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Der Amerikaner Adin Balu, ein Schüler des berühmten Vorkämpfers der Sklavenbefreiung, William Lloyd Garrison, der selbst, ähnlich wie die Quäker, auf dem urchristlichen Prinzip fußend, den Krieg und Waffendienst ablehnte und der Begründer einer »Non-resistance«-Bewegung wurde, führt in einer seiner Flugschriften aus: »Ein Mensch darf nicht töten. Hat er getötet, so ist er ein Verbrecher, ein Mörder. Tun zwei, zehn, hundert Menschen dasselbe, so sind sie Mörder. Der Staat aber oder ein Volk darf töten, so viel es will, und das ist kein Mord, das ist ein gutes und lobenswertes Werk. Man braucht nur so viel Menschen als möglich zusammenzubringen, und das gegenseitige Morden von 10 000 Menschen wird ein unschuldiges Werk. Aber wieviel muß man dazu haben? Das ist die Frage. Einer darf nicht stehlen, rauben, aber ein ganzes Volk darf. Aber wieviel Menschen sind dazu nötig? Warum dürfen denn zehn, hundert Menschen das Gebot Gottes nicht übertreten; warum aber dürfen es viele?«

Ich zitiere diese Stelle nicht bloß so als einen Obersatz dieses ersten Teiles meiner Ausführungen, sondern weil diese Kundgebung sich gerade auf amerikanisch-neuweltlichem Gebiet erhebt. Und zwar ist mir hierbei von Interesse, daß das offizielle Christentum in Amerika von vornherein weder in katholischer oder evangelisch-lutherischer, also eigentlichster Fassung, sondern lediglich in mehr oder weniger freier sektirerischer Fassung vorherrscht, so daß also, wenn man überhaupt angesichts amerikanischer Verhältnisse von einer solchen noch sprechen darf, die offizielle Staatsreligion von vornherein eine sehr freie und wohl verhältnismäßig dem reineren christlichen Urprinzip näher gerücktere ist. Unter diesen Sekten nun aber ist die der Quäker sicher numerisch nichts weniger als eine vorwiegende, wohl aber ist gerade sie es einer lebendigen, geistig-kulturellen Wirkung nach und besitzt sie nach solcher Richtung einen hervorragenden und vorwiegenden Einfluß. Denn nicht nur, daß die größten Männer der Union, die in den entscheidendsten Momenten von Amerikas staatlicher Entwicklung das Geschick der Nation leiteten, entweder direkt Quäker waren, oder doch wenigstens von Quäkern abstammten: auch was eine rein und spezifisch amerikanische Geisteskultur anbelangt, soweit eine solche überhaupt bis daher zu einer machtvolleren Äußerung gelangte, so hat sie sich wenigstens mittelbar gerade auf dem Fundament des Quäkertums erhoben; und damit auf einem Fundament, das, als äußerste Konsequenz reinen Protestantentums, zugleich die bis daher möglichste, reinste und modernste und zugleich mit organischer Notwendigkeit gewordene Erneuerung des urchristlichen Prinzips bedeutet. – Ich meine, so wenig es nun auch bisher den Quäkern, oder jener neben ihnen bestehenden »Non-resistance«-Bewegung gelungen ist, etwas Positiveres auszurichten, so werden sie dennoch von vornherein immerhin in Amerika relativ eine ungleich größere Möglichkeit dazu haben, als sie in Europa besteht; und das scheint mir für eine zukünftige amerikanische Eigenkultur sehr viel zu bedeuten.

Also: wie für Tolstoi und den europäischen Sozialismus, bedeutete auch den Quäkern und der »Non-resistance«-Bewegung der Garrisonschen Richtung der Krieg einen Mord, oder einen privilegierten Massenmord, um gleich den drastischeren und wohl sicher noch gehässigeren Ausdruck zu gebrauchen, dessen sich namentlich die Agitation des politischen Sozialismus zu bedienen pflegt. Man operiert hier wohl auch mit dem Begriff des »geheiligten Mordes«, in dem Sinn, daß solcher Mord von den Priestern der bisherigen Religionen geheiligt worden sei; und man bedient sich dieses Begriffes in nicht minder gehässigem Sinn.

Aber sollte man in einer Zeit, wo die empirische Wissenschaft in so hoher Blüte steht, nicht wahrnehmen müssen, daß es sich angesichts des Krieges tatsächlich um einen »geheiligten Mord« handelt? Der empirisch-exakten Wissenschaft wird dieses Prädikat »geheiligt« heute freilich nicht gemäß sein, sie wird es vielmehr durch das Prädikat eines »notwendigen Mordes« ersetzen; sie wird sicher damit auch nicht unrecht haben, aber unsagbar viel macht fürs Praktische eine Nuance aus; und unzweifelhaft ist der Begriff eines »geheiligten Totschlags« der tiefere der bessere, der fruchtbarere und wahrere. Es ist die für unsere Zeit und Kulturentwicklung so verhängnisvolle, man muß wirklich schon sagen – Gêne der empirischen Wissenschaft, daß sie sich einer solchen besseren Begriffsnuance widersetzt; obschon bei Licht besehen aber auch nicht die mindeste Veranlassung dazu vorhanden ist, und obschon die Wissenschaft sich dadurch die Möglichkeit einer letzten umfassenden und vollkommenen Weisheit von vornherein unterbindet!

Also wir sagen: wie diese bisher vorgerückteste und im Bereich ihrer Methode so vollkommene exakte Wissenschaft bei Licht besehen lediglich bestätigt: heilig ist der Krieg und geheiligt der Totschlag, der im Krieg geübt wird. Und zwar ist er durchaus nicht durch irgend eine Priesterschaft oder durch irgend eine menschliche Fassung »offizieller Religion« geheiligt, sondern er ist es durch eine höhere, immanente Notwendigkeit aller Entwicklung.

Und zwar ist er so etwas durchaus anderes, als der Mord des einen, der zehn oder der hundert, der nichts bedeutet als die Handlung nicht eines Einzelwillens, sondern eines isolierten Einzelwillens, der, wo er auch immer auftritt und jemals aufgetreten ist, stets als das unheimlichste und inkommensurabelste Geschehnis nicht bloß vom Verstand, sondern von jeglichem organisch-seelischen Fühlen gewertet wurde.

Etwas ganz anderes ist der »Mord«, oder vielmehr doch wohl der Totschlag, der gegenseitig von Völkern und Nationen geübt wurde. Er ist nicht die Äußerung eines isolierten Einzelwillens, sondern er ist die Äußerung eines Gesamtwillens; dieser Gesamtwille aber ist identisch mit einem großen organischen Trieb – den wir in weiterer Hinsicht als eine Bewegung und einen Trieb organischer Entwicklung definieren müssen, und in noch weiterer und letzter Hinsicht als eine Bewegung und Betätigung von Ursein. – Es ist durchaus vonnöten, daß wir bis zu dieser letzten und äußersten Definition vorgehen; denn nur erst, wenn wir sie vollzogen haben, werden wir die vollkommenste Einsicht in die Heiligkeit und die religiöse Eigenschaft des Krieges gewinnen – der allerdings unter Umständen auch Formen aufweisen kann, die sich mit jener so unheimlichen und inkommensurablen Handlung isolierten, oder aus allen organischen Zusammenhängen gerückten, schlechthin irrsinnigen Eigenwillens in Parallele setzen lassen.

*

Suchen wir solche Heiligkeit des Krieges jetzt zu erkennen, so würden wir uns vielleicht zunächst genötigt sehen, auf den Begriff des Einzeltotschlags einzugehen. Aber ich habe ja bereits das hier Wesentlichste und Notwendigste von diesem Begriff eben mitgeteilt. Es ist besser, auf die Notwendigkeit der Nahrung und einer Selbstbehauptung und Selbstförderung in solchem Sinne einzugehen. Auf diese Weise werden wir den Totschlag seinem innersten und am meisten religiösen Wesen nach am besten erfassen.

Freilich aber dürfen wir uns mit diesem Begriff der Nahrung dann noch nicht zufrieden geben. Er ist immer nur erst noch ein grober, ein äußerlicher, ein Vordergrundsbegriff. Wir müssen erst seine Identität mit einem höheren erkannt haben. Welches aber ist dieser höhere Begriff?

Wir gedenken, um zu ihm zu gelangen, jenes seltsamen Triebes des Urmenschen, der die Gestalt des Wesens, das er erlegen und verzehren wollte, mit möglichst genauen Umrissen auf seine primitive Waffe kritzelte, in der festen Überzeugung, daß er sich nun vermöge dieses Abbildes und dieser durch dasselbe geweihten Waffe des »Dämons« jenes Wesens bemächtigt habe, oder daß er sich vermöge desselben dieses Dämons und Wesens bemächtigen werde. Er würde es jetzt erlegen und würde sich dessen Kräfte und Eigenschaften zu eigen machen; am innigsten und engsten, indem er dieses Wesen selbst verzehrte; sei es nun das Fleisch oder Knochenmark eines gewaltigen Bären, oder sonst eines starken, oder listigen, oder mit was für vorteilhaften Eigenschaften sonst ausgestatteten Tieres, oder sei es selbst auch das Fleisch irgend eines mit dergleichen von ihm geschätzten und begehrten Eigenschaften ausgestatteten menschlichen Gegners.

Wir sehen, daß es vor allem auf alle solche Eigenschaften ankommt; Eigenschaften, die also identisch sind mit dem »Dämon«, oder wie wir heute sagen würden, mit der Seele jener Wesen.

Wir erkennen, worauf es hinaus wollte: nämlich auf die Stärkung, Bereicherung, Förderung der Seele. Irgend etwas will Macht, Herrschaft, Freiheit, höchste und bewußteste, freiste Lebensentfaltung und -bewahrung; und dies »irgendetwas« gewinnt das alles, indem es die geeigneten »Dämonen« andrer Wesen möglichst innig in sich aufnimmt, als körperliche Nahrung vor allem und zunächst.

Und wir sind ferner, wenn wir sehen, daß Sein, Leben, Seele sich behaupten und einem höchsten, freisten, bewußtesten Zustand sich entgegen entwickeln will, wieder bei diesem Begriff und dieser letzten Tatsache der Entwicklung, zu der wir heute von allen Seiten her hingeleitet werden. Von ihr aus werden wir alle Heiligkeit und Notwendigkeit von Krieg und Totschlag erkennen.

Was wäre zur Erhaltung und Förderung unseres Lebens notwendiger als Nahrung? Und von was anderem sollten und könnten wir uns nähren, als von anderen Wesen, seien es solche mineralischer, vegetabilischer oder fleischlicher Art? So und einzig so fördert und entwickelt sich Leben und Seele. Die Entwicklung freilich zeigt uns, daß Eines sich aus Einem und sich selbst entwickelt, Leben und Seele schließlich aus Leben und Seele, und infolgedessen nähren wir uns im weitesten Umfang und Verstand, bei allem engsten und weitesten organischen Zusammenhang, von Wesen, die uns durchaus geschwisterlich sind, und im letzten Grunde von uns selbst. Unausweichlich ist diese Notwendigkeit; sie ist alle dira necessitas, und alle dira necessitas ist, daß wir uns beständig selbst verzehren müssen, um vermöge solcher Selbstverzehrung freilich zu einer höchsten Betätigung, Erfassung und Erkenntnis von Sein und Leben uns zu erheben; wir, in und mit und als alle Entwicklung von Sein und Leben.

Wir haben also eigentlich bereits alle Notwendigkeit und Heiligkeit von Totschlag und infolgedessen von Krieg erkannt; denn alle zahlreichen Formen von Totschlag und Krieg, die sich von der Urzeit her die Historie hindurch entwickelt haben, sind nichts als Ableitungen einer und derselben Urform; diese aber ist im weitesten Sinn die Ernährung, die innigste Aufnahme der lebensfördernden »Dämonen«, der Seele.

Das ist furchtbar, es gibt auf den ersten Blick keine entsetzlichere Erkenntnis. Aber abgesehen von der heiligen Notwendigkeit dieser Tatsache und dieses Geschehens: gäbe es denn keine Möglichkeit, sich in der Erkenntnis mit ihm zu versöhnen? Es scheint gerade in diesen neuesten Zeitläuften auf eine solche Versöhnung durchaus anzukommen. Vielleicht sogar so sehr, wie nie jemals zuvor; vielleicht sogar zum erstenmal, weil irgend ein höchster Zustand von Bewußtheit erreicht ist und damit ein grellster, klarster Blick, der solcher Versöhnung erst so recht bedarf.

In Vor- und Urzeiten, und selbst bis in die Zeit des ersten historischen Germanentums hinein, wurde das Bedürfnis einer solchen Versöhnung noch kaum empfunden. Diese rauhen Zeiten kannten – was heute und in jüngster Zeit weder historisch noch ethisch, noch psycho-physiologisch recht berücksichtigt wird – die hohen Kraftwonnen von Krieg, Kampf, Tod und Untergang. Das Leben wußte sich nur fühlend als Leben, und fühlte nichts als seinen großen, starken, heiligen Trieb und Trance. Das Leben war noch ganz und kannte noch keinen Knick.

Aber also: besteht nicht eine Möglichkeit, sich mit der Furchtbarkeit dieses Blickes und dieser Erkenntnis, wie sie sich heute schon durch den entsetzlichen Begriff des »struggle for life« kundgibt, zu versöhnen?

Diese Möglichkeit besteht allerdings und wir haben sogar bereits in den letzten Sätzen einiges von ihr angedeutet; wir haben sogar bereits die Hauptsache angedeutet. Es kommt bloß darauf an, daß wir noch etwas näher auf dieselbe eingehen.

*

Es muß uns eigentlich bei einem Denker wie Tolstoi sehr wundernehmen, daß er nicht selbst, und zwar aus Denkresultaten, wie er sie an anderen Stellen seines Werkes niedergelegt hat, über die Furchtbarkeit jenes Blickes hinwegkam. Wir wollen nicht sagen, daß er alsdann genötigt gewesen wäre, von seinem Standpunkt dem Krieg und Totschlag gegenüber gänzlich abzugehen – ich sage: er wäre es nicht gewesen, und im zweiten Teil dieser Ausführungen werden wir sehen, weshalb nicht – wohl aber wäre er genötigt gewesen, Totschlag und Krieg gerechter, und, wir müssen durchaus sagen, weniger blasphemisch zu beurteilen. Doch hier brachte sein völliger Mangel an historischem Sinn, ferner seine, wenn schon verständliche und in vieler Hinsicht sicher zu unterschreibende, aber sicher auch allzu schroffe und im wesentlichen sehr unverständige Abneigung gegen die modernen Wissenschaften wie zu gleicher Zeit gegen die dogmatischen Religionen einen Knick und Widerspruch in sein Denken, der, nochmals, eigentlich völlig verwunderlich ist und uns an einer wahrhaft konzentrischen Eigenschaft dieses Denkens zweifeln machen könnte.

In seinem Buch »Über das Leben« nämlich hat er sich in der bewundernswertesten Weise mit dem Begriff des Todes auseinandergesetzt. Hier finden sich von Kapitel 27 bis Kapitel 32 Gesichtspunkte wie diese:

»Die Furcht vor dem Tode ist nur das Bewußtsein des ungelösten Widerspruches des Lebens.« Ferner: »Der leibliche Tod vernichtet den räumlichen Leib und das zeitliche Bewußtsein, vermag aber nicht das zu vernichten, was die Grundlage des Lebens bildet: die besondere Beziehung eines jeden Wesens zur Welt.« – »Die Furcht vor dem Tode entsteht daher, daß die Menschen das für das Leben halten, was nur ein kleiner, eben durch ihre falsche Vorstellung abgezweigter Teil desselben ist.« – »Das Leben ist die Beziehung zu der Welt, die Bewegung des Lebens ist die Aufstellung einer neuen höheren Beziehung, und darum ist der Tod der Eintritt in eine höhere Beziehung.« – »Das Leben des gestorbenen Menschen hört nicht auf in dieser Welt.« – »Der Aberglaube des Todes entsteht daher, daß der Mensch seine verschiedenen Beziehungen zu der Welt verwechselt.«

Setzen wir hier einmal den Fall, daß der Erde wirklich ein großes Millennium allgemeinen Friedens bevorstände – es soll uns erst später näher interessieren, wie viel davon keine Utopie sein wird – so würde uns sogleich nichts so sehr beunruhigen, als die Vorstellung, daß durch zahllose Jahrtausende bisher Mord und Totschlag beständig und oft in den ungeheuerlichsten Formen und Umfängen gewütet haben, während nun mit einem Male solcher Mord und Totschlag ganz und völlig zu Ende wäre. Das würde uns vielleicht die intrikateste seelische Pein verursachen, die jemals irgend ein Wesen zu bestehen hatte. – Ich sage: diese Pein grassiert bereits in unseren Zeitläuften; und, hier nebenbei: ich halte sie für ein sehr bedeutsames Kennzeichen. Wohl mehr als einer hat es heute bereits ausgesprochen, daß wir mit ihr Schwereres zu dulden haben, als jemals die Menschen vor uns, selbst in furchtbaren Kriegszeiten, zu erdulden hatten. Und ich sage: sie bedeutet geradezu den Knick unserer modernen Zeiten, und alles kommt darauf an, ihre Beseitigung zu bewirken, damit wir nicht ganz und gar schlechter gestellt sind, als jene früheren Zeitalter. Aber ich frage: hat sie Tolstoi mit seinen oben zitierten Sätzen nicht bereits durchaus aufgehoben? Wenn er sie aber aufgehoben hat, was dann also, fragen wir ferner, haben jene Zeitalter denn so Schlimmes und Entsetzliches geduldet oder getan? Sie haben nichts geduldet und gewirkt als Übergangsformen und Metastasen des Lebens, denen sie nicht bloß gewachsen, sondern – alles, worauf es ankommt und was es besagt! – mit denen sie, alles gehörig in Betracht gezogen, in letzter Hinsicht durchaus identisch waren. – Treten wir aber wirklich in neue und wesentlich anders geartete Lebensformen ein, so werden wir ihnen sicher gleichfalls gewachsen sein, denn wir werden, auch unsrerseits, wiederum im letzten Grunde völlig mit ihnen identisch sein; sie sind nicht ohne uns und wir nicht ohne sie, und wir sind mit ihnen und als sie nichts anderes als Leben und Bewegung von Sein und Dasein. Und wir sind ferner, da ja das höhere Leben, indem es sich nährt, alles niedere oder andere Leben in sich aufnimmt, nichts anderes als zugleich der Inbegriff und das Kollektivum all dieses von uns aufgezehrten Lebens: das mit uns und durch uns und als wir zu seinen höchsten und jüngsten Vollendungen und Daseinserfassungen gelangt ist.

Wenn Tolstoi dies in jenen oben zitierten Sätzen im wesentlichen zu erkennen vermochte, wie war er dann imstande, auch nur einen Augenblick den Krieg so einseitig und blasphemisch unter den Begriff des Mordes zu rücken und ihn als solchen durchaus zu verurteilen und abzuweisen? War er nicht vielmehr ganz von sich selbst und eigenster Erkenntnis aus genötigt, seine Heiligkeit anzuerkennen und ihr gerecht zu werden? Mußte er ihn nicht sofort in die höhere und heilige Einheit der Entwicklung von Ursein gerückt sehen? Und wie Tolstoi, so die neuere »Non-resistance«-Bewegung in Amerika und unser internationaler Sozialismus.

Der Begriff und die Tatsache der Entwicklung des Lebens darf uns durchaus nicht einseitig veranlassen, gewisse Formen der Entwicklung mit einem Odium zu belasten und in Grund und Boden zu verurteilen, weil etwaige neue und wesentlich anders geartete Formen jene andern abzulösen im Begriff sein möchten; die höchste Erfassung des Lebens wird vielmehr die sein, welche auch jenen früheren Formen ihrem Wesen nach gerecht wird und die Einheit allen Lebens so mit allem Fühlen wie mit allem Erkennen erfaßt. – Es ist eine sonderbare Sache, wenn Tolstoi oder der Sozialismus oder jene amerikanische Bewegung sich auf den Christus und das reine christliche Prinzip beruft. Sie sollten dann doch zunächst erkennen, daß der Christus zwar die Formen eines neuen Lebens vorausverkündet, formuliert und zugleich in das lebendige praktische Leben der Historie und aller höheren organischen Weiterentwicklung hineingetrieben hat, damit sie sich sicherlich – hier geben wir Tolstoi und dem Sozialismus recht – gerade durch eine »Non-resistance«, eine Nichtwiderstrebung gegen das Übel zu einem letzten klaren Sieg hindurchrängen; aber er hat von ihnen aus nicht einen Augenblick das alte Jus talionis der Antike und Vorzeit mit einem Odium belegt, was ja durchaus gegen sein Prinzip gewesen sein würde, sondern hat es in seiner berechtigten ehemaligen Notwendigkeit und Heiligkeit gelten lassen. Und wenn er keine neue Form eines Jus talionis gegen die alte setzte, sondern vielmehr seine neue der Duldung des Übels, und wenn diese bis in unsre Zeit hinein mit jener alten Form zu ringen hatte, so hat er bereits eigentlich damit gerade die natürliche Ratio jener alten Form gelten lassen und anerkannt, und durch den passiven Widerstand seiner neuen Form und Ethik jene Ratio lediglich auf die gerechteste und freilich beharrlichste Probe ihrer ferneren Lebensfähigkeit und Berechtigung gestellt. – Nun, noch je scheiterte an dem Fels solcher fruchtbaren und zeugerischen Passivität aller wilde und blutige Aufruhr der dunklen, roheren und niedreren Lebensgewalten, und immer mehr ist jenes Jus talionis der Ur- und Vorzeit an dem Fels des neuen, aus aller Entwicklung heraus notwendig gewordenen christlichen Prinzipes erlahmt, sicher, um schließlich gänzlich an ihm zu zerschellen, oder, damit wir das Gleichnis verlassen, in eine neue und höhere Form und Einheit über- und einzugehen; aber gerecht, notwendig und heilig sind alle Gebote und Gesetze Gottes; und sie alle werden sich noch in einer letzten und höchsten Einheit versöhnen und rechtfertigen ...

Dies alles ist eine hohe Einsicht, die, selbst wenn etwa all die Vorhersagungen einer großen allgemeinen Friedensära, welche der Menschheit bevorstehen soll, sich wirklich und ganz als Utopie erweisen sollten, uns dennoch mit einem neuen starken Gefühl und Trance von Leben über unseren modernen Knick hinausbringen und uns instandsetzen würden, irgend welche neuen blutigen Wirren der Zukünfte zu ertragen, mit denen wir uns ja, gerade wieder im Lichte einer jüngsten monistischen Erkenntnis des Lebens und des Kosmos, von neuem ebenso identisch zu wissen beginnen wie mit allem anderen, was das Leben uns auf der anderen Seite an Wonnen und tiefsten Freuden und Beseligungen, welcher Art auch immer, bietet.

Aber wir versuchen uns noch weiter mit dem Krieg zu versöhnen, und das blasphemische, ja schreckliche Odium, das ihm neuerdings angehängt wurde, zu beseitigen.

Krieg will Frieden, und des Krieges Preis ist Frieden. Alle Güter und Beseligungen des Lebens wollen mit Mühe errungen sein; aber das Ziel durchwirkt ja Müh und Werk bereits mit tausend Freuden und hohen Seligkeiten, die höher, reiner und intensiver sind, als alle Freuden und Üppigkeiten eines faulen Friedens. Wer weiß aber, ob nicht alle Kriege auf irgend einen höchsten, letzten und reinsten Menschheitsfrieden hinaus sind, in dem alles bisherige Leben seine höchste Erfüllung und Selbsterfassung lebt? Vielleicht ist dies eine hohe Ahnung, die uns heute überall heimlich oder laut die Herzen schwellt.

Wir gingen oben von dem Begriff der Nahrung und Ernährung – Seele, die Seele in sich aufnimmt und sich durch Seele fördert und steigert – aus. Wir erkennen, daß alle Entwicklung sich durch Ernährung und Nahrung – diese Begriffe, obgleich im rohsten und primitivsten, so doch zugleich auch in jenem umfassendst höheren Sinn gefaßt, den wir eben in Parenthese andeuteten – vollzieht, und daß ohne Ernährung und Nahrung sie sich nicht einen Augenblick weiter vollziehen könnte. – Wir müssen sagen, daß wir diesen fundamentalen Ausgangsbegriff auch für alle und jedwede Form eines notwendigen und geheiligten Totschlages beibehalten und aufrechterhalten müssen.

In dem rhythmischen Prozeß der Aktio und Reaktio von Urchemie und als solcher Prozeß vollzieht sich die Einverleibung von Nahrung schmerzlos, traumhaft und unbewußt. Und so verhält es sich auch noch auf den ersten Stufen der organischen Entwicklung. Erst später wird solche Aufnahme von Nahrung durch das zur Ausbildung gelangte Bewußtsein von Sensationen und Affekten, teils solchen des Schmerzes, teils solchen der Wonne begleitet und findet durch das Bewußtsein eine solche Enthüllung und Offenbarung ihrer vormaligen und jederzeitigen unbewußten Prozesse. – Welche von diesen beiden Sensationen wird nun aber wohl die stärkste, dauerndste und beständigste sein? Offenbar die der Wonne; die ja übrigens, wie wir wissen, selbst aus Schmerz und Pein gezogen werden kann; und sie wird von dem aufrichtig erwägenden Bewußtsein und Erkennen als die Hauptsensation und der Hauptzustand allen kosmischen Werdeprozesses gewertet werden müssen; und wir dürfen sagen: alle durch Aufnahme von Nahrung (ist nicht auch bereits der notwendige Begriff des sich von sich selbst Nährens, in den jeder andere von Ernährung notwendigerweise münden muß, ein erlösender?) sich vollziehende Entwicklung strebt, die die bewußten weitaus überwiegenden unbewußten Prozesse ihrer Bewegung als Wonne zu empfinden und zu werten; und als letzte tragende Grundstimmung des Seins Wonne zu erkennen und Lust. Man darf sagen, daß dem konsequentesten Erkenntnistrieb schließlich alle Lebensbetätigung sich auflösen oder einen und enthüllen muß als die Lust ein und derselben in Ewigkeit nie sich an sich selbst übersättigenden rhythmischen Bewegung. Denn der Erkenntnistrieb muß ja notwendigerweise wahrnehmen, daß Bewußtsein und die es begleitenden Sensationen und Affekte nichts sind als eine vorübergehende Form des Unbewußten, und daß Bewußtsein in letzter Hinsicht mit Unbewußt und all seinen Zuständen und Vorgängen völlig identisch ist. – Also wäre eigentlich jedes Leid und jeder Schmerz schließlich ein Unding und Trug; und das war er denn auch noch je jedem starken (heldischen) Lebenstrieb, der noch je und je und immer wieder einen sich allzu laut machenden Pessimismus und solche peinvolle Lebensohnmacht auf die Probe seiner Wahrhaftigkeit stellte und ihm Erlösung brachte, entweder, indem er ihn mit geschwächten und lebensunfähig gewordenen Rassen und Arten vernichtete und ausrottete, oder ihn, soweit er doch noch lebensfähig war, ordnete und kräftigte. Immer wieder gewahren wir diesen Vorgang bei aller organischen und historischen Entwicklung als die ultima ratio und das Ceterum censeo des Lebens sich selbst gegenüber, und als eine ultima ratio, die freudige und heldische Bejahung des Lebens seinem fundamentalsten Trieb und seiner letzten Grundstimmung gegenüber ist; und diese ist Kraft und das Wonnegefühl von Kraft, die auch dem Lebensunfähigen noch die Wonne des Vergehens oder der sich fügenden Ohnmacht bringt.

Was nun ist dies alles? Offenbar dies: das Leben lebt und es lebt sich aus und ein in einer Stufenfolge von Formen, dergestalt, daß eine ermüdende und sich zu Ende lebende Form eine neue, andere, frische aus sich herausscheidet, von der es mit irgend einer neuen wesentlichen Eigenschaft mit all seinen bisherigen Eigenschaften absorbiert und assimiliert wird, ein Prozeß, der sich im wesentlichen und umfänglichsten Sinn des Begriffes als Nahrungsaufnahme vollzieht. Was alles nur vorhanden ist, wird von einer höchsten Form und einem höchsten Trieb von Leben als Nahrung absorbiert, bis sicherlich im Laufe aller organischen Entwicklung ein Punkt und Lebenszustand erreicht werden muß, der alles Bestehende sich, in jedwedem Sinne, als Nahrung assimiliert haben wird, und damit irgend einen äußersten, höchsten und umfassendsten Zustand von Leben erreicht haben und bedeuten wird.

Dies alles aber ist und bedeutet in letzter Hinsicht notwendige und heilige Entwicklung.

Wir sehen also, was es mit Lust und Schmerz, was es mit Entwicklung, und was es mit Ernährung, und also auch mit Totschlag und Krieg auf sich hat. – Denn meinen wir doch ja nicht etwa, daß wir um irgend einen Überbegriff von Ernährung, Totschlag und Krieg jemals irgendwie herumkommen könnten! Kommen wir aber um ihn nicht herum, so auch nie um diese Unterbegriffe: wir werden es höchstens mit anderen Formen derselben zu tun bekommen, die sich in Zukunft oder Zukünften aller Wahrscheinlichkeit nach noch entwickeln werden und sicher bereits heute sich zu entwickeln begonnen haben, um immer konsequenter nun ihrerseits mit ihrer besonderen Wesenheit zu dominieren.

Was nun den Krieg in seinem engeren, im Lauf der menschlichen Historie bis heute gewordenen Begriff anbelangt, so werden wir ihn also sicherlich aus jenen Grundbegriffen der Ernährung und der vorwärtsstrebenden organischen Entwicklung ableiten müssen. Er ist nichts als eine komplizierte und differenzierte Form derselben; und aus ihrer heiligen und unverbrüchlichen Notwendigkeit her leitet sich auch die seinige.

Sicher nun aber gibt es sehr viele und unterschiedliche Arten von Krieg, die sich im Laufe der menschlichen Historie ausgebildet und gegeneinander differenziert haben.

Wir haben indessen gar nicht vonnöten, sie alle aufzuzählen und in Betracht zu ziehen. Zwanglos können wir sie von vornherein in zwei Gruppen sondern: in heilige und in unheilige Kriege; denn sicherlich gibt es, wie die Historie uns lehrt, auch unheilige Kriege. Diese beiden Eigenschaften bestimmen sich durchaus aus dem mehr oder weniger starken Grad der Notwendigkeit eines Krieges.

Wenn wir aber hierbei verharren würden, würden wir uns noch immer in einem unheimlichen Chaos befinden, und die Historie würde uns als nichts erscheinen, denn ein sinnloser Wechsel von Kriegen, resp. unter, aber sicherlich sehr seltenen, Umständen, als ein eigentlichster Ausgleich dieser beiden Arten von Kriegen. – Ich spreche von sehr seltenen Umständen: denn im übrigen werden, was sehr zu beachten ist, sehr viele Kriege, die im Laufe der Geschichte sich ereigneten, obgleich sie »ungerecht« und »unheilig« erscheinen, ihre Notwendigkeit von der andern Seite her gehabt haben. Große, im letzten Sinne heilige, weil zentrale Kulturrassen, bedürfen oft und immer wieder einer Provokation und einer Probe solcher ihrer Eigenschaften, mag diese Provokation auch meist in solchen Fällen »frech« und »unheilig« erscheinen; ganz abgesehen davon, daß junge kräftige Rassen organisch durch ihre Überkraft zu willkürlichen Angriffskriegen gedrängt werden können.

Läßt sich nun aber in das Chaos der in der Historie sich ablösenden Kriege nicht ein bestimmter, organisch von einem Anfang bis zu einem Ende sich entwickelnder Sinn und Zusammenhang bringen?

Ohne Zweifel. – Hier können wir nun alle Kriege ungezwungen in irgend welcher Weise auf den Begriff des Rassekrieges zurückführen, oder mit ihm in Zusammenhang bringen, und dieser Begriff wieder, mit der heiligen Notwendigkeit der organischen Entwicklung in engsten Zusammenhang, bestimmt sogleich den Grad der Heiligkeit und Notwendigkeit eines Krieges; im Sinne des Angriffs wie der Gegenwehr. Und zwar wird es sich nun aber so verhalten, daß schließlich eine einzige und ganz bestimmte Rasse, und zwar sicherlich im letzten Grund eine solche, die in ihrem innersten Wesen den Keim zu einer höheren und höchsten organischen Art trägt, resp. fähig ist, durch Nahrung diesen Keim, durch welche jahrhunderte- oder jahrtausendelangen komplizierten Kulturentwicklungen auch immer hindurch, von allen möglichen Seiten her in sich aufzunehmen, ihn zu bewahren und festzuhalten und irgend einer freieren Entwicklung entgegenzutragen, die maßgebenste sein wird. Sie auch wird sicherlich die Rasse sein, die auch das bisherige Problem des Krieges selbst lösen wird, indem sie dem Kriege entweder eine neue Form geben, oder ihn in seinem engeren, bisherigen historischen Begriff völlig aufheben und beseitigen wird. Es liegt wohl in der Logik aller Entwicklung, daß in irgend einer und vielleicht nicht allzufernen Zukunft sich diese Beseitigung des Krieges ereignen wird.

Wir möchten wissen, welches diese Rasse sein könnte? Nun, sie ist vorhanden und auch nicht. Sie lebt vermöge eines schwächeren oder stärkeren Glaubens. Es gibt neuerdings Rassetheoretiker, welche die germanischen Völker der grauen Urzeit und die Germanen der historischen als diese Rasse ansprechen. Männer wie Gobineau und Chamberlain gehören zu ihnen. Wir für unser Teil sehen uns aus guten und stichhaltigen Gründen genötigt, uns ihrer Meinung anzuschließen, wennschon nicht unbedingt, sondern mit Vorbehalt und dieser und jener Einschränkung. Wie dem aber auch sei, so ist es doch vor allem der Siegeslauf des großen und tiefwundersamen urchristlichen Prinzips, das uns erst die letzte und bedeutungsvollste, die frohste Botschaft und den sichersten Hinweis auf irgend eine solche erlösende und allen Krieg in eine höhere seelische Einheit auflösende Art verkündet.

Ich glaube, ich kann an diesem Punkte den ersten Teil meiner Ausführungen abschließen. Denn es ist hier und nach solcher Entwicklung der wesentlichsten und fruchtbarsten hier in Betracht kommenden Gesichtspunkte wohl kaum nötig, daß wir uns im einzelnen historischen, kulturellen oder etwa gar technischen Betracht auf den Krieg einlassen; abgesehen, daß uns der Raum dazu fehlt. Es kann und muß uns genügen, Anregung gewonnen zu haben, solche Gesichtspunkte an die einzelnen kriegerischen Ereignisse der Historie und an alle politischen, technischen und sonstigen Fragen und Probleme anzulegen und an ihnen zu prüfen.

Im übrigen können wir, nachdem wir Tolstoi und dem Sozialismus und ihrem beschränkten und unhistorischen, und mit seiner blasphemischen Formulierung wohl gar bedenklichen Hauptgesichtspunkt gegenüber die durch alle Entwicklung bedingte Heiligkeit des Krieges betont und dargelegt haben, uns jetzt getrost dem zweiten Teil unseres Themas zuwenden.


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