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Zwischen den kleinen Seen

Ich erinnere mich, wie Hanssen und der Graf Poninski in Streit kamen. Es war eine unsrer ersten Unterhaltungen. Sie schloß an eine Bemerkung Hanssens an, den die geläufigen Scherze einer konservativen Zeitung über den Ausfall soeben stattgefundener Abgeordnetenwahlen in eine unerklärliche Aufregung versetzt hatten. »Der Ton der konservativen Presse gegenüber den Radikalen«, sagte er, »bleibt sich gleich, wie immer auch die Parteipapiere stehn mögen. Er ist international. Das mag daher kommen, daß es die Weltanschauung ist, die die Parteien trennt: Vornehme Politiker und gekaufte Auguren pflegen es zu behaupten. Sie haben recht.«

Hanssen erzählte. Im Oktober des Jahres 1909 war er in Paris. Eines Abends nach sechs Uhr forderten die sozialistische Humanité und das Blatt der revolutionären Gewerkschafter durch Flugblätter zu einer Manifestation vor der spanischen Gesandtschaft auf. In der Frühe desselben Tages war in Barcelona Franzisco Ferrer erschossen worden, der keiner Partei angehörte und den Hanssen zu der neuen Art von Europäern zählte, die er die sozialen Humanisten genannt haben wollte. Er war ein Republikaner, der vom Klassenkampf wußte. Trotzdem die Parole, am selben Abend gegen den ›Mord‹ der spanischen Regierung an Ferrer zu demonstrieren, erst spät ausgegeben wurde, versuchten um neun Uhr drei- oder viertausend Menschen in geordnetem Zug, sich der spanischen Botschaft zu nähern. An der Spitze der Manifestanten marschierten sozialistische Abgeordnete und Gemeinderäte, Sekretäre der Syndikate. Die Polizei griff an, und als sie aus den Reihen der mißhandelten Demonstranten angeschossen wurde, verfiel sie in Raserei. Im Handumdrehen entwickelte sich aus der Manifestation ein Aufstand, die Gaslaternen wurden ausgerissen, Barrikaden erbaut, ein Dutzend Kerle versuchten die Läden einer Bankfiliale aufzubrechen. Es gab Tote und Verwundete.

Am folgenden Tag schrieben die konservativen Blätter, daß die ›Apachen‹ unter einem politischen Vorwand gemordet und gebrandschatzt hätten. Wer überzeugt ist, daß die Bastille von Zuhältern gestürmt wurde und daß der Konvent nur aus Taschendieben bestand, mag eine von großen politischen Parteien angeführte Demonstration derart einschätzen.

Am Sonntag darauf waren es hunderttausend Menschen, die in tadelloser Ordnung zwischen Munizipalgarden, Polizisten, Dragonern und Kürassieren gegen die spanische Regierung demonstrierten. Sozialisten und Gewerkschafter hatten sich verpflichtet, ihre Mannschaften in Zucht zu halten; es wurde nicht geschossen, es fiel nicht einmal ein Faustschlag. Der Polizeipräfekt, der einige Tage vorher von einer Revolverkugel an der Backe verwundet worden war, konnte sich ohne Begleitung unter den Manifestanten tummeln.

Was aber äußerten die ›Traditionalisten‹, die Männer der Ordnung, die Verehrer der Zucht und Sitte andern Tags zu dieser Art Bekenntnis?

Sie kramten eine Geschichte aus. Einmal habe in Brüssel eine Manifestation vieler tausend Menschen gegen einen Minister stattgefunden. Sie seien in schöner Ordnung am Haus dieses Ministers vorbeigezogen und hätten dazu das Lied gesungen: »Am Hals muß man ihn hängen auf.« Der Minister, der oben am offenen Fenster lehnte und auf den Zug der Manifestanten hinabsah, habe seine Pfeife geraucht und dazu bald laut, bald leise, das Wort Götzens von Berlichingen gesprochen ...

»Was ist das für eine Weltanschauung?« rief Hanssen aus. »Ich finde es dumm, einfach dumm, sich den kompakten Argumenten zu verschließen auf die Gefahr hin, ihre Wirksamkeit erst zu erkennen, wenn man auch schon an einem Laternenpfahl baumelt. Denn es ist wohl klar, daß man den Gegner geradezu zwingt, einen an seiner Beweisführung in die Höhe zu ziehn – sobald er die Macht dazu hat.«

Worauf Poninski ruhig erwiderte, die Weltanschauung bestände eben darin, sich lieber aufrecht an Gemeinplätzigkeiten in die Höhe ziehn zu lassen, als sich in der Menge nach ihnen zu bücken.

 

Hier beginnt der Roman oder, besser, die Chronik, die ich zu schreiben beabsichtige.

Hanssen warf Poninski, der ein Bonmot gesagt zu haben glaubte, nicht besser und nicht schlechter, als wie man es in einer leichten Unterhaltung zu machen pflegt, einen haßerfüllten Blick zu und verließ wortlos das Zimmer. Poninski eilte ihm nach, ich sah sie im erregten Gespräch durch den Garten gehn, dann führte Poninski den versöhnten Dänen mit der Artigkeit eines Kavaliers an die Seite seiner Frau zurück, die dem Erzürnten mit lustigem Ernst zunickte.

»Er war leider noch nicht in London«, rief Hanssen, auf den Polen zeigend, »sonst hätte er den Tower besucht und dort die in dekorative Eisenketten gerahmten und von der englischen Nation blitzblank erhaltenen Steine gesehen, worauf in kräftig gemeißelten Buchstaben zu lesen steht, hier ruhten Könige, die wegen Rebellion gegen das Volk hingerichtet worden seien.«

Der Pole lachte.

»Hanssen, Sie haben mich noch immer nicht verstanden. Wenn meine Bauern mich einmal erschlagen sollten – dieser Fall wäre übrigens nicht der erste in meiner Familie –, so wäre ich zwar am Ende meiner Weisheit angelangt, aber keineswegs eines Irrtums überführt. Ich bin als Hammer auf die Welt gekommen, wenn Sie den Vergleich erlauben, ich habe auf den Amboß geschlagen, solange ich denken kann, zum Beispiel, indem ich mich als kleines Kind vom Mädchen auf einen Stuhl heben ließ, um es zu ohrfeigen. Und sicher rührt der Erfolg unseres Widerstands gegen unsere Eroberer vor allem daher, daß wir das Herrenhandwerk besser verstehn als die Preußen. Wir sind Demokraten insofern, als wir uns nur vor der Tüchtigkeit beugen. Es ist mir nicht erinnerlich, daß je ein Pole, und zählte er so viel Ahnen wie Knochen im Leib, Napoleon aus dem schiefen Mundwinkel einen korsischen Advokaten genannt hätte. Dagegen höre ich noch das brüllende Gelächter, das aus zehn polnischen Kehlen erklang, als ein neu geadelter Landrat, der wie ein Schulamtskandidat in seinem Sessel saß, dem Franzosen umständlich den Prozeß machte. Er sprach von Napoleon wie von einem freisinnigen Reichstagskandidaten.«

Als Hanssen einwarf, daß auch er Napoleon nicht liebe, weil er die Gewalt in jeder Form verabscheue, erkannte der Pole die Unmöglichkeit einer Verständigung und brach das Gespräch ab.

In Hanssen war die Neigung unterdrückter Individuen und Völker, aus allem die Absicht einer Demütigung herauszuspüren, so ausgebildet, daß sein ganzes Vorstellungsvermögen sich in einem fanatischen Dualismus bewegte. Die Welt bestand für ihn aus Unterdrückern und Unterdrückten, und er glaubte an den einstigen Ausgleich und den Anbruch des ewigen Friedens durch den Sieg der Unterdrückten über ihre heutigen Unterdrücker. Das war sein Himmel ... Es war nicht törichter von ihm, daran zu glauben, als von andern, ihre Seele für die Wonnen eines unendlichen Lunaparks zu bereiten. Die Köpfe unter den Pickelhauben, die in den dänischen Bauernhöfen auftauchten, hatten kaum geahnt, daß sie die Morgenröte eines Glaubens mitführten, kraft dessen den Besiegten Rächer entständen, die sich vielleicht einmal unüberwindlich zeigen würden über die ganze Welt.

So glaubte Blauhaar an den Sabbat, da Ahasver, der Ewige Jude, zum Kapitol einer neuen Menschheit hinaufstiege.

So glaubte auch ich an eine Zukunft, die mir nicht so fremd wäre wie das Heute.

Nur Poninski brauchte die Zukunft nicht.

Auf die Vergangenheit, die ihm zeitlos schien, setzte er die geballte Faust wie ein Siegel.

Ich hatte aus dem Bücherschrank Bismarcks Gedanken und Erinnerungen genommen. Ich wollte Hanssen aus dem alten England ins neue Deutschland zurückführen, und ich erinnere mich, in diesem aufschlußreichen, ja verwirrenden Buch einen Wegweiser gefunden zu, haben ...

Richtig, da stand er, imposant in seiner gereckten Eindeutigkeit. Hier, Hanssen, zweigt der Weg ab, auf dem wir unterdessen so weit gegangen sind.

Bismarck ist Wilhelm  I, der der Königin in Baden-Baden einen Geburtstagsbesuch gemacht hat, bis Jüterbog entgegengefahren und erwartet ihn, im Dunkeln auf einer umgedrehten Schiebkarre sitzend, in dem noch unfertigen, »von Reisenden dritter Klasse und Handwerkern gefüllten Bahnhof«. Sie sehn, er sagt es, wovon der Bahnhof ungemütlich voll war in dieser doppelt einsamen Stunde. Dagegen sind die Unfertigkeit des Gebäudes und das Sitzen auf der umgedrehten Schiebkarre im Dunkeln nur Bestandteil eines Stimmungsbildes, dessen liebevolle Ausmalung – nach dreißig Jahren – beweist, daß Bismarck den historischen Augenblick nicht gering einschätzte, wie überhaupt das autobiographische Mitgefühl in ihm stark entwickelt war. Bald darauf werden auch die »kurzangebundenen Schaffner« geschildert, bei denen der von der Schiebkarre im Dunkeln aufgestandene Mann den Wagen zu erkunden sucht, in dem der »König allein in einem gewöhnlichen Kupee erster Klasse sitzt«. Es ist der 4. Oktober 1859.

Bismarck hat zur Erbauung der Budgetkommission ein Stahlrad geschlagen. Vor den Magen hat er es den Herren im Bratenrock gestoßen – was zwar nicht stenographiert, aber in den Zeitungen ziemlich getreu wiedergegeben war –, daß Preußen nicht mit Reden, Vereinen und Majoritätsbeschlüssen geholfen sei, sondern daß es einen Kampf kosten werde, »der nur durch Eisen und Blut erledigt werden könne«. Er will den König, der von den Engländern kommt, nicht nach Berlin hineinlassen, ohne zuvor die Hand auf ihn zu legen. Ein Blick in das müde, verdrossene Gesicht: Der König ist »unter der Nachwirkung des Verkehrs mit seiner Gemahlin sichtlich in gedrückter Stimmung«, kaum hat Bismarck den Mantel geöffnet, da fährt er ihn an:

»Ich sehe ganz genau voraus, wie das alles endigen wird. Da vor dem Opernplatz, unter meinen Fenstern, wird man Ihnen den Kopf abschlagen und etwas später mir.«

Es beginnt der Monolog! Er ist in den Gedanken und Erinnerungen so glänzend gebracht, wenn ich mich eines Ausdrucks aus der Schauspielersprache bedienen darf – und bitte, nach dreißig Jahren! –, daß ich wohl vorlesen darf. Natürlich hatte Bismarck erraten, und es ist ihm später von Zeugen bestätigt worden, daß der König während des achttägigen Aufenthalts in Baden-Baden mit Variationen über das Thema Polignac, Strafford, Ludwig XVI. bearbeitet worden war ... Jetzt:

»Als er schwieg, antwortete ich mit der kurzen Phrase: ›Et après, Sire?‹ – ›Ja, après , dann sind wir tot!‹ erwiderte der König. ›Ja‹, fuhr ich fort, ›dann sind wir tot, aber sterben müssen wir früher oder später doch, und können wir anständiger umkommen? Ich selbst im Kampfe für die Sache meines Königs, und Eure Majestät, indem Sie Ihre königlichen Rechte von Gottes Gnaden mit dem eigenen Blute besiegeln, ob auf dem Schafott oder auf dem Schlachtfeld, ändert nichts an dem rühmlichen Einsetzen von Leib und Leben für die von Gottes Gnaden verliehenen Rechte. Eure Majestät müssen nicht an Ludwig XVI. denken, der lebte und starb in einer schwächlichen Gemütsverfassung und macht kein gutes Bild in der Geschichte. Karl I. dagegen, wird er nicht immer eine vornehme historische Erscheinung bleiben, wie er, nachdem er für sein Recht das Schwert gezogen, die Schlacht verloren hatte, ungebeugt seine königliche Gesinnung mit seinem Blute bekräftigte? Eure Majestät sind in der Notwendigkeit zu fechten, Sie können nicht kapitulieren, Sie müssen, und wenn es mit körperlicher Gefahr wäre, der Vergewaltigung entgegentreten.‹

Je länger ich in diesem Sinne sprach, desto mehr belebte sich der König und fühlte sich in die Rolle des für Königtum und Vaterland kämpfenden Offiziers hinein ... Er fühlte sich bei dem Portepee gefaßt und in der Lage eines Offiziers, der die Aufgabe hat, einen bestimmten Posten auf Tod und Leben zu behaupten, gleichviel, ob er darauf umkommt oder nicht. Damit war er auf einen seinem ganzen Gedankengange vertrauten Weg gestellt und fand in wenigen Minuten die Sicherheit wieder, um die er in Baden gebracht worden war, und selbst seine Heiterkeit ... Er war der Sorge vor der Manöverkritik, welche von der öffentlichen Meinung, der Geschichte und der Gemahlin an seinem politischen Manöver geübt werden könnte, überhoben. Er fühlte sich ganz in der Aufgabe des ersten Offiziers der preußischen Monarchie, für den der Untergang im Dienste ein ehrenvoller Abschluß der ihm gestellten Aufgabe ist. Der Beweis der Richtigkeit meiner Beurteilung ergab sich daraus, daß der König, den ich in Jüterbog matt, niedergeschlagen und entmutigt gefunden hatte, schon vor der Ankunft in Berlin in eine heitre, man kann sagen, fröhliche und kampflustige Stimmung geriet, die sich den empfangenden Ministern und Beamten gegenüber auf das Unzweideutige erkennbar machte.«

Lassen Sie mich noch eins erwähnen, Hanssen.

Bismarck spricht dann, sozusagen in einer Regiebemerkung, sehr sicher von »ihren«, des Königs und seinen, Verhältnissen und »ihrer Situation«, er sagt, daß sie immerhin »ernst« gewesen seien. Es waren noch keine zwei Monate verflossen, seitdem der protestantische Mephistopheles seinem Faust, der immerhin der ›Kartätschenprinz‹ gewesen war, das große Bündnis angetragen hatte. Im idyllisch gelegenen Babelsberg hatte er den König überzeugt – vielmehr, war es ihm »gelungen«, wie er sagt, den König zu überzeugen –, daß es sich für ihn nicht um Konservativ oder Liberal in dieser oder jener Schattierung, sondern um königliches Regiment oder Parlamentsherrschaft handle und daß diese unbedingt und auch durch eine Periode der Diktatur abzuwenden sei. »Ich sagte: ›In dieser Lage werde ich, selbst wenn Eure Majestät mir Dinge befehlen sollten, die ich nicht für richtig hielte, Ihnen zwar diese meine Meinung offen entwickeln, aber wenn Sie auf der Ihrigen schließlich beharren, lieber mit dem König untergehn, als Eure Majestät im Kampfe mit der Parlamentsherrschaft im Stiche lassen.‹«

Bismarck ist später nicht müde geworden zu erklären, daß diese Auffassung von seinem Beruf keine prinzipielle gewesen sei, wie sie etwa jeder Minister jedem Herrscher gegenüber betätigen müsse. Vielmehr solle man ihren Ursprung und ihr Ende in seinem ganz persönlichen Gefühl für Wilhelm I. suchen.

Er konnte nicht hindern, daß die dem Pakt von 1859 zugrunde liegende Auffassung ihren Weg machte, über ihn hinweg, bis in unsre Zeit, der ein Barnum des Monarchismus den Stempel aufgedrückt hat. Die großen historischen Vorwände fehlen. Um so bengalischer leuchtet es aus dem Gral des ›königlichen Regiments‹.

 

Und Hanssen denkt an den Tower. Aber wir besitzen jetzt sogar einen schönen Brunnen im Berliner »Lustwäldchen«, von Ignatius Taschner, den Märchenbrunnen .

Auf dem Wasser

Wir haben auf dem Wasser Bekanntschaft gemacht. Durch unser eingeschüchtertes Wesen fielen wir einander auf.

Wir eilten still durch die Boote, wo sie im Takt stolpernder Ruder »Still ruht der See« sangen, auch »Santa Lucia«, oder an hellen Abenden dumpfe Grammophone spazierenführten, die klangen, als ob ihre Gesänge und Märsche aus dem Wasser kämen. Keiner von uns klatschte Beifall, wenn ein Berliner sich jodelnd aufblies, bis er in einem übermenschlichen Juchzer zur Hölle fuhr. Wenn die Nachtfeste zu Ehren der Kurgäste den orientalischen Himmel auf die mecklenburgische Erde zauberten, waren unsere Häuser die einzigen, deren Gärten nicht im Schmuck bunter Papierlaternen prangten und wo keine bengalischen Streichhölzer entzündet wurden. Beim Fischen behielten wir die Kleider an, und wir badeten fast nackt.

Unsere Boote hießen weder Nixe noch König Aqua , noch Schwalbe , noch Carolus Magnus . Die Frauen, mit denen man uns sah, packten ihr Haar in Schleier, wenn der Wind wehte, in den Straßen der Stadt trugen sie Hüte, sie rafften die Röcke, wenn es regnete. Am Familienbad der aufstrebenden Kurstadt frech vorbei, segelten sie, in Bademänteln kauernd, bis in die Mitte des Sees und sprangen vom Boot ins Wasser.

Wir sprangen hinterdrein, und es war ein Jammer zu sehn, wie die schönen neuen Boote herrenlos trieben, schaukelten, gezerrt wurden, und zu denken, wie wir die Kissen näßten, wenn wir triefend hineinkletterten. Niemand zweifelte, daß sie eines Tages durch unsern Leichtsinn umschlügen.

Die vier Seen, an denen wir wohnen, sind durch die Havel miteinander verbunden. Von der Veranda meines Zimmers kann ich im Osten, über Busch und Wiesen, einen schmalen, zwischen blassen Kornfeldern und Kiefernwäldern eingeklemmten Streifen Bläue sehn. Das ist der Stolpsee, und hoch über den Kornfeldern, auf bewaldeter Höhe, ragt ein Schieferdach, das in der Morgensonne wie von Lanzen und Schwertern funkelt. Dort wohnt Poninski.

Schließe ich die Verandatür – damit nicht die Zugluft gleich das ganze Zimmer durcheinanderbläst – und öffne ich das Schlafzimmer, so blinkt im Rahmen des offenen Balkons ein ziegelrotes Stück Dach. Es wächst, je mehr ich mich dem Fenster nähere, blaue Luft breitet sich darum, über dem First mit Kiefern grün verbrämt, dann steht das kleine Landhaus bis an seine obersten Fenster im Gartendickicht, ein Kartoffelfeld rollt sich auf, beim Schilf ist es zu Ende, und nun, da ich auf den Balkon trete, blendet eine Riesenwelle Licht, die der Schwedtsee aus seiner ganzen Breitseite zu mir heraufsendet. Das kleine Landhaus bewohnt Hanssen.

Ich mache kehrt, schließe die Tür und öffne wieder die Veranda. Der See vor mir, in den vom Garten eine schmale Treppe führt, ist der kleinste. Er heißt Bahlensee und versorgt mich selbst bei bedecktem Himmel mit südlicher Wärme. Bei Regen weint sich in ihn die Welt aus.

Er scheint keinen Eingang zu haben, man erkennt nicht, wo die Havel herkommt, die am Haus vorbei in einem geraden, klaren Einschnitt in den Schwedtsee und durch knappe Windungen und geräumige Ausbuchtungen weiter in den Stolpsee fließt. Die mecklenburgischen Schiffer kennen sich natürlich aus und halten darauf zu, sobald sie in den Bahlensee eingebogen sind. Aber täglich sehe ich Herren in blauer Jacke und weißen Hosen, die mit Motorbooten und Segeljollen ankommen, in den See tapsen und ratlos durch das Fernglas das Ufer absuchen. Trotzdem nimmt das Versteck keinen geringen Platz ein, denn es beherbergt eine ansehnliche Schleuse. Hinter der öffnet sich dann bald der vierte See, der Röbbelinsee. Am Röbbelinsee wohnt Blauhaar.

Das teure Schleusengeld hindert uns, mit dem Boot zu Blauhaar hinaufzufahren. Auch kann keiner von uns dreien sein Haus sehn. So viel Hindernisse wären vielleicht störend, wenn nicht Blauhaar reich genug wäre, sich nach Belieben in unsere Wasserstraße senken zu lassen und einen Diener zu halten, der in seiner Jugend als Schnelläufer Preise errungen hat.

Wir brauchen uns wegen unserer Zusammenkünfte nicht erst zu verständigen. Das besorgt der Wind. Bei Westwind segeln wir zu Poninski. Bläst der Wind aus Osten, so kommt Poninski und bringt Hanssen mit. Blauhaar weiß Bescheid und läßt sich mit seinem Motorboot durchschleusen.

Der Parteitag

Hanssen und Blauhaar waren in Jena auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei, dem ersten nach Bebels Tod.

Hanssen sagt:

»Es sind ordentliche Leute.«

Und wie er, langsam und ernst, dazu nickt, sieht man plötzlich, daß er ein Bauer ist. Ja, im Grund haßt er alle Beunruhigungen, die großen und die kleinen Eingriffe in sein geregeltes Leben, das Aufrühren von Problemen, die nicht gerade da sind, dicht vor ihm, und über die sein Unmut ihn nicht hinwegtäuschen kann. Die langen Beine schreiten gemessen aus, eigenwillig und doch gehorsam, und wenn sie stocken, gibt es einen knackenden Ruck wie bei einer schweren, langsamen Maschine, die plötzlich gestoppt wird.

Aber Blauhaar reißt die Augen auf.

»Jena? Der Bankerott der einzigen revolutionären Partei, die wir in Deutschland haben. Schlimm, sehr schlimm. Mit Bebel wäre es nicht viel anders gewesen, nein. Aber Lassalle hätte sich gelangweilt.«

»Und?« fragt Hanssen.

»Und? Wenn die Langeweile beginnt, ist die Revolution zu Ende.«

»Hatte sie denn schon begonnen?«

»In der Vorstellung der Arbeiter: ja. Alle ihre Gedanken gingen in der Richtung: marschierten, torkelten, liefen dumpf oder mit wilden Sprüngen, trieben im Nachen des Traums in die Morgenröte, die sie befreien sollte. Man konnte glauben, daß die Tat eines Tages wie eine reife Frucht vom Baum fiele. Daß irgendein kleiner, unvorhergesehener Windstoß genügte, um sie vom Ast zu lösen. Lassalle ...«

Er war wieder bei seinem Liebling angelangt, dem Byron der Arbeiterbewegung, und er sang so lange von ihm, bis Poninski gern zugab, daß auch er sich unter solchen Umständen mit Vergnügen als Sozialdemokrat austoben möchte: »Ein Mann mit Schicksal«, sagte er zustimmend, »ja, ja, ein Sportsmann in der Seele,« Er faßte seine Eindrücke zusammen: »Ein Kavallerist!«

Von diesem Lassalle der bürgerlichen Legende verstand Hanssen wenig oder nichts.

Auf der Rückfahrt hatten in seinem Abteil zwei Superintendenten gesessen, die offenbar auf einer Inspektionsreise begriffen waren. In ihrer Unterhaltung, der Hanssen im Lärm des fahrenden Zugs nicht genau folgen konnte, kehrte immer das Wort Sozialdemokrat wieder. Er zischte wie ein Pfeil, er quakte wie ein Frosch. Sie sagten nicht: »Der arme Pastor! Er hat es schwer. In seiner Gemeinde steckten soviel schlechte Kerle, die nichts von der Kirche wissen wollen.« Vielmehr, allerdings mit der Ruhe von Ärzten, die eine schwere Krankheit feststellen – sie schienen durchaus nicht erschrocken: »Der Arme. Er hat viele Sozialdemokraten ...« Nur einmal, als sie von einem geistlichen Bruder sprachen, da steckten sie die Köpfe zusammen und zogen die Lider hoch, daß Hanssen das schleimige Rot darunter sah, sie flüsterten mit kurzen, aufgeregten Handbewegungen, bis der jüngere mit fragender Miene das Wort Sozialdemokrat losließ. Der ältere wollte es nicht gerade gesagt haben, aber er wiegte den in hundert Falten trauernden Kopf und lehnte sich seufzend in die Ecke zurück. Er wollte lieber die Frage offenlassen ...

Sie mußte von beträchtlicher Bedeutung sein, denn sie blieben lange mit schattenhaft bewegten Gesichtern in Schweigen versunken. Wie sie mit offenen Augen dasaßen, schienen sie zu schlafen – von schweren Träumen gequält.

Hanssen fand sie mitleiderregend. Er hätte ihnen gern geholfen, und er dachte nach, wie er es anstellen sollte. Es waren gute, alte Menschen, die Gespenster sahen an einer Stelle, wo in Wirklichkeit er, der brave Hanssen, saß, der nie jemand etwas zuleide getan hatte. Es ging nicht, Hanssen sah es schließlich ein. Es ging nicht, daß er sie aufschreckte, indem er etwa sagte: »Sehen Sie mich bitte an. Schaue ich aus, als ob ... Und ich bin doch ein Sozialdemokrat.« Wenn er nur Sozialdemokrat gewesen wäre, so hätte er es vielleicht gesagt. Aber er war auch Däne. Er hätte es nicht verschweigen dürfen, es sollte ja eine ehrliche Aussprache sein. Wenn sie aber erst hörten, daß er Däne sei –

»Verzeihen Sie vielmals«, würden sie antworten und honigsüß lächeln, »wirklich, Sie mögen ein ernster, aufrichtiger Mensch sein, alle Achtung, aber da empfinden Sie anders, ja, Sie können gar nicht empfinden, mit dem besten Willen nicht, wie wir Deutsche ...« Er kannte das. Es war dieselbe Melodie, von der Kindheit bis ans Grab ... an dem sie einmal mit demselben Ausdruck aufrichtigen Bedauerns herumständen, sie, die es besser hatten, denen die Veteranen die Versicherung ihrer edlen Gesinnung und Verwandtschaft mit Salven bis in die Erde nachschreien würden, wenn sie die Wanderschaft zum Gott aller Menschen anträten ...

Hanssen hatte sich nicht aufgehalten bei solchen Gedanken. Er war eine praktische Natur, er wurde nur im stillen ein wenig hart und böse, und dann sann er auf Abhilfe.

Und deshalb wußte er jetzt, was er sagte, während Blauhaar, von keinem Verantwortlichkeitsgefühl berührt, im roten Mondschein schwärmte, dicht neben der Geißblattlaube, in der Lassalle zwischen zwei Umarmungen sein Offenes Antwortschreiben dichtete.

»Jena war gut. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihre theoretische Periode überwunden. Die Gewerkschaften sehen auf die Ordnung von Küche und Sparbüchse. Wir sind aus einem genialen Schattenriß ein großer, blutvoller Organismus geworden, ein geistiges und materielles Deutschland im Deutschen Reich. Es atmet, lebt, gedeiht. Es schafft Volkskraft, Arbeitsfreude, Gesundheit. Es lebt mit den Augen und mit dem Gehirn seiner Führer im großen Luftzug der Weltwirtschaft. Nützt Konjunkturen aus, und wenn wir bremsen, so sammeln, halten wir nur Kräfte Zusammen: damit es keine leicht Besiegten gibt, die mit dem Glauben den Mut verlieren und, nachdem sie auf der Straße geschrien haben, heimgekehrt vor dem Elend von Frau und Kinder zusammenbrechen ...

Die heutige Kriegführung hat mit der vor hundert Jahren geübten nur noch eine entfernte Ähnlichkeit. Millionen Menschen werden ausgerüstet, gepflegt, bewegt, man kämpft auf große Entfernungen, ohne einander zu sehn, und der Train ist so wichtig, wenn nicht gar wichtiger als die Artillerie. Die wirtschaftlichen Kämpfe haben dieselben gewaltigen Dimensionen angenommen. Ein Stoß, der in Amerika beginnt, setzt sich fort fast über die ganze Erde, und es gibt kein Volk mehr, das in den weltwirtschaftlichen Kämpfen für sich allein bestehen könnte.«

Blauhaar unterbrach ihn:

»Schön. Ihr werdet eine bürgerliche Partei –«

Hanssen nickte lachend:

»Wenn wir eine bürgerliche Partei, eine Partei von Besitzenden geworden sind, dann haben wir ja erreicht, was wir wollen.«

»Und die Folge wird sein, daß links von Ihnen eine revolutionäre Partei entsteht ...«

Poninski langweilte sich, er wollte aufs Wasser, in den Wind. Indem er die Tür öffnete, rief er:

»Ich schlage vor, wir machen eine Pause in der Debatte, bis die neue Partei da ist.«

Blauhaar hatte keine Lust und begann von neuem:

»In Frankreich ...«

»Nein, in Deutschland«, brüllte Poninski, ohne im übrigen recht zu wissen, worum es sich handelte.

Musik

Ich weiß, ich habe Heimweh.

Das ist nicht nur die Sehnsucht, es gut zu haben zu Hause, abzurüsten, still zu sein, und, in die Zauberwolke der Wiedersehensfreude gehüllt, das Gänseblümchen Erinnerung zu botanisieren, nein. Auch die Enttäuschungen wollen wieder betrachtet sein, die bitterbösen ersten Enttäuschungen, die einzigen – gerade sie.

Ich habe Heimweh, auch nach dem Schmerz, der dem jungen Egoismus knisternd ins Fleisch fuhr, überscharf, blendend wie das Licht eines Scheinwerfers, der in einen dunkeln Saal voller Menschen zischt.

Helldunkle Tage, Sprung und Fall, immer wieder. Qualvolle Nächte. Träume.

 

Warum bin ich gequält?

Die Nerven gehen in Aufruhr, sie zerren mich hin und her. Bin ich froh und weiß es nicht, oder stehe ich im Schatten eines nahenden Unglücks? Ich fühle mein Herz schlagen. Meine Hände sind heiß, als ob ich Fieber hätte. Dunkel liegt über meinem Leben.

Ich wandere in blinder Einsamkeit zwischen Vergangenheit und Zukunft. Habe ich je gelebt? Und was ist das wert, was ich erringen, was sich mir schenken könnte? Dieses, das Unverdiente, breitet sich wie Segen, eine Zeitlang ist der Glanz von Flügeln um uns, dann fühlen wir, wie schwer wir damit beladen sind. Jenes, das wir mühsam aus unserm Blut und Geist gestalteten, reiht sich wie ein Grab an das andere ... Und die Gegenwart ist ein Januskopf, der mit gleich erschreckten Gesichtern in dieselben leeren Horizonte starrt.

Es dauert Tage, Stunden oder nur einige unendliche Minuten. Ich bin krank an Leib und Seele.

Und dann, dann kommt es. Ein Ruck geht durch die ganze Natur. Es wird hell, richtig hell in mir, draußen webt Himmel, alle Dinge schwitzen einen zarten Glanz aus, wie an einem frühen Sommermorgen. Leid wird stark, Freude singt, und alles ist Dankbarkeit. Plötzlich überstürmt mich Musik, oder dicht vor mir, aus dem Nebel, taucht ein Mensch auf, den ich kenne. Ich liebe ihn, oder ich hasse ihn. Ich liebe, ich hasse mich selig.

Bald ist die Welt wieder in Ordnung.


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