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Zweites Buch

 

1.

Der Hafen von Wladiwostok ist geschützt wie ein Auge.

Eisschollen mit blitzender Schneehaube trieben. Die von Chinesen schnell vorwärts geruderten Dschunken rissen breite Striche in den Wasserspiegel. Segler zogen hin und her. Grell brannte die Sonne auf die Leinwand. Kriegsschiffe, japanische, amerikanische und französische, lagen anspruchsvoll vor Anker. Die stählernen Rümpfe wiegten sich leise in den Wellen, hoben und senkten sich: sie atmeten. Die Flaggen knisterten. Verrostete Kanonenboote und verdreckte U-Boote säumten die Ufer: die russischen Fahrzeuge.

Längs des Wassers läuft wie ein Band die Swedlandskaja, die Hauptstraße, in der aufgeplusterte Kaufhäuser neben den kleinen Läden von Chinesen und Japanern stehen. Hier pulst internationales Geschäftsleben. Englische, chinesische, japanische und deutsche Kaufleute haben hier ihre Verkaufsstätten und Büros aufgemacht. Winklige Straßen strahlen nach beiden Seiten aus. Hier aber bieten die Bazare ihre Waren an. Matrosenkneipen und Opiumhöhlen sperren ihre stinkenden Rachen auf. Hier stehen die Holzhäuser der kleinen Leute. Hier starren die schwarzen Augen der nachtdunkeln Höfe.

Salz liegt in der Luft. Das Meer umleckt Wladiwostok. Gischt springt an den Klippen hoch. Und Rauschen begleitet den Rhythmus der Hafenstadt.

 

2.

»Ihr sssolltet erst mal sehen, wwwie es hier in Wwwladiwwostok im Frieden aussieht.« Der Oberleutnant knöpfte den rechten Handschuh auf, zog ihn lässig von der Hand, so daß der goldene Ring mit dem großen Stein in der Frühlingssonne blitzte.

»Es ist doch eine ganz andere Stadt wie Spaßkoje«, sagte Bembel. Auch er steckte in seinem besten Anzug. Mit kurzen Schritten trippelte er in der Schar. Auf dem Gesicht lag Wohlgeborgensein. Die Unruhe von Spaßkoje war Gott sei dank vorüber. Bembel wurde es noch heute übel, wenn er daran dachte. Man wußte nicht, was die Tschechen vor hatten.

»Ich hätte nicht gedacht«, drückte ten Hoven, der es heute in seinem Äußeren an nichts hatte fehlen lassen und wie aus dem Ei gepellt aussah, seine tiefe Zufriedenheit aus, »ich hätte nicht gedacht, daß, als die Tschechen uns neulich einnahmen« – er lachte: einnahmen war gut –, »als sie uns in den Baracken ihre Spieße entgegenhielten, wir heute schon in Wladiwostok umhermarschieren würden.«

»Wenn man es recht überlegt«, ließ sich Erdmannsdörfer vernehmen, und sein schwermütiger Blick war dabei in nichts freundlicher, »war es eigentlich gut, daß von uns welche in der Roten Garde kämpften. Die Tschechen trauten uns doch darum nicht. Sie haben uns doch gleich weggeschickt, weil sie uns aus der Feuerzone heraushaben wollten.«

»Ich weiß bestimmt«, sagte Manteufel, »die Tschechen hätten uns nicht gleich fortgeschafft, wenn sie unter den Rotgardisten, die sie gefangen nahmen, nicht mehrere von uns entdeckt hätten.« Er summte leise vor sich hin: er wußte, es ging alles besser als man dachte. Wie war doch das Unglück groß gewesen, als der Schünemann die Geschichte mit dem Geldschrank link gemacht hatte. Man hatte alles verloren gegeben. Das Theaterspiel nachher war doch mehr Galgenhumor gewesen. Die Tore waren wieder aufgemacht worden. Vom Geldschrank war natürlich nichts mehr zu sehen gewesen. Schlimmer war, daß der Holm daran glauben mußte. Und das hatte selbstverständlich der Schünemann verschuldet. Alles was recht ist. Wenn die Geldschrankgeschichte geklappt hätte, wäre das andere alles nicht gekommen. Schünemann war doch ein Lump: er hatte es auf dem Gewissen, daß Holm Wladiwostok nicht genießen konnte. Manteufel redete sich in Zorn hinein.

»Es ist nicht gerade logisch, was du sagst,« wagte Bembel schüchtern einzuwenden, »aber recht hast du!«

»Schade um den Holm!« seufzte Manteufel. Es war, als hätte Bembel überhaupt nicht gesprochen. Niemand hatte auf ihn gehört. Dagegen blieb Manteufels Satz in aller Ohr stecken. »Schade um den Holm!« Fürwahr: jammerschade um diesen Mann. Wenn man nur wüßte, wie man ihn einen Kopf kürzer gemacht hatte. Niemand wußte es.

Kunowskis Redeapparat rasselte los, als hätte es nur dieses Satzes bedurft. Der wirkte wie das Geldstück, das in den Automaten fällt. Die Worte überschlugen sich. War es denn nicht Holm gewesen, der zu ihm gekommen war, um mit ihm die Vorarbeiten zu besprechen? Ein Elend, daß nichts daraus geworden ist. Dann kam das Theater. Wieder ein großer Schlag, eine glänzende Sache. Man konnte nun endlich wieder in die Stadt gehen. Kunowskis Stirn verfinsterte sich. Das Abenteuer war auch bei ihm nicht ohne Folgen geblieben. Er müßte lügen, wollte er behaupten, daß er sich danach gesehnt hätte. Nein, die dumme Geschichte konnte ihm noch recht unangenehm werden. Immerhin: so leicht war er nicht einzuschüchtern. Das Korps hatte ihn mit Erfahrungen ausgestattet. Da war alles vertreten gewesen. Den Kopf hatte es aber niemanden gekostet. An dem Hineinfall war selbstverständlich Holm nicht schuld. Was konnte er dafür? Viel eher mußte man sich an Schünemann halten.

Als der Name wieder fiel, zog der Oberleutnant das Stirnchen kraus in Falten. Der Mann war ihm verhaßt. Er hätte ihn umbringen können. Der Oberleutnant fühlte, daß Schünemann anders war als er, und überlegte: konnte ihm das nicht im Grund schnuppe sein? Das schon, wenn sich Schünemann nur nicht immer in alle Sachen mischen wollte. Seitz ahnte: da war noch mancher Kampf zu bestehen. Doch jetzt wollte er sich die Laune nicht verderben lassen. Da war Wladiwostok, die Stadt mit den ungeheuren Möglichkeiten. Hier pfiff ein weltmännischer Ton. Hier drängte sich ganz Asien zusammen. Hierher hatte Europa gierige Fäuste gestreckt. Was war hier nicht alles zu schmeißen? Der Oberleutnant atmete tief. Wohin er sah: Russen, Chinesen, Koreaner, Japaner, Europäer und Amerikaner, die Tschechen nicht zu vergessen. Alles durcheinander. Der Oberleutnant schmunzelte. Wo Reibungsflächen waren, wo sich Steine aneinanderrieben, spritzten die Funken. Und wo Funken stoben, konnte man Feuerchen anmachen und Eisen hineinlegen. Je mehr, um so besser.

Hohn zuckte um das Näschen, das sich spitz und neugierig reckte. Überall Uniformgewimmel. Engländer, Franzosen, Amerikaner, Italiener und Kanadier waren in bewaffneten Expeditionen gekommen, um (der Oberleutnant lachte) Rußland vom Bolschewismus zu befreien. Wer es glaubt. Er wußte es besser. Jeder hoffte im geheimen, die durch den natürlichen Hafen ausgezeichnete Stadt, den Endpunkt der europäisch-asiatischen Eisenbahn und das Tor des Seewegs nach Japan, China und Amerika, bei bester Gelegenheit schnappen zu können. Was dem Staat recht ist, sollte dem Einzelnen verwehrt sein? Hohe Moral. Für wen ist die denn nun eigentlich da? Die Staaten räuberten und plünderten und ließen nachher sittsame Lesebücher verfassen. Moral?

Dem Oberleutnant stieg es heiß in den Kopf. Wenn er schon bei dem Wort angelangt war, wurde es ihm übel. War nicht der Erfolg die Moral? Beispiel: die Tschechen. Sie hatten diese Lage vorbereitet. Zunächst in der österreichischen Armee. Regimenterweise waren sie in den Krieg gegen das zaristische Rußland gezogen. Und regimenterweise waren sie übergelaufen. Die Slawen zu den Slawen. Als Gefangene bewegten sie sich frei, solange, bis sie eine selbständige Truppe bildeten. Die griff in die Wirren ein. Wollte nach Wladiwostok fahren, schmuste den Sowjetleuten vor, sie wollte sich nach Europa überschiffen, um an der Seite der Entente gegen die Mittelmächte zu kämpfen. Das war den Sowjetleuten gerade recht: je toller es im kapitalistischen Lager zuging, um so besser für Hammer und Sichel. Die Sowjetleute gaben den Tschechen die Erlaubnis, nach Wladiwostok zu fahren. Hier sammelten sie sich. Anstatt auf die Schiffe zu gehen, drehten sie die Gewehre um und sperrten die Sowjetführer in ein mit Draht umgürtetes Häuschen. Der Oberleutnant kannte es. Er hatte es gestern gesehen. Am Wald lag es. Durch Berge und eine kleine Wüste von der Stadt getrennt.

»Was haste denn, Oberleutnant?« brummte ten Hoven. Ihm dauerte der Bummel durch die Straßen zu lange. Auf den ziegelroten, breiten Lippen waren Flammen der Gier entzündet.

Der Oberleutnant aber ließ sich nicht beirren. Gott, wenn er doch immer einen solch klaren Kopf hätte wie heute. Die Gedanken strömten ihm nur so zu. Wenn das doch immer so wäre! Da könnte er mit Einfällen handeln und ein glänzendes Geschäft machen. Das war vielleicht einfacher und leichter als immer mit einem Bein im Gefängnis zu stehen oder sich stets halb auf Anmarsch zum Sandhaufen zu befinden. Das Köpfchen war heute so klar wie seit langem nicht. Die Hirnkammern hatte ein tiefer Schlaf sauber gefegt. Das hatte er den Amerikanern zu danken.

Er pfiff sich eins in bester Laune. Verdammt, wenn er geahnt hätte, daß er noch einmal zu den Amerikanern kommen würde! Wunderbar war das zugegangen. Als die Tschechen vor einigen Wochen alle Gefangenen aus Spaßkoje nach Wladiwostok geschleppt hatten, gaben sie über eintausend Mann an die amerikanische Expedition ab. Als Kulis. Viele meldeten sich. Alle wollten weg von den Tschechen. Die hatten sich nicht sehr zart benommen und drohten immer mit Erschießen. In Spaßkoje fing es an. Man schleppte sie aufs Feld hinaus. Stellte sie in langen Reihen auf, zwischen denen große Zwischenräume klafften, richtete die Maschinengewehre ein. Rufe: »Mörder!« flatterten wie Raben empor. Niemand wußte: wer sie gesagt hatte. Wut flog über die Gesichter der Gewalthaber. Sie ließen abzählen. Der Abend sank. Fackeln lohten. In der Ferne kläfften Hunde. Dazwischen grollten, kaum vernehmbar, die Geschütze. Der Oberleutnant spannte. Die Rettung in letzter Stunde mußte kommen. Seine Gedanken klammerten sich an die Möglichkeit einer Rettung. Er wollte eine winzige Spanne vor dem Augenblick, in dem das Kommando »Feuer!« ertönte, ertasten, sich hinwerfen, eine winzige Spanne, bevor die durchlochten Leiber der andern wie Säcke hinplumpsten, sich lang ausstrecken wie die andern und den Atem anhalten, der den andern schon entflohen war. Abwarten, bis die Mörder gingen. Und dann aufstehen. In die Nacht hineintaumeln. Auf Bäumen kampieren. Es kam anders. Der Oberste der Oberen hatte grinsend zugesehen, die Qualen des Sterbens geschlürft, grell gelacht und abgewinkt. Warum sollte man den Kerlen einen Tod schenken, wenn es möglich war, sie tausendmal sterben zu lassen?

Man hatte die Nase voll von den Tschechen.

Sie stopften die Gefangenen bei Wladiwostok in feuchte Kasernen. Wahllos durcheinander. Die Kranken mit den Gesunden. Man sagte: »Vorläufig!« Essen gab es wenig.

Als dann die Amerikaner Arbeiter anforderten, meldeten sich alle freiwillig. Der Oberleutnant und die Seinen hatten Glück. Die Bekannten waren mitgekommen, nur ganz wenige oben geblieben.

Der Oberleutnant mußte an den schlechten Empfang denken, den die amerikanischen Soldaten ihnen bereitet hatten. Mit Bajonettstichen trieb man sie in die Baracke. Die Soldaten waren verhetzt. Sie glaubten, die Deutschen hätten Kinder aufgespießt und gegessen, und stachen darum bei den kleinsten Gelegenheiten zu.

Der Oberleutnant lachte. Jetzt war alles anders. Man besaß ein anständiges Lager, kriegte anständig zu essen, arbeitete in den Magazinen, lud Schiffe aus, bei denen immer etwas abfiel, erhielt Ausgang, den man sich notfalls nahm. Das Entschlüpfen war kinderleicht.

»Woll'mer mal an den Hafen gehn, ob wieder ein Schiff ankommt?«

Bembel rührte damit an den Wunsch aller. Nur ten Hoven war dagegen. Der Oberleutnant aber wunderte sich, daß seine Gedanken auch die der andern gewesen sein mußten. Die Schiffe, die waren nämlich nicht so ohne. Daß sie immer ertragreicher wurden, dafür sorgte er. Bei den Ausladearbeiten. Der Oberleutnant grinste. Sollte er das Weizenkorn sein, das zwischen den Mühlsteinen der allgewaltigen Staaten zerrieben wird? Lachhaft.

Sie gingen hinunter zum Wasser. Dahin, wo koreanische Hütten standen. Da war die See wie ein Tuch ausgespannt. In weiter Linie hob und senkte sie sich, als bliese ein mächtiger Atem von unten dagegen. Der schmale Strich einer kleinen Insel war über den Wasserspiegel gezogen. Rechts und links davon fielen stahlgraue Felsen in die Tiefe. Durch das schmale Tor mußten alle Schiffe kommen. Und dahin wendeten sich die Blicke.

»Es ist bald wieder ein Dampfer fällig!« brummte Erdmannsdörfer.

»Der ›Sheridan‹ soll es sein!« bemerkte ten Hoven lässig.

»Das wird wieder Arbeit geben!« lachte Manteufel.

»Die Hemden haben wir ganz gut untergebracht!« setzte Kunowski hinzu.

»Künftig mmmüssen mmer das noch aanders mmmachen. Mmmit dem Ppposten Hand in Hand, Mmmenschenskinder.«

Die andern lachten. Arthur war doch ein Aas.

»Hoffentlich rutschen auch wir bald mit einem Schiff da durch das Tor. Es wäre für uns die Erlösung.«

In der Stimme war viel Hoffnung. Der kleine Bembel hatte für die Räubereien nicht viel übrig. Wohl machte er alles mit, unter Herzklopfen. Das Schönste für ihn wäre aber doch: heraus aus diesem Schlamassel. In die Heimat. Eine Fülle von Bildern flutete an seinem Auge vorbei. Heim. Heim. Die Sehnsucht hielt ihn aufrecht.

»Wir sollen tatsächlich mit dem Schiff nach Hause fahren.«

»Das ist klar.«

»Es wird Zeit. In Versailles haben die Brüder den Vertrag doch längst unterschrieben.«

»Ob uns die Amerikaner mitnehmen?«

»Wenn wir bei ihnen arbeiten, selbstverständlich.«

»Die Gesunden und die Kranken?«

»Die werden sortiert. Jede Sorte auf ein Schiff.«

»Wenn nun die Kranken nicht so viele sind, um ein Schiff zu füllen?«

»Dann werden die Massen etwas verschoben.«

»Glaubt sicher«, setzte Bembel hinzu, »wenn die Kranken aus ganz Sibirien gesammelt werden, werden sie kaum auf ein Schiff gehen.«

»Die Amerikaner werden nur ein Schiff darangeben.«

»Mehr verlangt ja auch keiner.«

»Und ob Amerika gerade die Kranken fährt? Oder ob die Tschechen uns fahren?«

»Ist mir schnuppe.«

»Es wird gegessen, wie es kommt.«

Abendrot glühte herauf. Tiefes Purpur entzündete sich und brannte lichterloh. Am Himmel hoben sich einsame Inseln aus dem Bild heraus, bizarre Gebirge, verschwiegene Teiche. Die satten Farben lösten sich vom Firmament und tropften auf das Meer. Sie erfüllten die Luft, die wie von fernen Feuerscheinen durchtränkt war, und weckten in dem stumpf blinkenden Wasser Lichter. Die vereinigten sich zitternd und deckten die Flut mit flüssigem Gold zu. Von den Bergen schien es herabzurinnen, von den erstarrten Flügeln der Segelschiffe herabzusickern, ja aus den Tiefen aufzutauchen. Gespensterhaft verschwammen die Umrisse der Schiffe am Ufer. Ein Dampfer zerstieß den Frieden. Allmählich verwehte das Rot. Und schwärzliches Grau erfüllte den Raum. Alles verwuchs zu dunkler Einöde. Aus ihr drang das helle Glucksen brechender Wellen und das tiefe Rauschen der atmenden See. Der Wind fegte jetzt darüber hin. Rückwärts aber, auf der andern Seite, hockte in verfließenden Umrissen Wladiwostok. Die Lichter blinzelten wie fiebrige Augen.

»Wunderbar das alles«, flüsterte Bembel. »Wenn das ein Maler auf die Leinwand brächte, man glaubte es nicht.«

»Kommt«, sagte ten Hoven.

 

3.

Die Magazine der amerikanischen Expedition standen dicht am Hafen. In einer Baracke, die aussah wie irgendein Schuppen, wohnten die Gefangenen. Feldbetten standen in langen Reihen nebeneinander. Das Essen war gut und reichlich. Das Eingekerkertsein fühlte man hier nicht so. Wenn man spazieren ging, konnte man eine weite Strecke, den Bergen zu, am Hafen schlendern. Wer wollte, konnte auch in die Stadt gehen. Der amerikanische Barackenkommandant unterschrieb die Urlaubsscheine ohne Zagen. Waren es ihrer aber einmal zu viele, so schob er sie ohne Worte einfach zurück. Dann waren die Gefangenen gezwungen, ein Zaunbillet zu lösen. Sie krochen durch den Stacheldrahtzaun. Und es machte nichts aus, wenn der Posten ein paar knallende Grüße hinterhersandte.

»Wir müssen auch einmal in die Stadt«, sagte Müller. Und dabei wirbelten die Wolken aus seiner Pfeife.

Kramm erwiderte nichts. Er blickte über das Wasser, rief seinen Hund, den er sich von einem Chinesen für zwei Pfund selbstgeschnittenen Tabak gekauft hatte, ein kleines, anhängliches Tier unbestimmter Mischung. Es fraß nicht viel, und was es fraß, fiel in der Küche ab. Nachts lag Prinz, zusammengerollt, den Kopf auf den Pfoten, hinter dem Bett, in dem sich Kramm wälzte. Wenn der aufschrie, spitzte Prinz die Ohren. Aber Kramm rief ihn nicht. Kramm rief in dumpfen Träumen die Heimat. Das klang anders. Und an den Ton der Stimme hatte Prinz sich schon gewöhnt.

»Artig, Prinz«. Er war an Kramm hochgesprungen und hatte dem die haarige, verknotete Hand geleckt. Kramm wehrte ab. Er war heute nicht in Laune. Wann war er einmal in Laune? Er ließ den schweren Schädel sinken. Mutlos baumelten die Arme. Gott sei dank, daß die jetzt bei der Arbeit zugreifen durften. Er hätte es sonst nicht ausgehalten. Doch die Abendstunden!

Die geschwungenen Linien der kahlen Berge liefen am Himmel entlang. Kramm suchte die Sterne. Und er fragte sich: werden die daheim auch das sehen? Natürlich. Es war der gleiche Mond, es war die gleiche Sonne, es waren die gleichen Sterne.

Müller hatte es aufgegeben, auf eine Antwort zu warten. Er wollte sie eigentlich gar nicht haben. Ihm war nicht danach zumute, in die Stadt zu gehen. Das überließ er einstweilen dem Oberleutnant und den andern. Wenn er es ihnen doch immer überlassen hätte! Jener Abend nach der ersten Theateraufführung riß auch ihn hinaus. Und er tat das, was alle taten. Wer konnte sich zurückhalten? Wollte man sich denn überhaupt zurückhalten?

Er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß er auf einen solchen Abend gewartet hatte, jahrelang, und daß er sich immer seiner Tolpatschigkeit geschämt hatte, wenn die andern aus dem Lager gingen und er zurückblieb.

War er denn so dumm? War er nicht Schriftsetzer? Fünfzehn Jahre hatte er vor der Maschine gesessen, die Zeitungsmanuskripte getippt. Was waren da manchmal für Handschriften darunter gewesen? Er hatte sie alle entziffern können und war darob im Betrieb allgemein bekannt. Er hatte immer mit bohrenden Augen den Worten ihre Bedeutung entrissen. Und daran hatte er in den langen Jahren der Gefangenschaft immer gedacht. Das gab ihm Selbstbewußtsein. Das klagte ihn aber auch an, daß er hinter den andern zurückblieb. Die schlüpften hinaus, genossen alles, schafften sich bei dieser Gelegenheit gleich Geld, mehr, viel mehr, als in der Baracke zu erwerben möglich war. Und er blieb zurück. Bis jener Abend kam. Da schwamm er im Strom. Hätte er da zurückbleiben sollen?

Vielleicht wäre es besser gewesen. Hinterher ist alles schön klar. Er hätte sich vielleicht sogar etwas darauf einbilden können, nicht das zu tun, was alle taten. Ein geistiger Sieg wäre das gewesen. Aber was hieß das? Müller lachte rauh, so daß der vor sich hinbrütende Kramm erschreckt aufblickte. Was heißt das? Geistiger Sieg? Müller wollte sich nicht betrügen. Sein Chefredakteur hatte immer merkwürdige Leitartikel geschrieben. Darin war immer so etwas wie Verantwortung gewesen. Mut gegen das eigne Ich. Mit Andacht hatte da Müller die Buchstaben, die runden Sätze auf die Tastatur seiner Maschine geschlagen. Stolz durchströmte ihn, wenn er daran dachte. Nein, es war nicht umsonst gewesen. Müller belog sich nicht. Er war gierig in der Schar hinausgetaumelt.

Aber dann das Erwachen. In der Haut eine kleine Stelle, die nicht zuheilte. Das war alles. Der Arzt sagte ihm die Wahrheit. Und sagte sie auch Kramm. Er sagte sie allen. Was soll die Frau dazu sagen? Was würde daheim werden? Sollte man sich enthalten? Und wie sollte man es der Frau gegenüber erklären? Man konnte sie doch um Himmels willen nicht auch noch krank machen. Und die Kinder, die noch kommen würden, verdammt. Die Ausheilung war die einzige Hoffnung.

»Ich habe heute den Arzt gefragt, dringend«, sagte Kramm düster.

»Und –«

»Er sagte, befolgen Sie nur alle Vorschriften ...«

»Das muß man.«

»Ist denn dann die Heilung möglich? fragte ich. Er sagte: ›Wenn Sie glauben, daß Sie gesund sind, müssen Sie in jedem Fall noch einmal den Arzt fragen. Der untersucht Sie, nimmt noch einmal eine Blutprobe. Und wenn nichts mehr drin ist, können Sie als gesund gelten.‹«

»Wie das klingt: als gesund gelten!«

»Die Krankheit ist, sagte der Arzt, bei frühzeitiger und sorgfältiger Behandlung in der Regel heilbar.«

»Das sind verfluchte Vorbehalte.«

»Die Krankheit kann nämlich immer wieder auftreten. Und sie kann sich in den Nachkommen austoben.«

Kramm sagte es dumpf. Einmal, ein einziges Mal. Die andern triebens jahrelang, du lieber Gott. Da mußte man ja mit einem Unglück rechnen. Aber einmal, ein einziges Mal.

Vielleicht war alles doch übertrieben, dachte Müller.

»Man sagt: die Amerikaner brächten uns bald nach Hause« hub Kramm wieder an.

»Sie bringen uns nach Hause«, erwiderte Müller, »wenn sie uns nicht mehr brauchen, wenn die Expedition abrückt – Wenn keine Kisten mehr aus den Schiffen zu schleppen sind. Wenn sich Onkel Sams Politik von Sibirien abwendet«

»Und wann kann das sein?«

»Morgen und übermorgen noch nicht.«

»In jedem Fall besser, daß wir bei den Amerikanern sind. Die sind doch großzügiger als die andern.«

»Und dabei ist in Europa schon Frieden. Und wir sitzen noch hier.«

»Frieden? Ein schöner Frieden.«

»Die Tschechen, das waren ja die Schlimmsten. Die Gefangenen oben im Hauptlager werden auch bald von ihnen erlöst. Dann übernehmen die Japaner das Lager. Ich glaube, die sind anständiger.«

»Anständiger als die Tschechen jedenfalls. Wer kann die denn hier leiden?«

»Die Sowjetleute putzen einen nach dem andern weg. Gestern hat doch einer von den Tschechen im Friedhof da oben auf dem Berge gehangen. Aufgeknüpft natürlich. Die Zunge heraus. Und ein Zettel hat auf dem Rücken geklebt: Der 16. Für jeden eingekerkerten Führer 75 Tschechen.«

»Das kann gut werden.«

Dumpf knatternde Schläge zerteilten die Stille. Sie kamen aus der Stadt. Schreien und Rufen, Geräusche, als flüchteten welche.

»Was ist denn da schon wieder los?«

»Schnell in die Baracke!«

Müller fluchte. In dem Durcheinander konnte sich ja niemand halten. Heute rot, morgen tot

»Müssen da nicht auch die Gefangenen toll werden, Kramm?«

Der nickte. Wenn er früher in seinem Dorf das geahnt hätte!

 

4.

Als der Oberleutnant mit den Seinen über den stockfinstern Hof des Bordells ging, flüsterte er:

»Nn-ehmt euch in acht, dddaß – wwir nicht in eine Ffall-tür rutschen, sonst kkkom-mer in den Kessel und ffei-ern Aufer-stehung als Zer-velatwurst.«

Die andern lachten.

Aber sie traten doch vorsichtig auf, fühlten mit den Zehenspitzen und streckten die Arme wie Flügel weit aus.

»Allein hier zu gehen, ist gefährlich«, brummte Erdmannsdörfer.

»Halb so schlimm«, meinte Kunowski. Er warf den Zigarettenstummel weg.

Sie gingen eine Treppe hoch. Das Geländer war schlüpfrig wie ein Aalleib.

Der Aufgang wirkte wie ein Rachen. Durch die engen Fenster floß die Nacht. Eine kleine Petroleumlampe flackerte. Ihr Lichtschein aber war dürftig. Man sah gerade so viel, daß man erkennen konnte: man sah eigentlich nichts.

Als der Oberleutnant und die Seinen, mutlos geworden, umkehren wollten, wurde ein halbes Stockwerk über ihnen eine Tür aufgerissen. Eine dünne Stimme zeterte. Sie hörte sich an wie Vorwürfe. Ein Chinesenjunge sprang herbei und schwang eine Kerze. Und nun zuckten schwache Scheine an den schwitzenden Wänden entlang. An ihnen hingen dicke Tropfen, schimmernd wie Kristall.

Sie standen vor einer großen Tür. Der Oberleutnant drückte auf die Klinke. Ein langer, schmaler Gang tat sich auf. An beiden Seiten blitzten Glastüren in langer Flucht. Die Scheiben reichten fast bis auf den Boden. Leises Gitarregeklimper drang aus den Stuben. Aus einer torkelte ein Pockennarbiger in abgetragenem Matrosenanzug heraus. Die Augen waren glasig, die Lider gerötet. Schweiß glitzerte auf der Stirn, und die Unterlippe hing schlaff herab. Das rote Haar lag in dicken Strähnen wirr auf dem aufgedunsenen Schädel.

»Nicht dahinein, wo der 'rausgekommen ist«, kicherte Manteufel. »Das wäre noch schöner.«

Sie gingen langsam den Flur hinunter. Sahen nach rechts, sahen nach links. Überall das Gleiche. Als wäre ein Zimmer vervielfältigt, als sähe man es in einem Irrgarten vermehrt. Japanerinnen knieten, tranken Tee oder zupften mit den kleinen Händen an Lauten, aus denen zaghaft, schüchternen Vögeln gleich, dünne Melodien emporstiegen. Rötliches Licht wogte im Raum. Wie Puppen kauerten die Mädchen. Das schwere, tiefschwarze, glänzende Haar lastete wie eine Krone über der wachsgelben, zierlichen Stirn, die glitzernden, schief sitzenden Augen lachten unzudringlich. Von ihnen glitt das Lächeln über das ganze, wie aus Wachs geformte Gesicht. Um Mund und Nase zitterte Bereitschaft. Man ahnte leise, daß sie Gewohnheit geworden war. Die Lippen waren leicht geöffnet und entblößten Perlenreihen. Die Kleidung leuchtete in bunten, tiefen Tönen. Wärme strömte von ihnen aus.

Der Oberleutnant und die Seinen schritten auf und ab. Sie musterten die Mädchen, die da zum Verkauf ausgestellt waren, und konnten sich nicht entschließen, in ein Zimmer zu gehen. Eins sah ja aus wie das andere. Sie wußten nicht, welches sie bevorzugen sollten. Niemand und nichts nötigte sie. Sie hätten unbehelligt, glaubten sie, wieder hinausgehen können.

Kunowski lächelte höhnisch.

Warum so viel Federlesen, dachte Manteufel. Hatte er nicht in der Instruktionsstunde als Unteroffizier die blöd stierenden Rekruten gelehrt: entschlossen handeln?!

In Erdmannsdörfers verschwommenem Blick war Gleichgültigkeit.

Bembel aber war unruhig. Zerbrechliches Porzellan, dachte er. Das war gut zum Ansehen und zum Streicheln. Warum es mit plumpen Fäusten zerschlagen? Ekel stieg in ihm hoch. Warum war er eigentlich mitgegangen? Er war eben mitgelaufen. Dummheit das. Wohl fühlte er sich nicht. Wie anheimelnd müßte es da sein, allein mit einem solchen Geschöpf in warmer Stube zu plaudern.

ten Hovens Lippen brannten ziegelrot. Warum immer solche Umstände? Warum nicht zugegriffen? Er rümpfte die fleischige Nase. Wann würde man jetzt zum Angriff übergehen? Er beobachtete, daß in den Zimmern an den Seiten kleine Räume abgeteilt waren. So viele Mädchen, so viele Sonderstübchen. Sie wirkten wie Zellen. Eine hohe, schmale Tür, verschließbar. Da kam ja auch jemand heraus, und hinterher schlich auf weichen Sohlen ein Mädchen mit einem merkwürdig gefrorenen Lächeln in den Mundwinkeln. Die andern Mädchen im Zimmer sahen nicht auf. Nur, daß das eine oder das andere etwas sagte, das ein Scherz sein konnte. Es wurde überhaupt lebendiger im Flur. Die Sonderkabinette, die man vorher gar nicht bemerkt hatte, gingen oft auf. Aufgelöste, verlegene Röte im Gesicht, so stolperten die Männer heraus. Meistens Russen, doch auch amerikanische Soldaten, Franzosen und Tschechen.

Der Oberleutnant grinste. Wenn die Tschechen wüßten, daß hier die Gefangenen gleichberechtigt auftraten? Auf dem Parkett des Bordells waren alle, die ganzen Völker, gleichberechtigt. Nachdem es sich herausgestellt hatte, daß die abgetrennten Kabinette belebt waren, fiel es schwer, ein Zimmer zu wählen. Nun wollte man eins haben, das leer war, aus dem niemand heraustorkelte. Die Kerle, die da herauskamen, stießen ab. Man suchte, beobachtete ein Zimmer. Da kam wieder einer heraus. Der Atem rasselte, und der Kerl schob sich durch den Gang wie ein Klumpen. Nun zählte man die Mädchen im Zimmer, zählte die Sonderstübchen. Und wenn weniger Mädchen im Zimmer waren als es Kabinette gab, ging man weiter. In einem Zimmer dem Ausgang zu schien die Rechnung zu stimmen.

Der Oberleutnant ging voran.

»Du«, sagte Bembel gedämpft, »hier ist der rotköpfige Kerl, der Pockennarbige, gewesen. Weißt du? Als wir hereinkamen.«

»So«, erwiderte der Oberleutnant, und seine Füße blieben auf dem Fußboden kleben.

»Geh' man schon«, ermunterte Manteufel, während ten Hoven höhnisch lachte. Erdmannsdörfer schien es einerlei zu sein. So oder so. Kunowskis Gesicht war undurchdringlich.

Ihnen allen war etwas benommen zumute. Was das nur war, wetterte der Oberleutnant im Stillen, er hatte doch wahrhaftig ganz andere Sachen erlebt. Die kleinen, dummen Mädchen da sollten ihn nicht aufregen. Und er tat vertraut. Reichte die Flosse herum, in die sich immer wieder zierliche Hände legten.

Sie setzten sich auf kleine Stühle, fingen an russische Sätze zu stammeln, lachten und vermochten die Wachsgesichter etwas zu beleben.

»Germanskis?«

»Jes, Germanskis!«

Die Perlenreihen entblößten sich. Und Bembel beschlich das Gefühl: fletscht da nicht etwas? Aber die Gesichter lachten ja. Beherrschung schien zu triumphieren. Und doch brannte etwas in diesen bunten Kleidern. Brannte es aber für sie? Bembel konnte sich die Frage nicht beantworten.

Da redete ten Hoven. Er sprach ziemlich gut Russisch. Die Stimmung wurde lebhafter. Ein Mädchen brachte Wein. Ein Schleier aus Zigarettenrauch schwebte im Zimmer. Kunowski tat überlegen. Und ten Hoven schielte nach dem Kabinett Aber er wußte heute nicht, wie er es anfangen sollte. Das hatte er noch nicht erlebt. Diese Galanterie war ja phantastisch. Man fiel hier ab, hatte keine Übung bei so gearteten Gegnern. Die mochten sich köstlich über die Stümper amüsieren. Er wollte einen Käfer fortziehen. Aber der Arm sank herab. Vielleicht mußte man fest zupacken. Aber fest zupacken konnte er nicht.

Draußen glitten Schatten an der Tür vorbei. Augen glühten auf. Wüste Köpfe malten sich auf das Glas wie auf eine Mattscheibe. Schritte verhallten.

Erdmannsdörfer war das alles unwirklich. Er nuckelte an seiner Zigarre und fühlte sich wie in einem verworrenen Traum. Er wunderte sich über sich selbst. War er nicht immer so, mit dem fernen Rauschen im Ohr, durch das Dasein gegangen? Es war ihm, als ob er auf einer Ebene säße und zwangsläufig dahin führe, wohin die Bahn mündete. Oder: als wäre eine Feder in ihm aufgezogen, die einfach ablief. Er handelte, handelte aber eigentlich nicht. Er setzte auf der Straße die Füße voran, aber er ging eigentlich nicht. Die Leute sagten, unverdientes Glück verfolge ihn. Die das sagten, mochten recht haben. Hatte er sich nicht selbst oft darüber gewundert, daß, wenn er daheim am Wochenende in seinem Weißwarengeschäft Kassensturz machte, immer noch ein ansehnlicher Überschuß da war? Wie ging das zu? Was hatte er getan, daß es so war? Andere mühten sich, hetzten sich ab, rechneten, klügelten, intrigierten. Er mochte anfangen, was er wollte, es gelang. So machte er seine Schulaufgaben. So kam er beim Militär durch, wurde Vizefeldwebel der Reserve. Und immer war es ihm, als säße er in einem Glaskasten, der gefüllt war mit Wasser, das ringsum rauschte, und er sähe alles erst durch dieses Wasser und das Glas: so entfernt und unbeteiligt.

Erdmannsdörfer wunderte sich nicht, daß er hier saß, und er hätte sich nicht gewundert, wenn er jetzt in ein Kabinett gegangen wäre. Er hörte den Oberleutnant lachen. Und er hörte nur, daß dieses Lachen anders klang als sonst Er sah Kunowski, und er sah nur, daß dessen Gesicht noch maskenhafter war als sonst. Er sah den kleinen Bembel, und er sah nur, daß der kleine Bembel noch nachdenklicher dasaß, als man es von ihm gewöhnt war. Er sah, daß sich Manteufel nervös an seinen Bart griff, und er sah nur, daß Manteufel unsicherer war, als er sich sonst gab. Er sah ten Hoven aufmerksam nach der Decke in einer Ecke starren, und er sah nur, daß da oben doch nichts war.

ten Hoven hatte aber etwas entdeckt. Da oben in der Ecke hatte sich die Tapete bewegt. Die Tapete hatte ein Blumenmuster mit dicken Tupfen. Sie standen nicht weiter voneinander als zwei Augen. Und zwei dunkle Augen starrten da auch heraus. Die Tupfen waren herausgezogen worden, und an ihrer Stelle waren zwei Augen erschienen. ten Hoven blickte weg und sah wieder nach oben. Die Augen verschwanden nicht. ten Hoven verglich sie mit den andern Punkten: die waren tot, farblos. Die andern aber, die Augen – die glänzten, die spannten aufmerksam, die beobachteten die seltsamen Gäste.

Wir müssen reichlich zahlen, dachte ten Hoven. Sonst ... Das Sonst stand drohend vor ihm. Oder wenn wir reichlich zahlen, entpuppen wir uns erst recht als kostbares Wild? Die Augen konnten alles überschauen. Eine bestimmte Handbewegung der Mädchen konnte das Signal sein. Ein leicht hingeworfenes Wort konnte dem Lauscher oben alles sagen.

ten Hoven dachte an den dunkeln Hof. Er starrte die Mädchen an. Wurden die etwa überwacht? Waren sie gefangen? Sie lachten, waren liebenswürdig, waren jetzt sicher auch zu allem bereit Sie mochten Geld gerochen haben. Und vielleicht sahen sie es darauf ab, die zahlungsfähigen Besucher betrunken zu machen. Die zottigen Kerle, die man draußen gesehen hatte, mochten ja nichts anderes in den Taschen tragen als den Dollar, den der Spaß kostete. ten Hoven warf einen Blick auf seinen Anzug. Sah der nicht hochnobel aus? Und erst die Schale des Oberleutnants? Die blinkte, knarrte und saß wie angegossen. Hier war etwas zu holen.

ten Hoven musterte wieder die Decke. Er überlegte, sollte er es auffällig machen oder sollte er so tun, als wäre alles zufällig? Ließ er merken, daß er den Lauscher sah, so sorgte der sicher für Verstärkung: einschüchtern ließ der sich gewiß nicht. Dem da oben war es wohl einerlei, wie sie sich hier unten benahmen.

Mechanisch tastete ten Hoven in seine Tasche. Was suchte die Hand denn? Waffe? Sinnlos. Er besaß keine. Wenn er nur den Oberleutnant verständigen könnte! Würde das aber nicht schlimmer werden? Würde dann der Kampf nicht beginnen?

Der Oberleutnant trank und schien die Beherrschung zu verlieren. Da wußte ten Hoven, daß er handeln mußte. Sprich Deutsch, warne die andern, verständigt euch unauffällig! Wenn aber der Lauscher auch Deutsch verstand? Man mußte es darauf ankommen lassen.

»Oberleutnant«, rief ten Hoven beiläufig, »höre mal: wieviel Uhr haben wir denn?« ten Hoven zog die Uhr und setzte gleichmütig hinzu: »Paßt auf, wir werden überwacht Seid ruhig. Laßt euch nichts merken!« Hielt dann die Uhr an das Ohr, blickte besorgt auf das Zifferblatt, schüttelte ungläubig den Kopf. »Guckt doch mal, ob meine Uhr richtig geht. – Wir müssen bald aufstehen, hört ihr – zahlen, und nicht so knapp!«

ten Hoven ließ die Uhr bedauernd in die Westentasche gleiten.

Der Oberleutnant war fahl geworden. Bembel zitterte. Manteufel lachte verlegen vor sich hin, aber in ihm arbeitete es. Kunowski brannte sich natürlich eine Zigarette an. Erdmannsdörfer aber merkte, daß es doch nicht so gemütlich war wie sonst. Was sollte das heißen? Überwacht? Was wollte man denn von ihnen? Geld? Sollten sie kriegen. Das Leben? Wertlos.

Inzwischen hatte der Oberleutnant, dem es immer so gewesen war, als brenne ihm etwas im Genick, die Augen bemerkt. Er war aufgestanden, als wollte er sich Bewegung schaffen, und hatte nach oben gesehen.

 

5.

Klein ging mit dem Steuermann unter Bewachung eines tschechischen Postens vom neuen Gefangenenlager Perwaja-Retschka in die Stadt. Sie trugen zwei Kisten, die nicht schwer waren, mit der Zeit aber mächtig drückten. Sie sollten zum tschechischen Hauptquartier gebracht werden.

Es war schon Abend. Die Berge schliefen in der Finsternis. Ein Bach flüsterte zwischen Weiden. Die raschelten leise. Der Weg schien sich endlos zu strecken. Auf einem Abhang erhob sich ein Häuschen. Dunkle Massen umlagerten es. Hier saßen die Sowjetführer gefangen.

Klein schalt sich, daß es ihm nicht gelungen war, zu den Amerikanern zu kommen. Da waren seine besten Freunde. Ein Trost, daß die Japaner sie übernehmen würden. Die japanische Kantine war schon aufgemacht. Er wälzte die Kiste von der einen auf die andere Schulter. Alles aufgerieben. Die Last! Überhaupt dieses Jammerdasein! Wann würden sie endlich heimfahren? Hoffentlich mit dem Schiff. Das wäre doch auch Sache. Nachher als Student. Da begann das Leben erst. Freilich: ob der Alte es erfahren würde. Mußte ihm das passieren? Da in dem dämlichen Spaßkoje. Ob ihm der Alte das Fell gerben würde? Er hatte ihn oft genug auf die Gefahren aufmerksam gemacht. Und nun das Malheur! Na, er gab die Hoffnung nicht auf. Er war jung. Vielleicht überwand er alles. Ein Riese war er freilich nicht

»Höre mal, Steuermann, wie lange soll denn das noch so gehen?«

»Wir sind bald da! Noch zehn Minuten.«

Der Steuermann war nicht ungern mitgegangen. Wladiwostok? Die Silben zogen. Vielleicht konnte er die Möglichkeit zu einem Geschäftchen abtasten. Kameraden bei den Amerikanern? Vielleicht wußten die etwas. Vielleicht traf er den oder jenen. Geld zusammenschmeißen, das war das einzige, was man Vernünftiges hier tun konnte. Man wußte nicht, wie es daheim aussehen würde. Die Briefe, die ihm hin und wieder seine Mutter schrieb, waren nicht ermutigend. Er las zwischen den Zeilen. Er hatte die ganzen Jahre hindurch geschafft, Andenken gezimmert. (Die Industrie schien jetzt, wo die Amerikaner als Käufer auftraten, mächtig aufzublühen.) Gebastelt, wo er nur konnte. Eine ansehnliche Summe hatte er schon zusammengeramscht: die konnte er daheim gut gebrauchen. Das Häuschen seiner Mutter würde er, mit den Äckern, gern erwerben und das Geld, das er zusammenkratzte, für die Abfindung seiner in Berlin wohnenden Schwester verwenden. Ja, wenn nur der kleine Unfall nicht dazwischen gekommen wäre. Aber er würde daheim berühmte Spezialisten befragen. Die würden ihn schon wieder auf die Beine bringen. Geld, Geld, Geld, das war die Hauptsache.

Die Swedlandskaja lag wie eine glänzende Schlange da. Uniformen aller Art. Frauen mit wiegendem Gang. Vom Hafen her wehte ein frischer Wind. Dennoch war es Klein und dem Steuermann, als gingen sie auf Pulver.

Im Hauptquartier der Tschechen fühlten sie diese Spannung noch stärker. Was war los? Klein und der Steuermann lieferten ihre Kisten ab und wunderten sich, daß man sie nicht mehr sonderlich bewachte. Der Posten war erregt und sagte den beiden, in anderthalb Stunden gingen sie zurück ins Lager. Ob sie nicht in der Stadt ein wenig Spazierengehen dürften, fragten sie. Sie würden sich rechtzeitig wieder einfinden. Ausrücken könnten sie nicht. Wohin denn? Es wäre Wahnsinn. Der Posten winkte zustimmend und stürzte in ein Zimmer, aus dem laute Sätze herausquollen.

Die beiden atmeten tief, als sie draußen auf der Straße als freie Männer standen. Sie war ungewohnt, die Freiheit. Wohin? Sie gingen in das Bazarviertel. Hier wurden Nüsse auf offenen Flammen geröstet, Teppiche, Sessel und viel Gerumpel verramscht, lackierte Kästen mit phantastischen Paradiesvögeln angeboten. Eingelegte Arbeit, aber auch billige Bemalungen. Alles japanischer Herkunft. Die Lampen schmauchten. Die Gestalten verflossen im Halbdunkel. Düsternis breitete sich über die Geschäftigkeit, die um Kopeken geizte.

»Da müßte man etwas als Andenken kaufen.«

»Weißt du, was mir auffällt: Die Leute hier, guck' dir sie mal an, wie sie da in ihren Buden stehen, leben wie im tiefsten Alltag. Sie wissen nicht, was ringsum vorgeht.«

»Gewöhnung stumpft ab.«

Chinesen mit langen Zöpfen und den eng anliegenden, unten zugeschnürten Hosen. Flinke Japaner. Riesengestalten, breitschultrig und hoch: Russen in lumpigen Kleidern, Schafpelzen und mit zottigen Mützen. In die Breite gegangene alte Frauen. Dazwischen schicke Weiblein, in brüchiger Eleganz. Schmutzige Kinder, die wie Hunde in Unrathaufen wühlten. Vorsichtig trippelnde Japanerinnen, die auf dem Rücken die Kinder trugen.

Klein und der Steuermann drängten sich durch das Gewühl, bogen in eine stille Straße ab und standen vor finsteren Häusern.

Aus einem Eckhaus fegte eine wilde Jagd heraus. Spuk?

Der Oberleutnant mit den engsten Freunden. Die Augen starr. Die Gesichter käsig. Die Mäuler klappten wie bei Karpfen auf und zu.

»Oberleutnant.«

Die Fliehenden standen. Verstärkung? Rettung?

Sie sahen sich um, merkten, daß sie draußen auf der Straße waren, und wußten: hier konnte ihnen nichts mehr passieren. Sie waren dem Höllenschlund entronnen.

»Mich in warme Würstchen verwandeln zu lassen, nee, dazu habe ich keine Lust.« Die Worte tropften ten Hoven von den bleichen Lippen. Klein und der Steuermann erkannten ihn kaum wieder.

»Einen Schnaps, einen Schnaps«, sagte der Oberleutnant.

In der nächsten Spelunke klappte er zusammen. Lieber zehnmal aus dem brennenden Flugzeug stürzen und sich die Hirnschale spalten, – als – einmal – über – diesen – Hof – gehen.

»Vielleicht war das Ganze nur Spuk«, lachte der Steuermann.

Die andern antworteten nicht.

Sie kippten den Schnaps hinter, rauchten, sprachen nicht. Dann raffte sich der Oberleutnant auf. Eine Säge wühlte in seinem Hirn.

»Kkein – Wwort nunmehr ddavon!«

Eine Stange Geld war dabei daraufgegangen, verdammt. Neues herbeischaffen: Der Oberleutnant fühlte die Notwendigkeit, etwas zu tun. Er sah ein neues Ziel, und das riß ihn fort. Er tupfte sich mit dem Taschentuch auf die Stirn.

Der Steuermann spitzte die Ohren. Man erzählte, erzählte von den gleichgültigsten Dingen, und dabei stieß man wie von selbst auf die Aufgabe, die sich aus der finanziell bedrängten Lage ergab.

Selbstverständlich ... Whisky ... konnten Klein und der Steuermann aus der japanischen Offizierkantine beschaffen ... selbstverständlich.

»Schöne saubere und schmale Flaschen sind's«, sagte der Steuermann, »man kann sie bequem in der Rocktasche tragen.«

Klein war still. Ihm paßte die Sache nicht. Aber was sollte er tun? Er wollte doch ernst genommen werden, und da mußte er mitmachen. Gott, man war eben kein Jüngling mehr. Er befand sich mitten im »Ernst des Lebens«, von dem der Pauker immer so viel Aufhebens gemacht hatte.

Der Oberleutnant vergaß für einen Augenblick die Erschöpfung. Er grinste. Seltsam: Die Niederlage würde ihn zu einem neuen Sieg treiben. Ohne die Schlappe heute hätte er kaum daran gedacht, sobald wieder zu arbeiten. Er hätte sich's noch wohl sein lassen, hätte geschlemmt Das Loch im Geldbeutel aber verlangte, daß er es mit neuen Scheinen zustopfte.

Der Oberleutnant hob triumphierend das Glas.

 

6.

Auf dem Heimweg gingen sie ein Stück gemeinsam.

Ein düsterer Mann fiel ihnen auf, der dicht vor ihnen langsam quer über die Straße lief und sie mit stechendem Blick musterte. Gleichgültig bog er dann in die nächste Seitenstraße ein.

Sie trafen den Posten, der mit dem Steuermann und Klein in die Stadt gegangen war.

Der Soldat wurde unruhig, nahm das Gewehr in den Arm und spähte nach allen Seiten.

Alle hatten den Vorfall gemerkt und rückten unwillkürlich von dem Posten etwas ab. Der Oberleutnant freute sich, daß er mit seinen Kameraden jetzt in eine Seitenstraße mußte, um auf kürzerem Weg ins Lager zu gelangen. Er wollte das gerade sagen, als ein Schatten um die Ecke huschte. Gleich darauf platschten ein paar Handgranaten unmittelbar vor dem Posten auf das Pflaster. Der brach in zuckenden Flammen zusammen. Das Gewehr klirrte auf die Steine. Der Schatten flog näher. Etwas Weißes fiel auf den Toten. Der Schatten flitzte fort.

Hinter den Gefangenen wurde es lebendig.

Klein und der Steuermann hasteten in der Richtung des tschechischen Lagers fort. Der Oberleutnant und die andern aber stürzten in die verlassenen Werkstätten am Hafen und krochen von hier aus ins Lager.

Vor der Baracke trafen sie Müller und Kramm. Die beiden hatten die Schüsse gehört.

 

7.

Der Zwanzigste war es. Der Zettel hatte mitten auf dem Toten gelegen.

Aufregung herrschte in der Baracke.

Aus dem Hauptquartier kam ein tschechischer Offizier, der mit dem amerikanischen Barackenkommandanten verhandelte.

»Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen«, sagte der Tscheche, »daß es Sowjetrussen waren, die den zwanzigsten Tschechen töteten. Immerhin war es auffällig, daß gleich nach dem Anschlag Leute ins amerikanische Lager flohen.«

Der Tscheche richtete sich kameradschaftlich forsch auf.

Der Amerikaner aber hatte für diese Haltung kein Verständnis. Er kaute seinen Gummi und spuckte den dunkelgelben Speichel in hohem Bogen fort. Das glatte, hagere Gesicht blieb unbewegt Er hatte nicht jedes Wort des Tschechen verstanden. Der sollte lernen, richtig amerikanisch zu sprechen. Immerhin hatte er so viel gehört, daß Leute ins Lager gegangen waren. God damned, was ging das den Tschechen an? Es war einer von den Tschechen getötet. Einer von den god damned Bolschewiken sollte es gewesen sein. Allright. Was nun noch? Ein paar prisoners of war wären ins Lager geflüchtet? Er erinnerte sich, Urlaubsscheine ausgestellt zu haben. Allright.

Der Tscheche biß sich auf die Lippe. Er fühlte sich nicht richtig behandelt. So ging man nicht mit einem Offizier der tschechischen Armee um. Dieser Amerikaner war ein Rüpel. Wie er dastand, ausspuckte, sich überhaupt wie ein Zivilist benahm! Der Tscheche riß sich zusammen. Die Hacken klappten aneinander. Eintönig, aber scharf warf er dem andern die Sätze hin:

»Der tschechische Soldat wurde erschossen. Von wem? Wahrscheinlich von einem Bolschewisten. Dennoch war auffallend, daß kurz nach dem Attentat etwa sechs Männer in der Richtung des amerikanischen Lagers davonliefen. Ich frage, sind das Gefangene gewesen? Kann man die Namen wissen?«

Der Amerikaner guckte mit seinen grauen Augen verwundert auf den Tschechen. Was wollte der fellow? Warum stand er denn so steif da? Man konnte sich doch besser unterhalten, wenn man saß? Warum setzte sich der Mann nicht? Da war doch noch Platz auf dem Tisch, und da war eine Lehne für die Beine. Der Amerikaner rutschte auf die Schreibplatte, an der er bisher gelehnt hatte, und legte seine Beine mit den spiegelnden Gamaschen über den Stuhl. Die lange Chagpfeife schob er zwischen die Goldzähne. (Der Tscheche zuckte zusammen: wie das aussah, kein einziger weißer Zahn.) Dann holte er das Feuerzeug aus der Brusttasche. Und nun kräuselten helle Wolken aus dem duftenden Tabak.

Der Tscheche stand. Er wurde eisiger. Er hatte in der k. und k. österreichisch-ungarischen Armee gedient, aktiv, war zehn Jahre lang Offizier gewesen. Und nun mußte er mit einem Pfeffersack ohne Manieren verhandeln.

»Wer waren die Leute?«

Der Amerikaner wurde etwas stutzig. Er wußte aber nicht, was ihn unsicher machte. Daß der andere ihm die Lektion lesen wollte, begriff er noch nicht.

»Ich werde die fellows fragen lassen?«

»Fragen lassen?« Was war das? Fragen lassen? Wußte denn der da wirklich nicht, daß es nur einen Befehl gab und ein Gehorchen oder ein Nichtgehorchen, und dann wieder einen Befehl, der unter allen Umständen ausgeführt werden mußte? War das die amerikanische Armee?

Der Amerikaner guckte gleichgültig drein.

Der Tscheche ging in sein Hauptquartier zurück. Und hier rasselte die Schreibmaschine ein Schriftstück an das Hauptquartier der amerikanischen Expedition. Man forderte, wegen der Anschläge auf tschechische Truppen strenge Obacht auf die Gefangenen zu verwenden.

»All right«, sagte der Adjudant. Und er ließ auch ein Schriftstück tippen. Das war an den Kommandanten der Gefangenenbaracke gerichtet, und hierin stand, daß wegen der Anschläge auf tschechische Truppen strenge Obacht auf die Gefangenen verwendet werden sollte.

»All right«, sagte der Kommandant. Und er schob in den nächsten Tagen die Urlaubsscheine zurück, die ihm zum Unterschreiben vorgelegt wurden.

»Es darf keiner mehr in die Stadt«, pflanzte sich die neue Parole durch die Baracke.

Der Oberleutnant spitzte die Ohren. Aha, das war ungeheuer günstig. Er erwartete morgen abend die zweite Sendung Whisky. Wenn niemand in der nächsten Zeit aus dem Lager gehen durfte? Der Oberleutnant pfiff sich eins. Das war glänzend. Da war vorerst keine Konkurrenz möglich. Wieder einmal einen guten Einfall gehabt, von dem auch die andern zehrten. Die Freunde waren am Geschäft beteiligt. Das ganze Risiko übernahm er nie. Wie kam er auch dazu? Aber eine Kleinigkeit mußte für ihn mehr abfallen. Freiwillig oder unfreiwillig. Im Gespräch mit den Kameraden strich er leise um diesen Punkt. Die andern grinsten.

»Er ist ein Gauner, der Arthur«, sagte Manteufel.

Und Konowski setzte hinzu:

»Er ist wie ein Koleurbruder von mir. Es kommt ihm nicht darauf an, die ganze Bande nächtelang freizuhalten. Aber wenn er dann wieder im offiziellen Teil ist, im Alltag, beim Verdienen, feilscht das Aas um einen Cent.«

»Er macht es«, erklärte ten Hoven wohlwollend, »wie ein Kaufmann. Es kommt ihm nicht darauf an, am Stammtisch einer Pulle nach der andern den Hals zu brechen. Hundert Mark mehr bei Geschenken rühren ihn nicht. Wehe aber, wenn er im Büro sitzt, wenn das Telephon schrillt, die Schreibmaschinen klappern, der Korrespondent die Briefe zur Unterschrift hereinbringt. Dann wird um den Pfennig gefochten, mit allen Listen und Niedertrachten.«

»Gehört sich ja auch so«, brummte Erdmannsdörfer, »Geschäft ist Geschäft.«

Er stellte vor sich selbst fest, daß er das, was er eben gesagt, gesagt hatte. Er stellte gleichzeitig fest, daß, wenn er das Gegenteil gesagt hätte, es ebenso gut gewesen wäre.

»Geschäft ist Geschäft?« Der kleine Bembel zog die Silben lang. »Geschäft ist Geschäft, das will ich nicht sagen. Traurig, wenn im Geschäft nicht noch etwas anderes steckt.«

ten Hoven sah ihn mitleidig an. Dabei fiel sein Blick auf die gegenüber am Pfosten hängende schwarze Tafel, an der die Bekanntmachungen des Lagerkommandanten klebten. Richtig, ten Hoven erinnerte sich: da hing der Wisch, den er schon vor ein paar Tagen gesehen hatte: »Ich verbiete, Alkohol und alkoholische Getränke im Lager zu führen.«

Kleckermaxe ging vorbei. Seine Schellfischaugen starrten groß und verwundert auf den Zettel. Er hatte ihn schon oft gelesen. Aber allemal, wenn er vorbeikam, glotzte er wieder auf den Befehl. Die Gesichtslarve blieb unbewegt, die dicken Lippen klafften auseinander. Schwarze Stoppeln starrten auf der toniggelblichen Haut. Wie ein Kaspar hopste er einen Schritt vor, blieb gebückt stehen, drehte in eckigen Bewegungen den Kopf, kikerikierte in höchsten Tönen. Dabei zeigte er mit dem rechten Daumen auf den Zettel: »Getrunken kann der Alkohol hier werden; er darf bloß nicht geführt werden.«

Kleckermaxe stürzte in seinen großen klappernden Holzpantoffeln vor und brüllte in einem fort: »Einsteigen, meine Herrschaften. Nach Berlin-Anhalter Bahnhof auf dieser Seite, nach Kassel auf dieser Seite! – O Edison, o Edison, wie schön ist doch dein Telephon, man spricht hinein, und mit Bedacht, schon ist die Sache abgemacht. Klinglingling ... Klinglingling ... ach, wie praktisch ist so'n Ding.«

 

8.

Die Baracke schwamm im Whisky.

Mitternacht stand draußen. Die Posten riefen sich mit hohler Stimme die Nummern ihres Wachtstandorts zu. Tschechische Patrouillen tapsten auf der Straße vorbei.

Der Kommandeur der Baracke saß auf dem Bett des Oberleutnants.

Durch die Gänge torkelten schwere Gestalten und zerrten die Schlaflager mit, die auf beiden Seiten in langer Reihe aufgestellt waren. Kleckermaxe tanzte halbnackt auf seinem Bett, hatte das Hemd aufgekrempelt und brüllte: »O Edison, o Edison, wie schön ist doch dein Telephon ...«

Blaue Gesichter, verquälte Augen. Langgezerrte Schatten an den Bretterwänden. Die nicht mitmachten, steckten die Köpfe unter die Decken. Angst, daß die Bude in den nächsten fünf Minuten brennen würde.

Der Kommandeur tanzte mit Manteufel durch die Baracke und schwang den Revolver.

Schünemann, der die Decke bis ans Kinn heraufgezogen hatte, starrte in das Halbdunkel, in dem sich die schmalen Fenster als graue Flecken abhoben. Der Lärm umspülte ihn.

Stunde um Stunde verrann.

Der Rausch streckte einen um den andern aufs Lager. Wie Säcke plumpsten sie hin.

Die Orgel des Schlafs setzte vorsichtig ein. Noch wurde die gedämpfte, rasselnde Melodie von lauten Schreien unterbrochen. Aber auch die sanken allmählich in den Rhythmus der Nacht.

Klick, klick, klick, klick, lick, lick, lick.

Schünemann richtete sich halb auf. Waren das nicht die Langschwänzigen? Wegen der Feuchtigkeit war die Baracke auf Sockeln erbaut, so daß sich unter der Bretterdiele ganze Scharen von Ratten aufhalten konnten. Sie zwängten sich durch die Löcher, die sie genagt hatten, und raschelten über die Betten zu den Regalen.

Schünemann hörte mit äußerster Gespanntheit auf die Geräusche. Eine Maus war doch viel harmloser. Die huschte. Was er aber hörte, das war ein Laufen, das von Hunden herrühren konnte. Er glaubte, das Aufschlagen der Krallen zu vernehmen.

Wenn er doch schlafen könnte! In früheren Nächten hatte er von den unfreiwilligen Gästen wenig gemerkt. Nur wenn er einmal ausgetreten und schlaftrunken hinausgetaumelt, waren ihm die Tiere über die Füße gesprungen.

Fürchterlich, dachte er, so ruhig liegen bleiben und in jedem Augenblick damit rechnen zu müssen, daß ...

Kletterte da nicht eine Ratte am Spind des Nachbars hinauf? Das Brot roch so stark. Die Bäcker hatten es erst am Abend ausgegeben. Dazu die Gerüche der Wurst. Schünemann stellte sich die lüsternen, gierig blickenden Augen vor, die knabbernden Zähne und die zitternden Schnauzenhaare.

Wenn nur zu ihm keine kam!

Der Morgen dämmerte herauf.

Fahles Licht klopfte an die Fenster.

Schünemann atmete auf. Der Tag, der neue Tag, würde über die verpestete Nacht fluten und alles rein waschen. Vielleicht konnte er noch eine Stunde schlafen. Die Überreiztheit drückte auf die Augen, und die Lider wuchsen langsam zusammen.

Da wurde er wieder wach. Was war das? Gemächlich lief über seinen Bauch ein schweres Tier. Er war nur mit einer Wolldecke zugedeckt. Und fühlte die Ratte so, wie wenn sie sich unmittelbar über seinen warmen Leib wälzte. Sie drückte förmlich mit der Last des Fraßes, den sie in sich hineingewühlt hatte. Jeder Schritt, den das Tier machte, sank tief in ihn hinein. Er vermeinte, die Krallen deutlich zu spüren, und er fühlte, wie sich der Schwanz, der ekelhafte, hinterherschleppte.

Schünemann lag still. Er rührte sich nicht, atmete nicht. Er war wie gelähmt.

Die Ratte sprang von seinem Bett hinunter. Aber der magnetische Strich, den sie über seinen Leib gezogen, saß tief im Fleisch.

Am Morgen wurde ein Zettel an das Befehlsbrett geschlagen: »Es ist nach wie vor verboten, Alkohol und alkoholische Getränke in der Baracke zu führen.«

Unterschrieben hatte der Kommandant.

 

9.

Die Kräne rasselten. Die Netze rissen sich aus dem Schiffsleib heraus, schwankten hoch, verharrten einen Augenblick, glitten dann über die Schiffswand hinaus und sanken unter dem Gekreisch der Winde rasch hinab. Plumps: Kisten ächzten, Säcke rollten, die Stricke fielen schlapp zurück. Fäuste griffen hinein. Im Nu war das Netz leer und flitzte hoch, flog hinüber und verschwand in der Luke. Die Winde krächzte. Beladene stolperten über Schienen hinweg nach Waggons, auf denen sich Kisten türmten.

Eine sternenhelle Nacht. Wladiwostok blinzelte mit seinen Lichtern herüber. Maste zeigten wie Finger empor. Auf der See zitterten verzerrte Scheine. Vom hellbestrahlten Schiff floß das Licht in dicken Strähnen ins Wasser. Das gluckste und quirlte. Die Berge drüben lagen wie mächtige Maulwürfe da. Schlafend, Pfoten und Kopf eingezogen. Die Quartermaster, die am Schiff entlang liefen, schrien und wetterten, über die Reling beugten sich Schiffsoffiziere, eingehüllt in das satte Blau ihrer Uniform, beschirmt von einer Mütze, an der in frischem Gold der Anker glitzerte. Ein paar Passagiere, die auf dem Armeetransportdampfer Platz gefunden hatten, guckten zur Verdauung gelangweilt herunter, gingen fröstelnd und händeringend in die Kabinen und kamen dann, in leichte Mäntel gepackt, zurück und schritten über die schwankende Landungsbrücke. Die Posten tapsten hin und her, glotzten nach den Waggons, auf denen Gefangene die Waren stapelten.

Der Oberleutnant, im zerrissenen, ungeheuer weiten Arbeitsanzug, in dem gewaltige Taschen schlotterten, fixierte, als er eine Kiste auf den Waggon gestellt hatte, die Posten scharf. Starrten sie wirklich gedankenlos nach den Waggons? Oder beobachteten sie? Ihm schien, als wären die Posten heute aufmerksamer. Er konnte sich aber täuschen. Wie schön wäre das gewesen, wenn der eine Posten und der eine Quartermaster, mit denen er gemeinsame Sache gemacht hatte, geblieben wären. Die Kerle hatten ihn bestärkt: kriegten ja ihre Prozente. Und dann war es wie ein Sturm durch die Baracke gegangen. Die Masse der Gefangenen lechzte auch nach Verdienst. Sollten sie denn immer zusehen, wie der Oberleutnant handelte? Man brauchte es ihm nur nachzumachen.

Er runzelte die Stirn. Dadurch war die Sache gefährlicher geworden. Er mußte höllisch aufpassen. Wenn der eine Posten und der eine Quartermaster doch geblieben wären! Er kam immer wieder darauf zurück. Aber die beiden wurden plötzlich abgeführt, mit Ketten an den Füßen. Nicht dieser Sache wegen: das wußte der Oberleutnant. Die Herren hatten schon andere Dinger gedreht. Der Oberleutnant war nicht zufrieden. Das Glück schien in den letzten Tagen gegen ihn zu sein. Da hatte er nun gedacht: wenn du den über die Baracke kommandierenden Leutnant hast, hast du alles. Ein großer Fehlschlag. Der größte, den der Oberleutnant in der Gefangenschaft erlebt hatte.

Der Kommandeur hatte wohl den so lange entbehrten Whisky genossen und den Rausch ehrenhaft erworben. Am andern Tag aber war er wieder unnahbar. Er kannte den Oberleutnant nicht mehr. Und dabei war er so schön im Zug gewesen. Wenn er weiter drin geblieben wäre – nicht auszudenken wäre das gewesen. Man hätte erster Klasse nach Hause fahren können. Es kam anders. Ja, er hatte verdient, sehr gut verdient. Der Oberleutnant spitzte das Mündchen. Aber es hätte eben doch noch besser sein können.

Und heute schien überhaupt dicke Luft zu sein.

Er schlenderte hinüber, wo der »Sheridan« lag. Ach Gott, nach der Arbeit riß er sich nicht. Er hätte sich, das wußte er, selbst bei diesen Amerikanern von der Arbeit gedrückt, wenn – nun – wenn eben die Arbeit nicht etwas abgeworfen hätte. Schade, daß heute die andern nicht dabei waren. Wurden aber wie durch Zufall zu einer blöden Aufräumearbeit nach einer Kaserne kommandiert. Schade, schade, besonders ten Hoven hätte er heute brauchen können.

Wie der Oberleutnant es sich so überlegte: er wurde den Verdacht nicht los, daß der Barackenkommandant durch die Trinkerei auf ihn aufmerksam geworden war, sich vielleicht überlegt hatte: wo hat der Mann das Geld her, und nun etwas plante? Dem Oberleutnant wurde es unbehaglich. Hart sauste vor seinem Gesicht das Netz herab.

Der Quartermaster stürzte mit erhobenen Fäusten erregt herbei. Dachte schon, der fellow läge zerquetscht unter den Kisten. Aber der Oberleutnant stand aufrecht So leicht war er nicht totzukriegen. Auch den Amerikanern würde das nicht gelingen. Immerhin: Vorsicht!

Der Oberleutnant griff ein Kistchen, das vor seinen Füßen lag, schwang es auf die Schulter und trottete langsam (Rufe des Unwillens über seine Faulheit flatterten auf ihn zu) zum Waggon hinüber. Was mochte denn in dem Kistchen sein?

Er stellte es auf den äußersten Rand des Waggons, rückte die eine Seite unauffällig gegen das Licht und las: Schokolade. Es würde Schokolade sein, die man in ganz Wladiwostok nicht kaufen konnte. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Schokolade? Klatsch, lag das Kistchen unten. Der Oberleutnant riß erschreckt die Augen auf über das Malheur, war aber sehr enttäuscht, daß das Kistchen heil geblieben war.

Vielleicht konnten die da oben im Waggon nachhelfen. Er beneidete die Brüder. Die waren völlig ungesehen. Er hätte zu gern da oben gearbeitet Aber er kam nicht hinauf. Der Posten hatte ihn den Trägern zugeteilt. Schon das war ihm unheimlich erschienen. War er denn nicht sonst stets auf den Waggons gewesen? Und heute auf einmal nicht?

Wer war denn eigentlich oben? Man arbeitete in Schichten. Die Nachtschicht (der Oberleutnant war stets darunter, die Arbeit am Tag behagte ihm nicht) hatte vor einer Stunde begonnen. Der Kopf war ihm heute so schwer. Er wußte selber nicht, warum. Er klatschte die Kiste hinauf.

Die Packer, die auf der andern Schmalseite des Wagens gestapelt hatten, wickelten sich aus der Dunkelheit. Schünemann und Kramm.

Der Oberleutnant wich zurück. Hatte er nicht immer gesagt: heute war der Teufel los!? Er meckerte vor sich hin. Etwas wie Galgenhumor war in ihm. Ging zurück. Lud die neue Last auf und trabte los. Es war wieder ein kleines, schweres Kistchen. Gerade als er nicht mehr im Blickkegel des Postens stand, rutschte es ihm von der Schulter und kantete auf eine Eisenbahnschwelle. Das Holz knirschte. Die Wandung war erschüttert. Das Kistchen aber hielt noch.

»Sseht doch mmal zu«, sagte er besorgt zu Schünemann und Kramm, »ob ddie Kkkiste kkaputt ist. Mmir ist sie nnämlich runtergefallen«.

Schünemann lachte. Er besah sich die Kiste sorgfältig. »Einen Sprung hat sie schon«, sagte er gleichmütig. »Aber ich hoffe, daß sie hält.« Kramm maß den Oberleutnant, nahm die Kiste Schünemann aus der Hand und stellte sie oben hin.

Betrübt schlich der Oberleutnant fort. Hatten die aber eine lange Leitung! Da mußte er doch deutlicher werden. Donnerwetter, wenn Kisten operiert wurden, dann gleich ordentlich. Er hätte nicht da oben sein mögen!

Den erstbesten Packen, der vor ihm stand, lud er auf und trollte damit ab. Was war denn da drin? Es fühlte sich wie Karton an, das waren parfümierte Zigaretten von der gleichen Sorte, wie er sie schon vorgestern geschnappt hatte. Hier half nichts, wenn das Paketchen versehentlich stürzte. Der Karton war weich wie Gummi und tat sich nichts zuleide, wenn er sich einmal heftig der Erdachse näherte. Hier half nur das Messer. Er holte es heraus; ein Druck mit dem Daumen ließ die Klinge hochschnellen. Und rasch fuhr sie in den Leib des Ballens.

Schünemann und Kramm sahen zu.

»Hier fffaßt rein«, damit schob der Oberleutnant den geöffneten Packen den beiden hin. Er wollte sie mitschuldig werden lassen. Dann hatte er gewonnenes Spiel.

Schünemann aber faßte das Stück und trug es zu dem Stapel, an dem Kramm eine neue Reihe begann.

Dem Oberleutnant schwollen die Adern auf der Stirn. Eine solche Niederträchtigkeit.

»Habt ihr ddden nicht ggehört, in der Kkkiste war ein Schnitt.«

»Mir ist eine ganze Kiste ebenso lieb«, lachte Schünemann.

»Mmmir aber nicht«, schrie der Oberleutnant. Wenn er den da oben doch bei der Gurgel fassen könnte!

Schünemann tat gleichgültig. »Das sind natürlich Ansichten, jeder denkt darüber anders.«

Die ruhig gesprochenen Worte raubten dem Oberleutnant die Besinnung. Schimpfen, ja. Aber diese Überlegenheit konnte er nicht ertragen.

Und er schrie: »Jja, Hholm, über dddessen Abkratzen denkt man auch versschieden.«

Schünemann stand ruhig da, atmete aber schwer und sagte: »Holm ist bei den Tschechen gestorben. Das sollten Sie wissen.«

»Dddas weiß ich, iich weiß noch mehr.«

»Dann freuen Sie sich doch!«

Der Oberleutnant drehte ihm den Rücken zu. Er lechzte förmlich nach Abrechnung. Einen Augenblick stand vor ihm die Frage: Was hat Schünemann dir denn getan? Nichts. Dennoch alles. Wie albern benimmt er sich da im Waggon? Ein Spielverderber schlimmster Sorte. Der Oberleutnant schäumte. Und warf dem Schünemann die Kisten nur so vor die Füße. Der nahm sie ruhig auf. Nur als eine gegen sein Schienbein prallte, sagte er bestimmt:

»Nehmen Sie sich gefälligst in acht, ja!?«

Der Oberleutnant horchte auf. Oha, Zorn in der Stimme. Das war Balsam. Zorn in der Stimme? So war der da oben doch nicht ganz unverwundbar? Nun schleppte er einen größeren Packen her, hob ihn mit beiden Armen hoch und warf ihn mit Wucht in den Waggon. Dabei streifte er Schünemann an der Hüfte. Der sagte nichts, nahm das Stück und reichte es Kramm.

Traurig schlich der Oberleutnant fort. Daß er sich so hatte hinreißen lassen! War es aber ein Wunder? Solch ein Moralfatzke brachte den vernünftigsten Menschen zum Wahnsinn.

Schünemann sah hinter ihm drein. Warum sollte er dem Oberleutnant den Gefallen tun und stehlen, wenn der stahl? Sollte doch jeder tun, was er für richtig hielt. Das stärkste Beispiel würde doch auf die Dauer siegen, sonst wäre es nicht das stärkste. Schünemann wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte im Grund nie geglaubt, andere bessern zu können. Was hieß das überhaupt: bessern? Wer hat denn ein Recht, sich über den andern zu erheben? Mochte der Oberleutnant tun, was er wollte. Er, Schünemann, tat auch das, was er wollte.

»Wohin soll denn das noch führen?« seufzte Kramm. »Wenn wir mal nach Hause kommen, da marschiert das ganze Kroppzeug ins Zuchthaus.«

»Hör auf, alles ist aus Rand und Band! Sollen's die Gefangenen nicht sein?«

»Freilich, aber – wohin soll denn das?«

»Soweit braucht man nicht zu fragen. Es kann natürlich nur immer das entstehen, was gesät ist«

»Schöne Saat, das!«

»Wir mühen uns ab, Kramm, wissen wir denn, ob wir das Richtige tun? Vielleicht entsteht etwas, das wir gar nicht wollten. Vielleicht ist das aber das Richtige. Wir wissen's nicht. Wir müssen aber etwas tun, nicht? Also tun wir das, was wir für das Zweckmäßige halten. Einerlei, was daraus wird.«

Schünemann blickte in das Gewirr ringsum. Überall Wagen, auf denen die Packer standen. Er wußte wohl, was ihr ängstliches Ausschauhalten zu bedeuten hatte. Aus ihren Augen ragten unsichtbare Fühler, die jeden aufpassenden Soldaten betasteten. Man »operierte«. Schünemann lachte. Was wurde nicht alles genommen! Einige hatten vor ein paar Tagen eine Kiste mit Totenhemden erwischt. Die sah man nachher in der Baracke als Nachthemden wieder. Die langen weißen Gewänder fielen den Leuten bis über die Füße. Viele griffen in die Kisten, weil es ein nicht ungefährlicher Sport war. Die meisten aber taten es, weil es ein paar vorgemacht hatten. Hunger trieb niemanden. Aber es trieb das Beispiel der Zeit. Auf härteste Selbsthilfe seit langen Jahren eingestellt, sollten die Gefangenen nun auf einmal brave Kinder sein?

Was war das? Im Nachbarwaggon hob einer eine Milchkiste hoch und sog mit einer Zigarrenspitze, die durch ein Astloch gesteckt war, die kostbare Flüssigkeit heraus.

Der Oberleutnant pfefferte eine Kiste hinauf, daß sie nur so krachte. Schünemann nahm sie und trug sie fort. Als er die Last fühlte, dachte er, so schwer muß Haß sein. Er erinnerte sich wohl, daß man in der Baracke nicht nur die Gründe des Operierens zu erklären suchte, sondern das Mausen verteidigte. Das war das Zeichen dafür, daß man sich unbehaglich, wenn nicht gar schuldig fühlte. Also – in Schünemanns Stirn grub sich eine tiefe Nachdenkefalte – steckte man noch im Staat, im alten Staat, in den bisherigen Anschauungen. Man erkannte sie an, und man würde darum später, wenn alles ruhiger geworden, wieder artig sein. Möglich wäre es ja gewesen, daß Neues, gänzlich Neues entstand, vielleicht ein Staat, in dem das Faustrecht galt, in dem jedes Gesetz außer dem unbeschränkten Willen des Ichs abgeschafft war. Schünemann hatte zuweilen geglaubt, Zeichen hierfür zu sehen. Irrtum. Die Leute hier, die einem reichen Land ein paar Kleinigkeiten abzapften, waren Diener des Gewohnten. Vielleicht brachte der oder jener nicht mehr die Kraft auf, dem Gesetz zu leben: aber seine Tafeln hatte es in jedem Fall in jedem noch aufgerichtet.

»Was wollte eigentlich der Oberleutnant vorhin, als er auf Holm anspielte?« Kramm war näher gekommen. Sein Höcker erschien, durch die Arbeitsbluse aufgebauscht, größer und drückte schwer auf die knochige Gestalt.

»Er wollte wohl sagen?«, erwiderte Schünemann langsam, »ich wäre an Holms Tod schuld!«

»Wieso?« Die tiefliegenden Augen blickten starr.

»Wieso? Einfach. Ich habe nämlich Holm und andere daran gehindert, in die Stadt zu gehen, wo sie einen Geldschrank ausrauben wollten. Ich versprach mir aus der Sache nichts. Mir war das alles so widerlich. Und ich handelte, die andern versuchten zu handeln. Es gelang nicht ...«

»Und« ...

»Der Oberleutnant folgert nun: Wären er und die andern an den Geldschrank herangekommen, so wäre es gelungen, sie wären geflohen, und alles wäre anders gekommen.«

»Und Sie wären nun ...«

»Der Mörder. Ja, das wollte er sagen.«

»Es ist doch ein großer Schweinehund.«

»Ein ganz großer Schweinehund, ja, ein Lump, nicht? Man kann sich über den Kerl oft amüsieren. Er hat Schwung in den Knochen. Da kann einer sagen, was er will.«

Kramm antwortete nicht. Er wurde an Schünemann irre. War das nicht ein Lob? Und dabei mußte man diesem geschniegelten Oberleutnant doch eine ins Gesicht hauen.

»Sie würden also«, hub er schwer an, »dem Oberleutnant heute nicht mehr den Weg versperren?«

»Selbstverständlich würde ich das tun. Wie könnte ich's denn nicht tun?«

»Sie bereuen es nicht?« fragte Kramm mißtrauisch.

»Wie kann ich bereuen, daß ich gestern so war wie ich war?«

»Und Sie sind heute anders?«

»Soviel ich heute weiß: nein!«

»Morgen?«

»Morgen bin ich so, wie ich morgen sein werde.«

Kramm schüttelte den Kopf.

»Sie würden also morgen das Unrichtige tun.«

»Das Unrichtige tut niemand bewußt. Ich würde es also auch nie tun. Natürlich kann sich die Ansicht darüber, was das Richtige ist, ich sagte es vorhin schon, ändern!«

Plautz ... Der Oberleutnant beförderte eine Kiste hinauf.

Schünemann dachte an seine Schuljahre, und er fing an, davon zu erzählen. Da war er ein recht aufgeregter Junge gewesen, der gern ausführte, was die andern wollten. Wenn sie einmal mit dem Lehrer spazieren gehen wollten, mußten sie das an die Tafel schreiben: »Herr Lehrer, wir wollen einmal spazieren gehn!« Wer schrieb das an die Tafel? Schünemann. Als er dann später das Technikum besuchte und die Schüler den Lehrern Wünsche vortragen wollten, wer sprach? Schünemann. Man kriegte ihn darum etwas auf den Zug. Und als er nach einigen Jahren in der Zeichenstube saß – er war bei einer Werft beschäftigt – und die Kollegenschaft über etwas murrte, wer ermunterte, die Klagen dem Chef vorzutragen? Schünemann. Wer ging ins Privatbüro? Schünemann.

»Sie dürfen aber nicht denken, daß ich das alles tat, um den andern einen Dienst zu tun!« Der sarkastische Zug um die Mundwinkel wurde lebendig. »Nein, zunächst fühlte ich mich mal wichtig ...«

Rumps. Der Oberleutnant schmiß eine Kiste hinauf.

»Ich war mir ein Haupthahn. Das befriedigte mich. Mit den Jahren legte sich das. Es ist doch alles Theater, sagte ich mir. Warum da mitmachen? Dann kam der Krieg. Er riß mich heraus aus allem. Stülpte mich um. Holte das, was drin war, nach draußen. Ich zankte mich in offner Feldschlacht mit dem Kompagnieführer, weil der mich, wie ich glaubte, zu Unrecht angeschnauzt hatte. Nun, auch das verging. Ich hätte nicht geglaubt, daß noch eine Schlangenhaut abzustreifen wäre. Aber erst in der Gefangenschaft. Da kam ich zur Erkenntnis: nur das, was man so das rein Menschliche – ein blödes Schlagwort – nennt, gilt. Mit der Zeit wurde mir aber alles, was sich an irgendeinem Kerl zeigte, rein menschlich.«

Schünemann sah lange an Kramm vorbei. Dann fuhr er leise fort:

»Sehen Sie, Kramm, dann kann man eigentlich keinen mehr recht verurteilen. Man ist dann selbst verurteilt ... zum Verstehen verurteilt«

»Alles gutheißen?«

»Um Gottes willen, nein, nein, nein und tausendmal nein.«

Schrumm. Der Oberleutnant schmetterte den beiden eine Kiste herauf.

»Aber man sieht dann nur noch das Richtige und das Unrichtige, das, was voraussichtlich Segen und das, was voraussichtlich Unsegen bringt. Das Merkwürdige dabei ist, Kramm: wenn man nun so alles aus sich herausholt, mit letzten Kräften das tut, was man als Pflicht, oder wie man's nennen will, ansieht, dann kann es vorkommen, daß man im höchsten Augenblick die Führung über sich selbst und das, was man wollte, verliert«

Kramm verstand ihn nicht.

»Wie soll ich das erklären«, sagte Schünemann, »der Kessel ist unter höchste Atmosphäre gesetzt und – platzt. Höchster Wille sprengt das Ich, und der Wille fliegt in den Willen des Wir, in den Willen des Alls, und dieser Wille handelt dann für uns, an unserer Stelle. Und wir wissen es nicht.«

Schünemann wollte den Gedanken, der ihn gepackt hatte, weiter ausführen. Aber Kramm sah mißmutig drein. Warum sich über solche Dinge den Kopf zerbrechen?

»Das greift bis ins Innerste«, flüsterte Schünemann. »Wenn Sie wüßten, Kramm, wie mich's packte, damals, Kramm, als Holm fiel!«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein, Gott sei dank!«

Kramms Blick umflorte sich:

»Meine Alte, was wird die ...«

»Ich würde es ihr sagen ...«

»Sagen. Und ...«

»Sie bestimmen, wählen lassen.«

»Wählen?«

»Verzichten oder Gefahr auf sich nehmen ...«

»Das ist alles leicht gesagt, Mann. Kommen Sie mal nach Hause. Sprechen Sie mal mit den Weibern ... Haben Sie eine Ahnung.«

»Denken Sie denn, mir ist das einerlei.«

»Was werden Sie denn anfangen?«

»Das weiß ich heute noch nicht.«

»Daß gar keine Rettung möglich ist?«

»Rettung dann, wenn Sie Gesunde vor der Krankheit retten ...«

»Und die Frau ... Ich bin krank.«

Schünemann zuckte die Achseln. Kramm sah wieder das Gesicht, das er von Spaßkoje her an Schünemann kannte. Und die Befremdung von vorhin begann zu weichen.

Krach ... Der Oberleutnant schmiß eine Kiste hinauf.

Müde griff Schünemann zu. Dann starrte er auf die Stadt, den dunkeln Klumpen.

Wladiwostoks Augen waren erloschen. Nur wenige Lampen brannten noch. Die Stadt schlief, lag wie ein Bär, der schlafen gegangen ist. Man fühlte aber: der Schlummer war unruhig. Geister gingen um. Kräfte wurden wach, die am Tage, ihrer Ohnmacht sich bewußt, scheu und rachebrütend dahinschlichen. Dort hinter dem Berg, in einem einsamen, drahtverhauumgürteten Haus, saßen Männer gefangen. Und von ihnen strömten durch Wände und über Felder, durch das Gebirge Befehle auf die in der Freiheit Zurückgebliebenen. Die zogen scheu durch die Straßen, und wo einer einsam stand, aufs Gewehr gestützt, versunken in Gedanken, die sich in die ferne Heimat spannten, nach Weib und Kind, der Braut, nach den heimatlichen Fluren, da blitzte die Axt im spärlichen Schein der Laterne, platzte eine Granate. Und übermorgen fuhr ein langer Leichenzug um den Hafen herum, hinauf auf den Höhenzug, über den vom Meer her kalte Winde strichen. Militärisches Gepränge sollte einschüchtern.

Schünemann wußte, daß noch andere Kräfte webten in dieser nachtversunkenen Stadt. Die Expeditionen. Sie waren gekommen, dem russischen Volk gemeinsam zu helfen, und trauten einander nicht. Die Unruhe ging durch die Stadt, die Unruhe, die nicht schlafen konnte, die in der Erwartung, Gewehre knattern zu hören, sich mit Helm und Wehr ins Bett legte, weil sie überall Verrat witterte.

»Wenn man die Schiffe ansieht, die aus Amerika hierher zur Armee fahren, könnte man denken: sie richtet sich auf Jahre ein«, sprach Kramm.

»Tut sie vielleicht auch.«

»Dann können wir uns gratulieren. Mit dem Heimkommen.«

»Das ist nicht gesagt. Der Amerikaner entschließt sich schnell. Morgen früh kann aus Washington ein Funkspruch eintreffen, und wir dampfen ab.«

»Es wäre die Erlösung, oder auch nicht.«

Schrumm. Der Oberleutnant warf eine Kiste herauf und einen wütenden Blick hinterher. Die Gesellschaft da oben hatte ihm heute das Geschäft verdorben.

Die Dampferpfeife dröhnte. Die Schicht war beendet Ein Uhr nachts. Unten stand ein langer, grauer Zug, die Ablösung.

Man trat zusammen. Die Posten wie üblich vorn und hinten und an beiden Seiten. Schon wollten die meisten lostappen, als die Quartermaster herbeistürzten und den Entsetzten die Kleider betasteten. Der Oberleutnant war der Erste. Zufällig? Er verneinte es vor sich. Da steckte etwas anderes dahinter. Aber frei und ledig hingen die mächtigen Taschen leer aus den Pluderhosen. Die Brust war auch nicht gepanzert. Unter den Strümpfen steckte nichts, unter der Mütze nichts.

Der Oberleutnant meckerte. Die waren zu spät aufgestanden. Er ließ sich nicht überrumpeln. Hatte er es nicht geahnt? Vorsicht, Vorsicht. Wie recht hatte er gehabt, als er sich vorgenommen hatte: heute die Finger davon zu lassen: Gesiegt hatte er wieder, er, der Oberleutnant. Das sollte ihm von den Memmen eine nachmachen. Der Steuermann und Klein blieben diesmal eben ohne Sendungen. Was war dabei? Das bisherige Ergebnis war ohnehin nicht schlecht. Die Bande hatte die Sachen gut umgesetzt.

Der Segen der Nacht entwich im Nu. Milchbüchsen klapperten. Zigarettenschachteln, Hemden, Schokolade, Strümpfe: alles kam auf einen Haufen.

Die Kolonne schlich mit Flüchen auf den Oberleutnant, der doch angefangen hatte, gedrückt in die Baracke. Der Oberleutnant strahlte. Wenn ten Hoven das hörte!

 

10.

Kleckermaxe hatte sich auf einen Tisch gestellt. Mitten in der Baracke. Das spärliche Haar hing ihm in die gefurchte, niedrige Stirn und klebte im Schweiß, der aus dem Schädel sickerte. Die Schellfischaugen waren weit aufgerissen und starrten, als stäke eine Lanze darin. In der durch die Fenster in dicken Bündeln hereinfallenden Sonne wurde das tonige Gesicht zur grellbeleuchteten, glotzenden Fratze. Verwüstung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung waren in sie hineingemeißelt, und irres Lachen hielt alles zusammen. Aber jetzt zuckte es in dieser Maske. Von innen hieb etwas dagegen. Es preßte sich etwas gegen die verkrustete Schale. Sie bröckelte, fiel aber nicht. Die dicken, bläulichen Lippen klappten hilflos auf und zu. Alles schien so wie es immer war. Aber es war anders, und keiner sah es.

»Haut ihn«, brüllten alle. »Kleckermaxe gibt eine Vorstellung.«

Die Lippen bewegten sich heftiger. Verrostete Silben krächzten heraus, mitten in der Rede, die das Gehirn schon zur Hälfte gesprochen hatte:

»... wenn alles fertig gemacht ist. Er sagte dann noch, daß das Schiff schon in zwei Wochen hier sein könnte. Es fahren zwei. Eins bringt die Gesunden weg, alle, die hier gearbeitet haben, und noch Amerikaner. Und eins bringt die Kranken weg. Alle, die hier gearbeitet haben, und noch andere Kranke, die im tschechischen, nein, im japanischen Lager sind. Im Hauptquartier habe ich Fenster geputzt. Vor zwei Stunden. Der Schreiber sagte es mir. Telegramm aus Waschinkton. Morgen früh wird es bekannt gemacht«

»Einsammeln ... Abfahrt, bitte zurücktreten. Nach Berlin einsteigen auf dieser Seite, nach Kassel einsteigen auf dieser Seite ...« wieherte es Kleckermaxe aus allen Richtungen entgegen.

Der stand in höchster Spannung auf dem Tisch, strich mit den dicken Händen hilflos an seiner blauen Bluse herunter, holte tief Atem und trompetete, so daß die Sätze gegen die Bretter knallten:

»Macht doch keine faulen Witze nich ... Ihr benehmt euch wie die Hanswürste. Ich sage euch, als ich ...«

»O Edison, o Edison, wie schön ist doch dein Telephon ... Man spricht hinein und mit Bedacht, schon ist die Sache abgemacht ... Klinglingling ... klinglingling ... ach, wie praktisch ist so'n Ding.«

Spott und Hohn rauschten über Kleckermaxe hin. Die ganze Baracke sang: »Klinglingling ... Klinglingling ...«

Glanzloses Weiß hatte sich über Kleckermaxes Gesicht gelegt. Er schnappte. Da quollen ihm die höhnischen Zurufe ins Maul, so daß er kaum Atem kriegte und alles, was er hatte sagen wollen, erstickt wurde. Aber er rührte sich nicht vom Tisch. Er stand wie eine Bildsäule.

»Alle mal herhören!«

In Kleckermaxe wühlte es. Tränen traten ihm in die Augen. Er war gepackt worden. Eine Nachricht, eine einzige Nachricht, eine sichere Nachricht hatte er zufällig gehört. Diese Nachricht war das Schicksal, war alles. Und ...

»Ach, wie praktisch ist so'n Ding. Einsammeln ... Mal herhören ... Hähähä ...«

Kleckermaxe bückte sich und spreizte die Hände. Die rote Zunge sprang, so lang wie sie war, heraus, und die Mundwinkel wurden emporgerissen. Kleckermaxe meckerte (so schön, darüber war man sich einig, hatte er es noch nie gemacht), tanzte, sang, schrie, klatschte mit den Fäusten gegen die prallen Schenkel, trampelte, so daß der Tisch ächzend unter ihm nachgab. Spucke lief glitzernd aus dem verzerrten Maul.

Die Baracke war außer sich. Nein, so schön hatte er es noch nie gemacht. Er übertraf sich. Kleckermaxe war ein Urviech, war unbezahlbar.

»Hoch, Kleckermaxe! Hoch leben lassen!«

Der Kesselschmied stürzte vor. Die Lust am Gaudium ließ seine Muskeln springen. Er zerrte Kleckermaxe aus den Trümmern, hob ihn hoch, nahm ihn auf die Schultern und trug ihn in der Baracke herum. Kleckermaxe zappelte, schrie und gröhlte: »O Edison, o Edison ...«

Rauschender Beifall.

Da stürzte, bleich und aufgeregt, Kunowski herein: »Kameraden!« – in der Stimme klang Stahl – »Die Amerikaner bringen uns mit dem Schiff nach Hause, über die amerikanischen Häfen!«

Kleckermaxe plumpste wie ein Mehlsack von den Schultern des Kesselschmieds, blieb unbeachtet mitten im Gang liegen. Alles drängte sich um Kunowski. Der erzählte, erzählte ...

»Sichere Nachricht, keine Parole.«

Das blieb in den Hirnen haften. Und das drang schwer und füllend von innen in die Gesichter. Jetzt schaute bei jedem etwas Irres heraus, so wie es aus Kleckermaxes Gesicht herausgesehen hatte. Fahle Blässe. Stillstand der Gedanken. Dann fliegende Röte, Feuer, Beklemmung, Jubel und dumpfe Angst. Das war also der Tag, auf den man die langen Jahre gewartet hatte. So sah der Tag aus, so ...

Langsam erhob sich Kleckermaxe. Stieren Blickes zwängte er sich in die Gruppen, sog die Worte gierig ein. Und sprang wie ein Stier in die Freude:

»Was, Quatsch, glaubt es nicht – Latrinenparolen – Unsinn – gemeine Irreführung – o Edison ...«

Die Worte röchelten. Und die Ohren wuchsen hilfesuchend aus dem vom Leben verlassenen Kopf heraus. Kleckermaxe fiel um, langsam und breit wie ein Stück Holz. Niemand beachtete ihn. Die Freiheit tobte.

Auf seinem Feldbett in der dunkeln Ecke saß Kramm, den Schädel in die Hände gestützt.

 

11.

Die weiße Fahne mit dem blutroten Kreuz flatterte am Mast. Das Schiff hieß »Jerusalem«.

Ein Sanitäter, an die Treppe gelehnt, rief auf. Jedes »Hier« war ein Häkchen auf der Liste wert. Manchmal schrie der Aufgerufene wild. Dann blickte der Arzt, der neben dem Sanitäter stand, aufmerksam auf. Er sah ein paar fiebrige Augen, ein bleiches Gesicht, Erwartung überall. Die Hintenstehenden drängten nach vorn, und die vorn konnten die Zeit nicht erwarten. Sie mußten hinauf aufs Schiff. Auch die, die morgen erst verladen wurden, standen herum. Sehen, sehen wollten sie.

Der Kran knarrte und rasselte. Die Sachen der Heimkehrer waren in Kisten und Säcken zu einem Berg zusammengeworfen. Und der Kran hob sie hoch und senkte sie, Netz um Netz, in den gähnenden, schwarzen Lukenschacht. Rahrah – rahrah – rah. Und bums schlug es unten auf.

»Au!« Der Oberleutnant hob ein Bein und fühlte in Gedanken die Last auf allen Zehen.

»Ich gglau-be, da bleibt kein Ssstück-chen hheil!« Und die biegsame Reitpeitsche strich zärtlich die blinkenden Röhren an den Beinen. Die Genugtuung, daß »die Brüder« ihn bei der Untersuchung am Schiff nicht hatten fassen können, hatte ein Lichtlein in ihm angezündet, das noch jetzt brannte. Es war doch ein Heidenspaß gewesen.

Den armen Kerlen, die gefaßt worden waren, hatten die Amerikaner den Lohn geschmälert. Rutsch, ein Teil herunter. War nur so. Die Herren Amerikaner konnten sich das erlauben. Aber ... aber ... er würde ihnen schon noch ein Schnippchen schlagen. Dankbar sollten ihm seine Kollegen sein, daß er wieder einen Coup ausgeheckt hatte. Statt dessen zankten sie ihn aus. Er hätte sie zum Kistenoperieren angestiftet; er wäre schuld, daß sie nun weniger Geld besäßen. Lachhaft! Als ob nicht jeder für sich sorgen müßte.

Er musterte die Arbeit des Krans. Handschuhe hatte das Ding gerade nicht an. Verflucht.

»Wwwißt ihr, wwir müssen Ppols-ter um die Flaschen lllegen, Lllumpen in die Säcke tun; sssonst haben wwir Scherben und Gestank, wwwenn wir übermorgen unsere Ssa-chen aufleiern lassen!«

»I wo!« sagte ten Hoven. Die schwarzen Augen leuchteten höhnisch. »I wo, so leicht geht das Zeug nicht kaputt, Oberleutnant. Die Flaschen sind so hart wie dein Schädel, der kriegte auch nur ein paar Beulen.«

»Hhalt die Klappe – Mmmenschenskind! Seid froh, daß ich euch wwwieder wwas zum Verdienen gebe. Jjjeder 60 Flaschen. Zu ffünfen sind wwir, Bbem-bei macht nicht mit. Also 300 Flaschen, Mmmenschenskind, an jeder Fflasche dreiviertel Vvverdienst, ein nnnettes Sümmchen. Und wer hat den Gedanken gehabt? Iiiich, kkkein anderer!«

»Es ist nur gut,« sagte Klein, »es ist nur gut, daß wir die Flaschen schon haben. Der Steuermann und ich haben feste buckeln müssen. Das ist nicht einfach. Durch die Postenkette hindurch. Was glaubt ihr, Whisky aus dem japanischen Offizierkasino!? Und zu welchem Preis haben wir eingekauft.«

»Mmman muß nnur Beziehungen ...«

»Halt den Schnabel, Oberleutnant, du denkst wohl, du hast deine Kompanie vor dir. Herr Oberleutnant, äh!« Kröger rief es laut.

Ha, er hatte den Oberleutnant lange nicht gesehen. War ja im tschechischen, dann japanischen Lager, während der Oberleutnant bei den Amerikanern residierte. Nun war der ganze Verein wieder beisammen. Sogar aus Sibirien waren welche hinzugekommen. Kröger schmunzelte, daß er sich vorhin in der Stadt zur Feier des Tages einen Kognak genehmigt hatte. Einmal mußte er sich doch etwas leisten. Schönes Wetter war auch. Und gleich mußte er die Nauke von Oberleutnant sehen. Es schien ihm nicht schlecht zu gehen. Tadellos in Kluft

»Gut verdient, nicht? Großartig abgeschnitten, nicht? Das Rennen gemacht, Herr Oberleutnant, äh?«

Kröger wackelte vorbei.

Dem Oberleutnant aber stieg eine Blutwelle in das sauber rasierte, bläulich schimmernde Gesicht. Was die Meute nur immer wollte, die Spießergesellschaft! Der blasse Neid war es, weiter nichts. Gab er den Brüdern jetzt nicht wieder einen guten Tropfen, damit sie während der langen Seefahrt etwas Anständiges trinken konnten? Verdient hätten sie es eigentlich nicht. Aber na, er wollte großmütig sein. Auch ließ sich ein bißchen dabei verdienen. Erst recht mußte er jetzt sehen, wie er mit dem Rücken an die Wand kam. Das Geschäft, das er bei den Amerikanern gemacht hatte, war doch nicht ganz so, wie er es sich gewünscht hatte. Die Einnahmen hätten noch besser sein können.

Auf dem Schiff mußte er den letzten Schlag machen. Whisky auf die Jerusalem: je mehr, desto besser. Die Leute sollten etwas schlucken können. Aber geheim. Die trockenen Amerikaner durften es nicht erfahren, hol's der Teufel. Und halt: Konnte er nicht noch mehr, viel mehr Whiskyflaschen auf das Schiff schmuggeln? Die Besatzung wollte schließlich auch trinken. Und nicht nur die Besatzung. Konnte man denn den Whisky nicht auch in amerikanischen Häfen loswerden? Natürlich. Die Jerusalem, ein Staatsschiff, legte in amerikanischen Häfen an. Sie konnte es sich leisten, nicht die kürzere Strecke durch den Suezkanal zu fahren. Der Oberleutnant pfiff leise vor sich hin. Das war Sache. Daß die andern immer schliefen! Sie stießen nie auf eine fette Idee.

Wo waren sie denn?

Der Oberleutnant sah sich um. Die Herrschaften hatten sich verkrümelt. Aber da tauchten sie ja wieder auf. ten Hoven ulkte mit Klein. Wie der Kunowski dahinstelzte! Aus dem konnte noch etwas werden. Nur Übung! Natürlich, der Manteufel schwadronierte auf Erdmannsdörfer ein. Der hörte still zu. Gott sei Dank, der Bembel, der Angsthase, war nicht dabei. Mit dem konnte man beim besten Willen nichts anfangen.

Der Trupp machte beim Oberleutnant halt Lachende Gesichter. Nur Klein war niedergeschlagen. Er fühlte eine Last Die Abschiedsstimmung lag ihm heute in den Gliedern. Was war das nur? Sein Vater war reich. Er brauchte die paar Kröten nicht, die der Whiskyschmuggel abwerfen würde. Aber warum machte er mit?

»Wäre es nicht doch besser«, fing er zögernd an, »wir tragen den Whisky wieder hinauf ins japanische Lager. Wißt ihr, wenn wir auf dem Schiff erwischt werden und gar in San Franzisko von den Amerikanern! Und seht mal, wenn sich die Kerle da auf dem Schiff besaufen! Versaufen das Geld, und zu Hause könnten sie es sehr gut brauchen!«

Der Oberleutnant verfärbte sich. Ängstlich musterte er die andern. Was sagten die? Waren die etwa auch von allen Geistern verlassen?

Sie hatten nicht recht auf Klein gehört. Dennoch waren Silben im Ohr aller hängengeblieben. Sie wußten nicht, wie es kam: wehmütige Greinerei war plötzlich in sie gefahren, und ähnliches hatten sie auch schon gedacht. Ja, den Whisky wieder ins japanische Lager tragen? Und sich das Geld zurückzahlen lassen. Wer würde das tun? Der Dolmetscher, der auf die Gefahr hin, in den Bau zu kommen, die Flaschen für schweres Geld schmuggelte? Sie musterten den Oberleutnant. Der Oberleutnant war stark.

Und hatte er nicht recht?

War doch Blödsinn, was Klein sagte. Gewiß, das Heimfahren war schön. Aber von der Schönheit allein konnte man nicht leben. Geld mußte man haben, Karten und einen guten Tropfen. Der würde gut tun während der langen Seefahrt. Jeder war sein eigener Herr. Keiner konnte gezwungen werden, den Whisky zu kaufen. Doch die Leute würden sich auf den Whisky stürzen, würden noch einmal froh und lustig sein wollen vor der Heimat. Vielen war der Whisky schon versprochen. Viele hatten angezahlt. Nun sollte man den Zurückzieher machen?

»Wir werden dafür sorgen, daß auf dem Schiff kein Auge trocken bleibt«, lachte Manteufel.

Der Oberleutnant atmete auf. Der Schwächeanfall bei den Kerlen schien vorüber zu sein. Als ob man jeder Regung nachgeben müßte!

Da hatte er sich in der vorigen Nacht mit ähnlichen Gedanken herumschlagen müssen. Die Heimat stand wieder klar vor ihm. Die Braut? War's nicht zum Heulen? Erst vorgestern hatte er einen Brief von ihr erhalten. Immer wieder war die Frage vor ihm aufgetaucht: sollte er nicht endlich Schluß machen mit dem Räuberleben? Sollte er sich nicht endlich wieder auf die Bürgerlichkeit vorbereiten? Einmal mußte er doch wieder anfangen. Einmal. Sonst. Er schloß die Augen, sah eine Barriere, einen Tisch mit Akten, ein Kruzifix. Da hatte er sich gesagt: nur einmal noch auf dem Schiff einen Schlag machen. Dann in Ruhe und Frieden leben.

Der Oberleutnant wischte sich mit der Hand über die Stirn. Das war vorüber. Aber er wußte, wie groß die Versuchung war, und Schwächlinge wie die da (er ließ den Blick geringschätzend über die Seinen gleiten) konnten ihr leicht erliegen. Schnell hieb er, um eine Rückkehr abzuschneiden, mit sprudelnden Sätzen drein:

»Vorhin ist mmir eingefallen, wwwir mmüs-sen noch mehr Flaschen für dddie Ammeri-kaner in San Franzisko und in Pppanama, vielleicht auch in New York haben. Schon in Sssan-Franzisko wwwerden wwir sie reißend loswerden. Mmmenschenskinder, da ist noch wwas zu verdienen.«

»Für die Amerikaner – für die sollen doch die Flaschen, die wir schon haben, auch sein«, warf Klein dazwischen.

»Viel zu wenig – viel zu wenig«, erwiderte Manteufel.

»Mein ich auch«, fiel ten Hoven ein, und seine breiten, ziegelroten Lippen zuckten höhnisch. »Dreihundert Pullen, nicht der Rede wert. Wen beißt denn der Moralische schon wieder?«

Erdmannsdörfer nickte.

»Du, Klein, ddu mmußt wieder ins jja-panische Lager, gleich morgen früh. Übermorgen ffahren wir, da wird es die höchste Zeit. Sssag dem Sssteuermann Bescheid. Wo ist dddenn der?«

Niemand sah ihn.

»Du mußt dem Steuermann Bescheid geben«, bekräftigte ten Hoven. »Noch heute soll er die Flaschen runterschleppen, damit wir sie verstauen können. Ehe es zu spät ist.«

»Ich?« fragte Klein gedehnt

»Na, ddann llaß es«, zischte der Oberleutnant. Der Klein war ja schlimmer als Bembel. »Dddann gehe ich! Ich muß ohnehin rauf. Ihr kkkommt doch alle mit, mmit Rrucksäcken, vversteht sich. Klein kkkann untenbleiben!«

Da fürchtete Klein, daß er die Freunde verlieren könnte. Um eines dummen Einfalls willen. Entschlossen zwirbelte er den dicken Schnurrbart:

»Wer sagt denn, daß ich nicht mit will, selbstverständlich gehe ich mit«

»Allein können wir es nicht schaffen. Wir müssen noch ein paar Leute haben, die die Flaschen in ihre Rucksäcke nehmen, sonst kriegen wir das Zeug nicht aufs Schiff.«

»Da ist doch noch der Briefträger da, der Kantor auch noch. Und vielleicht macht Kröger auch mit?«

Der Oberleutnant winkte ab:

»Dddas glaube ich nnicht.«

»Aber der Kesselschmied«, lachte Manteufel.

»O, der Kesselschmied«, sagte Kunowski. Und es war, als klopfte er dem Kesselschmied anerkennend auf die breiten, stahlharten Schenkel.

»Natürlich«, brummte Erdmannsdorfer.

»Abber hhhält er dddenn auch ddicht?«

Der Oberleutnant zweifelte.

»Das laß man meine Sorge sein«, sagte Manteufel. »Ich werde das Kind schon schaukeln. Wenn der Kesselschmied eine Pulle kriegt, schlägt er auf Kommando tot.«

»Na, na ...«

Der Kesselschmied? Der Oberleutnant hätte lieber abgewinkt. Aber, er erkannte: jedes Wort hätte die Entschlußkraft gelähmt. Darum, fort mit dem Bedenken!

Er klemmte das Stöckchen unter den Arm und holte aus dem spiegelblanken Etui eine Zigarette. Tausend Flaschen! Nicht weniger. Die mußten aufs Schiff. Die Hälfte mußte in Rucksäcken und Koffern mit dem Handgepäck, die andere Hälfte im Hauptgepäck verstaut werden. Schön verpacken, sonst brachen die Flaschen. Das wäre der Ruin.

Verstörte Blicke krochen aus den rechnenden, verschleierten Augen und musterten das Netz, das rahrah-rah in die Höhe surrte, über das Schiff gezogen wurde, oben schwebte und dann rah-rahrah-rah rasch in die Tiefe glitt: Bums! Verteufelt fein verpacken, mit Strümpfen und alten Hemden. Sonst war alles verloren. Tausend Flaschen, nicht mehr und nicht weniger! Also noch siebenhundert. Die Flasche für zwei Yen, macht 700 Dollars. Um Himmels willen, soviel besaß er gar nicht. 600 Dollars brachte er auf. Die andern mußten auch etwas tragen. Und bei der Bestellung mußte der Dolmetscher, der verdammte Schieber im japanischen Offizierskasino, vom Preis etwas ablassen, natürlich. Soviel verdiente der Lümmel im ganzen Leben nicht mehr, nein.

Und wieder kroch der tastende, unsichere Blick hervor. Er flog über die Reihe der Einsteigenden, die gehorsam in zitternder Erregung vordrängten. Und am Arzt blieb er kleben, gerade auf der breiten, zurückliegenden Stirn. Die Brillengläser funkelten herüber, funkten den Oberleutnant an.

Vor dem würde man sich auch in acht nehmen müssen. Der Arzt hatte doch auf dem Schiff etwas zu sagen. Vielleicht wetterte er gegen den Alkohol: »Für euch Kranke nicht gut.« Der Oberleutnant kannte den Zauber. Man sollte sich an ihm ein Beispiel nehmen. Lebte er denn nicht auch noch? Und ganz gut. Ihm konnte nichts mehr passieren.

Ein Gelächter schreckte ihn auf. Ja, richtig, die Kumpane. Die machten sich das Leben verflucht leicht. Er hatte die Sorgen, und sie hatten den Gewinn.

»Wwwas gröhlt ihr dddenn«?

»Oberleutnant« – lachte Manteufel – »wir keilen den Schünemann, der muß die Flaschen raufschleppen!«

Der Oberleutnant nahm die Rederei nicht ernst. Immerhin:

»Vvverrückt, Mmmmenschenskinder. Wenn ihr wwwirklich noch Leute braucht, dann nehmt ddoch ...«

 

12.

»Komm Prinz, komm«, ermahnte Kramm.

Gebückt schlich er weiter. In dem grauen, ledernen und stoppelbedeckten Gesicht lag Erstaunen. Die hellgrauen, wässrigen Augen starrten jedes Fleckchen am Schiff an. Mit dem Daumen stocherte Kramm dann in der Asche der kurzstieligen Pfeife.

Der Alte dachte an die Frau und die Kinder daheim. Und er dachte an den Hund, dachte an Prinz, wie er ihn aufs Schiff kriegte. Prinz mußte mit. Kramm konnte sich nicht denken, daß der Hund hierbleiben sollte. Merkwürdig, wie schnell er sich an ihn gewöhnt hatte. Er lenkte ihn ab. Lenkte ab von dem Gedanken, daß ein kranker Mann heimkommen und die Kinder krank machen würde, die geborenen und die ungeborenen. Die geborenen: nur eine kleine Wunde, hatte der Arzt gesagt, und sie konnten sich anstecken beim Küssen, hatte der Arzt gesagt. Wenn die Frau ihn erwartete, die Kinder zu ihm emporhob? Wo er im Speichel, im Blut die Bazillen trug, hatte der Arzt gesagt. Nur eine kleine, mit bloßem Auge nicht sichtbare Wunde genügt zur Ansteckung, hatte der Arzt gesagt.

»Komm, Prinz, komm!«

 

13.

»Ist doch schon ein alter Kasten«, sprach Müller. Er war von der Heimkehr ganz erfüllt. Im übrigen konnte er die Hoffnung auf eine Heilung nicht ganz aufgeben. Viele hofften. Warum sollte er nicht hoffen? Gewiß, einfach war die ganze Geschichte nicht. Kopf hoch!

Kramm schlich wie unter einer Last, die schwer auf dem Höcker ruhte. Im Feld war der Buckel für die Traintruppe gerade gut genug gewesen. Aber zu Hause hatten auf ihm die Getreidesäcke so schön und sicher gelegen. Und jetzt? Es genügte, daß die Haut ein wenig wund war ..., hatte der Arzt gesagt. Nicht weiterdenken!

Der Hund mußte mit, der Hund mußte mit. Ohne den Hund fuhr er nicht. Dem Arzt wollte er es sagen. Er würde nachher zu ihm gehen.

»Komm, Prinz, komm.«

Prinz aber schnupperte die Gepäckstücke an und hob ein Bein.

Kramm packte den Hund am Genick, so daß der heulte und winselte und vor Angst der gebieterischen Forderung seines Körpers durch einen sich selbst lösenden Strahl enthoben wurde.

Die Kameraden brachen in ein Gelächter aus.

Kramm trottete weiter. Die Bande, da stand sie und grinste. Wo er doch nicht dulden konnte, daß der Hund die Gepäckstücke versaute! Er hätte sich doch nicht einmischen sollen. Die andern waren auch nicht so. Der Oberleutnant, das war der Beste von allen.

Die fiel eine Hand werbend auf den Höcker:

»Hhhaben Sie einen Augen-bblick Zeit?«

Zeit? Da sprachen die andern schon auf ihn ein. Redeten von Dollars und von Whisky und vom Schiff und von den Säcken und vom Netz und von Lumpen und von alten Strümpfen. Und sagten, er sollte mitmachen. Und sagten, ein schönes Stückchen Geld wäre zu verdienen.

Was ging das alles ihn an?

Da fauchten die Worte wieder auf ihn ein. Nun lernte er begreifen. Der Oberleutnant war nicht mehr diplomatisch. Er redete deutlich. Er sah immer den Höcker und dachte: ein prächtiger Höcker das: was da draufgeht! Die ganzen Flaschen könnte dieser Vorsprung auf das Schiff tragen, es täte ihm sicher wohl.

Kramm wendete sich ab. Wenn der Oberleutnant lebhaft sprach, dann sprudelte er. Den Schirm müßte man aufspannen. Verfaulte, dunkelbraune Zahnstümpfe standen verlassen neben Lücken, und vorn schimmerten zwei protzige Goldzähne.

»Also ddie Sssache ist abge-macht, nicht?«

»Lassen Sie mich mit Ihrem Kram in Ruhe – Sie!«

Der Oberleutnant war von vornherein skeptisch gewesen. Aber nie hätte er gedacht, daß Kramm (der Mann hatte doch nichts in der Tasche) ihn so abfahren lassen würde. Und wie er das gesagt hatte, dieses »Sie?« Genau, als ob einer in der ersten Zeit nach dem Hinauswurf aus dem Offizierslager »Hochstapler« gerufen hätte. Der Oberleutnant war beleidigt. Sein bläulich schimmerndes, sauber ausrasiertes Gesicht überzog sich wieder mit einer Blutdecke, und er stotterte ein höhnisches, zorniges Schimpfwort hinter dem Fortstelzenden her.

Der drehte sich um, stolperte ein paar Schritte zurück, das bellende Hündchen hinterher, und streckte die Arme aus. Die haarigen Hände griffen in die Luft. Und er schrie:

»Sie Halsabschneider, Sie!«

Der Oberleutnant sagte sich blitzschnell: Wenn ihm einer so kam, war nicht viel zu gewinnen. Wenn er das gewußt hätte! Aber immerhin: er stieß nach vorn und ließ sich von seinen Freunden zurückhalten. Je fester er deren Arme spürte, um so ungeduldiger zerrte er.

»Arthur, es hat keinen Zweck.«

Aber Arthur zerrte an den Armen, die ihn festhielten, zerrte und dachte: wenn Kramm, der Bauer, doch weiterginge, wäre alles erledigt.

Kramm, der Bauer, war an den Fleck gebannt und schimpfte. Die lachende Menge, für die der Auftritt ein Aufrütteln aus der taumelnden Heimkehrfreude war – nein, die lachende Menge konnte er nicht ertragen.

Er schnappte nach Luft, und der Zorn raste aus seinem Mund.

»Herr Oberleutnant!« riefen Übermütige, »stapeln Sie doch mal etwas hoch, Herr Baron, äh – Ehre auf dem Spiel!«

 

14.

Noch einmal, am letzten Morgen, ging Schünemann in die Stadt. Allein.

Wie zusammengescheuchte, aufgeplusterte Maulwürfe hockten die niedrigen Häuser des armen Viertels da. Und die Plätze waren wie blindes Glas. Hohl und traurig rollten die Karren darüber hin.

Chinesen trippelten mit ihren breiten, wippenden Traghölzern, an denen dicke, mit Fischen gefüllte Kübel hingen, aus den schwarzen Eingängen ihrer Höhlen heraus.

Da, die Russen. Schwer und leidvoll ihre Schritte. Die Sorge um Tee, Zucker und Brot hatte sie hinter dem Ofen hervorgetrieben. Hinaus auf den Markt. Hier knäulten sich die schachernden Stimmen ineinander. Da trug einer ein Wertstück unterm Arm, das er versetzen wollte. Geld, Geld, Geld.

Aus allen Ecken strömten sie zusammen. Der eine mit alten Filzstiefeln, der andere mit einem alten Vogelkäfig. Ein Mütterchen mit einem zerluderten Ölbild im wurmstichigen Rahmen. Geld, Geld, Geld.

Greise Männer, Kinder, Weiber: alle in Lumpen, alle gestikulierend. Das war ein Schnattern, Fragen, Feilschen, Betrügen. Die Finger lang und dürr wie Geierkrallen. Jede Bude eine Rumpelkammer. Altes und Neues durcheinander. Pelze, Stoffe, Kleider, Stiefel, Teppiche, Münzen, Alteisen, Bücher. Die Übersetzung eines Buchs von Wilhelm Raabe. Die verschiedensten Dinge, geeint in einem: Geld, Geld, Geld.

Schünemann blieb vor dem Raabebuch stehen. Aus dem speckigen Umschlag wuchs ihm die Heimat entgegen. Die Heimat mit den Frühspaziergängen durch den sommerlichen Wald. Die Heimat mit den Birkenwäldchen. Dahin sollte er zurückgehen, nachdem er gewandert war über das Schlachtfeld, über Betäubung, über Schmutz, Sehnsucht, Vergessen, Zermürbung und Hoffnung?

Wie würde die Heimat aussehen? Jetzt nach dem Krieg, nach dem Zerfall des Alten?

Schünemann zog den ganzen Tag hin und her. Saß auf Bänken. Ging in Läden.

Der letzte Tag.

Erst als der Abend hereinschattete, ging er zurück. Am Hafen blitzte eine Lichtkette. Dumpf und getragen, im Brummbaß tutete es über die Wasser.


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