Friedrich Schiller
Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen
Friedrich Schiller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achter Brief.

Soll sich also die Philosophie, muthlos und ohne Hoffnung, aus diesem Gebiete zurückziehen? Während daß sich die Herrschaft der Formen nach jeder andern Richtung erweitert, soll dieses wichtigste aller Güter dem gestaltlosen Zufall preisgegeben sein? Der Conflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern und das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen?

Nichts weniger! Die Vernunft selbst wird zwar mit dieser rauhen Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den Kampf nicht versuchen und so wenig, als der Sohn des Saturns in der Ilias, selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz heruntersteigen. Aber aus der Mitte der Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn, wie Zeus seinen Enkel, mit göttlichen Waffen und bewirkt durch seine siegende Kraft die große Entscheidung.

Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der muthige Wille und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen Trieb aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dies nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleiern wußte, sondern an dem Herzen, das sich ihr verschloß, und an dem Triebe, der nicht für sie handelte.

Denn woher diese noch so allgemeine Herrschaft der Vorurtheile und diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten? Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsre praktischen Grundsätze zu berichtigen. Der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten, und den Grund unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug ihren Thron erbauten. Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer bezüglichen Sophistik gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schooß der Natur zurück – woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?

Es muß also, weil es nicht in den Dingen liegt, in den Gemüthern der Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit. auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. Ein alter Weiser hat es empfunden, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdrucke versteckt: sapere aude.

Erkühne dich, weise zu sein. Energie des Muths gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegen setzen. Nicht ohne Bedeutung läßt der alte Mythus die Göttin der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen; denn schon ihre erste Verrichtung ist kriegerisch. Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den Sinnen zu bestehen, die aus ihrer süßen Ruhe nicht gerissen sein wollen. Der zahlreichere Theil der Menschen wird durch den Kampf mit der Noth viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrthum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er Andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priesterthum für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese unglücklichen Menschen unser Mitleiden verdienen, so trifft unsere gerechte Verachtung die andern, die ein besseres Loos von dem Joch der Bedürfnisse frei macht, aber eigene Wahl darunter beugt. Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignem Belieben bequeme Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das feindselige Licht der Erkenntniß zerstreuen soll, haben sie den ganzen Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so theuer kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Werth für sie besitzt? Sie müßten schon weise sein, um die Weisheit zu lieben: eine Wahrheit, die Derjenige schon fühlte, der der Philosophie ihren Namen gab.

Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfniß der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt.

Neunter Brief.

Aber ist hier nicht vielleicht ein Zirkel? Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen, und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein? Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller politischen Verderbniß rein und lauter erhalten.

Jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, zu welchem alle meine bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.

Von allem, was positiv ist und was menschliche Conventionen einführten, ist die Kunst wie die Wissenschaft losgesprochen, und beide erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkür der Menschen. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht. Er kann den Wahrheitsfreund ächten, aber die Wahrheit besteht; er kann den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er nicht verfälschen. Zwar ist nichts gewöhnlicher, als daß beide, Wissenschaft und Kunst, dem Geist des Zeitalters huldigen, und der hervorbringende Geschmack von dem beurtheilenden das Gesetz empfängt. Wo der Charakter straff wird und sich verhärtet, da sehen wir die Wissenschaft streng ihre Grenzen bewachen und die Kunst in den schweren Fesseln der Regel gehen; wo der Charakter erschlafft und sich auflöst, da wird die Wissenschaft zu gefallen und die Kunst zu vergnügen streben. Ganze Jahrhunderte lang zeigen sich die Philosophen wie die Künstler geschäftig, Wahrheit und Schönheit in die Tiefen gemeiner Menschheit hinabzutauchen; jene gehen darin unter, aber mit eigener unzerstörbarer Lebenskraft ringen sich diese siegend empor.

Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohlthätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. Den Stoff zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja, jenseits aller Zeit, von der absoluten, unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen. Hier aus dem reinen Aether seiner dämonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbniß der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen. Seinen Stoff kann die Laune entehren, wie sie ihn geadelt hat, aber die keusche Form ist ihrem Wechsel entzogen. Der Römer des ersten Jahrhunderts hatte längst schon die Kniee vor seinen Kaisern gebeugt, als die Bildsäulen noch aufrecht standen; die Tempel blieben dem Auge heilig, als die Götter längst zum Gelächter dienten, und die Schandthaten eines Nero und Commodus beschämte der edle Styl des Gebäudes, das seine Hülle dazu gab. Die Menschheit hat ihre Würde verloren, aber die Kunst hat sie gerettet und aufbewahrt in bedeutenden Steinen; die Wahrheit lebt in der Täuschung fort, und aus dem Nachbilde wird das Urbild wieder hergestellt werden. So wie die edle Kunst die edle Natur überlebte, so schreitet sie derselben auch in der Begeisterung, bildend und erweckend, voran. Ehe noch die Wahrheit ihr siegendes Licht in die Tiefen der Herzen sendet, fängt die Dichtungskraft ihre Strahlen auf, und die Gipfel der Menschheit werden glänzen, wenn noch feuchte Nacht in den Thälern liegt.

Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urtheil verachtet. Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts nach dem Glück und nach dem Bedürfniß. Gleich frei von der eiteln Geschäftigkeit, die in den flüchtigen Augenblick gern ihre Spur drücken möchte, und von dem ungeduldigen Schwärmergeist, der auf die dürftige Geburt der Zeit den Maßstab des Unbedingten anwendet, überlasse er dem Verstande, der hier einheimisch ist, die Sphäre des Wirklichen; er aber strebe, auf dem Bunde des Möglichen mit dem Nothwendigen das Ideal zu erzeugen. Dieses präge er aus in Täuschung und Wahrheit, präge es in die Spiele seiner Einbildungskraft und in den Ernst seiner Thaten, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit.

Aber nicht Jedem, dem dieses Ideal in der Seele glüht, wurde die schöpferische Ruhe und der große geduldige Sinn verliehen, es in den verschwiegnen Stein einzudrücken oder in das nüchterne Wort auszugießen und den treuen Händen der Zeit zu vertrauen. Viel zu ungestüm, um durch dieses ruhige Mittel zu wandern, stürzt sich der göttliche Bildungstrieb oft unmittelbar auf die Gegenwart und auf das handelnde Leben und unternimmt, den formlosen Stoff der moralischen Welt umzubilden. Dringend spricht das Unglück seiner Gattung zu dem fühlenden Menschen, dringender ihre Entwürdigung, der Enthusiasmus entflammt sich, und das glühende Verlangen strebt in kraftvollen Seelen ungeduldig zur That. Aber befragte er sich auch, ob diese Unordnungen in der moralischen Welt seine Vernunft beleidigen oder nicht vielmehr seine Selbstliebe schmerzen? Weiß er es noch nicht, so wird er es an dem Eifer erkennen, womit er auf bestimmte und beschleunigte Wirkungen dringt. Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart nothwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist.

Gib also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edeln Trieb in seiner Brust, bei allem Widerstande des Jahrhunderts, Genüge zu thun habe, gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen. Diese Richtung hast du ihr gegeben, wenn du, lehrend, ihre Gedanken zum Nothwendigen und Ewigen erhebst, wenn du, handelnd oder bildend, das Nothwendige und Ewige in einen Gegenstand ihrer Triebe verwandelst. Fallen wird das Gebäude des Wahns und der Willkürlichkeit, fallen muß es, es ist schon gefallen, sobald du gewiß bist, daß es sich neigt, aber in dem innern, nicht bloß in dem äußern Menschen muß es sich neigen. In der schamhaften Stille deines Gemüths erziehe die siegende Wahrheit, stelle sie aus dir heraus in der Schönheit, daß nicht bloß der Gedanke ihr huldige, sondern auch der Sinn ihre Erscheinung liebend ergreife. Und damit es dir nicht begegne, von der Wirklichkeit das Muster zu empfangen, das du ihr geben sollst, so wage dich nicht eher in ihre bedenkliche Gesellschaft, bis du eines idealischen Gefolges in deinem Herzen versichert bist. Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber, was sie bedürfen, nicht, was sie loben. Ohne ihre Schuld getheilt zu haben, theile mit edler Resignation ihre Strafen und beuge dich mit Freiheit unter das Joch, das sie gleich schlecht entbehren und tragen. Durch den standhaften Muth, mit dem du ihr Glück verschmähest, wirst du ihnen beweisen, daß nicht deine Feigheit sich ihren Leiden unterwirft. Denke sie dir, wie sie sein sollten, wenn du auf sie zu wirken hast, aber denke sie dir, wie sie sind, wenn du für sie zu handeln versucht wirst. Ihren Beifall suche durch ihre Würde, aber auf ihren Unwerth berechne ihr Glück, so wird dein eigner Adel dort den ihrigen aufwecken und ihre Unwürdigkeit hier deinen Zweck nicht vernichten. Der Ernst deiner Grundsätze wird sie von dir scheuchen, aber im Spiele ertragen sie sie noch; ihr Geschmack ist keuscher als ihr Herz, und hier mußt du den scheuen Flüchtling ergreifen. Ihre Maximen wirst du umsonst bestürmen, ihre Thaten umsonst verdammen, aber an ihrem Müßiggange kannst du deine bildende Hand versuchen. Verjage die Willkür, die Frivolität, die Rohigkeit auf ihren Vergnügungen, so wirst du sie unvermerkt auch aus ihren Handlungen, endlich aus ihren Gesinnungen verbannen. Wo du sie findest, umgib sie mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen, schließe sie ringsum mit den Symbolen des Vortrefflichen ein, bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet.

Zehnter Brief.

Sie sind also mit mir darin einig und durch den Inhalt meiner vorigen Briefe überzeugt, daß sich der Mensch auf zwei entgegengesetzten Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne, daß unser Zeitalter wirklich auf beiden Abwegen wandle und hier der Rohigkeit, dort der Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raub geworden sei. Von dieser doppelten Verirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden. Wie kann aber die schöne Kultur beiden entgegengesetzten Gebrechen zugleich begegnen und zwei widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen? Kann sie in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem Barbaren dieselbe in Freiheit setzen? Kann sie zugleich anspannen und auflösen – und wenn sie nicht wirklich beides leistet, wie kann ein so großer Effekt, als die Ausbildung der Menschheit ist, vernünftiger Weise von ihr erwartet werden?

Zwar hat man schon zum Ueberdruß die Behauptung hören müssen, daß das entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere, so daß es hiezu keines neuen Beweises mehr zu bedürfen scheint. Man stützt sich auf die alltägliche Erfahrung, welche fast durchgängig mit einem gebildeten Geschmacke Klarheit des Verstandes, Regsamkeit des Gefühls, Liberalität und selbst Würde des Betragens, mit einem ungebildeten gewöhnlich das Gegentheil verbunden zeigt. Man beruft sich, zuversichtlich genug, auf das Beispiel der gesittetsten aller Nationen des Alterthums, bei welcher das Schönheitsgefühl zugleich seine höchste Entwicklung erreichte, und auf das entgegengesetzte Beispiel jener theils wilden, theils barbarischen Völker, die ihre Unempfindlichkeit für das Schöne mit einem rohen oder doch austeren Charakter büßen. Nichts desto weniger fällt es zuweilen denkenden Köpfen ein, entweder das Faktum zu leugnen, oder doch die Rechtmäßigkeit der daraus gezogenen Schlüsse zu bezweifeln. Sie denken nicht ganz so schlimm von jener Wildheit, die man den ungebildeten Völkern zum Vorwurf macht, und nicht ganz so vortheilhaft von dieser Verfeinerung, die man an den gebildeten preist. Schon im Alterthum gab es Männer, welche die schöne Kultur für nichts weniger als eine Wohlthat hielten und deßwegen sehr geneigt waren, den Künsten der Einbildungskraft den Eintritt in ihre Republik zu verwehren.

Nicht von Denjenigen rede ich, die bloß darum die Grazien schmähn, weil sie nie ihre Gunst erfuhren. Sie, die keinen andern Maßstab des Werthes kennen als die Mühe der Erwerbung und den handgreiflichen Ertrag – wie sollten sie fähig sein, die stille Arbeit des Geschmacks an dem äußern und innern Menschen zu würdigen, und über den zufälligen Nachtheilen der schönen Kultur nicht ihre wesentlichen Vortheile aus den Augen setzen? Der Mensch ohne Form verachtet alle Anmuth im Vortrage als Bestechung, alle Feinheit im Umgang als Verstellung, alle Delicatesse und Großheit im Betragen als Ueberspannung und Affektation. Er kann es dem Günstling der Grazien nicht vergeben, daß er als Gesellschafter alle Zirkel aufheitert, als Geschäftsmann alle Köpfe nach seinen Absichten lenkt, als Schriftsteller seinem ganzen Jahrhundert vielleicht seinen Geist aufdrückt, während daß er, das Schlachtopfer des Fleißes, mit all seinem Wissen keine Aufmerksamkeit erzwingen, keinen Stein von der Stelle rücken kann. Da er jenem das genialische Geheimniß, angenehm zu sein, niemals abzulernen vermag, so bleibt ihm nichts anders übrig, als die Verkehrtheit der menschlichen Natur zu bejammern, die mehr dem Schein als dem Wesen huldigt.

Aber es gibt achtungswürdige Stimmen, die sich gegen die Wirkungen der Schönheit erklären und auf der Erfahrung mit furchtbaren Gründen dagegen gerüstet sind. »Es ist nicht zu leugnen,« sagen sie, »die Reize des Schönen können in guten Händen zu löblichen Zwecken wirken, aber es widerspricht ihrem Wesen nicht, in schlimmen Händen gerade das Gegentheil zu thun und ihre seelenfesselnde Kraft für Irrthum und Unrecht zu verwenden. Eben deßwegen, weil der Geschmack nur auf die Form und nie auf den Inhalt achtet, so gibt er dem Gemüth zuletzt die gefährliche Richtung, alle Realität überhaupt zu vernachlässigen und einer reizenden Einkleidung Wahrheit und Sittlichkeit aufzuopfern. Aller Sachunterschied der Dinge verliert sich, und es ist bloß die Erscheinung, die ihren Werth bestimmt. Wie viele Menschen von Fähigkeit,« fahren sie fort, »werden nicht durch die verführerische Macht des Schönen von einer ernsten und anstrengenden Wirksamkeit abgezogen, oder wenigstens verleitet, sie oberflächlich zu behandeln! Wie mancher schwache Verstand wird bloß deßwegen mit der bürgerlichen Einrichtung uneins, weil es der Phantasie der Poeten beliebte, eine Welt abzustellen, worin alles ganz anders erfolgt, wo keine Convenienz die Meinungen bindet, keine Kunst die Natur unterdrückt. Welche gefährliche Dialektik haben die Leidenschaften nicht erlernt, seitdem sie in den Gemälden der Dichter mit den glänzendsten Farben prangen und im Kampf mit Gesetzen und Pflichten gewöhnlich das Feld behalten? Was hat wohl die Gesellschaft dabei gewonnen, daß jetzt die Schönheit dem Umgang Gesetze gibt, den sonst die Wahrheit regierte, und daß der äußere Eindruck die Achtung entscheidet, die nur an das Verdienst gefesselt sein sollte? Es ist wahr, man sieht jetzt alle Tugenden blühen, die einen gefälligen Effekt in der Erscheinung machen und einen Werth in der Gesellschaft verleihen, dafür aber auch alle Ausschweifungen herrschen und alle Laster im Schwange gehn, die sich mit einer schönen Hülle vertragen.« In der That muß es Nachdenken erregen, daß man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.

So lange Athen und Sparta ihre Unabhängigkeit behaupteten und Achtung für die Gesetze ihrer Verfassung zur Grundlage diente, war der Geschmack noch unreif, die Kunst noch in ihrer Kindheit, und es fehlte noch viel, daß die Schönheit die Gemüther beherrschte. Zwar hatte die Dichtkunst schon einen erhabnen Flug gethan, aber nur mit den Schwingen des Genies, von dem wir wissen, daß es am nächsten an die Wildheit grenzt und ein Licht ist, das gern aus der Finsterniß schimmert, welches also vielmehr gegen den Geschmack seines Zeitalters, als für denselben zeugt. Als unter dem Perikles und Alexander das goldene Alter der Künste herbeikam und die Herrschaft des Geschmacks sich allgemeiner verbreitete, findet man Griechenlands Kraft und Freiheit nicht mehr, die Beredsamkeit verfälschte die Wahrheit, die Weisheit beleidigte in dem Mund eines Sokrates, und die Tugend in dem Leben eines Phocion. Die Römer, wissen wir, mußten erst in den bürgerlichen Kriegen ihre Kraft erschöpfen und, durch morgenländische Ueppigkeit entmannt, unter das Joch eines glücklichen Dynasten sich beugen, ehe wir die griechische Kunst über die Rigidität ihres Charakters triumphieren sehen. Auch den Arabern ging die Morgenröthe der Kultur nicht eher auf, als bis die Energie ihres kriegerischen Geistes unter dem Scepter der Abbassiden erschlafft war. In dem neuern Italien zeigte sich die schöne Kunst nicht eher, als nachdem der herrliche Bund der Lombarden zerrissen war, Florenz sich den Medicäern unterworfen und der Geist der Unabhängigkeit in allen jenen muthvollen Städten einer unrühmlichen Ergebung Platz gemacht hatte. Es ist beinahe überflüssig, noch an das Beispiel der neuern Nationen zu erinnern, deren Verfeinerung in demselben Verhältnisse zunahm, als ihre Selbständigkeit endigte. Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsere Augen richten, da finden wir, daß Geschmack und Freiheit einander fliehen und daß die Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden ihre Herrschaft gründet.

Und doch ist gerade diese Energie des Charakters, mit welcher die ästhetische Kultur gewöhnlich erkauft wird, die wirksamste Feder alles Großen und Trefflichen im Menschen, deren Mangel kein anderer, wenn auch noch so großer Vorzug ersetzen kann. Hält man sich also einzig nur an das, was die bisherigen Erfahrungen über den Einfluß der Schönheit lehren, so kann man in der That nicht sehr aufgemuntert sein, Gefühle auszubilden, die der wahren Kultur des Menschen so gefährlich sind; und lieber wird man, auf die Gefahr der Rohigkeit und Härte, die schmelzende Kraft der Schönheit entbehren, als sich bei allen Vortheilen der Verfeinerung ihren erschlaffenden Wirkungen überliefert sehen. Aber vielleicht ist die Erfahrung der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine Frage wie diese ausmachen läßt, und ehe man ihrem Zeugniß Gewicht einräumte, müßte erst außer Zweifel gesetzt sein, daß es dieselbe Schönheit ist, von der wir reden und gegen welche jene Beispiele zeugen. Dies scheint aber einen Begriff der Schönheit vorauszusetzen, der eine andere Quelle hat als die Erfahrung, weil durch denselben erkannt werden soll, ob das, was in der Erfahrung schön heißt, mit Recht diesen Namen führe.

Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen ließe, müßte also – weil er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann, vielmehr unser Urtheil über jeden wirklichen Fall erst berichtigt und leitet – auf dem Wege der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich vergünstigen Natur gefolgert werden können; mit einem Wort: die Schönheit müßte sich als eine nothwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen. Zu dem reinen Begriff der Menschheit müssen wir uns also nunmehr erheben, und da uns die Erfahrung nur einzelne Zustände einzelner Menschen, aber niemals die Menschheit zeigt, so müssen wir auf diesen ihren individuellen und wandelbaren Erscheinungsarten das Absolute und Bleibende zu entdecken und durch Wegwerfung aller zufälligen Schranken uns der nothwendigen Bedingungen ihres Daseins zu bemächtigen suchen. Zwar wird uns dieser transzendentale Weg eine Zeit lang aus dem traulichen Kreis der Erscheinungen und aus der lebendigen Gegenwart der Dinge entfernen und auf dem nackten Gefild abgezogener Begriffe verweilen; aber wir streben ja nach einem festen Grund der Erkenntniß, den nichts mehr erschüttern soll, und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern.

Eilfter Brief.

Wenn die Abstraktion so hoch, als sie immer kann, hinaufsteigt, so gelangt sie zu zwei letzten Begriffen, bei denen sie stille stehen und ihre Grenzen bekennen muß. Sie unterscheidet in dem Menschen etwas, das bleibt, und etwas, das sich unaufhörlich verändert. Das Bleibende nennt sie seine Person, das Wechselnde seinen Zustand.

Person und Zustand – das Selbst und seine Bestimmungen – die wir uns in dem nothwendigen Wesen als Eins und Dasselbe denken, sind ewig Zwei in dem endlichen. Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustands beharret die Person. Wir gehen von der Ruhe zur Thätigkeit, vom Affekt zur Gleichgültigkeit, von der Uebereinstimmung zum Widerspruch; aber wir sind doch immer, und was unmittelbar aus uns folgt, bleibt. In dem absoluten Subjekt allein beharren mit der Persönlichkeit auch alle ihre Bestimmungen, weil sie aus der Persönlichkeit fließen. Alles, was die Gottheit ist, ist sie deßwegen, weil sie ist, sie ist folglich alles auf ewig, weil sie ewig ist.

Da in dem Menschen, als endlichem Wesen, Person und Zustand verschieden sind, so kann sich weder der Zustand auf die Person, noch die Person auf den Zustand gründen. Wäre das letztere, so müßte die Person sich verändern; wäre das erstere, so müßte der Zustand beharren; also in jedem Fall entweder die Persönlichkeit oder die Endlichkeit aufhören. Nicht, weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir; nicht, weil wir sind, denken, wollen, empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir empfinden, denken und wollen, weil außer uns noch etwas Anderes ist.

Die Person also muß ihr eigener Grund sein; denn das Bleibende kann nicht aus der Veränderung fließen; und so hätten wir denn fürs erste die Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seins, d. i. die Freiheit. Der Zustand muß einen Grund haben; er muß, da er nicht durch die Person, also nicht absolut ist, erfolgen; und so hätten wir fürs zweite die Bedingung alles abhängigen Seins oder Werdens, die Zeit. Die Zeit ist die Bedingung alles Werdens, ist ein identischer Satz, denn er sagt nichts anders, als: die Folge ist die Bedingung, daß etwas erfolgt.

Die Person, die sich in dem ewig beharrenden Ich und nur in diesem offenbart, kann nicht werden, nicht anfangen in der Zeit, weil vielmehr umgekehrt die Zeit in ihr anfangen, weil dem Wechsel ein Beharrliches zum Grund liegen muß. Etwas muß sich verändern, wenn Veränderung sein soll; dieses Etwas kann also nicht selbst schon Veränderung sein. Indem wir sagen, die Blume blühet und verwelkt, machen wir die Blume zum Bleibenden in dieser Verwandlung und leihen ihr gleichsam eine Person, an der sich jene beiden Zustände offenbaren. Daß der Mensch erst wird, ist kein Einwurf; denn der Mensch ist nicht bloß Person überhaupt, sondern Person, die sich in einem bestimmten Zustand befindet. Aller Zustand aber, alles bestimmte Dasein entsteht in der Zeit, und so muß also der Mensch, als Phänomen, einen Anfang nehmen, obgleich die reine Intelligenz in ihm ewig ist. Ohne die Zeit, das heißt, ohne es zu werden, würde er nie ein bestimmtes Wesen sein; seine Persönlichkeit würde zwar in der Anlage, aber nicht in der That existieren. Nur durch die Folge seiner Vorstellungen wird das beharrliche Ich sich selbst zur Erscheinung.

Die Materie der Thätigkeit also oder die Realität, welche die höchste Intelligenz auf sich selber schöpft, muß der Mensch erst empfangen, und zwar empfängt er dieselbe als etwas außer ihm Befindliches im Raume und als etwas in ihm Wechselndes in der Zeit auf dem Wege der Wahrnehmung. Diesen in ihm wechselnden Stoff begleitet sein niemals wechselndes Ich – und in allem Wechsel beständig Er selbst zu bleiben, alle Wahrnehmungen zur Erfahrung, d. h. zur Einheit der Erkenntniß und jede seiner Erscheinungsarten in der Zeit zum Gesetz für alle Zeiten zu machen, ist die Vorschrift, die durch seine vernünftige Natur ihm gegeben ist. Nur indem er sich verändert, existiert er; nur indem er unveränderlich bleibt, existiert er. Der Mensch, vorgestellt in seiner Vollendung, wäre demnach die beharrliche Einheit, die in den Fluthen der Veränderung ewig dieselbe bleibt.

Ob nun gleich ein unendliches Wesen, eine Gottheit, nicht werden kann, so muß man doch eine Tendenz göttlich nennen, die das eigentlichste Merkmal der Gottheit, absolute Verkündigung des Vermögens (Wirklichkeit alles Möglichen) und absolute Einheit des Erscheinens (Nothwendigkeit alles Wirklichen) zu ihrer unendlichen Aufgabe hat. Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit in sich; der Weg zu der Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm aufgethan in den Sinnen.

Seine Persönlichkeit, für sich allein und unabhängig von allem sinnlichen Stoffe betrachtet, ist bloß die Anlage zu einer möglichen, unendlichen Aeußerung; und so lange er nicht anschaut und nicht empfindet, ist er noch weiter nichts als Form und leeres Vermögen. Seine Sinnlichkeit, für sich allein und abgesondert von aller Selbstthätigkeit des Geistes betrachtet, vermag weiter nichts, als daß sie ihn, der ohne sie bloß Form ist, zur Materie macht, aber keineswegs, daß sie die Materie mit ihm vereinigt. So lange er bloß empfindet, bloß begehrt und aus bloßer Begierde wirkt, ist er noch weiter nichts als Welt, wenn wir unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen. Seine Sinnlichkeit ist es zwar allein, die sein Vermögen zur wirkenden Kraft macht; aber nur seine Persönlichkeit ist es, die sein Wirken zu dem seinigen macht. Um also nicht bloß Welt zu sein, muß er der Materie Form ertheilen; um nicht bloß Form zu sein, muß er der Anlage, die er in sich trägt, Wirklichkeit geben. Er verwirklichet die Form, wenn er die Zeit erschafft und dem Beharrlichen die Veränderung, der ewigen Einheit seines Ichs die Mannigfaltigkeit der Welt gegenüberstellt; er formt die Materie, wenn er die Zeit wieder aufhebt, Beharrlichkeit im Wechsel behauptet und die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs unterwürfig macht.

Hieraus fließen nun zwei entgegengesetzte Anforderungen an den Menschen, die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich vernünftigen Natur. Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen; das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Uebereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit andern Worten: er soll alles Innre veräußern und alles Aeußere formen. Beide Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriff der Gottheit zurücke, von dem ich ausgegangen bin.

Zwölfter Brief.

Zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe, das Nothwendige in uns zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche außer uns dem Gesetz der Nothwendigkeit zu unterwerfen, werden wir durch zwei entgegengesetzte Kräfte gedrungen, die man, weil sie uns antreiben, ihr Objekt zu verwirklichen, ganz schicklich Triebe nennt. Der erste dieser Triebe, den ich den sinnlichen nennen will, geht aus von dem physischen Dasein des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur und ist beschäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen, nicht ihm Materie zu geben, weil dazu schon eine freie Thätigkeit der Person gehört, welche die Materie aufnimmt und von sich, dem Beharrlichen, unterscheidet. Materie aber heißt hier nichts als Veränderung oder Realität, die die Zeit erfüllt; mithin fordert dieser Trieb, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe. Dieser Zustand der bloß erfüllten Zeit heißt Empfindung, und er ist es allein, durch den sich das physische Dasein verkündigt.

Da alles, was in der Zeit ist, nach einander ist, so wird dadurch, daß etwas ist, alles Andere ausgeschlossen. Indem man auf einem Instrument einen Ton greift, ist unter allen Tönen, die es möglicher Weise angeben kann, nur dieser einzige wirklich; indem der Mensch das Gegenwärtige empfindet, ist die ganze unendliche Möglichkeit seiner Bestimmungen auf diese einzige Art des Daseins beschränkt. Wo also dieser Trieb anschließend wirkt, da ist nothwendig die höchste Begrenzung vorhanden; der Mensch ist in diesem Zustande nichts als eine Größeneinheit, ein erfüllter Moment der Zeit – oder vielmehr, er ist nicht, denn seine Persönlichkeit ist so lange aufgehoben, als ihn die Empfindung beherrscht und die Zeit mit sich fortreißt.Die Sprache hat für diesen Zustand der Selbstlosigkeit unter der Herrschaft der Empfindung den sehr treffenden Ausdruck: außer sich sein, das heißt, außer seinem Ich sein. Obgleich diese Redensart nur da statt findet, wo die Empfindung zum Affekt und dieser Zustand durch seine längere Dauer mehr bemerkbar wird, so ist doch Jeder außer sich, solange er nur empfindet. Von diesem Zustande zur Besonnenheit zurückkehren, nennt man ebenso richtig: in sich gehen, das heißt, in sein Ich zurückkehren, seine Person wieder herstellen. Von Einem, der in Ohnmacht liegt, sagt man nicht: er ist außer sich, sondern: er ist von sich, d. h. er ist seinem Ich geraubt, da jener nur nicht in demselben ist. Daher ist Derjenige, der aus einer Ohnmacht zurückkehrte, bloß bei sich, welches sehr gut mit dem Außersichsein bestehen kann.

Soweit der Mensch endlich ist, erstreckt sich das Gebiet dieses Triebs; und da alle Form nur an einer Materie, alles Absolute nur durch das Medium der Schranken erscheint, so ist es freilich der sinnliche Trieb, an dem zuletzt die ganze Erscheinung der Menschheit befestiget ist. Aber obgleich er allein die Anlagen der Menschheit weckt und entfaltet, so ist er es doch allein, der ihre Vollendung unmöglich macht. Mit unzerreißbaren Banden fesselt er den höher strebenden Geist an die Sinnenwelt, und von ihrer freiesten Wanderung ins Unendliche ruft er die Abstraktion in die Grenzen der Gegenwart zurücke. Der Gedanke zwar darf ihm augenblicklich entfliehen, und ein fester Wille setzt sich seinen Forderungen sieghaft entgegen: aber bald tritt die unterdrückte Natur wieder in ihre Rechte zurück, um auf Realität des Daseins, auf einen Inhalt unsrer Erkenntnisse und auf einen Zweck unsers Handelns zu dringen.

Der zweite jener Triebe, den man den Formtrieb nennen kann, geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten. Da nun die letztere als absolute und untheilbare Einheit mit sich selbst nie im Widerspruch sein kann, da wir in alle Ewigkeit wir sind, so kann derjenige Trieb, der auf Behauptung der Persönlichkeit dringt, nie etwas anders fordern, als was er in alle Ewigkeit fordern muß; er entscheidet also für immer, wie er für jetzt entscheidet, und gebietet für jetzt, was er für immer gebietet. Er umfaßt mithin die ganze Folge der Zeit, das ist so viel als: er hebt die Zeit, er hebt die Veränderung auf; er will, daß das Wirkliche nothwendig und ewig, und daß das Ewige und Nothwendige wirklich sei; mit andern Worten: er dringt auf Wahrheit und auf Recht.

Wenn der erste nur Fälle macht, so gibt der andre Gesetze – Gesetze für jedes Urtheil, wenn es Erkenntnisse, Gesetze für jeden Willen, wenn es Thaten betrifft. Es sei nun, daß wir einen Gegenstand erkennen, daß wir einem Zustande unsers Subjekts objektive Gültigkeit beilegen, oder daß wir aus Erkenntnissen handeln, daß wir das Objektive zum Bestimmungsgrund unseres Zustandes machen – in beiden Fällen reißen wir diesen Zustand aus der Gerichtsbarkeit der Zeit und gestehen ihm Realität für alle Menschen und alle Zeiten, d. i. Allgemeinheit und Nothwendigkeit zu. Das Gefühl kann bloß sagen: Das ist wahr für dieses Subjekt und in diesem Moment, und ein anderer Moment, ein anderes Subjekt kann kommen, das die Aussage der gegenwärtigen Empfindung zurücknimmt. Aber wenn der Gedanke einmal ausspricht: Das ist, so entscheidet er für immer und ewig, und die Gültigkeit seines Ausspruchs ist durch die Persönlichkeit selbst verbürgt, die allem Wechsel Trotz bietet. Die Neigung kann bloß sagen: Das ist für dein Individuum und für dein jetziges Bedürfniß gut; aber dein Individuum und dein jetziges Bedürfniß wird die Veränderung mit sich fortreißen und, was du jetzt feurig begehrst, dereinst zum Gegenstand deines Abscheues machen. Wenn aber das moralische Gefühl sagt: Das soll sein, so entscheidet es für immer und ewig – wenn du Wahrheit bekennst, weil sie Wahrheit ist, und Gerechtigkeit ausübst, weil sie Gerechtigkeit ist, so hast du einen einzelnen Fall zum Gesetz für alle Fälle gemacht, einen Moment in deinem Leben als Ewigkeit behandelt.

Wo also der Formtrieb die Herrschaft führt und das reine Objekt in uns handelt, da ist die höchste Erweiterung des Seins, da verschwinden alle Schranken, da hat sich der Mensch aus einer Größen-Einheit, auf welche der dürftige Sinn ihn beschränkte, zu einer Ideen-Einheit erhoben, die das ganze Reich der Erscheinungen unter sich faßt. Wir sind bei dieser Operation nicht mehr in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns mit ihrer ganzen nie endenden Reihe. Wir sind nicht mehr Individuen, sondern Gattung; das Urtheil aller Geister ist durch das unsrige ausgesprochen, die Wahl aller Herzen ist repräsentirt durch unsre That.


 << zurück weiter >>