Schiller
Der Geisterseher
Schiller

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Zweites Buch

Nicht lange nach diesen letztern Begebenheiten – fährt der Graf von O** zu erzählen fort – fing ich an, in dem Gemüt des Prinzen eine wichtige Veränderung zu bemerken. Bis jetzt nämlich hatte der Prinz jede strengere Prüfung seines Glaubens vermieden und sich damit begnügt, die rohen und sinnlichen Religionsbegriffe, in denen er auferzogen worden, durch die bessern Ideen, die sich ihm nachher aufdrangen, zu reinigen, ohne die Fundamente seines Glaubens zu untersuchen. Religionsgegenstände überhaupt, gestand er mir mehrmals, seien ihm jederzeit wie ein bezaubertes Schloß vorgekommen, in das man nicht ohne Grauen seinen Fuß setze, und man tue weit besser, man gehe mit ehrerbietiger Resignation daran vorüber, ohne sich der Gefahr auszusetzen, sich in seinen Labyrinthen zu verirren. Dennoch zog ihn ein entgegengesetzter Hang unwiderstehlich zu Untersuchungen hin, die damit in Verbindung standen.

Eine bigotte, knechtische Erziehung war die Quelle dieser Furcht; diese hatte seinem zarten Gehirne Schreckbilder eingedrückt, von denen er sich während seines ganzen Lebens nie ganz losmachen konnte. Religiöse Melancholie war eine Erbkrankheit in seiner Familie; die Erziehung, welche man ihm und seinen Brüdern geben ließ, war dieser Disposition angemessen, die Menschen, denen man ihn anvertraute, aus diesem Gesichtspunkte gewählt, also entweder Schwärmer oder Heuchler. Alle Lebhaftigkeit des Knaben in einem dumpfen Geisteszwange zu ersticken, war das zuverlässigste Mittel, sich der höchsten Zufriedenheit der fürstlichen Eltern zu versichern.

Diese schwarze nächtliche Gestalt hatte die ganze Jugendzeit unsers Prinzen; selbst aus seinen Spielen war die Freude verbannt. Alle seine Vorstellungen von Religion hatten etwas Fürchterliches an sich, und eben das Grauenvolle und Derbe war es, was sich seiner lebhaften Einbildungskraft zuerst bemächtigte und sich auch am längsten darin erhielt. Sein Gott war ein Schreckbild, ein strafendes Wesen; seine Gottesverehrung knechtisches Zittern oder blinde, alle Kraft und Kühnheit erstickende Ergebung. Allen seinen kindischen und jugendlichen Neigungen, denen ein derber Körper und eine blühende Gesundheit um so kraftvollere Explosionen gab, stand die Religion im Wege; mit allem, woran sein jugendliches Herz sich hängte, lag sie im Streite; er lernte sie nie als eine Wohltat, nur als eine Geißel seiner Leidenschaften kennen. So entbrannte allmählich ein stiller Groll gegen sie in seinem Herzen, welcher mit einem respektvollen Glauben und blinder Furcht in seinem Kopf und Herzen die bizarreste Mischung machte – einen Widerwillen gegen einen Herrn, vor dem er in gleichem Grade Abscheu und Ehrfurcht fühlte.

Kein Wunder, daß er die erste Gelegenheit ergriff, einem so strengen Joche zu entfliehen – aber er entlief ihm wie ein leibeigner Sklave seinem harten Herrn, der auch mitten in der Freiheit das Gefühl seiner Knechtschaft herumträgt. Eben darum, weil er dem Glauben seiner Jugend nicht mit ruhiger Wahl entsagt; weil er nicht gewartet hatte, bis seine reifere Vernunft sich gemächlich davon abgelöst hatte; weil er ihm als ein Flüchtling entsprungen war, auf den die Eigentumsrechte seines Herrn immer noch fortdauern – so mußte er auch nach noch so großen Distraktionen immer wieder zu ihm zurückkehren. Er war mit der Kette entsprungen, und eben darum mußte er der Raub eines jeden Betrügers werden, der sie entdeckte und zu gebrauchen verstand. Daß sich ein solcher fand, wird, wenn man es noch nicht erraten hat, der Verfolg dieser Geschichte ausweisen.

Die Geständnisse des Sizilianers ließen in seinem Gemüt wichtigere Folgen zurück, als dieser ganze Gegenstand wert war, und der kleine Sieg, den seine Vernunft über diese schwache Täuschung davon getragen, hatte die Zuversicht zu seiner Vernunft überhaupt merklich erhöht. Die Leichtigkeit, mit der es ihm gelungen war, diesen Betrug aufzulösen, schien ihn selbst überrascht haben. In seinem Kopfe hatten sich Wahrheit und Irrtum noch nicht so genau voneinander gesondert, daß es ihm nicht oft begegnet wäre, die Stützen der einen mit den Stützen des andern zu verwechseln; daher kam es, daß der Schlag, der seinen Glauben an Wunder stürzte, das ganze Gebäude seines religiösen Glaubens zugleich zum Wanken brachte. Es erging ihm hier wie einem unerfahrnen Menschen, der in der Freundschaft oder Liebe hintergangen worden, weil er schlecht gewählt hatte, und der nun seinen Glauben an diese Empfindungen überhaupt sinken läßt, weil er bloße Zufälligkeiten für wesentliche Eigenschaften und Kennzeichen derselben aufnimmt. Ein entlarvter Betrug machte ihm auch die Wahrheit verdächtig, weil er sich die Wahrheit unglücklicherweise durch gleich schlechte Gründe bewiesen hatte.

Dieser vermeintliche Triumph gefiel ihm um so mehr, je schwerer der Druck gewesen, wovon er ihn zu befreien schien. Von diesem Zeitpunkt an regte sich eine Zweifelsucht in ihm, die auch das Ehrwürdigste nicht verschonte.

Es halfen mehrere Dinge zusammen, ihn in dieser Gemütslage zu erhalten und noch mehr darin zu befestigen. Die Einsamkeit, in der er bisher gelebt hatte, hörte jetzt auf und mußte einer zerstreuungsvollen Lebensart Platz machen. Sein Stand war entdeckt. Aufmerksamkeiten, die er erwidern mußte, Etikette, die er seinem Range schuldig war, rissen ihn unvermerkt in den Wirbel der großen Welt. Sein Stand sowohl als seine persönlichen Eigenschaften öffneten ihm die geistvollesten Zirkel in Venedig; bald sah er sich mit den hellsten Köpfen der Republik, Gelehrten sowohl als Staatsmännern, in Verbindung. Dies zwang ihn, den einförmigen, engen Kreis zu erweitern, in welchen sein Geist sich bisher eingeschlossen hatte. Er fing an, die Beschränktheit seiner Begriffe wahrzunehmen und das Bedürfnis höherer Bildung zu fühlen. Die altmodische Form seines Geistes, von so vielen Vorzügen sie auch sonst begleitet war, stand mit den gangbaren Begriffen der Gesellschaft in einem nachteiligen Kontrast, und seine Fremdheit in den bekanntesten Dingen setzte ihn zuweilen dem Lächerlichen aus; nichts fürchtete er so sehr als das Lächerliche. Das ungünstige Vorurteil, das auf seinem Geburtslande haftete, schien ihm eine Aufforderung zu sein, es in seiner Person zu widerlegen. Dazu kam noch die Sonderbarkeit in seinem Charakter, daß ihn jede Aufmerksamkeit verdroß, die er seinem Stande und nicht seinem persönlichen Werte danken zu müssen glaubte. Vorzüglich empfand er diese Demütigung in Gegenwart solcher Personen, die durch ihren Geist glänzten und durch persönliche Verdienste gleichsam über ihre Geburt triumphierten. In einer solchen Gesellschaft sich als Prinz unterschieden zu sehen, war jederzeit eine tiefe Beschämung für ihn, weil er unglücklicher Weise glaubte, durch diesen Namen schon von jeder Konkurrenz ausgeschlossen zu sein. Alles dieses zusammengenommen überführte ihn von der Notwendigkeit, seinem Geist die Bildung zu geben, die er bisher verabsäumt hatte, um das Jahrfünftel der witzigen und denkenden Welt einzuholen, hinter welchem er so weit zurückgeblieben war.

Er wählte dazu die modernste Lektüre, der er sich mit allem dem Ernste hingab, womit er alles, was er vornahm, zu behandeln pflegte. Aber die schlimme Hand, die bei der Wahl dieser Schriften im Spiele war, ließ ihn unglücklicherweise immer auf solche stoßen, bei denen weder seine Vernunft noch sein Herz viel gebessert waren. Und auch hier waltete sein Lieblingshang vor, der ihn immer zu allem, was nicht begriffen werden soll, mit unwiderstehlichem Reize hinzog. Nur für dasjenige, was damit in Beziehung stand, hatte er Aufmerksamkeit und Gedächtnis; seine Vernunft und sein Herz blieben leer, während sich diese Fächer seines Gehirns mit verworrenen Begriffen anfüllten. Der blendende Stil des einen riß seine Imagination dahin, indem die Spitzfindigkeiten des andern seine Vernunft verstrickten. Beiden wurden es leicht, sich einen Geist zu unterjochen, der ein Raub eines jeden war, der sich ihm mit einer gewissen Dreistigkeit aufdrang.

Eine Lektüre, die länger als ein Jahr mit Leidenschaft fortgesetzt wurde, hatte ihn beinahe mit gar keinem wohltätigen Begriffe bereichert, wohl aber seinen Kopf mit Zweifeln angefüllt, die, wie es bei diesem konsequenten Charakter unausbleiblich folgte, bald einen unglücklichen Weg zu seinem Herzen fanden. Daß ich es kurz sage – er hatte sich in dieses Labyrinth begeben als ein glaubensreicher Schwärmer, und er verließ es als Zweifler und zuletzt als ein ausgemachter Freigeist.

Unter den Zirkeln, in die man ihn zu ziehen gewußt hatte, war eine gewisse geschlossene Gesellschaft, der Bucentauro genannt, die unter dem äußerlichen Schein einer edeln vernünftigen Geistesfreiheit die zügelloseste Lizenz der Meinungen wie der Sitten begünstigte. Da sie unter ihren Mitgliedern viele Geistliche zählte und sogar die Namen einiger Kardinäle an ihrer Spitze trug, so wurde der Prinz um so leichter bewogen, sich darin einführen zu lassen. Gewisse gefährliche Wahrheiten der Vernunft, meinte er, könnten nirgends besser aufgehoben sein als in den Händen solcher Personen, die ihr Stand schon zur Mäßigung verpflichtete und die den Vorteil hätten, auch die Gegenpartei gehört und geprüft zu haben. Der Prinz vergaß hier, daß Libertinage des Geistes und der Sitten bei Personen dieses Standes eben darum weiter um sich greift, weil sie hier einen Zügel weniger findet und durch keinen Nimbus von Heiligkeit, der so oft profane Augen blendet, zurückgeschreckt wird. Und dieses war der Fall bei dem Bucentauro, dessen mehreste Mitglieder durch eine verdammliche Philosophie und durch Sitten, die einer solchen Führerin würdig waren, nicht ihren Stand allein, sondern selbst die Menschheit beschimpften.

Die Gesellschaft hatte ihre geheimen Grade, und ich will zur Ehre des Prinzen glauben, daß man ihn des innersten Heiligtums nie gewürdigt habe. Jeder, der in diese Gesellschaft eintrat, mußte, wenigstens so lange er lebte, seinen Rang, seine Nation, seine Religionspartei, kurz alle konventionellen Unterscheidungszeichen ablegen und sich in einen gewissen Stand universeller Gleichheit begeben. Die Wahl der Mitglieder war in der Tat streng, weil nur Vorzüge des Geistes einen Weg dazu bahnten. Die Gesellschaft rühmte sich des feinsten Tons und des ausgebildetsten Geschmacks, und in diesem Rufe stand sie auch wirklich in ganz Venedig. Dieses sowohl als der Schein von Gleichheit, der darin herrschte, zog den Prinzen unwiderstehlich an. Ein geistvoller, durch feinen Witz aufgeheiterter Umgang, unterrichtende Unterhaltungen, das Beste aus der gelehrten und politischen Welt, das hier, wie in seinem Mittelpunkte, zusammenfloß, verbargen ihm lange Zeit das Gefährliche dieser Verbindung. Wie ihm nach und nach der Geist des Instituts durch die Maske hindurch sichtbarer wurde, oder man es auch müde war, länger gegen ihn auf seiner Hut zu sein, war der Rückweg gefährlich, und falsche Scham sowohl als Sorge für seine Sicherheit zwangen ihn, sein inneres Mißfallen zu verbergen.

Aber schon durch die bloße Vertraulichkeit mit dieser Menschenklasse und ihren Gesinnungen, wenn sie ihn auch nicht zur Nachahmung hinrissen, ging die reine, schöne Einfalt seines Charakters und die Zartheit seiner moralischen Gefühle verloren. Sein durch so wenig gründliche Kenntnisse unterstützter Verstand konnte ohne fremde Beihülfe die feinen Trugschlüsse nicht lösen, womit man ihn hier verstrickt hatte, und unvermerkt hatte dieses schreckliche Korrosiv alles – beinahe alles verzehrt, worauf seine Moralität ruhen sollte. Die natürlichen Stützen seiner Glückseligkeit gab er für Sophismen hinweg, die ihn im entscheidenden Augenblick verließen und ihn dadurch zwangen, sich an den ersten besten willkürlichen zu halten, die man ihm zuwarf.

Vielleicht wäre es der Hand eines Freundes gelungen, ihn noch zur rechten Zeit von diesem Abgrund zurückzuziehen – aber, außerdem daß ich mit dem Innern des Bucentauro erst lange nachher bekannt worden bin, als das Übel schon geschehen war, so hatte mich schon zu Anfang dieser Periode ein dringender Vorfall aus Venedig abgerufen. Auch Mylord Seymor, eine schätzbare Bekanntschaft des Prinzen, dessen kalter Kopf jeder Art von Täuschung widerstand und der ihm unfehlbar zu einer sichern Stütze hätte dienen können, verließ uns zu dieser Zeit, um in sein Vaterland zurückzukehren. Diejenigen, in deren Händen ich den Prinzen ließ, waren zwar redliche, aber unerfahrne und in ihrer Religion äußerst beschränkte Menschen, denen es sowohl an der Einsicht in das Übel als an Ansehen bei dem Prinzen fehlte. Seinen verfänglichen Sophismen wußten sie nichts als die Machtsprüche eines blinden ungeprüften Glaubens entgegenzusetzen, die ihn entweder aufbrachten oder belustigten; er übersah sie gar zu leicht, und sein überlegner Verstand brachte diese schlechten Verteidiger der guten Sache bald zum Schweigen. Den andern, die sich in der Folge seines Vertrauens bemächtigten, war es vielmehr darum zu tun, ihn immer tiefer darein zu versenken. Als ich im folgenden Jahre wieder nach Venedig zurückkam – wie anders fand ich da schon alles!

Der Einfluß dieser neuen Philosophie zeigte sich bald in des Prinzen Leben. Je mehr er zusehends in Venedig Glück machte und neue Freunde sich erwarb, desto mehr fing er an, bei seinen ältern Freunden zu verlieren. Mir gefiel er von Tag zu Tage weniger, auch sahen wir uns seltener, und überhaupt war er weniger zu haben. Der Strom der großen Welt hatte ihn gefaßt. Nie wurde seine Schwelle leer, wenn er zu Hause war. Eine Lustbarkeit drängte die andre, ein Fest das andre, eine Glückseligkeit die andre. Er war die Schöne, um welche alles buhlte, der König und der Abgott aller Zirkel. So schwer er sich in der vorigen Stille seines beschränkten Lebens den großen Weltlauf gedacht hatte, so leicht fand er ihn nunmehr zu seinem Erstaunen. Es kam ihm alles so entgegen, alles war trefflich, was von seinen Lippen kam, und wenn er schwieg, so war es ein Raub an der Gesellschaft. Auch machte ihn dieses ihn überall verfolgende Glück, dieses allgemeine Gelingen, wirklich zu etwas mehr, als er in der Tat war, weil es ihm Mut und Zuversicht zu ihm selbst gab. Die erhöhte Meinung, die er dadurch von seinem eignen Wert erlangte, gab ihm Glauben an die übertriebene und beinahe abgöttische Verehrung, die man seinem Geiste widerfahren ließ, die ihm, ohne dieses vergrößerte und gewissermaßen gegründete Selbstgefühl, notwendig hätte verdächtig werden müssen. Jetzt aber war diese allgemeine Stimme nur die Bekräftigung dessen, was sein selbstzufriedener Stolz ihm im stillen sagte – ein Tribut, der ihm, wie er glaubte, von Rechts wegen gebührte. Unfehlbar würde er dieser Schlinge entgangen sein, hätte man ihn zu Atem kommen lassen, hätte man ihm nur ruhige Muße gegönnt, seinen eignen Wert mit dem Bilde zu vergleichen, das ihm in einem so lieblichen Spiegel vorgehalten wurde. Aber seine Existenz war ein fortdauernder Zustand von Trunkenheit, von schwebendem Taumel. Je höher man ihn gestellt hatte, desto mehr hatte er zu tun, sich auf dieser Höhe zu erhalten: diese immerwährende Anspannung verzehrte ihn langsam; selbst aus seinem Schlaf war die Ruhe geflohen. Man hatte seine Blößen durchschaut und die Leidenschaft gut berechnet, die man in ihm entzündet hatte.

Bald mußten es seine redlichen Kavaliers entgelten, daß ihr Herr zum großen Kopf geworden war. Ernsthafte Empfindungen und ehrwürdige Wahrheiten, an denen sein Herz sonst mit aller Wärme gehangen, fingen nun an, Gegenstände seines Spotts zu werden. An den Wahrheiten der Religion rächte er sich für den Druck, worunter ihn Wahnbegriffe so lange gehalten hatten; aber weil eine nicht zu verfälschende Stimme seines Herzens die Taumeleien seines Kopfes bekämpfte, so war mehr Bitterkeit als fröhlicher Mut in seinem Witze. Sein Naturell fing an sich zu ändern, Launen stellten sich ein. Die schönste Zierde seines Charakters, seine Bescheidenheit, verschwand; Schmeichler hatten sein treffliches Herz vergiftet. Die schonende Delikatesse des Umgangs, die es seine Kavaliers sonst ganz vergessen gemacht hatte, daß er ihr Herr war, machte jetzt nicht selten einem gebieterischen entscheidenden Tone Platz, der um so empfindlicher schmerzte, weil er nicht auf den äußerlichen Abstand der Geburt, worüber man sich mit leichter Mühe tröstet, und den er selbst wenig achtete, sondern auf eine beleidigende Voraussetzung seiner persönlichen Erhabenheit gegründet war. Weil er zu Hause doch öfters Betrachtungen Raum gab, die ihn im Taumel der Gesellschaft nicht hatten angehen dürfen, so sahen ihn seine eigenen Leute selten anders als finster, mürrisch und unglücklich, während daß er fremde Zirkel mit einer erzwungenen Fröhlichkeit beseelte. Mit teilnehmendem Leiden sahen wir ihn auf dieser gefährlichen Bahn hinwandeln; aber in dem Tumult, durch den er geworfen wurde, hörte er die schwache Stimme der Freundschaft nicht mehr und war jetzt auch noch zu glücklich, um sie zu verstehen.

Schon in den ersten Zeiten dieser Epoche forderte mich eine wichtige Angelegenheit an den Hof meines Souveräns, die ich auch dem feurigsten Interesse der Freundschaft nicht nachsetzen durfte. Eine unsichtbare Hand, die sich mir erst lange nachher entdeckt, hatte Mittel gefunden, meine Angelegenheiten dort zu verwirren und Gerüchte von mir auszubreiten, die ich eilen mußte, durch meine persönliche Gegenwart zu widerlegen. Der Abschied vom Prinzen ward mir schwer, aber ihm war er desto leichter. Schon seit geraumer Zeit waren die Bande erschlafft, die ihn an mich gekettet hatten. Aber sein Schicksal hatte meine ganze Teilnehmung erweckt; ich ließ mir deswegen von dem Baron von F*** versprechen, mich durch schriftliche Nachrichten damit in Verbindung zu erhalten, was er auch aufs gewissenhafteste gehalten hat. Von jetzt an bin ich also auf lange Zeit kein Augenzeuge dieser Begebenheiten mehr: man erlaube mir, den Baron von F*** an meiner Statt aufzuführen und diese Lücke durch Auszüge aus seinen Briefen zu ergänzen. Ungeachtet die Vorstellungsart meines Freundes F*** nicht immer die meinige ist, so habe ich dennoch an seinen Worten nichts ändern wollen, aus denen der Leser die Wahrheit mit wenig Mühe herausfinden wird.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Erster Brief

Mai 17**

Dank Ihnen, sehr verehrter Freund, daß Sie mir die Erlaubnis erteilt haben, auch abwesend den vertrauten Umgang mit Ihnen fortzusetzen, der während Ihres Hierseins meine beste Freude ausmachte. Hier, das wissen Sie, ist niemand, gegen den ich es wagen dürfte, mich über gewisse Dinge herauszulassen – was Sie mir auch dagegen sagen mögen, dieses Volk ist mir verhaßt. Seitdem der Prinz einer davon geworden ist, und seitdem vollends Sie uns entrissen sind, bin ich mitten in dieser volkreichen Stadt verlassen. Z*** nimmt es leichter, und die Schönen in Venedig wissen ihm die Kränkungen vergessen zu machen, die er zu Hause mit mir teilen muß. Und was hätte er sich auch darüber zu grämen? Er sieht und verlangt in dem Prinzen nichts als einen Herrn, den er überall findet – aber ich! Sie wissen, wie nahe ich das Wohl und Weh unsers Prinzen an meinem Herzen fühle, und wie sehr ich Ursache dazu habe. Sechzehn Jahre sind's, daß ich um seine Person lebe, daß ich nur für ihn lebe. Als ein neunjähriger Knabe kam ich in seine Dienste, und seit dieser Zeit hat mich kein Schicksal von ihm getrennt. Unter seinen Augen bin ich geworden; ein langer Umgang hat mich ihm zugebildet; alle seine großen und kleinen Abenteuer hab' ich mit ihm bestanden. Ich lebe in seiner Glückseligkeit. Bis auf dieses unglückliche Jahr hab' ich nur meinen Freund, meinen ältern Bruder in ihm gesehen, wie in einem heitern Sonnenschein hab' ich in seinen Augen gelebt – keine Wolke trübte mein Glück; und alles dies soll mir nun in diesem unseligen Venedig zu Trümmern gehen!

Seitdem Sie von uns sind, hat sich allerlei bei uns verändert. Der Prinz von **d** ist vorige Woche mit einer zahlreichen Suite hier angelangt und hat unserm Zirkel ein neues tumultuarisches Leben gegeben. Da er und unser Prinz so nahe verwandt sind und jetzt auf einem ziemlich guten Fuß zusammen stehen, so werden sie sich während seines hiesigen Aufenthalts, der, wie ich höre, bis zum Himmelfahrtsfeste dauern soll, wenig voneinander trennen. Der Anfang ist schon bestens gemacht; seit zehen Tagen ist der Prinz kaum zu Atem gekommen. Der Prinz von **d** hat es gleich sehr hoch angefangen, und das mochte er immer, da er sich bald wieder entfernt; aber das Schlimme dabei ist, er hat unsern Prinzen damit angesteckt, weil der sich nicht wohl davon ausschließen konnte und bei dem besondern Verhältnis, das zwischen beiden Häusern obwaltet, dem bestrittenen Range des seinigen hier etwas schuldig zu sein glaubte. Dazu kommt, daß in wenigen Wochen auch unser Abschied von Venedig herannaht; wodurch er ohnehin überhoben wird, diesen außerordentlichen Aufwand in die Länge fortzuführen.

Der Prinz von **d**, wie man sagt, ist in Geschäften des ***Ordens hier, wobei er sich einbildet, eine wichtige Rolle zu spielen. Daß er von allen Bekanntschaften unsers Prinzen sogleich Besitz genommen haben werde, können Sie sich leicht einbilden. In den Bucentauro besonders ist er mit Pomp eingeführt worden, da es ihm seit einiger Zeit beliebt hat, den witzigen Kopf und den starken Geist zu spielen, wie er sich denn auch in seinen Korrespondenzen, deren er in alle Weltgegenden unterhält, nur den Prince philosophe nennen läßt. Ich weiß nicht, ob Sie je das Glück gehabt haben, ihn zu sehen. Ein vielversprechendes Äußere, beschäftigte Augen, eine Miene voll Kunstverständigkeit, viel Prunk von Lektüre, viel erworbene Natur (vergönnen Sie mir dieses Wort) und eine fürstliche Herablassung zu Menschengefühlen, dabei eine heroische Zuversicht auf sich selbst und eine alles niedersprechende Beredsamkeit. Wer könnte bei so glänzenden Eigenschaften einer K. H. seine Huldigung versagen? Wie indessen der stille, wortarme und gründliche Wert unsers Prinzen neben dieser schreienden Vortrefflichkeit auskommen wird, muß der Ausgang lehren.

In unsrer Einrichtung sind seit der Zeit viele und große Veränderungen geschehen. Wir haben ein neues prächtiges Haus, der neuen Prokuratie gegenüber, bezogen, weil es dem Prinzen im »Mohren« zu eng wurde. Unsere Suite hat sich um zwölf Köpfe vermehrt, Pagen, Mohren, Heiducken u. d. m. – alles geht jetzt ins Große. Sie haben während Ihres Hierseins über Aufwand geklagt – jetzt sollten Sie erst sehen!

Unsre innern Verhältnisse sind noch die alten – außer daß der Prinz, der durch Ihre Gegenwart nicht mehr in Schranken gehalten wird, wo möglich noch einsilbiger und frostiger gegen uns geworden ist, und das wir ihn jetzt außer dem An- und Auskleiden wenig haben. Unter dem Vorwand, daß wir das Französische schlecht und das Italienische gar nicht reden, weiß er uns von seinen mehresten Gesellschaften auszuschließen, wodurch er mir für meine Person eben keine große Kränkung antut; aber ich glaube, das Wahre davon einzusehen: er schämt sich unserer – und das schmerzt mich, das haben wir nicht verdient.

Von unsern Leuten (weil Sie doch alle Kleinigkeiten wissen wollen) bedient er sich jetzt fast ganz allein des Biondello, den er, wie Sie wissen, nach Entweichung unsers Jägers in seine Dienste nahm und der ihm jetzt bei dieser neuen Lebensart ganz unentbehrlich geworden ist. Der Mensch kennt alles in Venedig, und alles weiß er zu gebrauchen. Es ist nicht anders, als wenn er tausend Augen hätte, tausend Hände in Bewegung setzen könnte. Er bewerkstellige dieses mit Hülfe der Gondoliers, sagt er. Dem Prinzen kommt er dadurch ungemein zustatten, daß er ihn vorläufig mit allen neuen Gesichtern bekannt macht, die diesem in seinen Gesellschaften vorkommen; und die geheimen Notizen, die er gibt, hat der Prinz immer richtig befunden. Dabei spricht und schreibt er das Italienische und das Französische vortrefflich, wodurch er sich auch bereits zum Sekretär des Prinzen aufgeschwungen hat. Einen Zug von uneigennütziger Treue muß ich Ihnen doch erzählen, der bei einem Menschen dieses Standes in der Tat selten ist. Neulich ließ ein angesehener Kaufmann aus Rimini bei dem Prinzen um Gehör ansuchen. Der Gegenstand war eine sonderbare Beschwerde über Biondello. Der Prokurator, sein voriger Herr, der ein wunderlicher Heiliger gewesen sein mochte, hatte mit seinen Verwandten in unversöhnlicher Feindschaft gelebt, die ihn auch, wo möglich, noch überleben sollte. Sein ganzes ausschließendes Vertrauen hatte Biondello, bei dem er alle Geheimnisse niederzulegen pflegte; dieser mußte ihm noch am Todbette angeloben, sie heilig zu bewahren und zum Vorteil der Verwandten niemals Gebrauch davon zu machen; ein ansehnliches Legat sollte ihn für diese Verschwiegenheit belohnen. Als man sein Testament eröffnete und seine Papiere durchsuchte, fanden sich große Lücken und Verwirrungen, worüber Biondello allein den Aufschluß geben konnte. Dieser leugnete hartnäckig, daß er etwas wisse, ließ den Erben das sehr beträchtliche Legat und behielt seine Geheimnisse. Große Erbietungen wurden ihm von seiten der Verwandten getan, aber alle vergeblich; endlich, um ihren Zudringen zu entgehen, weil sie drohten, ihn rechtlich zu belangen, begab er sich bei dem Prinzen in Dienste. An diesen wandte sich nun der Haupterbe, dieser Kaufmann, und tat noch größere Erbietungen, als die schon geschehen waren, wenn Biondello seinen Sinn ändern wollte. Aber auch die Fürsprache des Prinzen war umsonst. Diesem gestand er zwar, daß ihm wirklich dergleichen Geheimnisse anvertraut wären, er leugnete auch nicht, daß der Verstorbene im Haß gegen seine Familie vielleicht zu weit gegangen sei; »aber,« setzte er hinzu, »er war mein guter Herr und mein Wohltäter, und im festen Vertrauen auf meine Redlichkeit starb er hin. Ich war der einzige Freund, den er auf der Welt verließ – um so weniger darf ich seine einzige Hoffnung hintergehen.« Zugleich ließ er merken, daß diese Eröffnungen dem Andenken seines verstorbenen Herrn nicht sehr zur Ehre gereichen dürften. Ist das nicht fein gedacht und edel? Auch können Sie leicht denken, daß der Prinz nicht sehr darauf beharrte, ihn in einer so löblichen Gesinnung wankend zu machen. Diese seltene Treue, die er gegen seinen verstorbenen Herrn bewies, hat ihm das uneingeschränkte Vertrauen des lebenden gewonnen.

Leben Sie glücklich, liebster Freund. Wie sehne ich mich nach dem stillen Leben zurück, in welchem Sie uns hier fanden, und wofür Sie uns so angenehm entschädigten! Ich fürchte, meine guten Zeiten in Venedig sind vorbei, und Gewinn genug, wenn von dem Prinzen nicht das nämliche wahr ist. Das Element, worin er jetzt lebt, ist dasjenige nicht, worin er in die Länge glücklich sein kann, oder eine sechzehnjährige Erfahrung müßte mich betrügen. Leben Sie wohl.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Zweiter Brief

18. Mai.

Hätt' ich doch nicht gedacht, daß unser Aufenthalt in Venedig noch zu irgend etwas gut sein würde! Er hat einem Menschen das Leben gerettet, ich bin mit ihm ausgesöhnt.

Der Prinz ließ sich neulich bei später Nacht aus den Bucentauro nach Hause tragen, zwei Bediente, unter denen Biondello war, begleiteten ihn. Ich weiß nicht, wie es zugeht, die Sänfte, die man in der Eile aufgerafft hatte, zerbricht, und der Prinz sieht sich genötigt, den Rest des Wegs zu Fuße zu machen. Biondello geht voran, der Weg führte durch einige dunkle abgelegene Straßen, und da es nicht weit mehr von Tages Anbruch war, so brannten die Lampen dunkel oder waren schon ausgegangen. Eine Viertelstunde mochte man gegangen sein, als Biondello die Entdeckung machte, daß er verirrt sei. Die Ähnlichkeit der Brücken hatte ihn getäuscht, und anstatt in St. Markus überzusetzen, befand man sich im Sestiere von Castello. Es war in einer der abgelegensten Gassen und nichts Lebendes weit und breit; man mußte umkehren, um sich in einer Hauptstraße zu orientieren. Sie sind nur wenige Schritte gegangen, als nicht weit von ihnen in einer Gasse ein Mordgeschrei erschallt. Der Prinz, unbewaffnet wie er war, reißt einem Bedienten den Stock aus den Händen, und mit dem entschlossenen Mut, den Sie an ihm kennen, nach der Gegend zu, woher diese Stimme erschallte. Drei fürchterliche Kerls sind eben im Begriff, einen vierten niederzustoßen, der sich mit seinem Begleiter nur noch schwach verteidigt; der Prinz erscheint noch eben zu rechter Zeit, um den tödlichen Stich zu hindern. Sein und der Bedienten Rufen bestürzt die Mörder, die sich an einem so abgelegenen Ort auf keine Überraschung versehen hatten, daß sie nach einigen leichten Dolchstichen von ihrem Manne ablassen und die Flucht ergreifen. Halb ohnmächtig und vom Ringen erschöpft, sinkt der Verwundete in den Arm des Prinzen; sein Begleiter entdeckt diesem, daß er den Marchese von Civitella, den Neffen des Kardinals A***i, gerettet habe. Da der Marchese viel Blut verlor, so machte Biondello, so gut er konnte, in der Eile den Wundarzt, und der Prinz trug Sorge, daß er nach dem Palast seines Oheims geschafft wurde, der am nächsten gelegen war und wohin er ihn selbst begleitete. Hier verließ er ihn in der Stille und ohne sich zu erkennen gegeben zu haben.

Aber durch einen Bedienten, der Biondello erkannt hatte, ward er verraten. Gleich den folgenden Morgen erschien der Kardinal, eine alte Bekanntschaft aus dem Bucentauro. Der Besuch dauerte eine Stunde; der Kardinal war in großer Bewegung, als sie heraus kamen, Tränen standen in seinen Augen, auch der Prinz war gerührt. Noch an dem selben Abend wurde bei dem Kranken ein Besuch abgestattet, von dem der Wundarzt übrigens das Beste versichert. Der Mantel, in den er gehüllt war, hatte die Stöße unsicher gemacht und ihre Stärke gebrochen. Seit diesem Vorfall verstrich kein Tag, an welchem der Prinz nicht im Hause des Kardinals Besuche gegeben oder empfangen hätte, und eine starke Freundschaft fängt an, sich zwischen ihm und diesem Hause zu bilden.

Der Kardinal ist ein ehrwürdiger Sechziger, majestätisch von Ansehn, voll Heiterkeit und frischer Gesundheit. Man hält ihn für einen der reichsten Prälaten im ganzen Gebiete der Republik. Sein unermeßliches Vermögen soll er noch sehr jugendlich verwalten und bei einer vernünftigen Sparsamkeit keine Weltfreude verschmähen. Dieser Neffe ist sein einziger Erbe, der aber mit seinem Oheim nicht immer im besten Vernehmen stehen soll. So wenig der Alte ein Feind des Vergnügens ist, so soll doch die Aufführung des Neffen auch die höchste Toleranz erschöpfen. Seine freien Grundsätze und seine zügellose Lebensart, unglücklicherweise durch alles unterstützt, was Laster schmücken und die Sinnlichkeit hinreißen kann, machen ihn zum Schrecken aller Väter und zum Fluch aller Ehemänner; auch diesen letzten Angriff soll er sich, wie man behauptet, durch eine Intrige zugezogen haben, die er mit der Gemahlin des **schen Gesandten angesponnen hatte; anderer schlimmen Händel nicht zu gedenken, woraus ihn das Ansehen und das Geld des Kardinals nur mit Mühe hat retten können. Dieses abgerechnet, wäre letzterer der beneidetste Mann in ganz Italien, weil er alles besitzt, was das Leben wünschenswürdig machen kann. Mit diesem einzigen Familienleiden nimmt das Glück alle seine Gaben zurück und vergällt ihm den Genuß seines Vermögens durch die immerwährende Furcht, keinen Erben dazu zu finden.

Alle diese Nachrichten habe ich von Biondello. In diesem Menschen hat der Prinz einen wahren Schatz erhalten. Mit jedem Tage macht er sich unentbehrlicher, mit jedem Tage entdecken wir irgendein neues Talent an ihm. Neulich hatte sich der Prinz erhitzt und konnte nicht einschlafen. Das Nachtlicht ward ausgelöscht, und kein Klingeln konnte den Kammerdiener erwecken, der außer dem Hause seinen Liebschaften nachgegangen war. Der Prinz entschließt sich also, selbst aufzustehen, um einen seiner Leute zu errufen. Er ist noch nicht weit gegangen, als ihm von ferne eine liebliche Musik entgegenschallt. Er geht wie bezaubert dem Schall nach und findet Biondello auf seinem Zimmer auf der Flöte blasend, seine Kameraden um ihn her. Er will seinen Augen, seinen Ohren nicht trauen und befiehlt ihm fortzufahren. Mit einer bewundernswürdigen Leichtigkeit extemporiert dieser nun dasselbe schmelzende Adagio mit den glücklichsten Variationen und allen Feinheiten eines Virtuosen. Der Prinz, der ein Kenner ist, wie Sie wissen, behauptet, daß er sich getrost in der besten Kapelle hören lassen dürfte.

»Ich muß diesen Menschen entlassen,« sagte er mir den Morgen darauf; »ich bin unvermögend, ihn nach Verdienst zu belohnen.« Biondello, der diese Worte aufgefangen hatte, trat herzu. "Gnädigster Herr,« sagte er, »wenn Sie das tun, so rauben Sie mir meine beste Belohnung.«

»Du bist zu etwas Besserm bestimmt, als zu dienen,« sagte mein Herr. »Ich darf dir nicht vor deinem Glücke sein.«

»Dringen Sie mir doch kein anderes Glück auf, gnädigster Herr, als das ich mir selbst gewählt habe.«

»Und ein solches Talent zu vernachlässigen – Nein! Ich darf es nicht zugeben.«

»So erlauben Sie mir, gnädigster Herr, daß ich es zuweilen in Ihrer Gegenwart übe.«

Und dazu wurden auch sogleich die Anstalten getroffen. Biondello erhielt ein Zimmer zunächst am Schlafgemach seines Herrn, wo er ihn mit Musik in den Schlummer wiegen und mit Musik daraus erwecken kann. Seinen Gehalt wollte der Prinz verdoppeln, welches er aber verbat, mit der Erklärung: der Prinz möchte ihm erlauben diese zugedachte Gnade als ein Kapital bei ihm zu deponieren, welches er vielleicht in kurzer Zeit nötig haben würde zu erheben. Der Prinz erwartet nunmehr, daß er nächstens kommen werde, um etwas zu bitten; und was es auch sein möge, es ist ihm zum voraus gewährt. Leben Sie wohl, liebster Freund. Ich erwarte mit Ungeduld Nachrichten aus K***n.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Dritter Brief

4. Junius.

Der Marchese von Civitella, der von seinen Wunden nun ganz wiederhergestellt ist, hat sich vorige Woche durch seinen Onkel, den Kardinal, bei dem Prinzen einführen lassen, und seit diesem Tage folgt er ihm wie sein Schatten. Von diesem Marchese hat mir Biondello doch nicht die Wahrheit gesagt, wenigstens hat er sie weit übertrieben. Ein sehr liebenswürdiger Mensch von Ansehn und unwiderstehlich im Umgang. Es ist nicht möglich, ihm gram zu sein; der erste Anblick hat mich erobert. Denken Sie sich die bezauberndste Figur, mit Würde und Anmut getragen, ein Gesicht voll Geist und Seele, eine offne einladende Miene, einen einschmeichelnden Ton der Stimme, die fließendste Beredsamkeit, die blühendste Jugend mit allen Grazien der feinsten Erziehung vereinigt. Er hat gar nichts von dem geringschätzigen Stolz, von der feierlichen Steifheit, die uns an den übrigen Nobili so unerträglich fällt. Alles an ihm atmet jugendliche Frohherzigkeit, Wohlwollen, Wärme des Gefühls. Seine Ausschweifungen muß man mir weit übertrieben haben, nie sah ich ein vollkommneres, schöneres Bild der Gesundheit. Wenn er wirklich so schlimm ist, als mir Biondello sagt, so ist es eine Sirene, der kein Mensch widerstehen kann.

Gegen mich war er gleich sehr offen. Er gestand mir mit der angenehmsten Treuherzigkeit, daß er bei seinem Onkel, dem Kardinal, nicht am besten angeschrieben stehe und es auch wohl verdient haben möge. Er sei aber ernstlich entschlossen, sich zu bessern, und das Verdienst davon würde ganz dem Prinzen zufallen. Zugleich hoffe er, durch diesen mit seinem Onkel wieder ausgesöhnt zu werden, weil der Prinz alles über den Kardinal vermöge. Es habe ihm bis jetzt nur an einem Freunde und Führer gefehlt, und beides hoffe er sich in dem Prinzen zu erwerben.

Der Prinz bedient sich auch aller Rechte eines Führers gegen ihn und behandelt ihn mit der Wachsamkeit und Strenge eines Mentors. Aber eben dieses Verhältnis gibt auch ihm gewisse Rechte an dem Prinzen, die er sehr gut geltend zu machen weiß. Er kommt ihm nicht mehr von der Seite, er ist bei allen Partien, an denen der Prinz teilnimmt; für den Bucentauro ist er – und das ist sein Glück! bis jetzt nur zu jung gewesen. Überall, wo er sich mit dem Prinzen einfindet, entführt er diesen der Gesellschaft, durch die feine Art, womit er ihn zu beschäftigen und auf sich zu ziehen weiß. Niemand, sagen sie, habe ihn bändigen können, und der Prinz verdiene eine Legende, wenn ihm dieses Riesenwerk gelänge. Ich fürchte aber sehr, das Blatt möchte sich vielmehr wenden und der Führer bei seinem Zögling in die Schule gehen, wozu sich auch bereits alle Umstände anzulassen scheinen.

Der Prinz von **d** ist nun abgereist, und zwar zu unserm allerseitigen Vergnügen, auch meinen Herrn nicht ausgenommen. Was ich vorausgesagt habe, liebster O**, ist auch richtig eingetroffen. Bei so entgegengesetzten Charakteren, bei so unvermeidlichen Kollisionen konnte dieses gute Vernehmen auf die Dauer nicht bestehen. Der Prinz von **d** war nicht lange in Venedig, so entstand ein bedenkliches Schisma in der spirituellen Welt, das unsern Prinzen in Gefahr setzte, die Hälfte seiner bisherigen Bewunderer zu verlieren. Wo er sich nur sehen ließ, fand er diesen Nebenbuhler in seinem Wege, der gerade die gehörige Dosis kleiner List und selbstgefälliger Eitelkeit besaß, um jeden noch so kleinen Vorteil geltend zu machen, den ihm der Prinz über sich gab. Weil ihm zugleich alle kleinliche Kunstgriffe zu Gebote standen, deren Gebrauch dem Prinzen ein edles Selbstgefühl untersagte, so konnte es nicht fehlen, daß er nicht in kurzer Zeit die Schwachköpfe auf seiner Seite hatte und an der Spitze einer Partie prangte, die seiner würdig warDas harte Urteil, welches sich der Baron von F*** hier und in einigen Stellen des ersten Briefs über einen geistreichen Prinzen erlaubt, wird jeder, der das Glück hat, diesen Prinzen näher zu kennen, mit mir übertrieben finden und es dem eingenommenen Kopfe dieses jugendlichen Beurteilers zugute halten. (Anmerkung des Grafen von O**) . Das Vernünftigste wäre freilich wohl gewesen, mit einem Gegner dieser Art sich in gar keinen Wettkampf einzulassen, und einige Monate früher wäre dies gewiß die Partie gewesen, welche der Prinz ergriffen hätte. Jetzt aber war er schon zu weit in den Strom gerissen, um das Ufer so schnell wieder erreichen zu können. Diese Nichtigkeiten hatten, wenn auch nur durch die Umstände, einen gewissen Wert bei ihm erlangt, und hätte er sie auch wirklich verachtet, so erlaubte ihm sein Stolz nicht, ihnen in einem Zeitpunkte zu entsagen, wo sein Nachgeben weniger für einen freiwilligen Entschluß als für ein Geständnis seiner Niederlage würde gegolten haben. Das unselige Hin- und Widerbringen schneidender Reden von beiden Seiten kam dazu, und der Geist von Rivalität, der seine Anhänger erhitzte, hatte auch ihn ergriffen. Um also seine Eroberungen zu bewahren, um sich auf dem schlüpfrigen Platze zu erhalten, den ihm die Meinung der Welt angewiesen hatte, glaubte er die Gelegenheiten häufen zu müssen, wo er glänzen und verbinden konnte, und dies konnte nur durch einen fürstlichen Aufwand erreicht werden; daher ewige Feste und Gelage, kostbare Konzerte, Präsente und hohes Spiel. Und weil sich diese seltsame Raserei bald auch der beiderseitigen Suite und Dienerschaft mitteilte, die, wie Sie wissen, über den Artikel der Ehre noch weit wachsamer zu halten pflegt als ihre Herrschaft, so mußte er dem guten Willen seiner Leute durch seine Freigebigkeit zu Hülfe kommen, Eine ganze lange Kette von Armseligkeiten, alles unvermeidliche Folgen einer einzigen ziemlich verzeihlichen Schwachheit, von der sich der Prinz in einem unglücklichen Augenblick überschleichen ließ!

Den Nebenbuhler sind wir zwar nun los, aber was er verdorben hat, ist nicht so leicht wieder gutzumachen. Des Prinzen Schatulle ist erschöpft; was er durch eine weise Ökonomie seit Jahren erspart hat, ist dahin; wir müssen eilen, aus Venedig zu kommen, wenn er sich nicht in Schulden stürzen soll, wovor er sich bis jetzt auf das sorgfältigste gehütet hat. Die Abreise ist auch fest beschlossen, sobald nur erst frische Wechsel da sind.

Möchte indes aller dieser Aufwand gemacht sein, wenn mein Herr nur eine einzige Freude dabei gewonnen hätte! Aber nie war er weniger glücklich als jetzt! Er fühlt, daß er nicht ist, was er sonst war – er sucht sich selbst – er ist unzufrieden mit sich selbst und stürzt sich in neue Zerstreuungen, um den Folgen der alten zu entfliehen. Eine neue Bekanntschaft folgt auf die andre, die ihn immer tiefer hineinreißt. Ich sehe nicht, wie das noch werden soll. Wir müssen fort – hier ist keine andre Rettung –, wir müssen fort aus Venedig.

Aber, liebster Freund, noch immer keine Zeile von Ihnen! Wie muß ich dieses lange hartnäckige Schweigen mir erklären?

Baron von F*** an den Grafen von O**

Vierter Brief

12. Junius.

Haben Sie Dank, liebster Freund, für das Zeichen Ihres Andenkens, das mir der junge B***hl von Ihnen überbrachte. Aber was sprechen Sie darin von Briefen, die ich erhalten haben soll? Ich habe keinen Brief von Ihnen erhalten, nicht eine Zeile. Welchen weiten Umweg müssen die genommen haben! Künftig, liebster O**, wenn Sie mich mit Briefen beehren, senden sie solche über Trient und unter der Adresse meines Herrn.

Endlich haben wir den Schritt doch tun müssen, liebster Freund, den wir bis jetzt so glücklich vermieden haben. – Die Wechsel sind ausgeblieben, jetzt in diesem dringendsten Bedürfnis zum erstenmal ausgeblieben, und wir waren in die Notwendigkeit gesetzt, unsre Zuflucht zu einem Wucherer zu nehmen, weil der Prinz das Geheimnis gern etwas teurer bezahlt. Das Schlimmste an diesem unangenehmen Vorfall ist. daß er unsre Abreise verzögert.

Bei dieser Gelegenheit kam es zu einigen Erläuterungen zwischen mir und dem Prinzen. Das ganze Geschäft war durch Biondellos Hände gegangen, und der Ebräer war da, eh' ich etwas davon ahndete. Den Prinzen zu dieser Extremität gebracht zu sehen, preßte mir das Herz und machte alle Erinnerungen der Vergangenheit, alle Schrecken für die Zukunft in mir lebendig, daß ich freilich etwas grämlich und düster ausgesehen haben mochte, als der Wucherer hinaus war. Der Prinz, den der vorhergehende Auftritt ohnehin sehr reizbar gemacht hatte, ging mit Unmut im Zimmer auf und nieder, die Rollen lagen noch auf dem Tische, ich stand am Fenster und beschäftigte mich, die Scheiben in der Prokuratie zu zählen, es war eine lange Stille; endlich brach er los.

»F***!« fing er an: »Ich kann keine finstern Gesichter um mich leiden.«

Ich schwieg.

»Warum antworten Sie mir nicht? – Seh' ich nicht, daß es Ihnen das Herz abdrücken will, Ihren Verdruß auszugießen? Und ich will haben, daß Sie reden. Sie dürften sonst wunder glauben, was für weise Dinge Sie verschweigen.«

»Wenn ich finster bin, gnädigster Herr,« sagte ich, "so ist es nur, weil ich Sie nicht heiter sehe.«

»Ich weiß,« fuhr er fort, »daß ich Ihnen nicht recht bin – schon seit geraumer Zeit – daß alle meine Schritte mißbilligt werden – daß – Was schreibt der Graf von O**?«

»Der Graf von O** hat mir nichts geschrieben.«

»Nichts? Was wollen Sie es leugnen? Sie haben Herzensergießungen zusammen – Sie und der Graf! Ich weiß es recht gut. Aber gestehen Sie mir's immer. Ich werde mich nicht in Ihre Geheimnisse eindringen.«

»Der Graf von O**,« sagte ich, »hat mir von drei Briefen, die ich ihm schrieb, noch den ersten zu beantworten.«

»Ich habe Unrecht getan,« fuhr er fort. »Nicht wahr?« (eine Rolle ergreifend) – »Ich hätte das nicht tun sollen?«

»Ich sehe wohl ein, daß dies notwendig war.«

»Ich hätte mich nicht in die Notwendigkeit setzen sollen?«

Ich schwieg.

»Freilich! Ich hätte mich mit meinen Wünschen nie über das hinauswagen sollen und darüber zum Greis werden, wie ich zum Mann geworden bin! Weil ich aus der traurigen Einförmigkeit meines bisherigen Lebens einmal herausgehe und herumschaue, ob sich nicht irgend anderswo eine Quelle des Genusses für mich öffnet – weil ich –«

»Wenn es ein Versuch war, gnädigster Herr, dann hab' ich nichts mehr zu sagen – dann sind die Erfahrungen, die er Ihnen verschafft haben wird, mit noch dreimal soviel nicht zu teuer erkauft. Es tat mir weh, ich gesteh' es, daß die Meinung der Welt über eine Frage, wie Sie glücklich sein sollen, zu entscheiden haben sollte.«

»Wohl Ihnen, daß Sie sie verachten können, die Meinung der Welt! Ich bin ihr Geschöpf, ich muß ihr Sklave sein. Was sind wir anders als Meinung? Alles an uns Fürsten ist Meinung. Die Meinung ist unsre Amme und Erzieherin in der Kindheit, unsre Gesetzgeberin und Geliebte in männlichen Jahren, unsre Krücke im Alter. Nehmen Sie uns, was wir von der Meinung haben, und der Schlechteste aus den übrigen Klassen ist besser daran als wir; denn sein Schicksal hat ihm doch zu einer Philosophie verholfen, welche ihn über dieses Schicksal tröstet. Ein Fürst, der die Meinung verlacht, hebt sich selbst auf, wie der Priester, der das Dasein eines Gottes leugnet.«

»Und dennoch, gnädigster Prinz –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich kann den Kreis überschreiten, den meine Geburt um mich gezogen hat – aber kann ich auch alle Wahnbegriffe aus meinem Gedächtnis herausreißen, die Erziehung und frühe Gewohnheit darein gepflanzt und hunderttausend Schwachköpfe unter euch immer fester und fester darin gegründet haben? Jeder will doch gern ganz sein, was er ist, und unsre Existenz ist nun einmal, glücklich scheinen. Weil wir es nicht sein können, auf eure Weise, sollen wir es darum gar nicht sein? Wenn wir die Freude aus ihrem reinen Quell unmittelbar nicht mehr schöpfen dürfen, sollen wir uns auch nicht mit einem künstlichen Genuß hintergehen, nicht von eben der Hand, die uns beraubte, eine schwache Entschädigung empfangen dürfen?«

»Sonst fanden Sie diese in Ihrem Herzen.«

»Wenn ich sie nun nicht mehr darin finde? – Oh, wie kommen wir darauf? Warum mußten Sie diese Erinnerungen in mir aufwecken? – Wenn ich nun eben zu diesem Sinnentumult meine Zuflucht nahm, um eine innere Stimme zu betäuben, die das Unglück meines Lebens macht – um diese grübelnde Vernunft zur Ruhe zu bringen, die wie eine schneidende Sichel in meinem Gehirn hin- und herfährt und mit jeder neuen Forschung einen neuen Zweig meiner Glückseligkeit zerschneidet?«

»Mein bester Prinz!« – Er war aufgestanden und ging im Zimmer herum, in ungewöhnlicher Bewegung.

»Wenn alles vor mir und hinter mir versinkt – die Vergangenheit im traurigen Einerlei wie ein Reich der Versteinerung hinter mir liegt – wenn die Zukunft mir nichts bietet – wenn ich meines Daseins ganzen Kreis im schmalen Raume der Gegenwart beschlossen sehe – wer verargt es mir, daß ich dies magre Geschenk der Zeit – den Augenblick – feurig und unersättlich wie einen Freund, den ich zum letzten Male sehe, in meine Arme schließe?«

»Gnädigster Herr, sonst glaubten Sie an ein bleibenderes Gut –«

»Oh, machen Sie, daß mir das Wolkenbild halte, und ich will meine glühenden Arme darum schlagen. Was für Freude kann es mir geben, Erscheinungen zu beglücken, die morgen dahin sein werden wie ich? – Ist nicht alles Flucht um mich herum? Alles stößt sich und drängt seinen Nachbarn weg, aus dem Quell des Daseins einen Tropfen eilends zu trinken und lechzend davon zugehen. Jetzt in dem Augenblicke, wo ich meiner Kraft mich freue, ist schon ein werdendes Leben an meine Zerstörung angewiesen. Zeigen Sie mir etwas, das dauert, so will ich tugendhaft sein."

»Was hat denn die wohltätigen Empfindungen verdrängt, die einst der Genuß und die Richtschnur Ihres Lebens waren? Saaten für die Zukunft zu pflanzen, einer hohen ewigen Ordnung zu dienen –«

»Zukunft! Ewige Ordnung! – Nehmen wir hinweg, was der Mensch aus seiner eigenen Brust genommen und seiner eingebildeten Gottheit als Zweck, der Natur als Gesetz untergeschoben hat – was bleibt uns dann übrig? – Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze und undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhangen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen stehen mit der Fackel davor und raten, was etwa dahinter sein möchte. Viele sehen ihren eigenen Schatten, die Gestalten ihrer Leidenschaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen. Dichter, Philosophen und Staatenstifter haben sie mit ihren Träumen bemalt, lachender oder finstrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder heiterer war; und von weitem täuschte die Perspektive. Auch manche Gaukler nützten diese allgemeine Neugier und setzten durch seltsame Vermummungen die gespannten Phantasien in Erstaunen. Eine tiefe Stille herrscht hinter dieser Decke; keiner, der einmal dahinter ist, antwortet hinter ihr hervor; alles, was man hörte, war ein hohler Widerschall der Frage, als ob man in eine Gruft gerufen hätte. Hinter diese Decke müssen alle, und mit Schaudern fassen sie sie an, ungewiß, wer wohl dahinter stehe und sie in Empfang nehmen werde; quid sit id, quod tantum perituri vident"Was es sei, das nur diejenigen sehen, die in den Tod gehen." (Tacitus, Germania) . Freilich gab es auch Ungläubige darunter, die behaupteten, daß diese Decke die Menschen nur narre und daß man nichts beobachtet hätte, weil auch nichts dahinter sei; aber um sie zu überweisen, schickte man sie eilig dahinter.«

»Ein rascher Schluß war es immer, wenn sie keinen bessern Grund hatten, als weil sie nichts sahen.«

»Sehen Sie nun, lieber Freund, ich bescheide mich gern, nicht hinter diese Decke blicken zu wollen – und das Weiseste wird doch wohl sein, mich von aller Neugier zu entwöhnen. Aber indem ich diesen unüberschreitbaren Kreis um mich ziehe und mein ganzes Sein in die Schranken der Gegenwart einschließe, wird mir dieser kleine Fleck desto wichtiger, den ich schon über eiteln Eroberungsgedanken zu vernachlässigen in Gefahr war. Das, was Sie den Zweck meines Daseins nennen, geht mich jetzt nichts mehr an. Ich kann mich ihm nicht entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen; ich weiß aber und glaube fest, daß ich einen solchen Zweck erfüllen muß und erfülle. Ich bin einem Boten gleich, der einen versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung trägt. Was er enthält, kann ihm einerlei sein – er hat nichts als seinen Botenlohn dabei zu verdienen.«

»O wie arm lassen Sie mich stehen!«

»Aber wohin haben wir uns verirret?« rief jetzt der Prinz aus, indem er lächelnd auf den Tisch sah, wo die Rollen lagen. »Und doch nicht so sehr verirret!« setzte er hinzu – »denn vielleicht werden Sie mich jetzt in dieser neuen Lebensart wieder finden. Auch ich konnte mich nicht so schnell von dem eingebildeten Reichtum entwöhnen, die Stützen meiner Moralität und meiner Glückseligkeit nicht so schnell von dem lieblichen Traume ablösen, mit welchem alles, was bis jetzt in mir gelebt hatte, so fest verschlungen war. Ich sehnte mich nach dem Leichtsinne, der das Dasein der mehresten Menschen um mich her erträglich macht. Alles, was mich mir selbst entführte, war mir willkommen. Soll ich es Ihnen gestehn? Ich wünschte zu sinken, um diese Quelle meines Leidens auch mit der Kraft dazu zu zerstören.«

Hier unterbrach uns ein Besuch – Künftig werde ich Sie von einer Neuigkeit unterhalten, die Sie wohl schwerlich auf ein Gespräch wie das heutige erwarten dürften. Leben Sie wohl.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Fünfter Brief

1. Julius.

Da unser Abschied von Venedig nunmehr mit starken Schritten herannahet, so sollte diese Woche noch dazu angewandt werden, alles Sehenswürdige an Gemälden und Gebäuden noch nachzuholen, was man bei einem langen Aufenthalt immer verschiebt. Besonders hatte man uns mit vieler Bewunderung von der Hochzeit zu Kana des Paul Veronese gesprochen, die auf der Insel St. Georg in einem dortigen Benediktinerkloster zu sehen ist. Erwarten Sie von mir keine Beschreibung dieses außerordentlichen Kunstwerks, das mir im ganzen zwar einen sehr überraschenden, aber nicht sehr genußreichen Anblick gegeben hat. Wir hätten so viele Stunden als Minuten gebraucht, um eine Komposition von hundert und zwanzig Figuren zu umfassen, die über dreißig Fuß in der Breite hat. Welches menschliche Auge kann ein so zusammengesetztes Ganze erreichen und die ganze Schönheit, die der Künstler darin verschwendet hat, in einem Eindruck genießen! Schade ist es indessen, daß ein Werk von diesem Gehalte, das an einem öffentlichen Orte glänzen und von jedermann genossen werden sollte, keine bessere Bestimmung hat, als eine Anzahl Mönche in ihrem Refektorium zu vergnügen. Auch die Kirche dieses Klosters verdient nicht weniger gesehen zu werden. Sie ist eine der schönsten in dieser Stadt.

Gegen Abend ließen wir uns in die Giudecca überfahren, um dort in den reizenden Gärten einen schönen Abend zu verleben. Die Gesellschaft, die nicht sehr groß war, zerstreute sich bald, und mich zog Civitella, der schon den ganzen Tag über Gelegenheit gesucht hatte, mich zu sprechen, mit sich in eine Boskage.

»Sie sind der Freund des Prinzen,« fing er an, »vor dem er keine Geheimnisse zu haben pflegt, wie ich von sehr guter Hand weiß. Als ich heute in sein Hotel trat, kam ein Mann heraus, dessen Gewerbe mir bekannt ist – und auf des Prinzen Stirne standen Wolken, als ich zu ihm hereintrat.« – Ich wollte ihn unterbrechen – »Sie können es nicht leugnen,« fuhr er fort, »ich kannte meinen Mann, ich hab' ihn sehr gut ins Auge gefaßt – Und wär' es möglich? Der Prinz hätte Freunde in Venedig, Freunde, die ihm mit Blut und Leben verpflichtet sind, und sollte dahin gebracht sein, in einem dringenden Falle sich solcher Kreaturen zu bedienen? Seien Sie aufrichtig, Baron! – Ist der Prinz in Verlegenheit? – Sie bemühen sich umsonst, es zu verbergen. Was ich von Ihnen nicht erfahre, ist mir bei meinem Manne gewiß, dem jedes Geheimnis feil ist.«

»Herr Marchese –«

»Verzeihen Sie. Ich muß indiskret scheinen, um nicht ein Undankbarer zu werden. Dem Prinzen dank' ich Leben und, was mir weit über das Leben geht, einen vernünftigen Gebrauch des Lebens. Ich sollte den Prinzen Schritte tun sehen, die ihm kosten, die unter seiner Würde sind; es stände in meiner Macht, sie ihm zu ersparen, und ich sollte mich leidend dabei verhalten?«

»Der Prinz ist nicht in Verlegenheit,« sagte ich. »Einige Wechsel, die wir über Trient erwarteten, sind uns unvermutet ausgeblieben. Zufällig ohne Zweifel – oder weil man, in Ungewißheit wegen seiner Abreise, noch eine nähere Weisung von ihm erwartete. Dies ist nun geschehen, und bis dahin –«

Er schüttelte den Kopf. »Verkennen Sie meine Absicht nicht,« sagte er. »Es kann hier nicht davon die Rede sein, meine Verbindlichkeit gegen den Prinzen dadurch zu vermindern – würden alle Reichtümer meines Onkels dazu hinreichen? Die Rede ist davon, ihm einen einzigen unangenehmen Augenblick zu ersparen. Mein Oheim besitzt ein großes Vermögen, worüber ich so gut als über mein Eigentum disponieren kann. Ein glücklicher Zufall führt mir den einzigen möglichen Fall entgegen, daß dem Prinzen von allem, was in meiner Gewalt stehet, etwas nützlich werden kann. Ich weiß,« fuhr er fort, »was die Delikatesse dem Prinzen auflegt – aber sie ist auch gegenseitig –, und es wäre großmütig von dem Prinzen gehandelt, mir diese kleine Genugtuung zu gönnen, geschäh' es auch nur zum Scheine – um mir die Last von Verbindlichkeit, die mich niederdrückt, weniger fühlbar zu machen.«

Er ließ nicht nach, bis ich ihm versprochen hatte, mein möglichstes dabei zu tun; ich kannte den Prinzen und hoffte darum wenig. Alle Bedingungen wollte er sich von dem letztern gefallen lassen, wiewohl er gestand, daß es ihn empfindlich kränken würde, wenn ihn der Prinz auf dem Fuß eines Fremden behandelte.

Wir hatten uns in der Hitze des Gesprächs weit von der übrigen Gesellschaft verloren und waren eben auf dem Rückweg, als Z*** uns entgegen kam.

»Ich suche den Prinzen bei Ihnen – ist er nicht hier?«

»Eben wollen wir zu ihm. Wir vermuteten, ihn bei der übrigen Gesellschaft zu finden –«

»Die Gesellschaft ist beisammen, aber er ist nirgends anzutreffen. Ich weiß gar nicht, wie er uns aus den Augen gekommen ist."

Hier erinnerte sich Civitella, daß ihm vielleicht eingefallen sein könnte, die anstoßende Kirche zu besuchen, auf die er ihn kurz vorher sehr aufmerksam gemacht hatte. Wir machten uns sogleich auf den Weg, ihn dort aufzusuchen. Schon von weitem entdeckten wir Biondello, der am Eingang der Kirche wartete. Als wir näher kamen, trat der Prinz etwas hastig aus einer Seitentüre; sein Gesicht glühte, seine Augen suchten Biondello, den er herbeirief. Er schien ihm etwas sehr angelegentlich zu befehlen, wobei er immer die Augen auf die Türe richtete, die offen geblieben war. Biondello eilte schnell von ihm in die Kirche – der Prinz, ohne uns gewahr zu werden, drückte sich an uns vorbei, durch die Menge, und eilte zur Gesellschaft zurück, wo er noch vor uns anlangte.

Es wurde beschlossen, in einem offenen Pavillon dieses Gartens das Souper einzunehmen, wozu der Marchese ohne unser Wissen ein kleines Konzert veranstaltet hatte, das ganz auserlesen war. Besonders ließ sich eine junge Sängerin dabei hören, die uns alle durch ihre liebliche Stimme wie durch ihre reizende Figur entzückte. Auf den Prinzen schien nichts Eindruck zu machen; er sprach wenig und antwortete zerstreut, seine Augen waren unruhig nach der Gegend gekehrt, woher Biondello kommen mußte; eine große Bewegung schien in seinem Innern vorzugehen. Civitella fragte, wie ihm die Kirche gefallen hätte; er wußte nichts davon zu sagen. Man sprach von einigen vorzüglichen Gemälden, die sie merkwürdig machten; er hatte keine Gemälde gesehen. Wir merkten, daß unsere Fragen ihn belästigten, und schwiegen. Eine Stunde verging nach der andern, und Biondello kam noch immer nicht. Des Prinzen Ungeduld stieg aufs höchste; er hob die Tafel frühzeitig auf und ging in einer abgelegenen Allee ganz allein mit starken Schritten auf und nieder. Niemand begriff, was ihm begegnet sein mochte. Ich wagte es nicht, ihn um die Ursache einer so seltsamen Veränderung zu befragen; es ist schon lange, daß ich mir die vorigen Vertraulichkeiten nicht mehr bei ihm herausnehme. Mit desto mehr Ungeduld erwartete ich Biondellos Zurückkunft, der mir dieses Rätsel aufklären sollte.

Es war nach zehn Uhr, als er wiederkam. Die Nachrichten, die er dem Prinzen mitbrachte, trugen nichts dazu bei, diesen gesprächiger zu machen. Mißmutig trat er zur Gesellschaft, die Gondel wurde bestellt, und bald darauf fuhren wir nach Hause.

Den ganzen Abend konnte ich keine Gelegenheit finden, Biondello zu sprechen; ich mußte mich also mit meiner unbefriedigten Neugierde schlafen legen. Der Prinz hatte uns frühzeitig entlassen; aber tausend Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, erhielten mich munter. Lange hört' ich ihn über meinem Schlafzimmer auf und nieder gehen; endlich überwältigte mich der Schlaf. Spät nach Mitternacht erweckte mich eine Stimme – eine Hand fuhr über mein Gesicht; wie ich aufsah, war es der Prinz, der, ein Licht in der Hand, vor meinem Bette stand. Er könne nicht einschlafen, sagte er und bat mich, ihm die Nacht verkürzen zu helfen. Ich wollte mich in meine Kleider werfen – er befahl mir zu bleiben, und setzte sich zu mir vor das Bette.

»Es ist mir heute etwas vorgekommen,« fing er an, »davon der Eindruck aus meinem Gemüte nie mehr verlöschen wird. Ich ging von Ihnen, wie Sie wissen, in die ***kirche, worauf mich Civitella neugierig gemacht, und die schon von ferne meine Augen auf sich gezogen hatte. Weil weder Sie noch er mir gleich zur Hand waren, so machte ich die wenigen Schritte allein; Biondello ließ ich am Eingange auf mich warten. Die Kirche war ganz leer – eine schaurigkühle Dunkelheit umfing mich, als ich aus dem schwülen, blendenden Tageslicht hineintrat. Ich sah mich einsam in dem weiten Gewölbe, worin eine feierliche Grabstille herrschte. Ich stellte mich in die Mitte des Doms und überließ mich der ganzen Fülle dieses Eindrucks; allmählich traten die großen Verhältnisse dieses majestätischen Baues meinen Augen bemerkbarer hervor, ich verlor mich in ernster ergetzender Betrachtung. Die Abendglocke tönte über mir, ihr Ton verhallte sanft in diesem Gewölbe wie in meiner Seele. Einige Altarstücke hatten von weitem meine Aufmerksamkeit erweckt; ich trat näher, sie zu betrachten; unvermerkt hatte ich diese ganze Seite der Kirche bis zum entgegenstehenden Ende durchwandert. Hier lenkt man um einen Pfeiler einige Treppen hinauf in eine Nebenkapelle, worin mehrere kleinere Altäre und Statuen von Heiligen in Nischen angebracht stehen. Wie ich in die Kapelle zur Rechten hineintrete – höre ich nahe an mir ein zartes Wispern, wie wenn jemand leise spricht – ich wende mich nach dem Tone, und – zwei Schritte von mir fällt mir eine weibliche Gestalt in die Augen – – Nein! ich kann sie nicht nachschildern, diese Gestalt! – Schrecken war meine erste Empfindung, die aber bald dem süßesten Hinstaunen Platz machte.«

»Und diese Gestalt, gnädigster Herr – wissen Sie auch gewiß, daß sie etwas Lebendiges war, etwas Wirkliches, kein bloßes Gemälde, kein Gesicht Ihrer Phantasie?«

»Hören Sie weiter – Es war eine Dame – Nein! Ich hatte bis auf diesen Augenblick dies Geschlecht nie gesehen! – Alles war düster ringsherum, nur durch ein einziges Fenster fiel der untergehende Tag in die Kapelle, die Sonne war nirgends mehr als auf dieser Gestalt. Mit unaussprechlicher Anmut – halb kniend, halb liegend – war sie vor einem Altar hingegossen – der gewagteste, lieblichste, gelungenste Umriß, einzig und unnachahmlich, die schönste Linie in der Natur. Schwarz war ihr Gewand, das sich spannend um den reizendsten Leib, um die niedlichsten Arme schloß und in weiten Falten, wie eine spanische Robe, um sie breitete; ihr langes, lichtblondes Haar, in zwei breite Flechten geschlungen, die durch ihre Schwere losgegangen und unter dem Schleier hervorgedrungen waren, floß in reizender Unordnung weit über den Rücken hinab – eine Hand lag an dem Kruzifixe, und sanft hinsinkend ruhte sie auf der andern. Aber wo finde ich Worte, Ihnen das himmlisch schöne Angesicht zu beschreiben, wo eine Engelseele, wie auf ihrem Thronensitz, die ganze Fülle ihrer Reize ausbreitete? Die Abendsonne spielte darauf, und ihr luftiges Gold schien es mit einer künstlichen Glorie zu umgeben. Können Sie sich die Madonna unsers Florentiners zurückrufen? – Hier war sie ganz, ganz bis auf die unregelmäßigen Eigenheiten, die ich an jenem Bilde so anziehend, so unwiderstehlich fand.«

Mit der Madonna, von der der Prinz hier spricht, verhält es sich so. Kurz nachdem Sie abgereiset waren, lernte er einen florentinischen Maler hier kennen, der nach Venedig berufen worden war, um für eine Kirche, deren ich mich nicht mehr entsinne, ein Altarblatt zu malen. Er hatte drei andere Gemälde mitgebracht, die er für die Galerie im Cornarischen Palaste bestimmt hatte. Die Gemälde waren eine Madonna, eine Heloise und eine fast ganz unbekleidete Venus – alle drei von ausnehmender Schönheit und am Werte einander so gleich, daß es beinahe unmöglich war, sich für eines von den dreien ausschließend zu entscheiden. Nur der Prinz blieb nicht einen Augenblick unschlüssig; man hatte sie kaum vor ihm ausgestellt, als das Madonnastück seine ganze Aufmerksamkeit an sich zog; in den beiden übrigen wurde das Genie des Künstlers bewundert, bei diesem vergaß er den Künstler und seine Kunst, um ganz im Anschauen seines Werks zu leben. Er war ganz wunderbar davon gerührt; er konnte sich von dem Stücke kaum losreißen. Der Künstler, dem man wohl ansah, daß er das Urteil des Prinzen im Herzen bekräftigte, hatte den Eigensinn, die drei Stücke nicht trennen zu wollen, und forderte 1500 Zechinen für alle. Die Hälfte bot ihm der Prinz für dieses einzige an – der Künstler bestand auf seiner Bedingung, und wer weiß, was noch geschehen wäre, wenn sich nicht ein entschlossener Käufer gefunden hätte. Zwei Stunden darauf waren alle drei Stücke weg; wir haben sie nicht mehr gesehen. Dieses Gemälde kam dem Prinzen jetzt in Erinnerung.

»Ich stand,« fuhr er fort, »ich stand in ihrem Anblick verloren. Sie bemerkte mich nicht, sie ließ sich durch meine Dazwischenkunft nicht stören, so ganz war sie in ihrer Andacht vertieft. Sie betete zu ihrer Gottheit, und ich betete zu ihr – Ja, ich betete sie an – Alle diese Bilder der Heiligen, diese Altäre, diese brennenden Kerzen hatten mich nicht daran erinnert; jetzt zum erstenmal ergriff mich's, als ob ich in einem Heiligtum wäre. Soll ich es Ihnen gestehen? Ich glaubte in diesem Augenblick felsenfest an den, den ihre schöne Hand umfaßt hielt. Ich las ja seine Antwort in ihren Augen. Dank ihrer reizenden Andacht! Sie machte mir ihn wirklich – ich folgte ihr nach durch alle seine Himmel.

»Sie stand auf, und jetzt erst kam ich wieder zu mir selbst. Mit schüchterner Verwirrung wich ich auf die Seite; das Geräusch, das ich machte, entdeckte mich ihr. Die unvermutete Nähe eines Mannes mußte sie überraschen, meine Dreistigkeit konnte sie beleidigen; keines von beiden war in dem Blicke, womit sie mich ansah. Ruhe, unaussprechliche Ruhe war darin, und ein gütiges Lächeln spielte um ihre Wangen. Sie kam aus ihrem Himmel – und ich war das erste glückliche Geschöpf, das sich ihrem Wohlwollen anbot. Sie schwebte noch auf der letzten Sprosse des Gebets – sie hatte die Erde noch nicht berührt.

»In einer andern Ecke der Kapelle regte es sich nun auch. Eine ältliche Dame war es, die dicht hinter mir von einem Kirchstuhle aufstand. Ich hatte sie bis jetzt nicht wahrgenommen. Sie war nur wenige Schritte von mir, sie hatte alle meine Bewegungen gesehen. Dies bestürzte mich – ich schlug die Augen zu Boden, und man rauschte an mir vorüber.

»Ich sahe sie den langen Kirchgang hinuntergehen. Die schöne Gestalt ist aufgerichtet – Welche liebliche Majestät! Welcher Adel im Gange! Das vorige Wesen ist es nicht mehr – neue Grazien – eine ganz neue Erscheinung. Langsam gehen sie hinab. Ich folge von weitem und schüchtern, ungewiß, ob ich es wagen soll, sie einzuholen? ob ich es nicht soll? – Wird sie mir keinen Blick mehr schenken? Schenkte sie mir einen Blick, da sie an mir vorüberging und ich die Augen nicht zu ihr aufschlagen konnte? – O wie marterte mich dieser Zweifel!

»Sie stehen stille, und ich – kann keinen Fuß von der Stelle setzen. Die ältliche Dame, ihre Mutter, oder was sie ihr sonst war, bemerkt die Unordnung in den schönen Haaren und ist geschäftig, sie zu verbessern, indem sie ihr den Sonnenschirm zu halten gibt. O wie viel Unordnung wünschte ich diesen Haaren, wie viel Ungeschicklichkeit diesen Händen!

»Die Toilette ist gemacht, und man nähert sich der Türe. Ich beschleunige meine Schritte – Eine Hälfte der Gestalt verschwindet – und wieder eine – nur noch der Schatten ihres zurückfliegenden Kleides – Sie ist weg – Nein, sie kommt wieder. Eine Blume entfiel ihr, sie bückt sich nieder, sie aufzuheben – sie sieht noch einmal zurück und – nach mir? – Wen sonst kann ihr Auge in diesen toten Mauern suchen? Also war ich ihr kein fremdes Wesen mehr – auch mich hat sie zurückgelassen, wie ihre Blume – Lieber F***, ich schäme mich, es Ihnen zu sagen, wie kindisch ich diesen Blick auslegte, der – vielleicht nicht einmal mein war!«

Über das letzte glaubte ich den Prinzen beruhigen zu können.

»Sonderbar,« fuhr der Prinz nach einem tiefen Stillschweigen fort, »kann man etwas nie gekannt, nie vermißt haben und einige Augenblicke später nur in diesem einzigen leben? Kann ein einziger Moment den Menschen in zwei so ungleichartige Wesen zertrennen? Es wäre mir ebenso unmöglich, zu den Freuden und Wünschen des gestrigen Morgens als zu den Spielen meiner Kindheit zurückzukehren, seit ich das sah, seitdem dieses Bild hier wohnet – dieses lebendige, mächtige Gefühl in mir: Du kannst nichts mehr lieben als das, und in dieser Welt wird nichts anders mehr auf dich wirken.«

»Denken Sie nach, gnädigster Herr, in welcher reizbaren Stimmung Sie waren, als diese Erscheinung sie überraschte, und wie vieles zusammenkam, Ihre Einbildungskraft zu spannen. Aus dem hellen blendenden Tageslicht, aus dem Gewühle der Straße plötzlich in diese stille Dunkelheit versetzt – ganz den Empfindungen hingegeben, die, wie Sie selbst gestehen, die Stille, die Majestät dieses Orts in Ihnen rege machte – durch Betrachtung schöner Kunstwerke für Schönheit überhaupt empfänglicher gemacht – zugleich allein und einsam Ihrer Meinung nach – und nun auf einmal – in der Nähe – von einer Mädchengestalt überrascht, wo Sie sich keines Zeugen versahen – von einer Schönheit, wie ich Ihnen gerne zugebe, die durch eine vorteilhafte Beleuchtung, eine glückliche Stellung, einen Ausdruck begeisterter Andacht noch mehr erhoben ward – was war natürlicher, als das Ihre entzündete Phantasie sich etwas Idealisches, etwas überirdisch Vollkommenes daraus zusammensetzte?«

»Kann die Phantasie etwas geben, was sie nie empfangen hat? – und im ganzen Gebiete meiner Darstellung ist nichts, was ich mit diesem Bilde zusammenstellen könnte. Ganz und unverändert, wie im Augenblicke des Schauens, liegt es in meiner Erinnerung; ich habe nichts als dieses Bild – aber Sie könnten mir eine Welt dafür bieten!«

»Gnädigster Prinz, das ist Liebe.«

»Muß es denn notwendig ein Name sein, unter welchem ich glücklich bin? Liebe! – Erniedrigen Sie meine Empfindung nicht mit einem Namen, den tausend schwache Seelen mißbrauchen! Welcher andere hat gefühlt, was ich fühle? Ein solches Wesen war noch nicht vorhanden – wie kann der Name früher da sein als die Empfindung? Es ist ein neues, einziges Gefühl, neu entstanden mit diesem neuen einzigen Wesen, und für dieses Wesen nur möglich ! – Liebe! Vor der Liebe bin ich sicher!«

»Sie verschickten Biondello – ohne Zweifel, um die Spur Ihrer Unbekannten zu verfolgen, um Erkundigungen von ihr einzuziehen? Was für Nachrichten brachte er Ihnen zurück?«

»Biondello hat nichts entdeckt – so viel als gar nichts. Er fand sie noch an der Kirchtüre. Ein bejahrter, anständig gekleideter Mann, der eher einem hiesigen Bürger als einem Bedienten gleich sah, erschien, sie nach der Gondel zu begleiten. Eine Anzahl Armer stellte sich in Reihen, wie sie vorüberging, und verließ sie mit sehr vergnügter Miene. Bei dieser Gelegenheit, sagte Biondello, wurde eine Hand sichtbar, woran einige kostbare Steine blitzten. Mit ihrer Begleiterin sprach sie einiges, das Biondello nicht verstand; er behauptet, es sei Griechisch gewesen. Da sie eine ziemliche Strecke nach dem Kanal zu gehen hatten, so fing schon etwas Volk an, sich zu sammeln; das Außerordentliche des Anblicks brachte alle Vorübergehende zum Stehen. Niemand kannte sie – aber die Schönheit ist eine geborne Königin. Alles machte ihr ehrerbietig Platz. Sie ließ einen schwarzen Schleier über das Gesicht fallen, der das halbe Gewand bedeckte, und eilte in die Gondel. Längs dem ganzen Kanal der Giudecca behielt Biondello das Fahrzeug im Gesicht, aber es weiter zu verfolgen, hinderte ihn das Gedränge.«

»Aber den Gondolier hat er sich doch gemerkt, um diesen wenigstens wiederzuerkennen?«

»Den Gondolier getraut er sich ausfündig zu machen; doch ist es keiner von denen, mit denen er Verkehr hat. Die Armen, die er ausfragte, konnten ihm weiter keinen Bescheid geben, als daß Signora sich schon seit einigen Wochen und immer sonnabends hier zeige und noch allemal ein Goldstück unter sie verteilt habe. Es war ein holländischer Dukaten, den er eingewechselt und mir überbracht hat.«

»Eine Griechin also, und von Stande, wie es scheint, von Vermögen wenigstens, und wohltätig. Das wäre fürs erste genug, gnädigster Herr – genug und fast zu viel! Aber eine Griechin und in einer katholischen Kirche!«

»Warum nicht? Sie kann ihren Glauben verlassen haben. Überdies – etwas Geheimnisvolles ist es immer. – Warum die Woche nur einmal? Warum nur sonnabends in dieser Kirche, wo diese gewöhnlich verlassen sein soll, wie mir Biondello sagt? – Spätestens der kommende Sonnabend muß dies entscheiden. Aber bis dahin, lieber Freund, helfen Sie mir, diese Kluft von Zeit überspringen! Aber umsonst! Tage und Stunden gehen ihren gelassenen Schritt, und mein Verlangen hat Flügel!«

»Und wenn dieser Tag nun erscheint – was dann, gnädigster Herr? Was soll dann geschehen?«

»Was geschehen soll? – Ich werde sie sehen. Ich werde ihren Aufenthalt erforschen. Ich werde erfahren, wer sie ist. – Wer sie ist? – Was kann mich dieses bekümmern? Was ich sah, machte mich glücklich, also weiß ich ja schon alles, was mich glücklich machen kann!«

»Und unsere Abreise aus Venedig, die auf den Anfang kommenden Monats festgesetzt ist?«

»Konnte ich im voraus wissen, daß Venedig noch einen solchen Schatz für mich einschließe? – Sie fragen mich aus meinem gestrigen Leben. Ich sage Ihnen, daß ich nur von heute an bin und sein will.«

Jetzt glaubte ich, die Gelegenheit gefunden zu haben, dem Marchese Wort zu halten. Ich machte dem Prinzen begreiflich, daß sein längeres Bleiben in Venedig mit dem geschwächten Zustande seiner Kasse durchaus nicht bestehen könne, und daß, im Fall er seinen Aufenthalt über den zugestandenen Termin verlängerte, auch von seinem Hofe nicht sehr auf Unterstützung würde zu rechnen sein. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, was mir bis jetzt ein Geheimnis gewesen, daß ihm von seiner Schwester, der regierenden *** von ***, ausschließend vor seinen übrigen Brüdern und heimlich, ansehnliche Zuschüsse bezahlt werden, die sie gerne bereit sei zu verdoppeln, wenn sein Hof ihn im Stiche ließe. Diese Schwester, eine fromme Schwärmerin, wie Sie wissen, glaubt die großen Ersparnisse, die sie bei einem sehr eingeschränkten Hofe macht, nirgends besser aufgehoben als bei einem Bruder, dessen weise Wohltätigkeit sie kennt und den sie enthusiastisch verehrt. Ich wußte zwar schon längst, daß zwischen beiden ein sehr genaues Verhältnis stattfindet, auch viele Briefe gewechselt werden; aber weil sich der bisherige Aufwand des Prinzen aus den bekannten Quellen hinlänglich bestreiten ließ, so war ich auf die verborgene Hülfsquelle nie gefallen. Es ist also klar, daß der Prinz Ausgaben gehabt hat, die mir ein Geheimnis waren und es noch jetzt sind; und wenn ich aus seinem übrigen Charakter schließen darf, so sind es gewiß keine andere, als die ihm zur Ehre gereichen. Und ich konnte mir einbilden, ihn ergründet zu haben? – Um so weniger glaubte ich nach dieser Entdeckung anstehen zu dürfen, ihm das Anerbieten des Marchese zu offenbaren – welches zu meiner nicht geringen Verwunderung ohne alle Schwierigkeit angenommen wurde. Er gab mir Vollmacht, diese Sache mit dem Marchese auf die Art, welche ich für die beste hielt, abzutun und dann sogleich mit dem Wucherer aufzuheben. An seine Schwester sollte unverzüglich geschrieben werden.

Es war Morgen, als wir auseinander gingen. So unangenehm mir dieser Vorfall aus mehr als einer Ursache ist und sein muß, so ist doch das Allerverdrüßlichste daran, daß er unsern Aufenthalt in Venedig zu verlängern droht. Von dieser anfangenden Leidenschaft erwarte ich viel mehr Gutes als Schlimmes. Sie ist vielleicht das kräftigste Mittel, den Prinzen von seinen metaphysischen Träumereien wieder zur ordinären Menschheit herabzuziehen: sie wird, hoffe ich, die gewöhnliche Krise haben und, wie eine künstliche Krankheit, auch die alte mit sich hinwegnehmen.

Leben Sie wohl, liebster Freund. Ich habe Ihnen alles dies nach frischer Tat hingeschrieben. Die Post geht sogleich; Sie werden diesen Brief mit dem vorhergehenden an einem Tage erhalten.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Sechster Brief

20.Julius.

Dieser Civitella ist doch der dienstfertigste Mensch von der Welt. Der Prinz hatte mich neulich kaum verlassen, als schon ein Billet von dem Marchese erschien, worin mir die Sache aufs dringendste empfohlen wurde. Ich schickte ihm sogleich eine Verschreibung in des Prinzen Namen auf 6000 Zechinen; in weniger als einer halben Stunde folgte sie zurück nebst der doppelten Summe, in Wechseln sowohl als barem Gelde. In diese Erhöhung der Summe willigte endlich auch der Prinz; die Verschreibung aber, die nur auf sechs Wochen gestellt war, mußte angenommen werden.

Diese ganze Woche ging in Erkundigungen nach der geheimnisvollen Griechin hin. Biondello setzte alle seine Maschinen in Bewegung, bis jetzt aber war alles vergeblich. Den Gondolier machte er zwar ausfündig; aus diesem war aber nichts weiter herauszubringen, als daß er die beiden Damen auf der Insel Murano ausgesetzt habe, wo zwei Sänften auf sie gewartet hätten, in die sie gestiegen seien. Er machte sie zu Engländerinnen, weil sie eine fremde Sprache gesprochen und ihn mit Gold bezahlt hätten. Auch ihren Begleiter kenne er nicht; er komme ihm vor wie ein Spiegelfabrikant aus Murano. Nun wußten wir wenigstens, daß wir sie nicht in der Giudecca zu suchen hätten und daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Insel Murano zu Hause sei; aber das Unglück war, daß die Beschreibung, welche der Prinz von ihr machte, schlechterdings nicht dazu taugte, sie einem Dritten kenntlich zu machen. Gerade die leidenschaftliche Aufmerksamkeit, womit er ihren Anblick gleichsam verschlang, hatte ihn gehindert, sie zu sehen; für alles das, worauf andere Menschen ihr Augenmerk vorzüglich würden gerichtet haben, war er ganz blind gewesen; nach seiner Schilderung war man eher versucht, sie im Ariost oder Tasso als auf einer venezianischen Insel zu suchen. Außerdem mußte diese Nachfrage mit größter Vorsicht geschehen, um kein anstößiges Aufsehen zu erregen. Weil Biondello außer dem Prinzen der einzige war, der sie, durch den Schleier wenigstens, gesehen hatte und also wiedererkennen konnte, so suchte er, wo möglich an allen Orten, wo sie vermutet werden konnte, zu gleicher Zeit zu sein; das Leben des armen Menschen war diese ganze Woche über nichts als ein beständiges Rennen durch alle Straßen von Venedig. In der griechischen Kirche besonders wurde keine Nachforschung gespart, aber alles mit gleich schlechtem Erfolge; und der Prinz, dessen Ungeduld mit jeder fehlgeschlagenen Erwartung stieg, mußte sich endlich doch noch auf den nächsten Sonnabend vertrösten.

Seine Unruhe war schrecklich. Nichts zerstreute ihn, nichts vermochte ihn zu fesseln. Sein ganzes Wesen war in fieberischer Bewegung, für alle Gesellschaft war er verloren, und das Übel wuchs in der Einsamkeit. Nun wurde er gerade nie mehr von Besuchen belagert als eben in dieser Woche. Sein naher Abschied war angekündigt, alles drängte sich herbei. Man mußte diese Menschen beschäftigen, um ihre argwöhnische Aufmerksamkeit von ihm abzuziehen; man mußte ihn beschäftigen, um seinen Geist zu zerstreuen. In diesem Bedrängnis verfiel Civitella auf das Spiel, und um die Menge wenigstens zu entfernen, sollte hoch gespielt werden. Zugleich hoffte er, bei dem Prinzen einen vorübergehenden Geschmack an dem Spiele zu erwecken, der diesen romanhaften Schwung seiner Leidenschaften bald ersticken, und den man immer in der Gewalt haben würde, ihm wieder zu benehmen. »Die Karten,« sagte Civitella, »haben mich vor mancher Torheit bewahrt, die ich im Begriff war zu begehen, manche wiedergutgemacht, die schon begangen war. Die Ruhe, die Vernunft, um die mich ein Paar schöne Augen brachten, habe ich oft am Pharotisch wiedergefunden, und nie hatten die Weiber mehr Gewalt über mich, als wenn mir's an Geld gebrach, um zu spielen.«

Ich lasse dahingestellt sein, inwieweit Civitella recht hatte – aber das Mittel, worauf wir gefallen waren, fing bald an, noch gefährlicher zu werden als das Übel, dem es abhelfen sollte. Der Prinz, der dem Spiel nur allein durch hohes Wagen einen flüchtigen Reiz zu geben wußte, fand bald keine Grenzen mehr darin. Er war einmal aus seiner Ordnung. Alles, was er tat, nahm eine leidenschaftliche Gestalt an; alles geschah mit der ungeduldigen Heftigkeit, die jetzt in ihm herrschte. Sie kennen seine Gleichgültigkeit gegen das Geld; hier wurde sie zur gänzlichen Unempfindlichkeit. Goldstücke zerrannen wie Wassertropfen in seinen Händen. Er verlor fast ununterbrochen, weil er ganz und gar ohne Aufmerksamkeit spielte. Er verlor ungeheure Summen, weil er wie ein verzweifelter Spieler wagte. – Liebster O**, mit Herzklopfen schreib' ich es nieder – in vier Tagen waren die 12 000 Zechinen – und noch darüber verloren.

Machen Sie mir keine Vorwürfe. Ich klage mich selbst genug an. Aber konnt' ich es hindern? Hörte mich der Prinz? Konnte ich etwas anders, als ihm Vorstellungen tun? Ich tat, was in meinem Vermögen stand. Ich kann mich nicht schuldig finden.

Auch Civitella verlor beträchtlich; ich gewann gegen 600 Zechinen. Das beispiellose Unglück des Prinzen machte Aufsehen; um so weniger konnte er jetzt das Spiel verlassen. Civitella, dem man die Freude ansieht, ihn zu verbinden, streckte ihm sogleich die Summe vor. Die Lücke ist zugestopft; aber der Prinz ist dem Marchese 24 000 Zechinen schuldig. O wie sehne ich mich nach dem Spargelde der frommen Schwester! – Sind alle Fürsten so, liebster Freund? Der Prinz beträgt sich nicht anders, als wenn er dem Marchese noch eine große Ehre erwiesen hätte, und dieser – spielt seine Rolle wenigstens gut.

Civitella suchte mich damit zu beruhigen, daß gerade diese Übertreibung, dieses außerordentliche Unglück das kräftigste Mittel sei, den Prinzen wieder zur Vernunft zu bringen. Mit dem Gelde habe es keine Not. Er selbst fühle diese Lücke gar nicht und stehe dem Prinzen jeden Augenblick mit noch dreimal soviel zu Diensten. Auch der Kardinal gab mir die Versicherung, daß die Gesinnung seines Neffen aufrichtig sei und daß er selbst bereitstehe, für ihn zu gewähren.

Das Traurigste war, daß diese ungeheuern Aufopferungen ihre Wirkung nicht einmal erreichten. Man sollte meinen, der Prinz habe wenigstens mit Teilnehmung gespielt. Nichts weniger. Seine Gedanken waren weit weg, und die Leidenschaft, die wir unterdrücken wollten, schien von seinem Unglück im Spiele nur mehr Nahrung zu erhalten. Wenn ein entscheidender Streich geschehen sollte und alles sich voll Erwartung um seinen Spieltisch herum drängte, suchten seine Augen Biondello, um ihm die Neuigkeit, die er etwa mitbrächte, von dem Angesicht zu stehlen. Biondello brachte immer nichts – und das Blatt verlor immer.

Das Geld kam übrigens in sehr bedürftige Hände. Einige Exzellenza, die, wie die böse Welt ihnen nachsagt, ihr frugales Mittagsmahl in der Senatormütze selbst von dem Markte nach Hause tragen, traten als Bettler in unser Haus und verließen es als wohlhabende Leute. Civitella zeigte sie mir. »Sehen Sie,« sagte er, »wie vielen armen Teufeln es zugute kommt, daß es einem gescheuten Kopf einfällt, nicht bei sich selbst zu sein! Aber das gefällt mir. Das ist fürstlich und königlich! Ein großer Mensch muß auch in seinen Verirrungen noch Glückliche machen und wie ein übertretender Strom die benachbarten Felder befruchten.«

Civitella denkt brav und edel – aber der Prinz ist ihm 24 000 Zechinen schuldig!

Der so sehnlich erwartete Sonnabend erschien endlich, und mein Herr ließ sich nicht abhalten, sich gleich nach Mittag in der ***Kirche einzufinden. Der Platz wurde in eben der Kapelle genommen, wo er seine Unbekannte das erste Mal gesehen hatte, doch so, daß er ihr nicht sogleich in die Augen fallen konnte. Biondello hatte Befehl, an der Kirchtüre Wache zu stehen und dort mit dem Begleiter der Dame Bekanntschaft anzuknüpfen. Ich hatte auf mich genommen, als ein unverdächtiger Vorübergehender bei der Rückfahrt in derselben Gondel Platz zu nehmen, um die Spur der Unbekannten weiter zu verfolgen, wenn das übrige mißlingen sollte. An demselben Orte, wo sie sich nach des Gondoliers Aussage das vorige Mal hatte aussetzen lassen, wurden zwei Sänften gemietet; zum Überfluß hieß der Prinz noch den Kammerjunker von Z*** in einer besondern Gondel nachfolgen. Der Prinz selbst wollte ganz ihrem Anblick leben und, wenn es anginge, sein Glück in der Kirche versuchen. Civitella blieb ganz weg, weil er bei dem Frauenzimmer in Venedig in zu üblem Rufe steht, um durch seine Einmischung die Dame nicht mißtrauisch zu machen. Sie sehen, liebster Graf, daß es an unsern Anstalten nicht lag, wenn die schöne Unbekannte uns entging.

Nie sind wohl in einer Kirche wärmere Wünsche getan worden als in dieser, und nie wurden sie grausamer getäuscht. Bis nach Sonnenuntergang harrte der Prinz aus, von jedem Geräusche, das seiner Kapelle nahekam, von jedem Knarren der Kirchtüre in Erwartung gesetzt – sieben volle Stunden – und keine Griechin. Ich sage Ihnen nichts von seiner Gemütslage. Sie wissen, was eine fehlgeschlagenen Hoffnung ist – und eine Hoffnung, von der man sieben Tage und sieben Nächte fast einzig gelebt hat.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Siebenter Brief

Julius.

Die geheimnisvolle Unbekannte des Prinzen erinnerte den Marchese Civitella an eine romantische Erscheinung, die ihm selbst vor einiger Zeit vorgekommen war, und um den Prinzen zu zerstreuen, ließ er sich bereitfinden, sie uns mitzuteilen. Ich erzähle sie Ihnen mit seine eignen Worten. Aber der muntre Geist, womit er alles was er spricht, zu beleben weiß, geht freilich in meinem Vortrage verloren.

»Voriges Frühjahr,« erzählte Civitella, »hatte ich das Unglück, den spanischen Ambassadeur gegen mich aufzubringen, der in seinem siebenzigsten Jahr die Torheit begangen hatte, eine achtzehnjährige Römerin für sich allein heiraten zu wollen. Seine Rache verfolgte mich, und meine Freunde rieten mir an, mich durch eine zeitige Flucht den Wirkungen derselben zu entziehen, bis mich entweder die Hand der Natur oder eine gütliche Beilegung von diesem gefährlichen Feind befreit haben würde. Weil es mir aber doch zu schwerfiel, Venedig ganz zu entsagen, so nahm ich meinen Aufenthalt in einem entlegenen Quartier von Murano, wo ich unter einem fremden Namen ein einsames Haus bewohnte, den Tag über mich verborgen hielt und die Nacht meinen Freunden und dem Vergnügen lebte.

»Meine Fenster wiesen auf einen Garten, der von der Abendseite an die Ringmauer eines Klosters stieß, gegen Morgen aber wie eine kleine Halbinsel in die Laguna hineinlag. Der Garten hatte die reizendste Anlage, ward aber wenig besucht. Des Morgens, wenn mich meine Freunde verließen, hatte ich die Gewohnheit, ehe ich mich schlafen legte, noch einige Augenblicke am Fenster zuzubringen, die Sonne über dem Golf aufsteigen zu sehen und ihr dann gute Nacht zu sagen. Wenn Sie sich diese Lust noch nicht gemacht haben, gnädigster Prinz, so empfehle ich Ihnen diesen Standort, den ausgesuchtesten vielleicht in ganz Venedig, diese herrliche Erscheinung zu genießen. Eine purpurne Nacht liegt über der Tiefe, und ein goldener Rauch verkündigt sie von fern am Saum der Laguna. Erwartungsvoll ruhen Himmel und Meer. Zwei Winke, so steht sie da, ganz und vollkommen, und alle Wellen brennen – es ist ein entzückendes Schauspiel!

»Eines Morgens, als ich mich nach Gewohnheit der Lust dieses Anblicks überlasse, entdecke ich auf einmal, daß ich nicht der einzige Zeuge desselben bin. Ich glaube, Menschenstimmen im Garten zu vernehmen, und als ich mich nach dem Schall wende, nehme ich eine Gondel wahr, die an der Wasserseite landet. Wenige Augenblicke, so sehe ich Menschen im Garten hervorkommen und mit langsamen Schritten, Spaziergehenden gleich, die Allee heraufwandeln. Ich erkenne, daß es eine Mannsperson und ein Frauenzimmer ist, die einen kleinen Neger bei sich haben. Das Frauenzimmer ist weiß gekleidet, und ein Brillant spielt an ihrem Finger; mehr läßt mich die Dämmerung noch nicht unterscheiden.

»Meine Neugier wird rege. Ganz gewiß ein Rendezvous und ein liebendes Paar – aber an diesem Ort und zu einer so ganz ungewöhnlichen Stunde! – denn kaum war es drei Uhr, und alles lag noch in trübe Dämmerung verschleiert. Der Einfall schien mir neu und zu einem Roman die Anlage gemacht. Ich wollte das Ende erwarten.

»In den Laubgewölben des Gartens verlier' ich sie bald aus dem Gesicht, und es wird lange, bis sie wieder erscheinen. Ein angenehmer Gesang erfüllt unterdessen die Gegend. Er kam von dem Gondolier, der sich auf diese Weise die Zeit in seiner Gondel verkürzte und dem von einem Kameraden aus der Nachbarschaft geantwortet wurde. Es waren Stanzen aus dem Tasso; Zeit und Ort stimmten harmonisch dazu, und die Melodie verklang lieblich in der allgemeinen Stille.

»Mittlerweile war der Tag angebrochen, und die Gegenstände ließen sich deutlicher erkennen. Ich suche meine Leute. Hand in Hand gehen sie jetzt eine breite Allee hinauf und bleiben öfters stehen, aber sie haben den Rücken gegen mich gekehrt, und ihr Weg entfernt sie von meiner Wohnung. Der Anstand ihres Ganges läßt mich auf einen vornehmen Stand, und ein edler engelschöner Wuchs auf eine ungewöhnliche Schönheit schließen. Sie sprachen wenig, wie mir schien, die Dame jedoch mehr als ihr Begleiter. An dem Schauspiel des Sonnenaufgangs, das sich jetzt eben in höchster Pracht über ihnen verbreitete, schienen sie gar keinen Anteil zu nehmen.

»Indem ich meinen Tubus herbeihole und richte, um mir diese sonderbare Erscheinung so nahe zu bringen als möglich, verschwinden sie plötzlich wieder in einem Seitenweg, und eine lange Zeit vergeht, ehe ich sie wieder erblicke. Die Sonne ist nun ganz aufgegangen, sie kommen dicht unter mir vor und sehen mir gerade entgegen. – – – Welche himmlische Gestalt erblicke ich! – War es das Spiel meiner Einbildung, war es die Magie der Beleuchtung? Ich glaubte, ein überirdisches Wesen zu sehen, und mein Auge floh zurück, geschlagen von dem blendenden Licht. – So viel Anmut bei so viel Majestät! So viel Geist und Adel bei so viel blühender Jugend! – Umsonst versuch' ich, es Ihnen zu beschreiben. Ich kannte keine Schönheit vor diesem Augenblick.

»Das Interesse des Gesprächs verweilt sie in meiner Nähe, und ich habe volle Muße, mich in dem wundervollen Anblick zu verlieren. Kaum aber sind meine Blicke auf ihren Begleiter gefallen, so ist selbst diese Schönheit nicht mehr imstande, sie zurückzurufen. Er schien mir ein Mann zu sein in seinen besten Jahren, etwas hager und von großer edler Statur – aber von keiner Menschenstirne strahlte mir noch so viel Geist, so viel Hohes, so viel Göttliches entgegen. Ich selbst, obgleich vor aller Entdeckung gesichert, vermochte es nicht, dem durchbohrenden Blick standzuhalten, der unter den finstern Augenbraunen blitzewerfend hervorschoß. Um seine Augen lag eine stille rührende Traurigkeit, und ein Zug des Wohlwollens um die Lippen milderte den trüben Ernst, der das ganze Gesicht überschattete. Aber ein gewisser Schnitt des Gesichts, der nicht europäisch war, verbunden mit einer Kleidung, die aus den verschiedensten Trachten, aber mit einem Geschmacke, den niemand ihm nachahmen wird, kühn und glücklich gewählt war, gaben ihm eine Miene von Sonderbarkeit, die den außerordentlichen Eindruck seines ganzen Wesens nicht wenig erhöhte. Etwas Irres in seinem Blicke konnte einen Schwärmer vermuten lassen, aber Gebärden und äußrer Anstand verkündigten einen Mann, den die Welt ausgebildet hat.«

Z***, der, wie Sie wissen, alles heraussagen muß, was er denkt, konnte hier nicht länger an sich halten. »Unser Armenier!« rief er aus. »Unser ganzer Armenier, niemand anders!«

»Was für ein Armenier, wenn man fragen darf?« sagte Civitella.

»Hat man Ihnen die Farce noch nicht erzählt?« sagte der Prinz. »Aber keine Unterbrechung! Ich fange an, mich für Ihren Mann zu interessieren. Fahren Sie fort in Ihrer Erzählung.«

»Etwas Unbegreifliches war in seinem Betragen. Seine Blicke ruhten mit Bedeutung, mit Leidenschaft auf ihr, wenn sie wegsah, und sie fielen zu Boden, wenn sie auf die ihrigen trafen. Ist dieser Mensch von Sinnen? dachte ich. Eine Ewigkeit wollt' ich stehen und nichts anders betrachten.

»Das Gebüsche raubte sie mir wieder. Ich wartete lange, lange, sie wieder herauskommen zu sehen, aber vergebens. Aus einem andern Fenster endlich entdeck' ich sie aufs neue.

»Vor einem Bassin standen sie, in einer gewissen Entfernung voneinander, beide in tiefes Schweigen verloren. Sie mochten schon ziemlich lange in dieser Stellung gestanden haben. Ihr offnes, seelenvolles Auge ruhte forschend auf ihm und schien jeden aufkeimenden Gedanken von seiner Stirne zu nehmen. Er, als ob er nicht Mut genug in sich fühlte, es aus der ersten Hand zu empfangen, suchte verstohlen ihr Bild in der spiegelnden Flut oder blickte starr auf den Delphin, der das Wasser in das Becken spritzte. Wer weiß, wie lange dieses stumme Spiel noch gedauert haben würde, wenn die Dame es hätte aushalten können? Mit der liebenswürdigsten Holdseligkeit ging das schöne Geschöpf auf ihn zu, faßte, den Arm um seinen Nacken flechtend, eine seiner Hände und führte sie zum Munde. Gelassen ließ der kalte Mensch es geschehen, und ihre Liebkosung blieb unerwidert.

»Aber es war etwas an diesem Auftritt, was mich rührte. Der Mann war es, was mich rührte. Ein heftiger Affekt schien in seiner Brust zu arbeiten, eine unwiderstehliche Gewalt ihn zu ihr hinzuziehen, ein verborgener Arm ihn zurückzureißen. Still, aber schmerzhaft war dieser Kampf, und die Gefahr so schön an seiner Seite. Nein, dachte ich, er unternimmt zu viel. Er wird, er muß unterliegen.

»Auf einen heimlichen Wink von ihm verschwindet der kleine Neger. Ich erwarte nun einen Auftritt von empfindsamer Art, eine kniende Abbitte, eine mit tausend Küssen besiegelte Versöhnung. Nichts von dem allen. Der unbegreifliche Mensch nimmt aus einem Portefeuille ein versiegeltes Paket und gibt es in die Hände der Dame. Trauer überzieht ihr Gesicht, da sie es ansieht, und eine Träne schimmert in ihrem Auge.

»Nach einem kurzen Stillschweigen brechen sie auf. Aus einer Seitenallee tritt eine bejahrte Dame zu ihnen, die sich die ganze Zeit über entfernt gehalten hatte und die ich jetzt erst entdecke. Langsam gehen sie hinab, beide Frauenzimmer in Gespräch miteinander, währenddessen er die Gelegenheit wahrnimmt, unvermerkt hinter ihnen zurückzubleiben. Unschlüssig und mit starrem Blick nach ihr hingewendet, steht er und geht und steht wieder. Auf einmal ist er weg im Gebüsche.

»Vorn sieht man sich endlich um. Man scheint unruhig, ihn nicht mehr zu finden, und steht stille, wie es scheint, ihn zu erwarten. Er kommt nicht. Die Blicke irren ängstlich umher, die Schritte verdoppeln sich. Meine Augen helfen den ganzen Garten durchsuchen. Er bleibt aus. Er ist nirgends.

»Auf einmal hör' ich am Kanal etwas rauschen, und eine Gondel stößt vom Ufer. Er ist's, und mit Mühe enthalt' ich mich, es ihr zuzuschreien. Jetzt also war's am Tage – es war eine Abschiedsszene.

»Sie schien zu ahnden, was ich wußte. Schneller, als die andre ihr folgen kann, eilt sie nach dem Ufer. Zu spät. Pfeilschnell fliegt die Gondel dahin, und nur ein weißes Tuch flattert noch fern in den Lüften. Bald darauf seh' ich auch die Frauenzimmer überfahren.

»Als ich von einem kurzen Schlummer erwachte, mußte ich über meine Verblendung lachen. Meine Phantasie hatte diese Begebenheit im Traum fortgesetzt, und nun wurde mir auch die Wahrheit zum Traume. Ein Mädchen, reizend wie eine Houri › die vor Tagesanbruch in einem abgelegenen Garten vor meinem Fenster mit ihrem Liebhaber lustwandelt, ein Liebhaber, der von einer solchen Stunde keinen bessern Gebrauch zu machen weiß, dies schien mir eine Komposition zu sein, welche höchstens die Phantasie eines Träumenden wagen und entschuldigen konnte. Aber der Traum war zu schön gewesen, um ihn nicht sooft als möglich zu erneuern, und auch der Garten war mir jetzt lieber geworden, seitdem ihn meine Phantasie mit so reizenden Gestalten bevölkert hatte. Einige unfreundliche Tage, die auf diesen Morgen folgten, verscheuchten mich von dem Fenster, aber der erste heitre Abend zog mich unwillkürlich dahin. Urteilen Sie von meinem Erstaunen, als mir nach kurzem Suchen das weiße Gewand meiner Unbekannten entgegenschimmerte. Sie war es selbst. Sie war wirklich. Ich hatte nicht bloß geträumt.

»Die vorige Matrone war bei ihr, die einen kleinen Knaben führte; sie selbst aber ging in sich gekehrt und seitwärts. Alle Plätze wurden besucht, die ihr noch vom vorigen Male her durch ihren Begleiter merkwürdig waren. Besonders lange verweilte sie an dem Bassin, und ihr starr hingeheftetes Auge schien das geliebte Bild vergebens zu suchen.

»Hatte mich diese hohe Schönheit das erste Mal hingerissen, so wirkte sie heute mit einer sanftern Gewalt auf mich, die nicht weniger stark war. Ich hatte jetzt vollkommene Freiheit, das himmlische Bild zu betrachten; das Erstaunen des ersten Anblicks machte unvermerkt einer süßen Empfindung Platz. Die Glorie um sie verschwindet, und ich sehe in ihr nichts mehr als das schönste aller Weiber, das meine Sinne in Glut setzt. In diesem Augenblick ist es beschlossen. Sie muß mein sein.

»Indem ich bei mir selbst überlege, ob ich hinuntergehe und mich ihr nähere, oder, eh' ich dieses wage, erst Erkundigungen von ihr einziehe, öffnet sich eine kleine Pforte an der Klostermauer, und ein Karmelitermönch tritt aus derselben. Auf das Geräusch, das er macht, verläßt die Dame ihren Platz, und ich sehe sie mit lebhaften Schritten auf ihn zugehen. Er zieht ein Papier aus dem Busen, wonach sie begierig hascht, und eine lebhafte Freude scheint in ihr Angesicht zu fliegen.

»In eben diesem Augenblick treibt mich mein gewöhnlicher Abendbesuch von dem Fenster. Ich vermeide es sorgfältig, weil ich keinem andern diese Eroberung gönne. Eine ganze Stunde muß ich in dieser peinlichen Ungeduld aushalten, bis es mir endlich gelingt, diese Überlästigen zu entfernen. Ich eile an mein Fenster zurück, aber verschwunden ist alles!

»Der Garten ist ganz leer, als ich hinuntergehe. Kein Fahrzeug mehr im Kanal. Nirgends eine Spur von Menschen. Ich weiß weder, aus welcher Gegend sie kam, noch wohin sie gegangen ist. Indem ich, die Augen aller Orten herum gewandt, vor mich hinwandle, schimmert mir von fern etwas Weißes im Sand entgegen. Wie ich hinzutrete, ist es ein Papier, in Form eines Briefs geschlagen. Was konnte es anders sein als der Brief, den der Karmeliter ihr überbracht hatte? ›Glücklicher Fund,‹ rief ich aus. ,Dieser Brief wird mir das ganze Geheimnis aufschließen, er wird mich zum Herrn ihres Schicksals machen.‹

»Der Brief war mit einer Sphinx gesiegelt, ohne Überschrift und in Chiffern verfaßt; dies schreckte mich aber nicht ab, weil ich mich auf das Dechiffrieren verstehe. Ich kopiere ihn geschwind, denn es war zu erwarten, daß sie ihn bald vermissen und zurückkommen würde, ihn zu suchen. Fand sie ihn nicht mehr, so mußte ihr dies ein Beweis sein, daß der Garten von mehrern Menschen besucht würde, und diese Entdeckung konnte sie leicht auf immer daraus verscheuchen. Was konnte meiner Hoffnung Schlimmers begegnen?

»Was ich vermutet hatte, geschah. Ich war mit meiner Kopie kaum zu Ende, so erschien sie wieder mit ihrer vorigen Begleiterin, beide ängstlich suchend. Ich befestige den Brief an einem Schiefer, den ich vom Dache losmache, und lasse ihn an einem Ort herabfallen, an dem sie vorbei muß. Ihre schöne Freude, als sie ihn findet, belohnt mich für meine Großmut. Mit scharfem prüfendem Blick, als wollte sie die unheilige Hand daran ausspähen, die ihn berührt haben konnte, musterte sie ihn von allen Seiten; aber die zufriedene Miene, mit der sie ihn einsteckte, bewies, daß sie ganz ohne Arges war. Sie ging, und ein zurückfallender Blick ihres Auges nahm einen dankbaren Abschied von den Schutzgöttern des Gartens, die das Geheimnis ihres Herzens so treu gehütet hatten.

»Jetzt eilte ich, den Brief zu entziffern. Ich versuchte es mit mehrern Sprachen; endlich gelang es mir mit der englischen. Sein Inhalt war mir so merkwürdig, daß ich ihn auswendig behalten habe.« –

Ich werde unterbrochen. Den Schluß ein andermal.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Achter Brief

August.

Nein, liebster Freund, Sie tun dem guten Biondello Unrecht. Gewiß, Sie hegen einen falschen Verdacht. Ich gebe Ihnen alle Italiener preis, aber dieser ist ehrlich.

Sie finden es sonderbar, daß ein Mensch von so glänzenden Talenten und einer so exemplarischen Aufführung sich zum Dienen herabsetze, wenn er nicht geheime Absichten dabei habe; und daraus ziehen Sie den Schluß, daß diese Absichten verdächtig sein müssen. Wie? Ist es denn so etwas Neues, daß ein Mensch von Kopf und Verdiensten sich einem Fürsten gefällig zu machen sucht, der es in der Gewalt hat, sein Glück zu machen? Ist es etwa entehrend, ihm zu dienen? Läßt Biondello nicht deutlich genug merken, daß seine Anhänglichkeit an den Prinzen persönlich sei? Er hat ihm ja gestanden, daß er eine Bitte an ihn auf dem Herzen habe. Diese Bitte wird uns ohne Zweifel das ganze Geheimnis erklären. Geheime Absichten mag er immer haben; aber können diese nicht unschuldig sein?

Es befremdet Sie, daß dieser Biondello in den ersten Monaten, und das waren die, in denen Sie uns Ihre Gegenwart noch schenkten, alle die großen Talente, die er jetzt an den Tag kommen lasse, verborgen gehalten und durch gar nichts die Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. Das ist wahr; aber wo hätte er damals die Gelegenheit gehabt, sich auszuzeichnen? Der Prinz bedurfte seiner ja noch nicht, und seine übrigen Talente mußte der Zufall uns entdecken.

Aber er hat uns ganz kürzlich einen Beweis seiner Ergebenheit und Redlichkeit gegeben, der alle Ihre Zweifel zu Boden schlagen wird. Man beobachtet den Prinzen. Man sucht geheime Erkundigungen von seiner Lebensart, von seinen Bekanntschaften und Verhältnissen einzuziehen. Ich weiß nicht, wer diese Neugierde hat. Aber hören Sie an.

Es ist hier in St. Georg ein öffentliches Haus, wo Biondello öfters aus- und eingeht; er mag da etwas Liebes haben, ich weiß es nicht. Vor einigen Tagen ist er auch da; er findet eine Gesellschaft beisammen, Advokaten und Offizianten der Regierung, lustige Brüder und Bekannte von sich. Man verwundert sich, man ist erfreut, ihn wieder zu sehen. Die alte Bekanntschaft wird erneuert, jeder erzählt seine Geschichte bis auf diesen Augenblick, Biondello soll auch die seinige zum besten geben. Er tut es in wenigen Worten. Man wünscht ihm Glück zu seinem neuen Etablissement, man hat von der glänzenden Lebensart des Prinzen von *** schon erzählen hören, von seiner Freigebigkeit gegen Leute besonders, die ein Geheimnis zu bewahren wissen; seine Verbindung mit dem Kardinal A***i ist weltbekannt, er liebt das Spiel, u. s. w. Biondello stutzt – Man scherzt mit ihm, daß er den Geheimnisvollen mache, man wisse doch, daß er der Geschäftsträger des Prinzen von *** sei; die beiden Advokaten nehmen ihn in die Mitte; die Flasche leert sich fleißig – man nötigt ihn zu trinken; er entschuldigt sich, weil er keinen Wein vertrage, trinkt aber doch, um sich zum Schein zu betrinken.

»Ja,« sagte endlich der eine Advokat, »Biondello versteht sein Handwerk; aber ausgelernt hat er noch nicht, er ist nur ein Halber.«

»Was fehlt mir noch?« fragte Biondello.

»Er versteht die Kunst,« sagte der andere, »ein Geheimnis bei sich zu behalten, aber die andere noch nicht, es mit Vorteil wieder loswerden.«

»Sollte sich ein Käufer dazu finden?« fragte Biondello.

Die übrigen Gäste zogen sich hier aus dem Zimmer, er blieb tête à tête mit seinen beiden Leuten, die nun mit der Sprache herausgingen. Daß ich es kurz mache, er sollte ihnen über den Umgang des Prinzen mit dem Kardinal und seinem Neffen Aufschlüsse verschaffen, ihnen die Quelle angeben, woraus der Prinz Geld schöpfe, und ihnen die Briefe, die an den Grafen von O** geschrieben würden, in die Hände spielen. Biondello beschied sie auf ein andermal; aber wer sie angestellt habe, konnte er nicht aus ihnen herausbringen. Nach den glänzenden Anerbietungen, die ihm gemacht wurden, zu schließen, mußte die Nachfrage von einem sehr reichen Manne herrühren.

Gestern abend entdeckte er meinem Herrn den ganzen Vorfall. Dieser war anfangs willens, die Unterhändler kurz und gut beim Kopf nehmen zu lassen; aber Biondello machte Einwendungen. Auf freien Fuß würde man sie doch wieder stellen müssen, und dann habe er seinen ganzen Kredit unter dieser Klasse, vielleicht sein Leben selbst, in Gefahr gesetzt. Alle dieses Volk hange unter sich zusammen, alle stehen für einen; er wolle lieber den hohen Rat in Venedig zum Feinde haben, als unter ihnen für einen Verräter verschrien werden; er würde dem Prinzen auch nicht mehr nützlich sein können, wenn er das Vertrauen dieser Volksklasse verloren hätte.

Wir haben hin und her geraten, von wem dies wohl kommen möchte. Wer ist in Venedig, dem daran liegen kann, zu wissen, was mein Herr einnimmt und ausgibt, was er mit dem Kardinal A***i zu tun hat und was ich Ihnen schreibe? Sollte es gar noch ein Vermächtnis von dem Prinzen von **d** sein? Oder regt sich etwa der Armenier wieder?

Baron von F*** an den Grafen von O**

Neunter Brief

August.

Der Prinz schwimmt in Wonne und Liebe. Er hat seine Griechin wieder. Hören Sie, wie dies zugegangen ist.

Ein Fremder, der über Chiozza gekommen war und von der schönen Lage dieser Stadt am Golf viel zu erzählen wußte, machte den Prinzen neugierig, sie zu sehen. Gestern wurde dies ausgeführt, und um allen Zwang und Aufwand zu vermeiden, sollte niemand ihn begleiten als Z*** und ich nebst Biondello, und mein Herr wollte unbekannt bleiben. Wir fanden ein Fahrzeug, das eben dahin abging, und mieteten uns darauf ein. Die Gesellschaft war sehr gemischt, aber unbedeutend, und die Hinreise hatte nichts Merkwürdiges.

Chiozza ist auf eingerammten Pfählen gebaut, wie Venedig, und soll gegen vierzigtausend Einwohner zählen. Adel findet man wenig, aber bei jedem Tritte stößt man auf Fischer oder Matrosen. Wer eine Perücke und einen Mantel trägt, heißt ein Reicher; Mütze und Überschlag sind das Zeichen eines Armen. Die Lage der Stadt ist schön, doch darf man Venedig nicht gesehen haben.

Wir verweilten uns nicht lange. Der Patron, der noch mehr Passagiers hatte, mußte zeitig wieder in Venedig sein, und den Prinzen fesselte nichts in Chiozza. Alles hatte seinen Platz schon im Schiffe genommen, als wir ankamen. Weil sich die Gesellschaft auf der Herfahrt so beschwerlich gemacht hatte, so nahmen wir diesmal ein Zimmer für uns allein. Der Prinz erkundigte sich, wer noch mehr da sei? Ein Dominikaner, war die Antwort, und einige Damen, die retour nach Venedig gingen. Mein Herr war nicht neugierig, sie zu sehen, und nahm sogleich sein Zimmer ein.

Die Griechin war der Gegenstand unsers Gesprächs auf der Herfahrt gewesen › und sie war es auch auf der Rückfahrt. Der Prinz wiederholte sich ihre Erscheinung in der Kirche mit Feuer; Plane wurden gemacht und verworfen; die Zeit verstrich wie ein Augenblick; ehe wir es uns versahen, lag Venedig vor uns. Einige von den Passagiers stiegen aus, der Dominikaner war unter diesen. Der Patron ging zu den Damen, die, wie wir jetzt erst erfuhren, nur durch ein dünnes Brett von uns geschieden waren, und fragte sie, wo er anlegen sollte. »Auf der Insel Murano,« war die Antwort, und das Haus wurde genannt. – »Insel Murano!« rief der Prinz, und ein Schauer der Ahndung schien durch seine Seele zu fliegen. Eh' ich ihm antworten konnte, stürzte Biondello herein. »Wissen Sie auch, in welcher Gesellschaft wir reisen?« – Der Prinz sprang auf – »Sie ist hier! Sie selbst!« fuhr Biondello fort. »Ich komme eben von ihrem Begleiter.«

Der Prinz drang hinaus. Das Zimmer ward ihm zu enge, die ganze Welt wär' es in diesem Augenblick gewesen. Tausend Empfindungen stürmten in ihn, seine Knie zitterten, Röte und Blässe wechselten in seinem Gesichte. Ich zitterte erwartungsvoll mit ihm. Ich kann Ihnen diesen Zustand nicht beschreiben.

In Murano ward angehalten. Der Prinz sprang ans Ufer. Sie kam. Ich las im Gesicht des Prinzen, daß sie's war. Ihr Anblick ließ mir keinen Zweifel übrig. Eine schönere Gestalt hab' ich nie gesehen; alle Beschreibungen des Prinzen waren unter der Wirklichkeit geblieben. Eine glühende Röte überzog ihr Gesicht, als sie den Prinzen ansichtig wurde. Sie hatte unser ganzes Gespräch hören müssen, sie konnte auch nicht zweifeln, daß sie der Gegenstand desselben gewesen sei. Mit einem bedeutenden Blicke sah sie ihre Begleiterin an, als wollte sie sagen: das ist er! und mit Verwirrung schlug sie ihre Augen nieder. Ein schmales Brett ward vom Schiff an das Ufer gelegt, über welches sie zu gehen hatte. Sie schien ängstlich, es zu betreten – aber weniger, wie mir vorkam, weil sie auszugleiten fürchtete, als weil sie es ohne fremde Hülfe nicht konnte und der Prinz schon den Arm ausstreckte, ihr beizustehen. Die Not siegte über diese Bedenklichkeit. Sie nahm seine Hand an und war am Ufer. Die heftige Gemütsbewegung, in der der Prinz war, machte ihn unhöflich; die andere Dame, die auf den nämlichen Dienst wartete, vergaß er – was hätte er in diesem Augenblick nicht vergessen? Ich erwies ihr endlich diesen Dienst, und dies brachte mich um das Vorspiel einer Unterredung, die sich zwischen meinem Herrn und der Dame angefangen hatte.

Er hielt noch immer ihre Hand in der seinigen – aus Zerstreuung, denke ich, und ohne daß er es selbst wußte.

»Es ist nicht das erste Mal, Signora, daß – – daß – –« Er konnte es nicht heraus sagen.

»Ich sollte mich erinnern,« lispelte sie –

»In der ***Kirche,« sagte er –

»In der ***Kirche war es,« sagte sie –

»Und konnte ich mir heute vermuten – – Ihnen so nahe –«

Hier zog sie ihre Hand leise aus der seinigen – Er verwirrte sich augenscheinlich. Biondello, der indes mit dem Bedienten gesprochen hatte, kam ihm zu Hülfe.

»Signor,« fing er an, »die Damen haben Sänften hieher bestellt; aber wir sind früher zurückgekommen, als sie sich's vermuteten. Es ist hier ein Garten in der Nähe, wo Sie so lange eintreten können, um dem Gedränge auszuweichen.

Der Vorschlag ward angenommen, und Sie können denken, mit welcher Bereitwilligkeit von seiten des Prinzen. Man blieb in dem Garten, bis es Abend wurde. Es gelang uns, Z*** und mir, die Matrone zu beschäftigen, daß der Prinz sich mit der jungen Dame ungestört unterhalten konnte. Daß er diese Augenblicke gut zu benutzen gewußt habe, können Sie daraus abnehmen, daß er die Erlaubnis empfangen hat, sie zu besuchen. Eben jetzt, da ich Ihnen schreibe, ist er dort. Wenn er zurückkommt, werde ich mehr erfahren.

Gestern, als wir nach Hause kamen, fanden wir auch die erwarteten Wechsel von unserm Hofe, aber von einem Briefe begleitet, der meinen Herrn sehr in Flammen setzte. Man ruft ihn zurück, und in einem Tone, wie er ihn gar nicht gewohnt ist. Er hat sogleich in einem ähnlichen geantwortet und wird bleiben. Die Wechsel sind eben hinreichend, um die Zinsen von dem Kapitale zu bezahlen, das er schuldig ist. Einer Antwort von seiner Schwester sehen wir mit Verlangen entgegen.

Baron von F*** an den Grafen von O**

Zehnter Brief

September.

Der Prinz ist mit seinem Hofe zerfallen, alle unsere Ressourcen von daher abgeschnitten.

Die sechs Wochen, nach deren Verfluß mein Herr den Marchese bezahlen sollte, waren schon um einige Tage verstrichen, und noch keine Wechsel weder von seinem Cousin, von dem er aufs neue und aufs dringendste Vorschuß verlangt hatte, noch von seiner Schwester. Sie können wohl denken, daß Civitella nicht mahnte; ein desto treueres Gedächtnis aber hatte der Prinz. Gestern Mittag kam eine Antwort vom regierenden Hofe.

Wir hatten kurz vorher einen neuen Kontrakt unsers Hotels wegen abgeschlossen, und der Prinz hatte sein längeres Bleiben schon öffentlich deklariert. Ohne ein Wort zu sagen, gab mir mein Herr den Brief. Seine Augen funkelten, ich las den Inhalt schon auf seiner Stirne.

Können Sie sich vorstellen, lieber O**? Man ist in *** von allen hiesigen Verhältnissen meines Herrn unterrichtet, und die Verleumdung hat ein abscheuliches Gewebe von Lügen daraus gesponnen. Man habe mißfällig vernommen, heißt es unter andern, daß der Prinz seit einiger Zeit angefangen habe, seinen vorigen Charakter zu verleugnen und ein Betragen anzunehmen, das seiner bisherigen lobenswürdigen Art zu denken ganz entgegengesetzt sei. Man wisse, daß er sich dem Frauenzimmer und dem Spiel aufs ausschweifendste ergebe, sich in Schulden stürze, Visionärs und Geisterbannern sein Ohr leihe, mit katholischen Prälaten in verdächtigen Verhältnissen stehe und einen Hofstaat führe, der seinen Rang sowohl als seine Einkünfte überschreite. Es heiße sogar, daß er im Begriff stehe, dieses höchst anstößige Betragen durch eine Apostasie zur römischen Kirche vollkommen zu machen. Um sich von der letztern Beschuldigung zu reinigen, erwarte man von ihm eine ungesäumte Zurückkunft. Ein Bankier in Venedig, dem er den Etat seiner Schulden übergeben solle, habe Anweisung, sogleich nach seiner Abreise seine Gläubiger zu befriedigen; denn unter diesen Umständen finde man nicht für gut, das Geld in seine Hände zu geben.

Was für Beschuldigungen und in welchem Tone! Ich nahm den Brief, durchlas ihn noch einmal, ich wollte etwas darin aufsuchen, das ihn mildern könnte; ich fand nichts, es war mir ganz unbegreiflich.

Z*** erinnerte mich jetzt an die geheime Nachfrage, die vor einiger Zeit an Biondello ergangen war. Die Zeit, der Inhalt, alle Umstände kamen überein. Wir hatten sie fälschlich dem Armenier zugeschrieben. Jetzt war's am Tage, von wem sie herrührte. Apostasie! – Aber wessen Interesse kann es sein, meine Herrn so abscheulich und so platt zu verleumden? Ich fürchte, es ist ein Stückchen von dem Prinzen von **d**, der es durchsetzen will, unsern Herrn aus Venedig zu entfernen.

Dieser schwieg noch immer, die Augen starr vor sich hingeworfen. Sein Stillschweigen ängstigte mich. Ich warf mich zu seinen Füßen. "Um Gottes willen, gnädigster Prinz,« rief ich aus, "beschließen Sie nichts Gewaltsames. Sie sollen, Sie werden die vollständigste Genugtuung haben. Überlassen Sie mir diese Sache. Senden Sie mich hin. Es ist unter Ihrer Würde, sich gegen solche Beschuldigungen zu verantworten; aber mir erlauben Sie, es zu tun. Der Verleumder muß genannt und dem *** die Augen geöffnet werden.«

In dieser Lage fand uns Civitella, der sich mit Erstaunen nach der Ursache unserer Bestürzung erkundigte. Z*** und ich schwiegen. Der Prinz aber, der zwischen ihm und uns schon lange keinen Unterschied mehr zu machen gewohnt ist, auch noch in zu heftiger Wallung war, um in diesem Augenblick der Klugheit Gehör zu geben, befahl uns, ihm den Brief mitzuteilen. Ich wollte zögern, aber der Prinz riß ihn mir aus der Hand und gab ihn selbst dem Marchese.

»Ich bin Ihr Schuldner, Herr Marchese,« fing der Prinz an, nachdem dieser den Brief mit Erstaunen durchlesen hatte, »aber lassen Sie sich das keine Unruhe machen. Geben Sie mir nur noch zwanzig Tage Frist, und Sie sollen befriedigt werden.«

»Gnädigster Prinz,« rief Civitella heftig bewegt, »verdien' ich dieses?«

»Sie haben mich nicht erinnern wollen; ich erkenne Ihre Delikatesse und danke Ihnen. In zwanzig Tagen, wie gesagt, sollen Sie völlig befriedigt werden.«

»Was ist das?« fragte Civitella mich voll Bestürzung. "Wie hängt dies zusammen? Ich fass' es nicht.«

Wir erklärten ihm, was wir wußten. Er kam außer sich. Der Prinz, sagte er, müsse auf Genugtuung dringen; die Beleidigung sei unerhört. Unterdessen beschwöre er ihn, sich seines ganzen Vermögens und Kredits unumschränkt zu bedienen.

Der Marchese hatte uns verlassen und der Prinz noch immer kein Wort gesprochen. Er ging mit starken Schritten im Zimmer auf und nieder; etwas Außerordentliches arbeitete in ihm. Endlich stand er still und murmelte vor sich zwischen den Zähnen: »Wünschen Sie sich Glück – sagte er – Um neun Uhr ist er gestorben.«

Wir sahen ihn erschrocken an.

»Wünschen Sie sich Glück,« fuhr er fort; "Glück – Ich soll mir Glück wünschen – Sagte er nicht so? Was wollte er damit sagen?«

»Wie kommen Sie jetzt darauf?« rief ich. »Was soll das hier?«

»Ich habe damals nicht verstanden, was der Mensch wollte. Jetzt verstehe ich ihn. – Oh, es ist unerträglich hart, einen Herrn über sich haben!«

»Mein teuerster Prinz!«

»Der es uns fühlen lassen kann! – Ha! Es muß süß sein!«

Er hielt wieder inne. Seine Miene erschreckte mich. Ich hatte sie nie an ihm gesehen.

»Der Elendeste unter dem Volk,« fing er wieder an, »oder der nächste Prinz am Throne! Das ist ganz dasselbe. Es gibt nur einen Unterschied unter den Menschen – Gehorchen oder Herrschen!«

Er sah noch einmal in den Brief.

»Sie haben den Menschen gesehen,« fuhr er fort, »der sich unterstehen darf, mir dieses zu schreiben. Würden Sie ihn auf der Straße grüßen, wenn ihn das Schicksal nicht zu Ihrem Herrn gemacht hätte? Bei Gott! Es ist etwas Großes um eine Krone!«

In diesem Ton ging es weiter, und es fielen Reden, die ich keinem Brief anvertrauen darf. Aber bei dieser Gelegenheit entdeckte mir der Prinz einen Umstand, der mich in nicht geringes Erstaunen und Schrecken setzte und der die gefährlichsten Folgen haben kann. Über die Familienverhältnisse am ***Hofe sind wir bisher in einem großen Irrtum gewesen.

Der Prinz beantwortete den Brief auf der Stelle, so sehr ich mich dagegen setzte, und die Art, wie er es getan hat, läßt keine gütliche Beilegung mehr hoffen.

Sie werden nun auch begierig sein, liebster O**, von der Griechin endlich etwas Positives zu erfahren; aber eben dies ist es, worüber ich Ihnen noch immer keinen befriedigenden Aufschluß geben kann. Aus dem Prinzen ist nichts herauszubringen, weil er in das Geheimnis gezogen ist und sich, wie ich vermute, hat verpflichten müssen, es zu bewahren. Daß sie aber die Griechin nicht ist, für die wir sie hielten, ist heraus. Sie ist eine Deutsche und von der edelsten Abkunft. Ein gewisses Gerücht, dem ich auf die Spur gekommen bin, gibt ihr eine sehr hohe Mutter und macht sie zu der Frucht einer unglücklichen Liebe, wovon in Europa viel gesprochen worden ist. Heimliche Nachstellungen von mächtiger Hand haben sie, laut dieser Sage, gezwungen, in Venedig Schutz zu suchen, und eben diese sind auch die Ursache ihrer Verborgenheit, die es dem Prinzen unmöglich gemacht hat, ihren Aufenthalt zu erforschen. Die Ehrerbietung, womit der Prinz von ihr spricht, und gewisse Rücksichten, die er gegen sie beobachtet, scheinen dieser Vermutung Kraft zu geben.

Er ist mit einer fürchterlichen Leidenschaft an sie gebunden, die mit jedem Tage wächst. In der ersten Zeit wurden die Besuche sparsam zugestanden; doch schon in der zweiten Woche verkürzte man die Trennungen, und jetzt vergeht kein Tag, wo der Prinz nicht dort wäre. Ganze Abende verschwinden, ohne daß wir ihn zu Gesicht bekommen; und ist er auch nicht in ihrer Gesellschaft, so ist sie es doch allein, was ihn beschäftigt. Sein ganzes Wesen scheint verwandelt. Er geht wie ein Träumender umher, und nichts von allem, was ihn sonst interessiert hatte, kann ihm jetzt nur eine flüchtige Aufmerksamkeit abgewinnen.

Wohin wird das noch kommen, liebster Freund? Ich zittre für die Zukunft. Der Bruch mit seinem Hofe hat meinen Herrn in eine erniedrigende Abhängigkeit von einem einzigen Menschen, von dem Marchese Civitella, gesetzt. Dieser ist jetzt Herr unsrer Geheimnisse, unsers ganzen Schicksals. Wird er immer so edel denken, als er sich uns jetzo noch zeigt? Wird dieses gute Vernehmen auf die Dauer bestehen, und ist es wohl getan, einem Menschen, auch dem vortrefflichsten, so viel Wichtigkeit und Macht einzuräumen?

An die Schwester des Prinzen ist ein neuer Brief abgegangen. Den Erfolg hoffe ich Ihnen in meinem nächsten Briefe melden zu können.

Der Graf von O** zur Fortsetzung

Aber dieser nächste Brief blieb aus. Drei ganze Monate vergingen, ehe ich Nachricht aus Venedig erhielt – eine Unterbrechung, deren Ursache sich in der Folge nur zu sehr aufklärte. Alle Briefe meines Freundes an mich waren zurückbehalten und unterdrückt worden. Man urteile von meiner Bestürzung, als ich endlich im Dezember dieses Jahrs folgendes Schreiben erhielt, das bloß ein glücklicher Zufall (weil Biondello, der es zu bestellen hatte, plötzlich krank wurde) in meine Hände brachte.

»Sie schreiben nicht. Sie antworten nicht – Kommen Sie – o kommen Sie auf Flügeln der Freundschaft. Unsre Hoffnung ist dahin. Lesen Sie diesen Einschluß. Alle unsre Hoffnung ist dahin.

»Die Wunde des Marchese soll tödlich sein. Der Kardinal brütet Rache, und seine Meuchelmörder suchen den Prinzen. Mein Herr – o mein unglücklicher Herr! – Ist es dahin gekommen? Unwürdiges, entsetzliches Schicksal! Wie Nichtswürdige müssen wir uns vor Mördern und Gläubigern verbergen.

»Ich schreibe Ihnen aus dem ***Kloster, wo der Prinz eine Zuflucht gefunden hat. Eben ruht er auf einem harten Lager neben mir und schläft – ach den Schlummer der tödlichsten Erschöpfung, der ihn nur zu neuem Gefühl seiner Leiden stärken wird. Die zehen Tage, daß sie krank war, kam kein Schlaf in seine Augen. Ich war bei der Leichenöffnung. Man fand Spuren von Vergiftung. Heute wird man sie begraben.

»Ach liebster O**, mein Herz ist zerrissen. Ich habe einen Auftritt erlebt, der nie aus meinem Gedächtnis verlöschen wird. Ich stand vor ihrem Sterbebette. Wie eine Heilige schied sie dahin, und ihre letzte sterbende Beredsamkeit erschöpfte sich, ihren Geliebten auf den Weg zu leiten, den sie zum Himmel wandelte – Alle unsere Standhaftigkeit war erschüttert, der Prinz allein stand fest, und ob er gleich ihren Tod dreifach mit erlitt, so behielt er doch Stärke des Geistes genug, der frommen Schwärmerin ihre letzte Bitte zu verweigern.«

In diesem Brief lag folgender Einschluß:

An den Prinzen von *** von seiner Schwester.

»Die allein seligmachende Kirche, die an dem Prinzen von *** eine so glänzende Eroberung gemacht hat, wird es ihm auch nicht an Mitteln fehlen lassen, die Lebensart fortzusetzen, der sie diese Eroberung verdankt. Ich habe Tränen und Gebet für einen Verirrten, aber keine Wohltaten mehr für einen Unwürdigen.

Henriette ***"

Ich nahm sogleich Post, reiste Tag und Nacht, und in der dritten Woche war ich in Venedig. Meine Eilfertigkeit nützte mir nichts mehr. Ich war gekommen, einem Unglücklichen Trost und Hülfe zu bringen; ich fand einen Glücklichen, der meines schwachen Beistandes nicht mehr benötigt war. F*** lag krank und war nicht zu sprechen, als ich anlangte; folgendes Billet überbrachte man mir von seiner Hand. »Reisen Sie zurück, liebster O**, wo Sie hergekommen sind. Der Prinz bedarf Ihrer nicht mehr, auch nicht meiner. Seine Schulden sind bezahlt, der Kardinal versöhnt, der Marchese wieder hergestellt. Erinnern Sie sich des Armeniers, der uns voriges Jahr so zu verwirren wußte? In seinen Armen finden Sie den Prinzen, der seit fünf Tagen – die erste Messe hörte.«

Ich drängte mich nichtsdestoweniger zum Prinzen, ward aber abgewiesen. An dem Bette meines Freundes erfuhr ich endlich die unerhörte Geschichte.

Ende des ersten Teils

Anmerkung: Einen zweiten Teil aus Schillers Feder gibt es nicht. Dieser einzige Roman des Dichters blieb unvollendet.


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