er das Gesicht steif gerade vor sich hin vorgeleckt. Dabei hatte sein Gesicht einen gleichmäßig ernsten Ausdruck. Die kleinen, blaugrauen Augen aber waren, – ich hatte das Gefühl: weit aufgerissen – unverwandt irgendwohin, immer in derselben Richtung vor ihn hin gerichtet. Sein Gang aber war ... Nun, man hat wohl schon mal solch einen buntlackierten Automaten gesehen, so ein Männchen aus Blech, das einen Karren schiebt, und wie es, wenn es aufgezogen wird, schreitet. So schritt er.

Vollkommen, ich möchte sagen, in seinen Anblick aufgegangen, haftete meine Aufmerksamkeit, wie er so daherkam, an ihm. In einer Weise, daß sich schon jeder hätte beobachtet fühlen müssen. Doch ohne die Richtung seines Blickes auch nur im geringsten zu verändern, kam er näher und näher, bis er bei dem Stuhl neben mir jenseits der Schnur stehen blieb. Ohne mich oder sonst wen oder was zu beachten und den Ausdruck seines Gesichtes und seiner Augen auch nur im mindesten zu verändern, sah er, beide Arme lang und steif, etwas vorgebeugt, einige Sekunden auf den Rohrsitz des Stuhles nieder. Dann machte er, immer ohne mich oder sonstwen oder was zu beachten, eine kurze Achtelschwenkung und ließ sich langsam, steif gerade, den Kopf in der schon gekennzeichneten Weise nach vorn gereckt, nieder. Ich sah, wie seine Knie dicht gegeneinandergedrückt waren und daß die Unterschenkel mit den Oberschenkeln einen genauen rechten Winkel machten. Einen Augenblick starrte er, immer mit demselben Gesichtsausdruck, seinen Zettel an, dann hob er ihn gegen die Augen und las ihn, ich hatte den Eindruck: sorgfältig vom ersten bis zum letzten Buchstaben durch, worauf er ihn langsam, sorgfältig zusammenkniff und in gleicher Weise in die rechte Seitentasche seines Jacketts schob. Als er das aber getan hatte, legte er, die Ellbogen dicht angedrückt, beide Hände übereinander in den Schoß, wahrend sich sein Blick, immer mit dem gleichen Ausdruck, vor sich hin auf den Ofen richtete.

Es versteht sich, daß ich ihn bis zum Anfang der Vorstellung beobachtete. Doch ich darf versichern, daß er bis dahin weder seinen Blick vom Ofen fortwandte, noch sonst irgendeine Bewegung machte, die ihm eine andere Körperhaltung gegeben hätte. Endlich ertönte das Zeichen zum Anfang. Ehe der Raum sich aber zu verdunkeln anfing, konnte ich wahrnehmen, daß sich sein Blick vom Ofen fort und der Bühne zuwandte. Der Vorhang hob sich, die Vorstellung begann. Ich durfte mich mehrfach überzeugen, daß sein Blick, während er beständig die gleiche Körperhaltung bewahrte, nicht einen Moment von dem, was sich auf der Bühne zutrug, abwich. So verhielt er sich, bis der erste Aufzug zu Ende war. Dann aber richtete er, ohne daß er auch nur eine Miene oder in irgendeiner Weise seine Haltung veränderte, seinen Blick wieder auf den Ofen.

Die Pause über blieb ich auf meinem Sitz, um ihn weiter zu beobachten, denn auch er hatte sich nicht ins Foyer begeben. Ich durfte feststellen, daß er nicht einen Augenblick vom Ofen wegsah. Nur hatte er ab und zu, in langen Zwischenräumen, ein kurzes Zucken des Kopfes; es geschah auch wohl, daß er für einen Augenblick die eine Hand ein wenig hob, um sie dann aber gleich wieder auf die andere niederzulegen. So verhielt er sich aber alle vier Aufzüge, die das Stück hatte, und die drei Zwischenpausen hindurch. Also so, daß er, sobald der Vorhang sich hob, vom Ofen weg zur Bühne, wenn er sich aber senkte, von der Bühne weg zum Ofen hinsah.

Endlich war die Vorstellung aus, das Publikum erhob sich und strömte den Ausgängen zu. Ich sah, wie er den Blick vom Ofen fortwandte und für ein paar Sekunden vor sich nieder richtete, während seine Hände sich langsam voneinander taten.

Endlich aber erhob er sich, indem er sich steif etwas nach vorn beugte, und stand in seiner ganzen Lange ein paar Sekunden da; worauf er sich umwandte und, genau in der Weise, wie er gekommen war, den Gang hin dem Ausgang zuschritt.

Als er ein paar Schritte getan hatte, stieg ich, anstatt den Weg durch den Mittelgang des Parketts, den ich gekommen war, zu gebrauchen, über die Schnur.

Ja, ich hielt es einfach nicht mehr aus; ich mußte ihn anreden, mußte irgend einen Laut von ihm hören, ihn irgendeine Bewegung machen sehen, die wie die eines anderen Menschen war.

Also ich ging ihm nach, holte ihn ein und sagte das erste Beste, was mir auf die Lippen kam.

»Entschuldigen Sie, Herr Nachbar! Wie hat Ihnen das Stück gefallen?«

Er war stehen geblieben, hatte sich gegen mich hergewandt und sah mich mit dem Gesichtsausdruck, den er bei seinem Kommen die ganze Aufführung und alle Pausen hindurch gezeigt hatte, einige Sekunden an, dann antwortete er:

»D–D–Das S–S–Stück t–t–taugt nichts.«

Und, wie ich, der sich immerhin auf dergleichen versteht, versichern darf – er hatte recht ...


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