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Wir haben jetzt zu untersuchen, welcher Wert und welche Bedeutung andrerseits notwendigerweise der Stellungnahme Tolstois und des Sozialismus dem Krieg gegenüber zuzusprechen ist.

Zu dem Zwecke haben wir zunächst das Prinzip in Rücksicht zu ziehen, auf welches sie sich direkt oder indirekt, wissentlich oder unwissentlich stützen, nämlich das christliche.

Dem mosaischen Gesetz oder dem Jus talionis steht gegenüber die Ethik der Bergpredigt.

Ich habe bereits an andrer Stelle (in meinem Buche »Christus und Sophie«; Akademischer Verlag, Wien) über das Verhältnis der Ethik der Bergpredigt zu dem mosaischen Gesetz gehandelt. Ich darf mich also begnügen, ein hier notwendiges Resumé jener meiner Ausführungen zu geben, nicht jedoch ohne noch diesen und jenen besonderen Gesichtspunkt hier hinzuzufügen.

Zunächst: ich habe an gedachter Stelle etwas dargetan, was eigentlich bis daher noch von niemand in Rücksicht gezogen wurde; nämlich, daß die Bergpredigt eigentlich keine kanonischen ethischen Tafeln aufstellt, sondern daß sie zunächst lediglich eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den Pharisäern bedeutet, daß sie einerseits die verhängnisvollen Gebrechen einer alten bisherigen Elite rügt, und andrerseits ausspricht, wie eine neue Elite sich zu verhalten hat, und wie die alte Elite sich eigentlich verhalten sollte, wenn sie noch ferner die Bezeichnung und Würde einer solchen behaupten wollte. Ich habe an gedachter Stelle ferner hervorgehoben, daß die Bergpredigt das mit bewußter Absicht in unterstrichener und zuweilen sogar paradoxer Weise tut, um damit einen um so stärkeren und nachdrücklicheren Eindruck zu erzielen. – Ich habe mit alledem ein grobes Mißverständnis korrigiert, welches die Bergpredigt gerade in unseren neusten Zeitläuften allgemeiner erfährt.

Wir müssen uns nun aber zunächst noch einen andern, sehr wichtigen Umstand durchaus und so eindringlich wie nur möglich vergegenwärtigen, der eigentlich auch seinerseits bisher noch von niemand in Rücksicht gezogen wurde.

Das mosaische Gesetz und der Dekalog ist ein Gesetz, das seinerzeit einer Nation und Sondersozietät gegeben wurde, und das vor allem zunächst für eine solche galt. Es versteht sich, daß diese Sozietät – und fügen wir hinzu, jede Sozietät – nur dann sich selbst und anderen gegenüber bestehen und um so besser bestehen kann, je strikter sie den von Moses aufgestellten Dekalog beobachtet und einhält. Es spricht sich in ihm geradezu das Gesetz der Sozietät aus, und das heißt zugleich: der Begriff Sozietät schließt ein, daß die Einhaltung dieser Gebote ihr eigentliches Wesen ausmacht, und daß die Übertretung derselben, solange eine Sozietät noch eine solche ist, die verhältnismäßig sehr seltene Ausnahme ist. – Die Übertretung nun wurde durch das Gesetz mit dem Tode bestraft, und solchermaßen reinigte die Sozietät ihren Bestand und hielt ihn rein. Dagegen galt der Dekalog und das Gesetz aber im wesentlichen nicht anderen Geschöpfen und andern Nationen und Sozietäten gegenüber, für die also im besonderen das fünfte Gebot, das uns hier ausschließlich etwas angeht, nicht berücksichtigt zu werden brauchte; zum Zwecke der Nahrungsaufnahme und sonstiger Selbsterhaltung oder Selbstbetätigung der jüdischen Nation und Sozietät.

Christus nun läßt zunächst das mosaische Gesetz als solches gänzlich unbeanstandet. Er hat lediglich im Auge, in welcher Weise es die Elite der jüdischen Sozietät unter ganz bestimmten gegenwärtigen Verhältnissen der jüdischen Nation zu erfüllen und ihm nachzuleben habe; offenbar in der durchaus richtigen Meinung, daß, je strikter und reiner es von dieser Elite befolgt wird, es dann um so besser auch von der Nation im allgemeinen, die dieser Elite untersteht, befolgt werde. Und er meint überhaupt, daß der Begriff einer Elite gerade durch die reinste und strikteste Erfüllung des göttlichen Gebots ausgemacht werde. Wenn also das Gesetz darauf hinaus ist, Mord und alle andern Sünden in der Nation unmöglich zu machen, so dient dazu, nach Christi Meinung, am allerersten nicht die strikte und unbarmherzige Ausübung des Jus talionis, sondern das wahrhaft reine und vollkommenste Vorbild und solcher vorbeugende Wandel der Elite des Volkes.

Also, wir müssen immer streng im Auge behalten, daß Christus nicht so sehr auf das Volk und die Nation als solches und solche zielt, sondern durchaus auf den Inbegriff der Nation selbst, auf die Elite. Diese Elite aber waren damals weder die Herodianer, noch die Saduzäer (die eigentliche Priesterkaste, die in völliger Verrottung stand), sondern einzig nur die Pharisäer. Aber auch diese Elite befand sich in der Decadence; wenn vielleicht auch in einer solchen, die immer noch eine Spur von Rechtfertigung finden könnte. Denn im strengen Interesse der Nation, wie sie es auffaßten, und deren reinen Bestandes hielten sie einerseits äußerlich an den Gesetzesvorschriften mit schroffster und freilich kleinlichster Starrheit, und umgingen sie dieselben auch wohl hundertfältig, vermöge aller erdenklichen Spitzfindigkeiten und Klauseln. – Dazu war denn aber nun freilich zu sagen, erstlich mal, daß sie also tatsächlich das Gesetz selbst übertraten – gab es doch sogar eine Meuchelmordpartei unter ihnen – und zweitens, soweit sie das etwa anstatt in ihrem persönlichen Interesse im Interesse der Reinerhaltung der Nation taten, eine solche Nation im alten reinen Sinn und Bestand der Vorzeit tatsächlich ja nirgends mehr in Judäa vorhanden war, außer etwa zur Not in ihnen selbst und in ihrem immerhin noch zahlreichen Anhang im Land.

Dies letztere ist nun ein Umstand, der von ganz außerordentlicher Wichtigkeit ist. Denn gerade hier setzt das große Werk Christi ein, und gerade von hier aus gewinnt es die schließlich weltumspannende Richtung und Ausdehnung seines Prinzipes.

Resümieren wir noch einmal: Mord, Totschlag und alle mögliche andre Sünde und Übertretung gab es in der Welt und auch in der Nation hundert- und tausendfältig. Aber solcher Übertretung war ein Ende zu machen. Und im besonderen war der damalige gemischte Rassenbestand Judäas in eine neue, festere nationale Einheit zu schweißen. Dazu aber war, dies alles ist die Meinung und Lehre Christi, vonnöten der reinste und lauterste, vorbeugende Lebenswandel einer starken, herrschenden Elite, welche ja selbstverständlich vermöge solcher Herrschaft auf alle übrige Sozietät von ausschlaggebendem Einfluß sein mußte. Es ist ja doch zu sagen, daß stets und immer alles auf die Elite ankommt; denn: »wie der Herr, so's Geschirr«.

Vor allem muß das Gesetz solchermaßen befolgt werden, respektive seiner Übertretung solchermaßen vorgebeugt werden, versteht sich: innerhalb der Sozietät selbst; es gilt ja doch lediglich für eine Sozietät.

Nun kommt aber noch ein anderer, und der wichtigste hier in Betracht kommende Umstand hinzu: wie denn stand es damals mit der jüdischen Sozietät; und gab es denn überhaupt noch eine solche außer bloß dem Namen nach? Allerdings: nur noch dem Namen nach; in Wirklichkeit aber gab es keine jüdische Sozietät mehr, sondern sagen wir, eine Sozietät allerdings, die sicherlich durch das jüdisch-semitische Element noch halbwegs gebunden war, die aber im übrigen völlig die Sozietät eines Mischvolkes war. Und zwar eigentlich seit Jahrhunderten schon gab es keine reine jüdische Sozietät mehr, sondern eine, die zunächst mit anderen semitischen Elementen, sodann mit Persern, Babyloniern dicht durchsetzt war, zu denen in späteren Zeiten griechische Elemente, alsdann wohl gar römische, oder ganz und gar wohl auch noch germanische hinzugekommen waren. Es gab also anstatt einer jüdischen Sozietät, sagen wir: in kleinem Raum eine allgemein menschliche; eine, die in gewissem Sinne das im kleinen war, was das ganze gewaltige Imperium Romanum im großen: eine totale, menschheitliche Rassenfusion!

Man muß sagen, daß damals, in diesem großen römischen Weltreich, zum erstenmal der große Artbegriff und das große Artgefühl Mensch sich erhob und lebendig wurde; an hundert und hundert Stellen spekulativ und theoretisch-intellektuell, in jenem kleinen Judäa aber zum erstenmal in wundersamster und zwingendst fruchtbarer Weise aktiv-praktisch, in der Gestalt und Lehre Christi!

Angesichts der eben von uns angedeuteten nationalen Zustände im damaligen Judäa: muß nicht gesagt werden, daß die Lehre und das Wirken Christi, das zunächst ein rein jüdisch-nationales gewesen war, ein menschheitliches und sagen wir gleich anstatt national-sozietäres ein artliches werden mußte?

*

Nun hatte Christus zwar, wie wir oben sahen, bei seinen ethischen Lehren und Forderungen, wie sie in der Bergpredigt zum Ausdruck kommen, zunächst an die jüdische Nation gedacht, so wie sie damals schlecht und recht war. Es hatte sich eigentlich im Grunde ihr Problem wieder mal, wie schon oft vor dem Exil und besonders nach demselben, so gestellt, daß ein entstandenes Mischvolk so gut wie möglich dem alten nationalen Bestand und dessen Gesetz einzufügen war. Das heißt: so stand das Problem eigentlich; und in solcher Weise wurde es von Christus richtig erkannt; von dem noch vorhandenen reinen jüdischen Bestand indessen wurde es diesmal total mißkannt, denn dieser schloß, in Gestalt der Pharisäer und ihres Anhanges, diesmal jegliches Mischvolk im Land prinzipiell und total aus, ungeachtet doch offiziell dieses Mischvolk den sonstigen bestehenden staatlichen Forderungen und Gesetzen unterstand.

Wäre nun wohl das Problem in dem von Christus zunächst gedachten jüdisch-nationalen Sinn noch einmal zu lösen gewesen? Sicherlich alsdann, wenn es möglich gewesen wäre, den alten nationalen Kernbestand und sein Gesetz noch elastischer zu machen, und so elastisch wie Christus das Gesetz in der Tat machte. Aber man muß hier denn doch sagen, daß diese Elastizität ein altes, streng nationales Gesetz doch nicht mehr vermochte; dies lag schon außer der Möglichkeit dessen, was der antike Begriff der Nation zu leisten imstande war. – Oder wir können auch so sagen: Das nationale (mosaische) Gesetz vermochte diese Elastizität, mit Christus, in der Tat und dennoch, aber es sprengte in demselben Augenblick auch den engen Bann des antik nationalen Begriffes und dehnte diesen zum menschheitlich-artlichen aus. Und so ist es eigentlich erst ganz richtig und aller historischen Tatsächlichkeit nach formuliert. – Die Elastizität der Ethik Christi zersprengte und vernichtete den letzten mühsam und schon frevlerisch erhaltenen Schein eines strengeren jüdisch-nationalen Sozietätsgefüges; dieses ging wenige Jahrzehnte darauf für immer aus den Fugen, damit die neue Wahrheit und Notwendigkeit und der neugewordene Bestand und Inhalt jenes Gefüges offenbar wurde, der durch die unerhörteste Rassenfusion der damaligen Zeiten ein menschheitlicher geworden war, und als solcher in größere menschheitlich gewordene Weltreichzusammenhänge hinein mit unwiderstehlicher Gewalt expandierte als die historische Erscheinung des christlichen Prinzips und des Christentums.

Im übrigen aber, wie aus der Logik dessen, was wir eben ausgeführt haben, durchaus erhellt, hatte Christus mit seiner Eliteethik in der Bergpredigt ganz und gar recht. Auf diese Ethik kam es in Wahrheit durchaus an, wenn das neue Mischvolkproblem, wie es sich damals gestellt hatte, im nationalen Sinn gelöst werden sollte. Nur mit dieser, von einer Elite rein befolgten Ethik – eine Ethik, auf die ja übrigens doch die innerste Meinung und Tendenz des alten mosaischen Gesetzes durchaus hinaus wollte – hätte das Mischvolk diesmal dem nationalen Bestand einverleibt werden können. So war das nationale Problem zu lösen oder gar nicht.

Aber es ist also zu sagen, daß ja in demselben Augenblick, wo diese Ethik notwendig wurde, das Problem der antiken Nationalität überhaupt gelöst war, und daß damit deren Stunde geschlagen hatte. In demselben Moment hatte sich die antike, hermetisch gegen ihre Umgebung abgeschlossene Nation zur Menschheit und zur allgemein menschlichen Artsozietät erweitert; prinzipiell und zugleich aktiv-expandierend und damit eigentlich bereits faktisch. – Wie es ja denn auch damals faktisch keine Nationen mehr gab, sondern nur noch ein einziges Imperium Romanum. An Stelle der Nation trat als oberster Begriff der der Art; so daß tatsächlich von damals an durch die Jahrhunderte der Völkerwanderung hindurch bis heute es sich sicherlich nicht mehr so sehr um Nationalitäts-, als eigentlich und tatsächlich um Art- und neue Rassenprobleme gehandelt hat, und daß von der Völkerwanderung an bis heute alle großen Kriege in Wahrheit, trotz aller Vielfältigkeit ihrer Arten, durch große Rassenarrangements und eine menschheitliche Artvollendung im Grunde bedingt sind!

In Wahrheit hatte sich also damals die Nation und die Sondersozietät zur Menschheit und zur menschheitlichen Gesamtsozietät ausgewachsen. Das hatte Christus, wie es gleich von Anfang in dem damals noch unbewußteren Grundprinzip seiner Lehre lag, im Verlauf seines erst freundschaftlichen, dann feindlichen Verhältnisses zu den Pharisäern immer klarer und herrlicher erkannt, und hatte sein Erlösungswerk aus einem nationalen zu einem menschheitlichen werden lassen.

Symbol und Vorbild für die Menschheit nun aber blieb die Nation und die Sondersozietät; und das Gesetz für die reifste Nation und nationale Elite mußte mit aller organischen Konsequenz die Ethik einer Elite der Menschheit werden. Das ethische Gesetz, das für die nationale Sondersozietät gegolten hatte, und das für jede nationale Sondersozietät, weil mit ihrem Begriff völlig grundidentisch, schlechthin verbindlich ist, mußte von nun an notwendigerweise auch für die nur noch einzig und allein vorhandene große menschheitliche Sozietät gelten.

Jener Dekalog, der seine äußersten, letzten und höchsten Forderungen, wie Christus richtig und fruchtbarst erkannt hatte, vor allen Dingen an die Elite der Nation stellte, von deren reinstem und makellosestem Wandel nach dem Gesetz alles für die Nation abhing, wurde jetzt für eine Elite der Menschheit verbindlich, und zwar durchaus in der Weise, wie Christus es für die damalige nationale Elite und schließlich denn also für seine, die menschheitliche, in der Bergpredigt formuliert hatte. – Durch die reinste Befolgung derselben hat seine gewaltige Ethik damals alles antike Heidentum siegreich überwunden, und hat sie das urchristliche Prinzip in welch rauher, aber notwendiger Verhüllung auch immer der jungen germanischen Rasse zugetragen und ihr zu einer neuen, letzten und fruchtbarsten Diskussion übergeben; damit in derselben, die prinzipiell vom allerersten Augenblick an eine protestantische war – Germanentum und Protestantentum ist ein und das gleiche – der edle Kern des Urprinzipes, der völlig identisch mit einem rein menschheitlichen, umfassendsten Artprinzip ist, mehr und mehr wieder befreit und hervorgeläutert werde, irgend welchen letzten und reinsten Erfüllungen und Vollendungen menschheitlicher Art entgegen.

Kehren wir zu Tolstoi und dem Sozialismus zurück, so werden wir jetzt deren Verwerfung des Krieges und des Totschlages vollkommen verstehen und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können, ja wir werden sogar die vollständige organische Notwendigkeit derselben erkennen. Hat das Christentum und sein Prinzip gesiegt und hat es Gültigkeit, so auch dessen Ethik. In einer Nation darf nicht totgeschlagen werden, eine Sozietät soll im friedlichen Zustand ihrer Mitglieder leben, und so soll es und muß es notwendigerweise auch eine allgemeine christliche Sozietät und also im eigentlichsten Verstand eine allgemeine menschheitliche; denn dies beides ist ja dem streng und rein christlichen Urprinzip, auf das alles ankommt, das gleiche.

Sind nun aber von diesem reinen und strengen Verstand aus alle bisherigen Kriege, die in der allgemeineren sogenannten christlichen Gemeinschaft sich ereigneten, mit einem Odium zu belegen? Keineswegs; hierin sehen Tolstoi und der Sozialismus nicht klar. Denn das christliche Prinzip, auf das alles ankommt, und das etwas anderes ist, als die historisch-offiziellen Niederschläge, die es bis daher gezeitigt hat, ist ja noch immer erst in Aktion; es hat sein Ziel, seine Vollendung und sein letztes Resultat noch nicht erreicht. Es hat sich immer noch mit den alten Beständen der Antike abzuringen, dieselben abzutun, respektive sie zu rangieren. Es ist noch immer der Sauerteig der Welt, der immer erst noch in fruchtbarer Gärung ist. Der alte, wilde gefräßige Trieb hat immer noch nicht sich völlig gesättigt, und noch immer erfährt er die notwendige heilige alte rauhe Hemmung nach dem Jus talionis; noch immer bekriegten und bekriegen sich die Nationen und Rassen, und der Boden keines anderen Erdteils ist so unheimlich mit Menschen- und also Bruderblut getränkt und weiß von so vielen Greueln und Massengreueln wie gerade der Boden Europas!

Aber das große christlich-menschheitliche Prinzip steht unverrückt aufrecht und übt mit unablässiger Mittlertätigkeit sein tiefwundersames, aus aller Logik und Konsequenz der organischen Entwicklung heraus notwendig gewordenes, großes Werk; und dürfen wir heute noch zweifeln, daß ihm die letzte große Vermittlung gelingen wird?

Sehen wir nun aber zu, was es bis daher erreicht hat.

Seine wesentlichste Wirkung können wir dahin formulieren, daß es die Nationen der Erde, deren es sich bemächtigt hat, und es sind doch wohl die, mit denen die Geschicke der Erde stehen und fallen, in ein großes, überaus wichtiges Dilemma gezogen hat. Es hat diese Nationen christlich gemacht und damit zugleich notwendigerweise auf das reine, urchristliche Prinzip verpflichtet; was von der jungen, die Antike ablösenden germanischen Rasse prinzipiell auch bereits mit aller Klarheit erkannt wurde, als die große germanische Diskussion des christlichen Prinzips von den Zeiten der Völkerwanderung an zur religiösen deutschen Renaissance und dem lutherischen Protestantismus gereift war.

Bevor wir aber auf diesen wichtigen Umstand und seine Konsequenzen noch näher uns einlassen, benötigt es wohl, daß wir noch einen anderen in Rücksicht nehmen. Man muß sagen, daß, wenn das christliche Prinzip das geistig-kulturelle Vermächtnis der absterbenden Antike und des Imperium Romanum an die jungen germanischen Barbarenvölker war, neben diesem doch noch ein anderes, gleichfalls sehr wichtiges, zivilisatorisches geht. Beide sind eigentlich unzertrennbare Erscheinungen; und die technisch-kommerzielle Zivilisation, die das Altertum den Germanen vermachte, hauptsächlich durch die römische Organisation bis zu ihrer bis dahin möglichen Vollendung aus aller Antike hervor ausgebildet: man kann sagen, daß sie, allmählich im Lauf der antiken Jahrhunderte und Jahrtausende ihrerseits durch die großen geistigen Kulturfaktoren der alten Weltreiche Nordafrikas und des Orientes erzeugt, nun auch wieder der Geburt der geistigen Kulturerscheinung des Christentums Vorschub leistete, damit diese wiederum und ihre innerste Seele solche antike Zivilisation im Bezirk des Germanentums zu noch höheren und differenzierteren zivilisatorischen Betätigungen und Erscheinungen erweiterte und emporführte.

Denn obschon die antike Zivilisation bereits zur Zeit des noch herrschenden antiken Heidentums mit Straßen- und Städtebau, hauptsächlich zu Kriegs- und Verteidigungszwecken, in die germanischen Wälder drang, wurde so recht eigentlich antike Zivilisation, besonders in ihren segensreicheren friedlicheren Erscheinungen, den Germanen doch erst durch das Christentum und seine Missionare vermittelt.

So wirkt sie denn neben und mit dem eigentlichen, großen und neuen Kulturfaktor des Christentums und seiner Ethik zugleich an der Vollendung der Germanen, und der ihnen innewohnenden, höheren, dem innersten christlichen Kulturgeist entgegenkommenden und seiner gleichsam harrenden Rasseeigenschaften.

Das ist offenbar ein sehr wichtiger Umstand. Die christlich-antike Zivilisation lichtet die Nacht der Wälder, sie rodet und ebnet weite Flächen zu friedlichem Ackerbau; sie sammelt die verstreute und schweifende Bevölkerung in Städte; sie verbindet diese Städte durch gute feste Straßen; und diese Straßen sind etwas internationales, das politische und geographische Grenzen nicht achtet, und eine friedlichere Freizügigkeit zwischen den Ländern vermittelt, die im übrigen keine Nationen mit verschiedenen heidnischen Religionen mehr sind, sondern christliche Nationen; eine Freizügigkeit, die in den rauhen Jahrhunderten der Barbarei noch eine ganz unbekannte Sache war. Die internationale zivilisatorische Tendenz des antiken heidnischen Imperium Romanum, die hauptsächlich nur erst kriegerische Zwecke im Auge hatte, bekommt damit eine hochbedeutsame Erweiterung, die erst ihrerseits wieder für höhere Erscheinungen geistiger Kultur förderlich wurde.

Die eigentlich fruchtbare und wesentliche zeugerische Verbindung, die intim und mystisch wie Befruchtung und Eichen zusammenstrebte und zusammentraf, fand sicherlich statt zwischen dem urchristlichen Prinzip und der indogermanischen Seele der Germanen und deren höheren, verehrenden Stellung dem Weibe gegenüber, und sie war die Hauptsache auf die alles und das wesentlichste ankam; aber offenbar und unter allen Umständen mußte den Folgen solchen zeugerischen Prozesses die durch das Christentum vermittelte antike Zivilisation im hohen Grade zustatten kommen. Und zwar in einer Weise, daß ihre sich konsequent ausbildende Mechanik dem mit der germanischen Barbarei ringenden christlichen Prinzip in Augenblicken, wo etwa seine eigenste Kraft versagte oder selbst in Barbarei verrohte, mechanisch beständig zu Hilfe kam, und mit seiner unaufhaltsamen Tendenz zur Internationalität von Handel und Wandel intimst an dem äußeren, und infolgedessen auch an dem inneren Wesen und Leben der germanischen Menschheit im Sinne des urchristlichen Prinzips weiterarbeitete; in einer Weise, daß nun auch von hier, von dem aus, was man zivilisatorische Unwillkürlichkeit und Mechanik nennen möchte, feinere geistig-seelische Kultur selbständig aus dem germanischen Rasseprinzip hervor sich entwickelte und herausbildete, die, obschon sie später dem, was man offiziell unter Christentum verstand, oft völlig gegensätzlich zu sein schien, sich dennoch, bei Licht besehen, wunderbarlich gerade als reinste Offenbarung reinsten christlichen Geistes dartut.

Im übrigen kommen wir jetzt zu dem zurück, was wir eingangs des vorigen Abschnittes hervorhoben. Wir sagten: das Christentum habe die europäischen Völker, indem es sie christianisierte, zugleich notwendigerweise auf das reine urchristliche Prinzip verpflichtet und sie, und alle Reste antiker und vorweltlicher Barbarei, damit in ein hochwichtiges fruchtbares Dilemma gezogen; und zwar in ein Dilemma zwischen diesem reinen Prinzip und seiner Ethik und der alten Barbarei der Vorzeit, wo das Jus talionis herrschte, oder der alten barbarischen Nahrungsaufnahme irgend eines sich entwickelnden organisch-psycho-physischen Hauptprinzips und Faktors, die sich noch in Gestalt von Einzel- und Massentotschlag vollzieht.

Es muß uns nach allem, was wir eben ausführten, gegenwärtig und selbstverständlich sein, daß für jene christlichen Barbarenvölker es außer jeder Möglichkeit stand, sich diesem Dilemma zu entziehen. Denn jenes Prinzip und seine Ethik war ja der feinste und allernotwendigst-organische Extrakt der Antike aus all ihrer eigenen Entwicklung und damit zugleich aus allen Zusammenhängen derselben mit der prähistorischen organischen Existenz heraus. Dieses Prinzip, das bis daher noch je das Gesetz jeder Einzelsozietät war, ohne welches deren Existenz nicht einen Augenblick möglich gewesen wäre, hatte sich ja, wie wir sahen, bereits tatsächlich als das Artgesetz und die Artethik der ganzen Menschheit enthüllt; zur Zeit des Imperium Romanum, welches sich zu einer allgemeinen ersten menschheitlichen Artsozietät bereits ausgewachsen hatte. Es war also keinerlei Möglichkeit denkbar, daß die Germanen sich jemals diesem Gesetz hätten entziehen können. Gewiß wurde es für ihren robusten, barbarischen Rassezustand ein sehr hartes Dilemma, aber eins, das sie unter allen Umständen zu lösen hatten. Nun, sie waren und sind, wie ihre Entwicklung bisher gezeigt hat, zu solcher Lösung wirklich berufen; sie haben sich tatsächlich als den eigentlichsten Christophoros unter den Rassen der Erde bewährt.

In einer Sondersozietät darf nicht totgeschlagen werden; offenbar weil, da mit Naturnotwendigkeit Totschlag endlos neuen Totschlag nach sich ziehen muß, die Sozietät sich vollständig vernichten würde. Sobald die Menschheit aber sich als Sozietät erkennt und fühlt, darf auch in ihr nicht totgeschlagen werden, weil von demselben Augenblick an das Gesetz aller Sozietät für sie verbindlich wird; das Gesetz der Sozietät, das ja zugleich völlig identisch ist mit deren Wesenheit und Begriff! –

Freilich nun aber ist sie noch keine solche Sozietät, ist sie es noch nicht im vollendeten Sinn. Immerhin hat sie sich aber, offenbar von dem Auftauchen des christlichen Prinzips an, als eine solche zu fühlen und zu entwickeln begonnen.

Solches mit der Nachdrücklichkeit in Rücksicht gezogen, die hier vonnöten ist, hat offenbar Tolstoi und der Sozialismus völlig recht – der Sozialismus wird vielleicht, und wohl sicherlich, einst noch als die gröber wirkende zivilisatorische Instanz des Prinzips nach außen hin den zwingendsten Ausschlag geben –; und zwar ist ihr Recht ein besseres, notwendigeres und lebendigeres als das derer, die die Fürsprecher des Krieges sind. – Freilich ist nun aber das Dilemma selbst noch nicht völlig gelöst; und so bleibt der Krieg, der im übrigen durch die Notwendigkeit aller Entwicklung ein für allemal heilig und »gottgewollt« bleibt, vorderhand noch immer wohl oder übel eine Notwendigkeit, die indessen, da Totschlag eine Sünde gegen die Sozietät und deshalb auszurotten ist, mehr und mehr ihr Recht, ihre Heiligkeit und ihren Sinn einbüßt und auf dem Aussterbeetat steht.

Trotzdem: wir können zurzeit noch nicht mit aller Sicherheit wissen, ob in Zukunft nicht doch noch größere Kriege in aller tieferen Notwendigkeit der organischen Entwicklung liegen; aber dann sicher und gewiß und unter allen Umständen nur noch einzig zu dem Zwecke, daß die Menschheit sich zu jener vollkommensten gefriedetsten Artsozietät ausbaut, auf die sie mit dem christlichen Prinzip mit unaufhaltsamer organischer Gewalt der eigentlich kulturellen wie der zivilisatorischen Entwicklung lostreibt; und vielleicht gerade in unseren jüngsten Zeiten mit einem bis daher unerhörten Tempo.

In welchem Sinn dürfte sich denn nun aber die Menschheit dereinst zu einer solchen vollkommensten Artsozietät entwickelt haben, die in allen ihren Teilen von dem festen organischen Gefühl einer solchen durchdrungen ist?

Jede Sozietät steht und fällt, ist vollkommen und unvollkommen nach Maßgabe und mit ihrer Elite. Und so wird denn notwendigerweise eine solche kommende allgemeine menschheitliche Artsozietät vollendet sein, sobald sich ihre Elite vollendet hat, d. h. sobald es eine einheitliche und sich in ihren Individuen völlig artgleiche Elite der Menschheit gibt, die sich im vollkommensten, festesten und unlösbaren organischen Zusammenhang weiß und empfindet. Diese Elite wird aber und kann notwendigerweise nur eine christliche sein; d. h. eine solche völlig im Sinne des reinen christlichen Urprinzips und seiner Ethik; und da mit dem Begriff der Elite der der Herrschaft in jedem Sinn eng verknüpft ist, wird die Menschheit in demselben Augenblick, wo diese Elite wirklich vollkommen ist und herrscht, gefriedet und vollendetste Artsozietät sein. – Diese Elite aber wird sagen: wir töten keinen Menschen mehr. Und sie wird es nicht bloß sagen, sondern sie wird, aus ganz besonderen psychophysischen, organischen Nötigungen gar nicht anders können! – Aber: sie wird gerade infolge solcher Eigenschaft herrschen! – Sie wird, obgleich sie das sagt und nicht anders kann – unerhört sich vorzustellen, für alles, was heute in uns noch vorzeitliches und antikes Wesen und Empfinden ist! – trotzdem und gerade deshalb Elite sein und herrschen!

Und warum? Weil ihr Milieu, die Menschheit, gleichfalls nicht anders kann; weil es, weil sie, seit den Tagen des Christus, gerade an dieser heimlichen, machtvollst immer mehr nach außen hin sich entwickelnden Elite müde geworden sein wird; müde, völlig müde der ewigen Greuel, wüsten und wüstesten Massentotschlags. – Wie sollte es anders sein? Wie sollte sie nicht seiner müde werden müssen? ... In demselben Augenblick aber wird diese Elite frei, vollkommen und deutlich, und die menschliche Sozietät vollkommen geworden und gefriedet sein ...

Diese Massentotschlags-Müdigkeit, wie so sehr interessant und bedeutsam und wie völlig unwillkürlich sie sich in unseren letzten Zeiten allenthalben zum Ausdruck gebracht hat und zum Ausdruck bringt! Wie gerade die Aisthesis des Menschen der jüngsten Moderne und mit welcher aus tiefster organischer Notwendigkeit emporsteigenden Hypochondrie sie gegen den Krieg und Massentotschlag reagiert!

Wir denken hier nicht an politische und soziale Parteiprogramme, wir haben vor allem Dichtung, Kunst und Historie im Auge; und nicht zum wenigsten wird uns gerade auch jene Dichtung, Kunst und Historie von Interesse sein, die dem Krieg durchaus nicht etwa feindlich gegenübersteht.

Ich hatte in letzter Zeit Gelegenheit, in einem Buch Hans Delbrücks zu blättern »Erinnerungen, Aufsätze und Reden, von Hans Delbrück. 3. Aufl. Berlin, Georg Stilke, 1905.« – Ein empfehlenswertes Buch, das gerade auch über die letzten preußischen und deutschen Kriege mit prächtiger Objektivität berichtet., bei dem ich seinerzeit als Berliner Student über den Krieg 1870/71 hörte, eine Vorlesung, die zu meinen unvergeßlicheren und tiefdringendsten Eindrücken gehört. – Gewiß: niemand wird so leicht weniger als dieser Historiker die Theorie des Sozialismus oder gar Tolstois unterschreiben. Und doch: wie viel sagt, gerade zwischen den Zeilen, solche überaus objektive und vorurteilslos unparteiische Geschichtsschreibung! Wie viel sagt ihre kühle, klare Kritik! Wie gar sehr muß sie die Illusionen jener Empfindungen in uns abkühlen, ja zerstören, die so recht »urgermanisch« sind und immer noch bis in unsre Generation herein den alten »furor teutonicus« heimlich bewahrte, und den Schwarm für den Krieg und sein Heldentum! – Eine Wirkung, die ein Historiker von diesem Schlage sicher nichts weniger als üben will, und die er dennoch übt. – Ist dies aber nicht überhaupt die neue Schule der Geschichtsschreibung, und gehört ihr nicht die Zukunft?

Wie in der Geschichtsschreibung aber, so in der Dichtung. Man wird in Detlev v. Liliencron gewiß keinen Fürsprecher des ewigen Friedens im Sinn Tolstois und des Sozialismus erblicken; aber wem müßte nicht die Ähnlichkeit seiner Kriegsnovellen mit der Kriegsnovellistik Tolstois, von individuellen, rein künstlerischen Unterschieden abgesehen, in die Augen fallen und bedeutsam sein? Immerhin ist Tolstoi so in seinem »Krieg und Frieden« wie in seinen kleineren Kriegserzählungen gegen den Krieg noch gerechter als in seiner Theorie; obgleich gerade auch die hypochondrische Aisthesis, deren wir oben gedachten, bei Tolstoi deutlich genug zutage tritt. Ganz augenfällig aber wird sie in Werken wie Zolas »Débâcle« und in den Gemälden Wereschtschagins. Man kann sich keine eklatanteren Symptome für die Kriegs- und Totschlagsmüdigkeit des modernen Europäers denken, als diese!

Am deutlichsten, interessantesten und kennzeichnendsten aber tritt dieselbe in der Dichtung und bildenden Kunst gerade Rußlands zutage. Und gerade von Rußland aus, dessen politische Machtstellung und östlich slavische »Kriegsgefahr« Westeuropa seit vielen Jahrzehnten wie eine heimliche, dunkle Beklemmung in den Gliedern liegt, mußte die Anregung für den Haager Friedenskongreß ausgehen! – Man mag über die Resultate desselben denken wie man will: unter allen Umständen ist er ein bedeutungsvolles, einzigartiges Symptom für die zunehmende Abneigung Europas gegen den Krieg und seinen Massentotschlag, wie alle ferneren Konsequenzen, als Epidemien und sonstige Störung und Zerrüttung der sozialen Zustände der Länder und Rassen, die derselbe noch je und je nach sich zog.

Man mag also über diesen Friedenskongreß denken wie man will: immerhin ist dieser erste Vorschlag zu einer Verminderung des europäischen Kriegsapparates nicht nur, sondern gar zu einer allgemeinen Abrüstung der europäischen Nationen ein großes, hochwichtiges, symptomatisches Ereignis! – Und für eine Erscheinung von nicht minder symptomatischer Eigenschaft scheint die allgemeine lebendige Kolonial- und Marinepolitik der europäischen Nationen anzusprechen zu sein.

*

Wenn wir nun verstehen wollen, wie die allgemeine Stimmung solcher Kriegs- und Totschlagsmüdigkeit zustande gekommen ist, so werden wir bis zur Renaissance zurückgehen und die zivilisatorische und kulturelle Entwicklung Europas von da bis hierher in Betracht ziehen müssen.

Die wichtigste Tat der Renaissance war wieder die germanische. Wir zeigen zwar heute eine ganz besondere und leider zu einseitige und überwiegende Vorliebe für die Kulturleistung der italienischen Renaissance; aber diese hauptsächlich artistische Vorliebe ist recht fraglich und zudem in mehr als einer Hinsicht bedenklich. Was man an der italienischen Renaissance als wirklich positiv wertvoll für einen allgemeineren europäischen Kulturausbau ansprechen muß: sicher gehen jene neueren Kulturhistoriker nicht fehl, welche auch diese Leistung vor allem dem germanischen Rasseeinschlag Nord- und Mittelitaliens gutschreiben. Die größte und wichtigste Leistung der Renaissance aber war die Klärung des christlichen Urprinzips durch die deutsche Reformation. Gegen diese Tat verblaßt alle übrige, noch so bedeutende künstlerische Kulturleistung der Renaissance; und selbst jede andere steht noch hinter ihr zurück! – Auf diese Klärung kam zunächst alles an, und alle hervorragendsten Erscheinungen auf religiösem Gebiet hatten das ganze feudale Mittelalter hindurch zu ihr hingewollt; ob wir hier an die Wirksamkeit Abälards, oder an die Lehren der deutschen Mystiker denken, oder sonstige Großtaten des religiösen, rein christlichen Prinzips in der Feudalzeit.

Neben dieser Tat Luthers und der Reformation aber kommt vor allem in Betracht die anhebende zivilisatorische Entwicklung, deren Tempo sich seit jener Zeit in einer so erstaunlichen und wundersamen Weise steigerte. Es kommen die Erfindungen und Entdeckungen in Betracht, die Geburt der modernen exakten Wissenschaften, es kommt in Betracht der rapide technische und kommerzielle Aufschwung, der die durch den wissenschaftlichen Humanismus zunächst bewirkte moderne Internationalität in rapider Steigerung zu einer immer allgemeineren und vollendeteren werden ließ. Und es kommt in Betracht, daß diese Internationalität im Grunde gleichbedeutend ist mit einer intimeren Fusion und Durchdringung der europäischen Rassen, als sie jemals in aller bisher so gewaltsamen historischen Evolution erhört war. Erst nach alledem und in zweiter Linie sollten wir dem damaligen Hochstand der Künste sein Recht werden lassen.

Im übrigen erleben wir es wieder, und eigentlich gerade erst in unseren moderneren und modernsten Zeiten, daß jene erstaunliche zivilisatorische Evolution und ihre unwillkürlichere mechanische Funktion nun ihrerseits beiträgt, das reine christliche (menschheitliche) Urprinzip erst recht zu klären. Zwar zumeist in einer Weise, deren Resultate geradezu nach außen hin als eine direkte Negation des Christentums sich darbieten, von der wir aber heute zu erkennen beginnen, daß sie nichts bedeutet, als, von einer anderen Seite her, gerade eine sich vollziehende reinste und vollendetste Klärung des urchristlich reinen Prinzips.

*

Ich glaube, wir dürfen jetzt zusammenfassen.

Wir haben die frevlerische Blasphemie Tolstois und des Sozialismus zurückgewiesen; eine notwendige, von ihr aus dem Auge gelassene, historische und entwicklungshistorische Betrachtung hat uns die Notwendigkeit und Heiligkeit des Krieges und Totschlags dargetan. Wir haben uns aber genötigt gesehen, die Erscheinung des Krieges in die höhere, allgemeinere Tatsache der organischen Entwicklung einzufügen. Indem wir das taten und zugleich die Bedeutung des in der Antike machtvollst sich erhebenden reinen christlichen Prinzips und die logische organische Notwendigkeit und Gültigkeit seiner Ethik erkannten, die, eine Ethik der Einzelsozietät, notwendig sich zu der einer menschheitlichen Gesamtsozietät erhebt – haben wir uns genötigt gesehen, der nach solcher notwendigen Ethik andererseits durchaus logischen und einzig möglichen Idee und Theorie Tolstois und des Sozialismus ihrem wesentlichsten Inhalt nach beizustimmen. Und es wird uns, nach den neuesten kulturell-zivilisatorischen Erscheinungen und Entwicklungen Europas, aus alledem plausibel geworden sein, daß zum wenigsten ein bevorstehender europäischer Friedenszustand kein utopistisches Unding ist. Was ein dauernder Friedenszustand der europäischen Rassen aber für die allgemeine fernere Entwicklung der Menschheit bedeuten könnte, ist, wenn nicht zu berechnen, so doch sicher bis zu einem gewissen Grade zu ahnen. Ist Europa pazifiziert, so sind es die führenden Eliterassen der Menschheit; und damit wird es, in irgend einem möglichen Sinne, zugleich die Menschheit sein ...


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