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V.

Noch an diesem Abend machten sie ihren ersten Spaziergang. Als sie sich nach dem Essen in der Halle trafen, fragte er: »Sind Sie müde?« Sie verneinte lebhaft. »Dann lassen Sie sich etwas Warmes bringen, zum Umhängen, und wir gehen noch ein bißchen in den Abend hinein. Auf den Kai, wenn Sie wollen, und lauschen dem Gurgeln der Wellen und blicken hinauf zum Hof des Mondes. Das ist ganz romantisch. Oder wir steigen hinan zur Stadt Montreux. Das ist etwas beschwerlicher, aber dafür auch romantischer.«

»Dann bin ich für das Romantischere,« lachte sie und bat die erstaunte Wärterin, ihr das Kimono-Cape zu holen.

Und dann stiegen sie zur Stadt empor.

Am Ufer des kleinen Wildbaches, der sich sprudelnd in den See ergießt, wanderten sie mählich steigend hinauf, durch die engen Gassen mit den hohen, kleinen Häuschen. Der Tag atmete seine letzten müden Züge. In den Läden des Bergnestes tilgten die Besitzer die Wirrnis des Geschäfts: schoben Kisten, rollten Kasten, schüttelten den Inhalt halbleerer Säcke oder saßen mit wichtigen Brauen an der Kasse und zählten den Verdienst des Tages. Vor den Türen standen Gruppen junger Mädchen, lachten und schwatzten und erörterten mit lebhaften Handbewegungen die Chronik des Ortes. Hier und da zirpte blechern in einem dieser unscheinbaren Kaffees ein verstimmtes Klavier, und aus der Dachkammer eines Hauses klagte die einsame Geige eines melancholischen Einsiedlers. Die Fenster waren überall weit geöffnet und sogen die würzige Ruhe der Nacht tiefatmend ein in ihre sanft erleuchtete Höhlung. Ab und zu huschte ein hastender Schatten flüchtig über die hellen Flächen der Stubendecken. Aus einem Zimmer im Erdgeschoß ertönte gedämpfter Gesang. Wilm und Irene Hey blieben stehen und blickten neugierig hinein. Es war eine Putzmacherinnenstube mit ihrer späten Feierabendstunde. Aus den jungen Arbeiterinnen summte die Sehnsucht hinaus in das Flüstern der Nacht.

Still schritten sie weiter bergan. Da sagte Irene Hey: »Welch traulich süße Stimmung über diesem abendlichen Städtchen liegt. Wie aus einem Buch mutet es an.«

Er lächelte. »Weshalb nicht wie aus dem Leben? Fast über jeder Kleinstadt liegt solcher Abendfriede. In der ganzen Welt habe ich es immer wieder gefunden, überall, in Europa wie in Afrika und Amerika.«

Sie nickte wortlos. »Sie haben es gesehen, im Leben.« sagte sie dann, »ich kenne solche Stimmung nur aus Büchern.«

»Aber Sie reisen doch so viel!«

Jetzt blieb sie stehen, zog ihre Hand von seinem Arm und rief: »Ich sagte Ihnen doch schon, wie ich reise. In den Hotels sitze ich herum und starre die Leute an. Bücher waren mein Leben. Nichts als fremdes Erleben. Gesehen, mit meinen Augen gesehen, habe ich nichts als gleichgültige, kalte, glatte Gesichter.«

Sie hatte es sehr erregt hervorgestoßen. Still schob sie den Arm unter seinen Arm und ging weiter. »Mit meiner Wärterin gehe ich nie. Ich weiß, sie tut es nicht gern. Und dann kann ich's nicht. Im übrigen ist sie ja sehr gut und besorgt um mich.« Und nach einer Pause kam es sehr leise und dankbar: »Und sonst hat mir noch nie jemand den Arm geboten.«

Er wandte ihr das Gesicht zu. Sie schritt dahin, den Blick geradeaus gerichtet. In dem Auge, das er sehen konnte, glitzerte es feucht. Wilm antwortete nichts. Doch den Arm, der an seiner Seite zitterte, preßte er unmerklich gegen seine Brust. Und plötzlich fiel es ihm auf, daß er sie kaum führe, so leicht ging sie neben ihm. »Aber Kind,« sagte er. »mir scheint, Sie strengen sich an, mir keine Bürde zu sein. Nein, hören Sie, Fräulein Hey, das geht nicht. Dann werden unsere Spaziergänge eine Qual für Sie sein. Lassen Sie sich ruhig gehen. Nehmen Sie sich nicht zusammen.« Und da sie heftig zu zittern begann, faßte er ihren Arm fester und begütigte mit sanfter Stimme: »So – so – nur keinen Zwang antun – Sie sind wirklich nicht schwer. – Mein Gott, müssen Sie sich beherrscht haben –« Es schüttelte sie immer heftiger. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte er besorgt.

»Nein – nein.« stotterte sie, »es ist nur die Reaktion. Kommen Sie – es ist schon gut.«

Und schlotternd ging sie an seinem Arme weiter. Er wollte plaudern, fand aber nicht den Ton. So sagte er nur immer wieder: »Sehen Sie, es geht sehr gut so. Ganz leicht sind Sie, ich fühle Sie kaum. Gehen Sie nur immer ruhig voran – so – sehen Sie, wie schön wir vorwärts kommen.« Sie blickte mit angstvollen Augen zur Seite. »Es ist mir so peinlich,« klagte sie, »so sehr peinlich.«

Nur mit Mühe gelang es ihm, sie zu beruhigen. Als sie dann aber eine Schar junger Mädchen durchschreiten mußten und das lustige Geplauder der hübschen braunen Dirnen jäh verstummte und erschreckt aufgerissene Augen sie anstarrten und ein erregtes Flüstern hinter ihnen herschwirrte, sagte sie: »Ich freue mich, daß wir diesen Gang im Dunkel der Nacht tun. Jetzt werden Sie eingesehen haben, daß Sie nicht mit mir gehen können.«

»Fräulein Hey,« er zog die Augenbrauen unwillig hoch, »sind Sie kleinlich?«

»Ich hoffe nicht.«

»Nun, dann sagen Sie so etwas nicht wieder. Und glauben Sie mir, ich bin oft mit Frauen durch die Nacht gegangen. Aber niemals, das können Sie fest glauben, mit solcher inneren Freude, wie heute abend mit Ihnen. Ich betone nochmals: Mitleid ist es nicht. Nein, Freude ist es an dem Menschen in Ihnen, den ich kenne, trotz der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft.«

Da leuchtete ihr Gesicht auf, er sah es deutlich beim unsicheren Schein der kleinen Glühbirne am hohen Maste. »Ich kenne Sie auch,« sagte sie und schritt weiter.

Plötzlich blieb sie stehen und atmete die Luft mit bebenden Nasenflügeln ein.

»Was haben Sie?« fragte er.

Sie lächelte und schloß in Erinnerungsschwelgen die Augen. »Gleich – gleich,« wehrte sie.

Es war, als wäre sie viele Meilen von ihm fort. Er blickte auf den Laden, vor dem sie standen. Es war eine Plättstube. Drei junge Weiber bügelten dort, drinnen in dem gelbleuchtenden Raum, bei jedem Stoß der muskulösen Arme preßten sich die schweißgeröteten festen Brüste durch den Spalt der offenen Blusen hervor. Ab und zu warfen sie mit einer hastigen, ungeduldigen Bewegung der freien, linken Hand die feuchten Haarsträhne aus der Stirn.

Wilms Blicke wandten sich seiner Begleiterin zu. Jetzt raffte sie sich zusammen und sagte: »Wie seltsam, daß mir das gerade heute abend begegnen muß.«

Er zeigte fragend auf den Laden. Sie nickte und zog ihn weiter. »Kennen Sie die erinnernde Kraft, die Gerüche haben?«

»Ja.«

»Der Geruch einer Waschküche ist für mich der Inbegriff aller irdischen Glückseligkeit,« erklärte sie.

»Nanu?«

»Es ist meine beste – nein, die einzige lichte Erinnerung, die ich habe. Ich war schon als Kind gebrechlich. Nicht krank, wie jetzt, das kam erst, als ich fünfzehn wurde. Aber schwächlich war ich, was ich jetzt ja eigentlich nicht mehr bin. Bis zu meinem fünften Jahre wurde ich im Kinderwagen gefahren. Und wenn wir zuhause Wäsche hatten, fuhr meine Kinderfrau mich in die Waschküche, stellte den Wagen in eine Ecke und half bei der Arbeit. Und da lag ich in all dem warmen guten Qualm, kuschelte mich in meine Betten und fühlte mich in diesem feuchten, lauen Dunst mollig und geborgen. Das war immer ein großes Fest und eine Sehnsucht nach dem Waschtag.«

Er lächelte tiefgerührt.

»Und seitdem – rieche ich immer diesen Hauch der Waschküche – wenn ich ganz große Sehnsucht habe.«

Da preßte er ihren Arm fest an seine Seite. »Sie Arme,« flüsterte er, »so leer war Ihr Leben!«

»Reich ist es nicht gewesen,« lächelte sie und blickte in beglückter Dankbarkeit zu ihm empor.

Jetzt kamen sie an einer Mauer vorbei, hinter der sich steil ein Garten senkte. »Ah,« rief sie.

»Was haben Sie jetzt wieder Gutes?« rief er munter.

»Jasmin,« stieß sie hervor.

Er schnupperte in der Luft. »Tabak,« lachte er. Drei Männer waren vorbeigegangen, den Qualm ihrer Tonpfeifen hinter sich her dünstend.

»Warten Sie nur,« beharrte sie und lehnte sich gegen die hohe Steinmauer. »Oh – sehen Sie!«

Er blickte stumm über die Mauer hinab ins Tal. Sie sahen tief unter sich hundert Lichter durch das blaue Dunkel blinken. Weit, weit drüben am anderen Ufer ganz winzig die Leuchten von St. Gingolph und Vouveret. Fern und im Strahlen entschwindend wie Sterne. Und unter ihnen die weißen Leuchten der Terrasse von Territet. Weiter rechts wieder wie breite Lichtbahnen die hellen Fenster der Hotels in Montreux. Und fern, hoch an den dunklen Bergwänden aufklimmend, einzelne sprühende Punkte wie Glühwürmer. Und über ihren Häuptern die Perlenkette der Rampenlichter von Caux.

Und jetzt schlug ihnen auch ein starker, süßer Duft von Jasmin aus dem verschwiegenen Garten jenseits der Mauer entgegen.

Wilm nickte ihr verständnisinnig zu, dann blickten beide stumm und ergriffen in die belebte Nacht. Geweihte Stille war ringsum. Nur der dunkle Garten vor ihnen, mit seinen mystisch raunenden Baumwipfeln, atmete leise.

Lange sprachen sie kein Wort. Endlich brach sie das Schweigen. »Wie ist das weit und schön,« flüsterte sie. »O, mein Gott, wie ist das schön.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Er glaubte, sie weine und sah zartfühlend vor sich nieder. Da hob sie ihre Hände empor und schlug weit die Augen auf. Er sah die seltsame Helle der Nacht weiß in ihnen leuchten. Und mit packender Leidenschaft stieß sie hervor: »Das zu erleben. Das zu erleben! Und es hinausrufen zu können. Oh, ist das schön! Die Nacht – die Welt. Begreifen Sie, wie schön das ist? Sehen Sie das?«

»Ich sehe es!« sagte er leise.

»Ach,« rief sie, »Sie haben es immer gesehen und waren nie allein. Aber ich. Nie habe ich zu jemanden sprechen können, wenn mir die Brust fast zersprang. Nie war jemand da. Alle Schmerzen habe ich allein austragen müssen, nie konnte ich sie hinausschreien. Und wenn ich unten am See die Sonne untergehen sah – – ach – wenn ich nur einmal hätte hinausjauchzen dürfen – wenn nur einmal einer bei mir gestanden hätte, in dessen Augen sich ihr Sterben spiegelte! Und heute – heute! Begreifen Sie jetzt, daß ich so schnell mein Innerstes vor Ihnen geöffnet habe!«

Sie ließ die Hände erschöpft herabsinken; um ihren Mund bebte ein verklärtes, schmerzliches Lächeln.

Da nahm er ihre arme rechte Hand und streichelte sie wortlos warm und scheu.


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