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Erstes Buch

 

1.

Der Oberleutnant fegte sich die Stoppeln vom Gesicht. Schabend glitt das Messer über die Backen.

Die Baracke war mit Lärm geladen. Fahles Halbdunkel stand im Raum. Pritschen, verschwommen in den Umrissen, klebten an den Wänden. An den Pfeilern und den drei Verbindungswänden blakten Petroleumlampen, umstrahlt von rötlichen Scheinen, die sich dünne Kanäle in die Dunkelheit gruben. Auf den Pritschen blinkten hier und da kleine Kerzen. Köpfe mit den Lichtpünktchen der Zigaretten oder den knisternden Kolben der Stummelpfeifen wackelten durch die Gänge.

Hinter den hohen, breiten und plumpen Fenstern stand die Nacht auf der fahl leuchtenden Decke des sibirischen Winters. Wer sich an die Scheiben stellte, den heißen Blick an das mit Eisblumen phantastisch gezierte Glas drückte, der sah das Bajonett aus der Schulter des Postens draußen herauswachsen, der ahnte den hohen Bretterzaun, der grau und düster einen Schlußstrich zog. Und wer das Ohr vom Lärm abzog und nach draußen aufmerksam richtete, wo Stille emporwuchs, der hörte eine feines Knirschen. Das kam von den Tritten des Wächters draußen.

Der Oberleutnant hielt den Lichtstumpf vor den Spiegel, peitschte die Puderquaste über die gesäuberte Haut und fuhr nachprüfend mit der Hand darüber. Alles glatt, alles sauber. Brauchte sich nicht zu ärgern, daß er das notwendige Geschäft am Nachmittag vergessen hatte. Er rasierte sich um Mitternacht, wenn es sein mußte, ohne Laterne, wenn es sein mußte, und besoffen, wenn es sein mußte. Hatte er denn geahnt, daß es ten Hoven von der andern Baracke noch gelingen werde, den Urlaub in die Stadt von den Russen herauszuschinden? In letzter Minute. Beziehungen, die hatte er, der Oberleutnant, und Beziehungen, die hatte ten Hoven drüben auch. Der Oberleutnant preßte befriedigt ein Liedchen durch die Lippen, riß die enganliegenden Reithosen hoch, schnallte den Gürtel enger und band sich Ledergamaschen, über die matte Widerscheine huschten, um die Beine. Gut, daß die Kameraden in den Gängen lustwandelten, mit Quatschen sich die Zeit vertrieben und an Tischen in den Ecken Karten kloppten. Er hatte niemandem Rechenschaft abzulegen. Dennoch brauchte nicht gerade die ganze Gesellschaft zu erfahren, daß er, »der Oberleutnant«, wieder einmal ins Städtchen schlenderte. Die Bande regte sich ohnehin auf, daß ihm alles gelang. Der Oberleutnant zog plötzlich das Stirnchen zusammen, so daß Höhenzüge darüber hinwegliefen. Trübe Gedanken beschwerten das Köpfchen. Der Arzt, der Arzt – er darf es erst recht nicht erfahren. Sonst ist der Spaß vorbei. Dann wird den Russen in der Schreibstube auf die Finger geguckt, und der Oberleutnant darf wie die andern im Stumpfsinn verkommen. Nein! Der Oberleutnant Seitz stampfte auf, so daß die Schnallen an den Gamaschen leise klirrten, klappte das Silberetui auf, langte sich bedächtig ein Zigarettchen heraus und knipste mit dem Feuerzeug Funken daran. Nein, immer hindurchgeschlängelt. Hoffentlich sind die andern nicht so dumm und lassen sich etwas merken. Der Manteufel, der ist schlau, aber ein bißchen laut. Hat schon manches verbockt. Aber gerissen, gerissen. Der Erdmannsdörfer, ein bißchen traurig, gutmütig, aber auch mit allen Wassern gewaschen. Auf den Kunden ist mehr Verlaß. Aber da war der kleine Bembel. Wie der nur zu ihm gekommen war! Ein Angsthase durch und durch. Wollte unbedingt mit in die Stadt, und dabei würde er Zeter und Mordio schreien, wenn es ein bißchen Ernst würde. Wie der überhaupt zu der Krankheit, zu der Kinderkrankheit, an der hier in der Baracke alle litten, gekommen war? Weiß der Teufel. Wann war der Bembel eigentlich hergekommen? Aus welchem Lager stammte der Bursche denn? Wo hatte er sich die Sporen, ha, die Sporen geholt? Wohl gar so ein Zufallstreffer.

Der Oberleutnant machte langsam, nachdenklich den letzten Zug, füllte die Lunge mit Wohlbehagen und trieb die Wolken durch die Nase hinaus. Verflucht, das Gedächtnis. Ließ manchmal doch nach.

Er gehörte zu den Ersten, die in die Sammelbaracke gekommen waren, aus Nikolsk-Ussuriski, aus dem Innern Sibiriens. Bei einer großen Untersuchung hatten sie ihn geschnappt. Von wegen der Ansteckung, pah! Als ob die überhaupt zu vermeiden wäre. Als ob man nicht auch in dem Lager mit den Gesunden zusammenkäme! Nur daß es so hieß: eine besondere Baracke. Lächerlich. Ging er denn heute nicht mit ten Hoven, dem Gesunden? Eine Komödie. Und ten Hoven, ein Prachtkerl. Trieb sich unter den Gesunden herum. Und gehörte doch von Rechts wegen hierher, und der Bembel gehörte von Rechts wegen dorthin, unter die Mucker, die Vorsichtigen. War doch bei dem auch nur so ein Zufallsunglück. Wie bei den meisten hier. Die richtigen Spießer, wußten nicht, wie sie dazu gekommen waren, und barmten, daß sie dazugekommen waren. Anstatt – der Oberleutnant spuckte grimmig und verächtlich in weitem Bogen aus – den Dreck von Leben so zu behandeln, wie er es verdiente.

Der Oberleutnant wühlte in seinem Lager, fühlte den kalten Lauf der Pistole, steckte sie rasch (um Gotteswillen, daß es keiner sah) in die Innentasche, zerrte sich die Pelzmütze über, wickelte sich in einen Mantel und griff nach dem Reitstöckchen, mit dem er lässig die Lederröhren an den Beinen streichelte. So, fertig. Und nun den Spiegel, der noch vom Rasieren da hing, weggetan. Der Oberleutnant packte das funkelnde Ding ... Da ließ er erschreckt den Arm sinken.

Aus dem Gewoge, das sich in den Hauptgängen hin- und herschob, war einer in den Nebengang abgetrieben worden. Verflucht, sein Nachbar, der Kröger. Daß das Schicksal ihn mit dem zusammengeführt hatte!

»Herr Oberleutnant, äh ... wohin denn so eilig? Besorgungen, äh ... äh? Ins Städtchen, äh, äh?«

Der Oberleutnant fühlte eine Blutwelle ins Gesicht steigen. Wut kroch in ihm hoch. Wenn ihm einer so kam – verdammt. Ein schlichtes »Oberleutnant«, ja, das war ein Ehrenname. Daran hatte er sich gewöhnt. Das war einmal. Aber mußte ihm jeder Hanswurst mit abgestandener Moral kommen? Wo doch jeder mit dem Rücken an die Wand will. Sein Fell war unempfindlich. So wahr er Seitz hieß. Aber an manchen Stellen konnten noch Hiebe landen. Lächerlich, das Uzen mit dem Oberleutnant. Das sollte ihm erst einer nachmachen: drei Jahre lang im Offizierslager leben, als Oberleutnant von den Fliegern, ohne Offizier zu sein. Drei Jahre lang hatte er sich im Offizierslager unter den Exzellenzen bewegt. Oberleutnant von den Fliegern, äh. Von Beruf Diplomingenieur, äh!

Feine Sache! War ja eigentlich leicht. Die Freiherrnkrone auf den Taschentüchern, äh! Unter Adligen mußte auch er, der Oberleutnant, etwas sein. Wenn schon, denn schon. Und die Offizierslöhnung hatte er schön eingestrichen. Zu arbeiten brauchte er nicht. Zu verrecken bei der Arbeit, wie die Mannschaft, auch nicht. Herrgott, das war das Schönste! In der gutgeheizten Baracke leben, immer Bücher haben, alles ruhig, vornehm. Und die Schwestern vom Roten Kreuz aus der Heimat kamen und brachten Geld, brachten Darlehen, halfen Wünsche erfüllen. Das war herrlich: die Damen vom Roten Kreuz brachten nur für die Offiziere Geld. Die Mannschaft durfte im Hof oder in der Baracke antreten und das liebenswürdige Lächeln der Botin der Heimat entgegennehmen. Den Oberleutnant machte das nicht satt. Und darum zog er die Konsequenzen. Rette sich, wer kann. Wer Murr hatte, wußte, was er tun mußte. Er hatte Murr. Darum: Kavalier, vom Scheitel, den er nicht mehr hatte, bis zur Sohle. Doch eine andere Sache, als sich beim Gräberschaufeln auf dem Friedhof in eisiger Kälte Finger, Zehen und Nasen abfrieren zu lassen. Verflucht, das hatte er nicht durchzumachen brauchen. Als der alte Major den Schwindel aufgeschnüffelt hatte, da flog er, der Oberleutnant, in die Mannschaftsbaracke. Gott sei dank, daß er dann als Kranker hierher kam. Brauchte ja dann auch nicht zu arbeiten. Bloß das mit dem »Oberleutnant, äh«, das paßte ihm nicht. Einer, der mitgekommen war, hatte es verbreitet. Obermonteur oder Zeichner schrie man, wäre er gewesen, Obergefreiter und kein Oberleutnant. Noch nicht einmal das Einjährige.

Neben dem Oberleutnant stand grinsend Kröger und machte das Nachtlager, einen Militärmantel und eine Decke auf dem Strohsack, umständlich zurecht Da gehörst du auch hinein, dachte der Oberleutnant schadenfroh. Bei dem Gedanken, was ihm noch bevorstand heute Nacht, ward es in ihm wieder hell. Und er empfand Mitleid mit Kröger. Konnte der etwas dafür, daß er so war wie er war? Warum denn aber immer das Höhnen? War er, der Oberleutnant, denn nicht im Flugzeug gewesen, wenn auch nicht als Oberleutnant? War er nicht mit der brennenden Maschine abgestürzt, durch ein Wunder aus dem Gurt gefallen und auf einen Strauch gestürzt, der ihn mit weichen Armen auffing? Weichen Armen, hat sich was. So weich waren die Zweige nicht. Seine Hirnschale bekam Sprünge, wie sie auch bei einem echten Oberleutnant nicht besser hätten sein können. Zum Andenken schleppte er zum Überfluß eine Sprachstörung mit sich herum: er, der Oberleutnant, stotterte. Gemein war das. Aber ein echter Oberleutnant hätte auch nicht besser stottern können. Sollte das alles nicht genügen? Und das mit dem Adel da.

Der Oberleutnant wurde wieder wütend. Wahr ist, und sein Reitstöckchen peitschte (Kröger sah es schmunzelnd) die Ledergamaschen – wahr ist: Sein Vater war ein Adliger. Daß der Vater die Mutter, die bürgerliche, nicht geheiratet hat: wer war dafür verantwortlich? Die Banausen die. Sahen die nicht auch zu, wo sie blieben? Völkerrechtlich brauchten die »Intelligenten« nicht zu arbeiten. Also sonderte sich ab, was sich hierzu rechnete. Da konnte man was erleben. Die Einjährigen für sich. Buchhalter, die es nicht soweit gebracht hatten, für sich, als »Halbintelligenz«. Hoch über allen die Baracke der »Hochintelligenz«. Aus dieser Klasse sonderte sich die Klasse der Akademiker ab, und aus der wieder die, die ein Examen gemacht hatten. Einer wachte über dem andern, daß er auch wirklich dazu gehörte. Es gab hochnotpeinliche Prüfungen. – Der Oberleutnant hatte seine Laune wieder. Er hatte die schwerste Prüfung, die es hier gab, hinter sich: er war krank. Freund Kröger auch. Also? Was wollte der Kröger immer? Der hatte sich seiner Hüllen entledigt und stand im Hemd vor ihm. Der Anblick entwaffnete Seitz ganz. Er zog das silberne Etui hervor und hielt es dem andern hin:

»Kkk-omm, Kkröger, steckter eine an.«

Wußte er denn, ob er Kröger nicht einmal brauchen konnte? Immer besser: Rücken freihalten!

»Mmm-achs gut!«

Der würde keinen großen Spektakel machen. Und wenn auch!

Der Oberleutnant drehte sich auf den Absätzen herum und stelzte fort. Einige Kameraden warteten schon draußen auf ihn.

 

2.

Der Oberleutnant sog gierig die klare Winterluft ein, die ihm mit spitzen Nadeln die Lunge kitzelte, schnupperte mit der schmalen Nase, als ob Gefahr in der Nähe wäre, und schalt sich im gleichen Augenblick einen Esel. ten Hoven würde ja den Urlaubsschein mitbringen.

»Wwwißt ihr«, besann er sich, »iich habe eine Dddummheit ge-gemmacht, iich habe ddie P-p-pistole mitgenommen. Dddummheit das!«

»Arthur, du bist ein Schafskopf, mit deiner Spielerei da. Was woll'n wir denn mit der Pistole? Sie kann uns ins Unglück bringen. Angenommen, wir geraten in einen Streit Und man erwischt uns mit Waffen. Arthur, Arthur: an die Wand mit uns! Bei den Unruhen jetzt. Mensch, was haste da wieder gemacht? Wo man hier überhaupt nicht weiß, welche Partei oben ist. Die Tschechen haben in Wladiwostok, das stand doch gestern in der Zeitung, gemeutert. Die Sowjets haben sie doch nach Wladiwostok fahren lassen. Sie wollten mit dem Schiff nach dem europäischen Kriegsschauplatz fahren, die Herren Tschechen. Und was haben sie gemacht? Sie haben dort, als sie im Hafen beisammen waren, den Kolben umgedreht, die Sowjets eingesperrt«

Manteufels Augen blitzten. In ihnen war Ernst und Schalk. Das schwarze Bärtchen zitterte.

»Die Tschechen«, unterbrach Erdmannsdörfer, »sollen jetzt tatsächlich die Macht in Wladiwostok haben und an der Eisenbahnlinie kämpfend ins Innere Sibiriens vordringen.« Erdmannsdörfer sah ein wenig schwermütig drein. Der Blick war etwas verschleiert, der Gang schwer und schleppend.

»Ob die Tschechen schon in der nächsten Zeit kommen?« fragte Bembel aufgeregt. Er zappelte vor Unruhe. Was hatte er sich da eingebrockt? Vielleicht ging es schon in der Nacht los? In der Baracke ist es da am sichersten. Wie war er nur dazu gekommen? Umkehren? Er möchte es, aber er würde sich blamieren.

»Ob die Tschechen bald kommen? Wäre es nicht besser, es nicht so mit den Sowjets zu halten?«

»Wwer hhält es denn mit den Sssow-jets?«

Immer war Bembel der Angstmacher.

»Wwwir sssuchen unsere Vvvorteile, weiter nichts.«

Der Oberleutnant war böse. Was dieses Kücken der Bembel sich dachte? Als ob er, der Oberleutnant, nicht der beste Freund der Tschechen sein würde, wenn sie da waren! In drei Tagen, garantierte er, würde er bei den neuen Machthabern ein- und ausgehen. Wie war es denn mit den Sowjets gewesen? Als die kamen und die Weißen vertrieben hatten, sperrten sie zuerst alle Tore des Gefangenenlagers auf. Dann aber wurden sie etwas ängstlich. Konnte man wissen, ob sich die kriegsgeübten Gefangenen nicht mit dem Gegner verbündeten? Als dann die Unruhen anschwollen, fielen die Tore wieder zu. Recht so! Der Oberleutnant grinste. So konnten er und die Seinen draußen als Bevorzugte besser schalten und walten. Nur keine Bange. Der Oberleutnant dachte aber gleich wieder an die Pistole. Ob er sie doch lieber wegschmeißen sollte? Sie hatte schweres Geld gekostet. Lieber nicht.

»Du, Oberleutnant, haste denn genug Zaster mit?«

In Manteufels Stimme klang es wie leiser Hohn.

»Geld, ddas würde euch sso pppassen, Mmmenschenskinder.«

Manteufel und Erdmannsdörfer waren befriedigt. Sie wußten, wenn der Oberleutnant die Mmmenschenskinder auf der Zunge schaukelte, war etwas in den Taschen. Der Oberleutnant machte aus Dreck Geld. Manteufel schmunzelte. Arthur blieb Arthur. Kam eine Rote-Kreuz-Schwester: Arthur pflanzte sich vor ihr auf. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Arthur kannte die Adressen der gebefreudigen Deutschen in China. Arthur schrieb hin und erhielt. Arthur kaufte die kleinen Andenken auf, welche die Gefangenen mit dem Taschenmesser aus einem Stückchen Holz vor liebelanger Weile schnitzten, und vertrieb die Sachen, wohin er nur konnte. Nach draußen oder an die fremden Offiziere. Arthur verstand es, sich gesund zu machen. Krank? Lächerlich. Arthur ließ sich sogar einmal mit Chinesen ein, die über die mandschurische Grenze Waren schmuggelten. Auf die Dauer war das dem Oberleutnant doch etwas gefährlich. Und er ließ die Hände davon. »Mmmenschenskinder, da mmmache ich nicht mehr mit.«

Über dem Hofe lag die Majestät der Nacht. Die Baracken kauerten wie Frierende beieinander. Der Schnee war an vielen Stellen zu Halden aufgeschaufelt, zwischen denen die Wege schluchtartig verliefen. Vermummelte taumelten hin und her, um vorm Schlafengehen sich noch schnell mit Kühle vollzusacken.

»Wwenn' mer an denen vorbeiggehn, ruhig, ddie bbbrauchen nichts zu wissen«, ermahnte der Oberleutnant. »Ddie ddenken sonst, mman hhheckt ddas Geld.«

In der Luft hingen schwere, unförmige Schneesäcke, die in jedem Augenblick reißen und sich entleeren konnten. Die Laternen an den Baracken schwebten wie fette Monde in der Finsternis. Die Posten, die, in Schafspelzen, meist im Lichtkreis standen, wirkten wie Erstarrte, die sich aufwärmen wollten. Die Fenster der Baracken gaben den spärlichen Schein, den sie von drinnen empfingen, mit verlöschender Kraft blinzelnd weiter. Drohend starrte der hohe Bretterzaun, auf dem verlassene Wachttürme thronten.

Sie waren an die größte Baracke, die sich neben dem Haupteingang erhob, gekommen. Ein Summen, stärker als sonst, stand vor ihnen.

»Den Brüdern geht's wohl«, lachte Manteufel.

»Ich möchte nicht bei ihnen sein«, entgegnete Erdmannsdörfer, der gedankenlos an seiner eisig gewordenen Zigarre sog, »in dem Stall ist es noch stinkiger als bei uns.«

»Sie sind aber doch gesund«, warf Bembel schüchtern ein.

Der Oberleutnant schnellte auf den Verzagten einen giftigen Blick ab. Man müßte den Hasenfuß nach Hause schicken. Aber wie?

»Bbembel, kannst mir mal een Ggefallen tun ... iich hhabe mei-ne Ttasche mit der elektrischen Lampe lliegen ggelassen. Sssie liegt unter mmeinem Kopfkissen. Wwillst'se hholen? Wwwir warten.«

Es klang nicht sehr überzeugend. Bembel horchte auf. War das die Rettung? Gern möchte er zurückgehen. Konnte es aber nicht eine Falle sein? Um seine Kühnheit zu erproben? Um zu sehen, ob er jauchzend über die Brücke gehen würde? Um ihn nachher zu verhöhnen? Der Kleine drückte wägend die Augen zu, überlegte und sagte dann kurz:

»Der Oberleutnant macht Witze.«

»Ddenn nicht, nicht!« schäumte der Oberleutnant. Vielleicht hatte er Bembel doch unterschätzt

Vor dem Tor stand ein Langaufgeschossener im langen Mantel. Die Lippen waren wie breite, rotleuchtende Striche. Und die schwarzen Augen glitzerten den Vier entgegen.

Der Oberleutnant begrüßte ihn mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter. ten Hoven aber zog rasch den Urlaubsschein aus der Tasche, hielt ihn dem Posten hin, der mit einem »Karascho!« den Weg freigab.

 

3.

Christian Kramm stand noch wie ein Pfahl, als die andern längst draußen waren. Er hatte es wohl gesehen, wie sie hinausschlüpften. Der abgetragene Soldatenmantel flatterte, als ein Windstoß mit wehender Schneefahne kam, aufgeregt um die gebückte Gestalt, auf der die Last eines kleinen Höckers ruhte. In das faltige, stopplige Gesicht hatten die Jahre der Gefangenschaft furchtbare Spuren der Verwüstung eingegraben. Die Augen waren tief in die Höhlen gesunken und wurden von mächtigen Brauen schützend umbuscht. Die behaarte Hand krampfte sich in ohnmächtiger Wut hilflos zusammen. Das verfluchte Eingekerkertsein. Kramm seufzte. Wenn er doch auch hinausgekonnt hätte! Die Brüder da, die soffen draußen und lebten, hatten alles genossen, alles. Und er, er lag in der muffigen Baracke. Nahm nachts den Schal in den Mund, um nicht laut aufschreien zu müssen. Dachte an sein Dorf, dachte an Weib und Kind, streckte die Arme aus. Und biß die Zähne zusammen, als ob sie auseinanderbröckeln sollten. War doch alles Lug und Trug. Ein Erdteil schob sich dazwischen.

Kramm stapfte dem Innern des Lagers zu. Es war kälter geworden. Die Schneesäcke, die in der Luft gehangen hatten, waren vom Wind vertrieben worden, und nun blinkten oben auf schwarzem Samt die Sterne. Ob die wohl auch zu Hause scheinen würden? Wie oft hatte er früher daheim, wenn er nachts aus der Kneipe gekommen war, gedacht: ob die auch in Afrika stehen werden? Nun war er zwar nicht nach Afrika, aber doch auch in eine Wildnis verschlagen, jahrelang schon, ausgerechnet nach Sibirien, das er kaum dem Namen nach gekannt hatte. Von Tag zu Tag, von Monat zu Monat hatte er mit den andern auf Frieden gehofft. Er kam nicht. Dafür war immer etwas anderes los. Spektakel in der ganzen Welt. Und inzwischen konnte man hier verrecken, in der Einöde irgendwo verscharrt werden und noch im Grabe frieren. Kramm schlug erschauernd den Mantelkragen hoch und kramte mit seinen steifen Fingern in den Taschen, holte seine Pfeife heraus, stopfte den Machorka, den elenden russischen Tabak, hinein und entzündete ein Feuerchen. Nun wurde ihm gleich warm. Aus vollen Backen blies er den Rauch fort. Mit dem Geld war es ja auch so eine Sache. Im ersten Jahr kein Lebenszeichen von daheim. Dann allmählich Karten, Briefe mit wenigen Zeilen. Auch einmal Geld. Wenig genug. Wer konnte, schacherte sich mit Andenkenschnitzerei etwas zusammen. Dazu das von daheim. Es gab ihm aber immer einen Stich, wenn er ein Paketchen oder Geld erhielt. Das konnten die daheim doch eher brauchen. Er hatte genug, gab nur für das Rauchen etwas aus. Manchmal kaufte er sich etwas Fett. Das Geld, das ihm so zugeläppert war, hatte er fürsorglich aufgehoben. Es fehlte ihm nichts, außer an allem. War das ein Leben hier? Das bißchen Schneeschaufeln, zu dem er mit den andern jetzt oft kommandiert wurde, lenkte ab, gewiß. Das war auch das einzige. Lesen, wie die andern, mochte er nicht. Er kriegte es nicht fertig, tagelang bei einem Schmöker, die Beine weit von sich gestreckt, auf der Pritsche zu liegen. Und immer von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Kramm verfluchte den Krieg, der ihn, den Landwehrmann, in die Fremde geworfen hatte. Für die Traintruppe war er gerade gut genug gewesen.

»N'amt.«

Der Gruß riß ihn aus den Gedanken.

»Kalt, Paul!«

»Es geht richtig an die Ohren.« Müller rieb sich die Hände. Er fror immer. Am liebsten stand er schmauchend in der Baracke am Ofen. Das Schlimmste passierte ihm, wenn einmal ein Fenster aufgemacht wurde. War das nötig? Müller dachte an die mollige Wärme, die ihn immer daheim bei seiner Arbeit vor der Setzmaschine umfächelt hatte.

»Der Oberleutnant ist wieder raus!« knurrte Kramm.

»Der Oberleutnant, mit wieviel Mann denn?« höhnte Müller.

»Ein Oberleutnant und vier Mann!« meldete Kramm anzüglich.

»Der Kerl versteht's.«

Die Krankenbaracke duckte sich vor den beiden. Frieden schien in ihr zu herrschen. Alles wie tot und ausgestorben. Nur hinter ein paar Fenstern glomm noch Licht

»Wie friedlich die Villa da liegt«, fuhr Müller fort, »als wenn lauter Gentlemen drin wohnten.«

»Sind's doch auch.«

»Die Kerle verstehens. Das ist schon wahr. Haben das Leben gekostet, haben sich nichts entgehen lassen.«

»Aber die Krankheit«

»Wird doch schlimmer gemacht, als es ist«, beruhigte Müller. »Wir hatten bei der Zeitung einen Direktor, einen fixen Burschen. Von dem erzählte man auch, daß er unheilbar erkrankt wäre. Unheilbar? Wir gruselten uns schon, nahmen uns vor, nicht auch reinzufallen, ließen uns manches entgehen. Und was war es? Der Herr Direktor war kreuzfidel, hatte Humor, trank sein Glas Bier, schäkerte mit den Mädchen, verkehrte auch mit einer Schauspielerin. Ein fesches Ding, sage ich dir. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

»Aber die Ärzte.«

»Na ja, die Ärzte. Angenehm mag es ja nicht gerade sein. Besser ist schon, man hat's nicht. Aber es braucht doch nicht gerade so schief zu gehen, daß man überhaupt nichts mehr vom Leben hätte. Guck dir doch mal die Brüder an!«

Kramm senkte den schweren Schädel. Da verkniff er sich nun alles, weil er Angst hatte, weil er sich nicht unglücklich machen wollte. Ließ die Finger davon, als die Sowjets wieder einmal die Tore aufgesperrt hatten.

»Der Oberleutnant, diese Sau«, redete Müller weiter, »hat doch forsch gelebt, solange ich ihn kenne. Daß er da schließlich mal reinfallen muß, ist klar. Aber wenn man mal so ausnahmsweise mitmacht, wird sicher nicht gleich was passieren.«

Das war genau das, was Müller sich immer selbst vorsagte, um seine Vorsicht zu entwaffnen. Indem er es jetzt Kramm sagte, erzählte er es eigentlich nur sich selber.

»Und dann noch eins«, redete Müller auf sich und Kramm ein, »dem Oberleutnant und all' den andern kann überhaupt nichts mehr passieren. Der lebt drauf los. So oder so. Wie lange? Wie lange lebt man denn im Felde? Da kann ja auch jede Sekunde eine Kugel kommen, und aus ist's.«

»Man ist eigentlich ein Schaf«, wetterte Kramm los, »die andern sind kreuzfidel. Und unsereiner würgt sich so durch. Verkommt. Und dabei weiß man nicht einmal, ob man überhaupt das Dorf wieder sieht. Vielleicht buddelnse einen morgen ein.«

»Und zu arbeiten brauchen die Brüder auch nicht. Immer schön im Warmen.«

Damit lenkte Müller die Schritte auf die Baracke der Gesunden zu. Er fühlte jetzt Eis in den Knochen. Den Kopf eingezogen, trabte er los. Kramm neben ihm.

Das große Steinhaus war früher eine Kaserne gewesen.

Im Flur flackerte Licht, das tanzende Scheine auf den Steinboden warf. Ein Kübel stand in einer Ecke, auf den einer im Hemd zuhuschte. Man konnte doch nicht bei dem Wetter über den Hof gehen. Lungenentzündung wäre die Quittung gewesen.

Als Kramm und Müller die Innenflügeltüren aufmachten, schlug ihnen eine Luft dick zum Schneiden entgegen. Vor ihnen tat sich ein großer Saal auf, durch den sich in der Mitte ein schmaler Gang zog. Er durchbrach querstehende Wände, die Abteilungen bildeten. Rechts und links standen zweistöckige Holzgestelle, auf denen Leib an Leib die halb entkleideten Gefangenen schliefen.

Die Lampen waren dunkel. Nur in der Mitte und am Ausgang brannten Laternen. Röcheln strich durch den Saal. Der Aufschrei eines Träumenden zerriß es. Ein paar wilde Sätze waren zu hören, lautes Lachen und dann Schimpfworte. Schlaftrunken richtete sich einer auf einer oberen Pritsche auf, tastete nach seinem Mantel, der an dem Querbalken hing, legte sich ihn um die Schulter und schritt vorsichtig über die Leiber der Schlafenden hinweg, trat in den schmalen Raum, der zwischen den Körpern war, es ging gerade immer ein Fuß hinein. Dann tastete sich die Gestalt nach der Leiter vor, die senkrecht wenige Handbreiten aufragte, und kletterte hinab. Kramm und Müller hatten das ach wie oft schon gesehen und ach wie oft selbst gemacht. Seltsam, das Ganze wirkte heute aber richtig komisch. In der letzten Abteilung sahen sie einen im Hemd aufmerksam eine brennende Kerze gegen die geschwärzten Balken halten.

»Die verfluchten Wanzen«, meckerte Müller, »lassen keine Ruhe. Vorgestern bin ich auch auf die Jagd gegangen.«

»An mich gehen sie weniger«, flüsterte Kramm. »An mich machen sich die Flöhe ran!«

»Vorsicht – hier liegt wer.«

Am Ende des Ganges lag ein großes Bündel, von regelmäßigem Schnarchen belebt. Der Strohsack war auf dem Boden ausgebreitet. Den Schlafenden bedeckte der Mantel. Unten guckte ein geröteter Fuß mit klumpigen Zehen heraus.

Müller sah abschätzend nach der geschwärzten Decke. Ob die Wanzen nicht auch da oben kriechen würden? Aus andern Lagern wußte er, daß auch die, die nachts die von Ungeziefern besetzten Holzpritschen aus Angst vor den Stichen verließen, vor den Wanzen nicht geschützt waren, wenn sie das Nachtlager in den Gang hinausrückten. Die Biester krochen an den Decken, rochen den Schweiß des Untenliegenden und ...

Klack! War da nicht schon etwas heruntergefallen? Der Schlafende fuhr sich mit der Faust unwillig über die Stirn. Richtig. Die Biester zielten gut. Wenn sie aus schwindelnder Höhe herabsausten, fielen sie ins Gesicht oder auf die prall gefüllten Kanäle der Schlagadern.

Ein gequälter Seufzer. Der Schlafende wälzte sich auf die andere Seite und kroch unter die Decke.

Es rasselte und stöhnte.

Eine tiefe, wüste Stimme zerriß die schwere Einförmigkeit. An einer Ecke, den Fenstern zu, richtete sich Kleckermaxe auf. Das Nachtlicht streifte das in Schweiß getauchte Gesicht. Es wirkte wie die erstarrte Fratze eines Clowns. Die Schellfischaugen blickten kindlich und ein wenig verwundert, und die Lippe hing betrübt herab, als ertrüge sie den durch den Schlaf gebotenen Streik des Mundwerks nicht. Kleckermaxe fuhr sich mit dem Hemdärmel über die Stirn, guckte, um Beifall buhlend, über die beieinanderliegenden Leiber und schrie dann im Trompetenton, der sich einsam an den Wänden brach:

»Wer hier kein Warmer wird!!«

Kleckermaxe spitzte die Ohren. War Lachen zu hören? Als nichts zu hören war, außer dem sägenden Schnarchen, legte er sich gleichmütig auf die Seite und pennte weiter.

Kramm ging das Gespräch mit Müller nicht aus dem Sinn. Gefährlich war die Geschichte doch.

 

4.

Als der neue Tag mit spitzen Fingern am Horizont entlangfuhr und schon rötliche Schleier hinter sich her zog, schnellten die Leiber auf den Pritschen wie plumpe Marionetten, vom unsichtbaren Faden gezogen, mit einem Ruck gleichzeitig hoch. Die ganzen Reihen entlang, wie eingeübt: aufgerichtete Oberkörper, wirres Haar, entsetzte Augen. Dann Stimmen durcheinander, Fragen und Schreien. Pantinen klapperten, eisenbeschlagene Schuhe schlurften.

Auf den Straßen und in der nahen Stadt war eine Höllenmusik angebrochen. Granatenschläge waren, in abgemessenen Abständen schien es, hintereinander in die Baracke gedrungen und auf das Ohr der Schläfer gefallen.

Die Schüsse verstärkten sich und durchlöcherten die Ruhe gleich salvenweise. Maschinengewehre knatterten. An den Fenstern der Baracke fegten Kugeln vorbei. Und dazu immer das Aufplumpsen der Handgranaten. Was war los?

»Ist die Weiße Garde wieder mit der Roten Garde zusammen?«

»Wer macht denn da den Skandal?«

»Sind gar schon die Tschechen vorgedrungen und machen ein kleines Feuerwerk?«

Man zog sich an, schnürte die Schuhe sorgfältig, hing den Mantel um und stülpte die Mütze über. Wußte man, was die nächsten Stunden bringen würden? Marschierte man dann vielleicht schon auf öden Feldern einem Walde zu? Zwangsweise einer Truppe eingeordnet, noch bewacht oder schon halb bewaffnet? Verwegene Gedanken erwachten hinter den Stirnen. Oder verrammelten die Eindringlinge, die neuen Sieger, nicht wissend, welchen Sinnes die Gefangenen waren, schon in den nächsten Stunden die Türen und schickten schwerbewaffnete Späher durch die Baracke?

Man riß die Fenster auf. Feuerzungen beleckten gierig den Himmel, an dem rote Scheine dahinflossen. Häuser standen mit glühenden Rippen hochbeinig zwischen den noch unversehrten Gebäuden und knickten funkenstiebend zusammen, einen Aschenregen hochwerfend. Dicker, schwarzer Qualm quoll aus den Dächern, und dann griffen feurige Arme hindurch und warfen die Ziegel beiseite, die knallend und brechend in weitem Bogen in das Gomorra stürzten. Wie auf Kommando richteten sich neue Fackeln auf. Sie schlugen zusammen zu einem flackernden, wogenden und spritzenden Meer. Vom Himmel troff Blut herab.

Ein ganzer Stadtteil brannte.

 

5.

Die russische Wache war nicht sehr aufgeregt. Sie wußte offenbar, was es war. Ein paar Soldaten gingen durch die Baracken und fragten, wer freiwillig zum Löschen gehen wollte. Das Auftreten der Soldaten beruhigte. Aber die Schüsse?

»Es sind die Chunchusen gewesen, Räuberhorden, die halbwild im Gebirge hausen und regelmäßig Raubzüge auf die Städte machen!« berichtete ein Soldat.

»Räuberhorden?« Langgezogen fragte es Schünemann. Chunchusen? Räuberhorden? Wie das klang. Als ob nicht das ganze Sibirien aus Rand und Band wäre.

»Chunchusen? Sind das Russen?«

»Es ist alles durcheinander,« berichtete der Posten. »Erst waren es Chinesen, die wanderten aus. China war zu klein geworden. Und sie strömten in die nördliche Mandschurei. Hier war ja noch Platz. Goldfunde hatte man auch gemacht.«

»Wann war das?«

Der Posten wurde verlegen. Sprach dann aber schnell:

»Das muß um 1850 gewesen sein.«

»Und wie viele waren es damals?«

Was die alles wissen wollen, dachte der Posten. Er war froh, daß er vor nicht langer Zeit einmal mit dem Kommissar, einem früheren Studenten aus Moskau, gesprochen hatte. Der hatte ihm vieles erzählt

»Es sollen 40 000 gewesen sein.«

»40 000?«

»Ja, von Jahr zu Jahr sind es aber mehr geworden. Misch- und Wanderchinesen, die Mansen, kamen hinzu, dann Russen und Angehörige der Räuberrepublik Scheltuga. Heute ist jeder Räuber froh, wenn die Chunchusen ihn aufnehmen.«

»Und rauben sie immer?«

»Sie überfallen Städte und Züge. Jetzt während der Unruhen ist es besonders schlimm.«

»Und entkommen immer?«

»Immer. Wer soll ihnen durch den Urwald folgen? Sie kennen die Schleichwege, die sie selbst angelegt haben. Ein Fremder ist in den Wäldern verloren.«

»Ist es denn wirklich so schlimm?« fragte Schünemann.

»O, die Kerle sind gefürchtet«, versicherte der Posten. »Im japanischen Krieg halfen sie den Japanern, zerstörten Brücken und Eisenbahnlinien und griffen die Russen im Rücken an.«

»Und hat man denn nichts gegen die Bande unternommen?«

»Die chinesische Regierung hat oft Militär ausgeschickt Alles nutzlos, alles nutzlos.«

Das klang so schicksalergeben. Schünemann zitterte vor Erregung. Sein massiger Körper bebte. Der Gedanke, daß die Russen womöglich das Unglück ohne den Willen zur Gegenwehr hatten herankommen lassen, erschütterte ihn. Dennoch lag Sarkasmus im Gesicht. Springlebendige Wachheit blitzte aus den Augen, etwas Stahlhartes.

»Hat man es gewußt?« fragte er nochmal.

»Die Chunchusen haben Drohbriefe geschrieben,« bestätigte der Soldat redselig, ohne daß er die Bewertung seiner Worte durch den andern ahnte. »Sie schickten Briefe an reiche chinesische Tuchwarenhändler. Bis zu einem bestimmten Tag sollte eine große Summe an einem Versteck am Walde abgeliefert sein.«

»Ist das geschehen?«

»Ach nein!«

»Warum denn nicht?«

»Das hat gar keinen Zweck.«

Das Löschen schien auch keinen Zweck zu haben. Der Posten drehte sich gemächlich eine Zigarette und zündete sie umständlich an.

Er läßt sich Zeit, dachte Schünemann. Die Chunchusen sollen abziehen. Man hat keine Lust zu einem Duell.

»Wenn nämlich Geld hinterlegt ist, wird immer noch mehr verlangt.«

»Und wenn nichts abgeliefert ist?«

»Kommen die Chunchusen auch. So oder so.«

»War denn aber gar kein Schutz möglich?«

»Der Kommissar hatte Verstärkung angefordert.«

»Ist aber nicht gekommen?«

Der Russe zuckte die Achseln.

»Und wer schoß?«

»Die Chunchusen.«

»Nur die Chunchusen?«

»Nur die Chunchusen! Sie schießen, um zu schießen. Damit keiner herankommt. Und damit es so aussieht, als ob sie stark wären. Mittlerweile packen sie die Wagen voll und hauen ab.«

Der Russe lachte. Wie ein Kind. Auf Schünemanns Lippen kräuselte Spott. Na, dann man zu.

Man hörte das dumpfe Aufschlagen der Torflügel. Das hatte auf den Russen belebende Wirkung. Er hatte es nun auf einmal eilig. Hastig zählte er eine Reihe ab, die sich ihm an die Fersen heftete. Schünemann ging auch mit. Der Kesselschmied Schmidt, eine Hüne mit gekräuseltem Wollhaar, der Apothekerssohn Klein, bei Ausbruch des Kriegs Notabiturient, mit einem breiten Schnurrbart im Gesicht. Der mit Schmissen bedeckte Student Kunowski, der Schauspieler Holm. Ein junger Lehrer, Kantor genannt, der Briefträger Wähler. Der Steuermann, dessen wirklichen Namen beinahe niemand mehr kannte, der auf einem »Zeppelin« das Steuer geführt hatte. Und dann der Kleckermaxe. Eine stattliche Anzahl Müller und Kramm waren nicht dabei.

Als die Schar, mit Eimern, Leitern und Spaten ausgerüstet, in Begleitung einer Patrouille der Stadt zustrebte, war der Kampflärm gestorben. Mitten auf dem Wege stand ein verlassener Wagen, dessen Achse gebrochen war. Unter der Last der Stoffe, die auf ihm hochgetürmt lagen, war der Karren einfach zusammengeknickt. Die Chunchusen hatten die Pferde ausgespannt und das Gefährt zurückgelassen. Es abzuladen, dazu hatte den Räubern die Zeit wohl gefehlt. Schneehäufchen glänzten auf den Stoffballen.

»Da in den Wald hinein muß die Karawane gezogen sein,« bemerkte der Russe.

Die Karawane? Schünemann wunderte sich.

»Die Karawane? Wie viele müssen denn dagewesen sein?«

»Die Bande hat mindestens zwanzig Wagen mit. Eine starke Kompanie außer der Begleitmannschaft mag wohl hier gewesen sein!«

»Und ist denn keine Verfolgung möglich?«

»So gut wie nicht,« belehrte der Russe. »Die Räuber sind ja nicht allein. Wenn die hier schießen, warten im Wald so und so viele andere. Und dann: Wenn die Bande den Wald erreicht hat, ist sie gerettet oder der Verfolger verloren.«

»Verflucht nochmal,« pustete Schünemann. Man mußte doch kämpfen, konnte doch das Pack nicht laufen lassen, einfach weil die Wälder unwegsam waren. Ein hartes Treffen. Und wer weiß, ob das nicht doch etwas geholfen hätte.

Die Brände loderten noch. Zu retten war nichts mehr. Nur Nachbarhäuser mußten geschützt werden, soweit man es mit dem unzureichenden Werkzeug vermochte. Verstörte Gesichter lugten ängstlich hinter den Gardinen. Kinder sahen mit runden Augen in das Treiben. Die blassen Larven waren unbewegt. Der Überfall gehörte zum Alltäglichen. Er war nicht mehr als ein Gewitter, nicht mehr als ein Sturm, nicht mehr als Hagel, der das Dach durchschlug. In Spasskoje wohnen Chinesen, aber auch Japaner, Koreaner und Russen. Eine Grenzstadt an der mandschurischen Bahn.

Die Flammen hüpften wie Irrlichter auf den verkohlten Balken. Das knisterte und spritzte von geheimem Leben. Es wehrte sich, das Holz, ehe es auseinanderfiel.

Mitten in einem ausgebrannten Haus, dessen geschwärzte Wände ruinenhaft emporragten, stand, mit Gemäuer halb zugedeckt, ein Geldschrank, der an der einen Seite von den Flammen stark angegriffen war und an dieser Stelle wie ein feuriges Auge glühte.

»Da woll'mer mal rin!« schrie Kleckermaxe, gleichgültig, ob die Posten es hörten oder nicht. »Da woll'mer mal rin! Steuermann, haste denn keine Stange? Mal reinstechen in das Zeug. Vielleicht ist noch was zu machen. Meenste nicht?«

Kleckermaxe meinte es halb scherzhaft.

Aber der Steuermann strich sich nachdenklich seinen wohlgepflegten Spitzbart. So übel wäre es nicht, sich für die Arbeit zu bezahlen. Die Chunchusen, die Russen oder er. Aber wie hineinkommen? Und würde das Geld wirklich nicht verkohlt oder geschmolzen sein?

Der Kantor rümpfte die Nase. Ob es etwas würde oder nicht, er war zu jedem Scherz bereit. Daß das Ganze Spaß war, war ihm sicher. Was sollte denn in dem Kasten sein?

»Holt doch mal die Stange, die der Kunowski da drüben schwingt!« ermunterte Holm. »Wie wäre es denn, Klein?«

Der stand untätig da. Die eine Hand umschloß eine Schaufel, mit der er manchmal sinnlos in die Glut schlug. Die Augen glänzten: schwarze Punkte im todblassen Gesicht. Zuweilen fuhr er sich mit dem Daumen über den dicken Schnurrbart. Im übrigen erwog er, über einen solchen Brand gelegentlich einen Aufsatz für das Tagebuch zu schreiben. Das war doch Stoff, der aus seiner Erfahrung herauswuchs, nicht so etwas Leeres, womit er sich in der Schule immer hatte plagen müssen.

Der Kesselschmied trug, von Ruß und Staub überschüttet, aus einem Haus Gerümpel heraus. Er hatte gekrallt, was er vermochte. Für ihn war die Arbeit leicht. Hier konnte er zeigen, was er leistete. Hier brauchte er sich nicht zu verstecken. Hier galt die Faust etwas. Zu seinem Unglück war er in eine Baracke geraten, in der nicht viel von Seinesgleichen waren. Alles Leute mit besseren Berufen. Die hatten immer noch einen kleinen Sticks, bildeten sich etwas ein auf ihre Stellung, die sie bekleidet hatten. Was fingen die Kerlchen aber hier an, hier, wo sie das, was ihnen in der Schule beigebracht war, nicht verwerten konnten? Was glotzten die Affen denn da in das eine ausgebrannte Haus hinein? Der Kunowski tat sich dick und stieß mit einer Gabel in die Glut. Was war das? Da glühte etwas?

Der Kesselschmied schob hin, die lange, schwarze Stange hinter sich herschleppend.

Da lag etwas. Daher der Name. Die Burschen wollten sich etwas angeln. Soldaten, die mit einer andern Kompanie fest angepackt hatten, im Glauben, daß die Gefangenen schon ihre Pflicht tun würden, torkelten nun auch heran.

Im Nu ließ man ab von der Arbeit.

»Was draufschmeißen,« flüsterte Kleckermaxe. Da riß der Kesselschmied auch schon wie toll an der Wand. Sie schwankte. Mauerwerk löste sich aus ihr heraus und plumpste auf den Schrank, ihn begrabend. Feuerregen stob auf. Wildgewordene Funken sprangen den Umherstehenden ins Gesicht. Die Russen aber gingen an ihren Platz zurück. Die Gefangenen machten schon ihre Sache.

»Den Schrank lassen wir abkühlen. In der Nacht, da holen wir ihn,« flüsterte Holm. In der Nacht holen wir ihn. Das lag in aller Willen.

Geld, Geld, Geld. Was hatte das in all den Jahren bedeutet? Holm lachte höhnisch. Der Fraß – Kapusta und Kascha, Kapusta und Kascha – lockerte durch seine Eintönigkeit die Zähne, machte nachtblind und versumpfte den Körper so, daß die Löcher, die man mit den Fingern in die Muskeln der Beine drückte, wie in einer verfaulten Apfelsine stehenblieben. Rubel bedeuteten Hilfe. Rubel brachten Abwechslung im Essen. Woher sie nehmen? Da kam einmal ein Paket von daheim, da brachte einmal eine Rote-Kreuz-Schwester eine Kleinigkeit. Für die Offiziere. Nicht für die Muschkoten. Da stampfte man einen kleinen Verdienst aus der Erde.

Alles hatte man ihnen genommen. Versklavt hatte man sie. Nun schon jahrelang. Und wo war das Ende? Wie lange würde der Schlamassel noch dauern?

Sollte man da nicht an seinen Ketten zerren? Sollte man da nicht ausbrechen? Entschlossen Schluß machen? Nach China hinüberflüchten? Bei Nacht und Nebel? Russisch sprechen konnten die meisten. Für den einzelnen aber war die Flucht zu gefährlich. Schon mancher hatte es versucht. Und schon manchen hatte man tot wiedergesehen, hinterrücks erschossen von Wegelagerern, erwürgt von gekauften Führern, die den Flüchtlingen gegen eine schwere Summe den Weg hatten zeigen sollen. Ein Röcheln, die Schnauze zugehalten. Noch ein Schlag. Schluß. Aus. – Nein, allein war es zu gefährlich. Man müßte im Trupp ausreißen. Alle, die hier um den Geldschrank herumstanden. Der Kesselschmied mußte mit, unbedingt. Dessen Arme, die wie Keulen an den Schultern hingen, waren unbezahlbar. Der schlug fünf Diebe auf einmal in die Pfanne. Man müßte sich Kompaß, Karten und Schußwaffen besorgen. Dann: Brot trocknen. Ein paar Feldflaschen umhängen, um nicht zu verdursten. Denn während der ersten hundert Kilometer durfte man nur in den Nächten wandern, am Tage mußte man sich im Wald oder im Gebüsch verkriechen; wenn es nicht anders ging, mit dem Bauch sich glatt an die Erde drücken. Kamen aber Widerstände, dann entschlossen handeln. Wir oder sie. Nur Geld, Geld, Geld. Das andere fand sich schon. Geld war der Schlüssel zur Freiheit, zum würdigen Dasein.

Holms Augen flackerten. Die Adern traten auf die Stirn. In das Gesicht prägte sich äußerstes Gespanntsein. Das hagere Antlitz erschien knochiger. Holm ging zu jedem, sprach von seinem Plan. Erschrecken malte sich in den Augen, dann Überlegung, Unruhe, und endlich schob sich der Ausdruck trunkener Freude hinein.

Man arbeitete wie besessen. Ein Verdacht durfte nicht aufkommen. Und ja nicht noch mehr Gemäuer auf den Schrank werfen. Sonst würde man den Dreck in der Nacht schwer herunterschaufeln können.

»Ihr seid verrückt« Schünemann sagte es wie im Spaß. Er hatte sich, wie er glaubte, die Überlegung bewahrt. Was sollte das? War es nicht Irrsinn? War das nicht das sichere Verderben? Wer wußte, daß im Schrank überhaupt noch Geld war? Und wenn schon: Was wollte man damit anfangen? Fliehen? Wohin? Nach China? Lächerlich. Überhaupt: mit geraubtem Geld? Schünemann überlegte: Tat er den andern nicht Unrecht? Fliehen? Ja! Nach China? Gut! Nur raus, raus. Aber, aber ... Sein Gesicht verfinsterte sich.

Vor Jahren war auch er einmal geflohen. Sozusagen mit nichts. Auf gut Glück.

Er war durch den Zaun gekrochen, hatte sich einen Tag lang in einem Graben ausgestreckt und war in der Nacht losgezogen. Die Hunde hatten angeschlagen. Die Strahlen der Morgensonne waren durch das Blätterdach des frühlingshaften Waldes hindurchgesickert. Da war es ihm so gewesen, wie wenn er daheim am Sonntagmorgen im Wäldchen spazierengegangen wäre. Und er hatte sich ins Gras gelegt, hatte den Vögeln gelauscht, die zwitscherten genau wie daheim. Die Erde duftete. Wärme dunstete aus ihr heraus. War er zu Hause, war er im Feld? War er in der Gefangenschaft? Hatte er nicht eben von ihr geträumt? Wo war sein Hund, der immer mit ihm ging? Wo floß die Elbe? Wo rauschte die See? Machte das Wäldchen da an der Ecke nicht einen Knick? Mußte im Wiesengrund, der sich dann ausbreitete, nicht ein kleines Gasthaus stehen, in dem Ausflügler an Sonntagen einkehrten? Ja, wo war das alles? Die Erde schwankte. Er wollte laut schreien. Da kam ein Bauer mit einem Wagen. Das Holzkumt, das geschwungene, das gab es nur in Rußland. Jetzt wußte er: er taumelte in der Freiheit. War trunken geworden. Konnte sie nicht ertragen. Und er wußte, daß er, wenn er weiterginge, nie ans Ziel kommen würde. Zurück, zurück. Geschlagen kehrte er heim. Heim? Er kroch in der Nacht durch den Zaun und legte sich, als wäre nichts geschehen, auf die Pritsche. Seit diesen Tagen fürchtete er die Flucht wie die Pest. Er fürchtete sie wie das Meer. Als etwas Unheimliches und Starkes. Und hatte sein Gefühl ihn betrogen?

Der Mathematiker in ihm rechnete nüchtern und klar: von allen Fluchtversuchen, einerlei, wie sie durchgeführt wurden, scheiterten 98 Prozent. Er besaß die Erfahrung. Was wissen die Kücken von jenem Frühlingsmorgen?

»Ihr seid verrückt« Das war so harmlos gesagt und doch bestimmt, daß alle einen Widerstand fühlten. Was wollte Schünemann? Immer wußte er es besser.

»Glaubt Ihr wirklich,« fuhr Schünemann fort, dabei stieß er sich die Stummelpfeife in den Mund, »daß in dem glühenden Kasten noch was ist? Habt Ihr eine Ahnung, Kinder! Macht Ihr Euch komische Vorstellungen von Geldschränken in Sibirien. Weiß der Himmel, was das für Dreck ist. Einen Zigarrenstummel angehalten, und das Zeug schmilzt. Und nun hat der Kasten eine Nacht lang in der Glut gelegen. Ihr könnt's ja probieren.«

»Tun wir auch,« sprang Klein auf ihn zu. Schünemann konnte er nicht leiden. Der tat immer so überlegen. Hatte ihn noch nie nach der Schule gefragt, nie danach, was der Vater wäre.

Holm fühlte einen Ansturm von innen. Der Ansturm von draußen? Da genügte die Faust. Der da aber bohrte mit Freundschaft. Der Feind kam als Freund. Das war gefährlich. Schünemanns Lächeln machte den Plan zum Dummenjungenstreich.

»Mein lieber Freund, brauchst ja nicht mitzumachen.«

»Wer sagt, daß ich nicht mitmachen will?« lachte Schünemann. »Aber es ist Dummheit. Und ob ich morgen Unsinn verzapfe, weiß ich heute noch nicht Ich glaube es nicht.«

»Es geht auch ohne dich Affen,« meinte der Kesselschmied.

»Wir sind doch keine Kinder,« der Kantor.

»Es wird schon werden!« warf der Steuermann ein. »Keine Chance außer acht lassen. Wenn hier was zu holen wäre.«

»Wir brauchen nicht unbedingt zu rücken,« meinte der Briefträger. Er war mehr für das ruhige Sammeln. Der Empfang von Liebesgaben, das war seine Sache. Wenn er ein paar gute Sachen geborgen hatte, stimmte er gern und freudig das Liedchen an, das im Gesangverein daheim das Paradelied gewesen war: »So sei gegrüßt viel tausendmal.«

»Verloren!« dachte Holm.

Da aber kam ihm Schünemann zu Hilfe. Er machte eine Dummheit. Trotz stieg in ihm hoch:

»Ihr werdet die Hände davon lassen, das weiß ich.«

Im Nu schloß sich die Front gegen ihn.

 

6.

Gegen 10 Uhr marschierten sie nach Hause. Vorbei an einem Toten, an dessen Stirn ein Blutstreifen klebte, vorbei an den andächtig gaffenden Einwohnern, die, weil der Morgen hell durch die engen Gassen schritt und nichts mehr zu befürchten war, aus ihren Höhlen herausgekrochen waren. Ein Schlitten, mit kleinen zottigen Pferden bespannt, knirschte durch die Stadt.

Auf freier Landstraße holten sie einen seltsamen Zug ein. Der Oberleutnant, zerzaust und fahl, wurde mit den Seinen, die ihm, außer ten Hoven, der frei und aufrecht ging, wie aufgescheuchte Kücken folgten, unter Bedeckung heimgeleitet. Die Posten hatten ihn und die Seinen umstellt. So sah eine Festnahme aus.

»Morgen, Herr Oberleutnant! Ausgeschlafen, äh? Nacht gut bekommen, äh?«

Dem Oberleutnant stieg das Blut ins Gesicht. Wenn er jetzt noch seine Pistole gehabt hätte, verdammt, er hätte mitten in das Pack hineingeschossen. Aber die Pistole, die Pistole ... die hatte er nicht mehr. Die war ihm und den andern zum Verhängnis geworden. Er runzelte das Stirnchen. Hatte er es nicht gleich geahnt? Er hatte das verfluchte Ding nicht mitnehmen wollen. Aber er nahm es mit. Als müßte es so sein, als müßte er ins Unglück hineinrennen. Dem Oberleutnant war noch alles wie im Traum. Gerade, als es am lustigsten war, als er seiner Dame den Wein – was man hier Wein nennt – ins Gesicht kippte, knallten die ersten Schüsse. Was tun? Wohin? Was war los? Man blieb im Zimmer. Bis der Spektakel aufhörte. Da schlich man sich hinaus, wollte schnell ins Lager zurück, um allen Schwierigkeiten zu entgehen. Da kam eine Patrouille. Die war jetzt stark. Der soldatische Eifer konnte sich austoben (die Chunchusen waren ja fort) und mußte sein Opfer haben. Die Soldaten faßten den Oberleutnant. Sie fühlten seine Pistole, die er, als die Schüsse fielen, in die Außentasche gesteckt hatte.

Es waren fremde Soldaten, die weder ten Hoven noch er kannte. Soldaten, die von auswärts herangeholt worden sein mußten. Sie führten den Oberleutnant und die Seinen zum Kommissar.

»Auf Wiedersehn, Herr Oberleutnant, äh!«

Die andere Kolonne schwenkte ins Lager ein.

Der Oberleutnant mußte noch etwas weiter. Er spuckte aus.

Er war ganz Verachtung.

 

7.

Als das Mittagessen hinter der Binde war (was gab's denn andres als Kapusta mit ein paar Fettaugen darauf, der Happen Fleisch zählte nicht), als man den Löffel also wieder auf das über dem Strohsack angebrachte Brett gelegt hatte, wollte sich Holm den Kunowski holen. Der war immer noch einer der Intelligentesten, wenn er auch ein bißchen hoch hinaus wollte. Das war doch Unfug, daß er in Liebesbriefen, die er einem russischen Mädchen schickte, unter den Namen schrieb: dramatischer Tänzer und gedruckter Schriftsteller! Was war denn schon groß von ihm gedruckt worden? Die kleine Schilderung einer Fahrt über das Kurische Haff? Kunowski war noch jung, sehr jung. Das entschuldigte. Aber ein fixer Kopf war er doch. Und ein origineller dazu. Wie war das doch vor ein paar Jahren gewesen? Kunowski wollte sich einen Tisch bauen und hieb mit der Axt, als müßte es so sein, die Bretter von der Pritsche ab. Die Russen steckten Kunowski in den Bau. Man besuchte ihn. Ein dunkler Stall. Eine schwere dicke Bohlentür mit einem Gitterfenster. Dahinter ein von Wanzen zerstochenes, wie ein Pfannkuchen aufgequollenes Gesicht. Die Besucher fragten: »Willste was haben, Kunowski, sollen wir dir was bringen? Zigaretten?« – Ein entfernte, aber deutliche Stimme: »Zigaretten auch. Aber erst mal Kants Kritik der reinen Vernunft. Ich glaube, ten Hoven hat das Buch!« – »Muß es denn gerade die reine Vernunft sein, Kunowski? Tut's denn nicht vorläufig auch die praktische?« – »Nein, die reine!« – »Die haste auch nötig, Mensch, die reine Vernunft!« – Das war Kunowski.

Holm überlegte. Sollte er mit ihm den Plan noch einmal besprechen? Gehandelt mußte werden. Viel Zeit war nicht zu verlieren. Sie mußten nachts an die Brandstelle gehen. Am Tage konnten sie nicht gut in der Asche stochern. Das ging nicht Die Bevölkerung würde ohnehin die Trümmer durchsuchen. Und wenn sie dann den Schrank fand? Der Gedanke trieb Holm den Schweiß auf die Stirn. Hier war nun Gelegenheit zu einer Tat. Der Mißmut langer Jahre mußte sich irgendwie betätigen. Immer nur warten, bis andern es paßte. Entsetzlich! Hier war eine Möglichkeit. Ob aus ihr etwas würde oder nicht: versucht mußte es in jedem Fall werden. Die Masse aber konnte er bei den Vorbereitungen nicht brauchen. Da mußten wenige handeln.

Kunowski war einverstanden. Wie aber aus dem Lager hinauskommen? Der Kommissar Wladimir Wladimirowitsch hatte, nachdem der Oberleutnant mit einer Pistole angetroffen worden war, strengen Befehl erteilt: keinen mehr aus dem Lager zu lassen. Was sollte werden, wenn die Gefangenen bewaffnet umherliefen? Konnte man wissen, daß sie nicht eines Tags mit den Gegnern gemeinsame Sache machten?

Holm verfluchte den Oberleutnant. Er verdarb ihnen jetzt das Geschäft.

»Wenn einer rauskommt, so ist es der Oberleutnant!« sagte Kunowski kurz.

Holm stutzte.

»Auch jetzt noch?«

»Auch jetzt noch!« bestätigte Kunowski.

Holm dachte auch an ten Hoven. Der war nicht übel.

»Wollen wir wirklich mal zum Oberleutnant hin?«

»Sicher! Schaden kann es nicht!«

Der Oberleutnant lag lang auf seiner Pritsche. Er sollte sich heute vor dem Kommissar verantworten. Der gab sich noch nicht zufrieden und war nicht ganz sicher, ob der Oberleutnant nicht doch Arges beabsichtigt hatte. Dem Oberleutnant war nicht wohl bei der Sache. Er fühlte sich heute schlapp. Manchmal hing ihm das Leben hier doch zum Hals heraus. Wenn er es recht überdachte: war das Ganze überhaupt soviel wert? Da trank man sich einen an, lag bei den Weibern. Noch nicht einmal das konnte man ungestört tun. Schüsse knallten plötzlich in die Herrlichkeit Warum das alles? Früher hatte er daheim ruhigere Momente gehabt. Wahrhaftig, er war auch damals kein Kostverächter gewesen. Da hatte er aber noch seine Mutter, seine Geschwister und seine Braut gehabt Man machte Reisen, ging ins Theater. Die Gewöhnung von Kindheit an sorgte für Stetigkeit. Als der Oberleutnant das überdachte, schien es ihm so, daß der Seitz in jenen Jahren ein anderer gewesen wäre als der Seitz von heute. Der Krieg zog ihm die Beständigkeit unter den Füßen fort. Gezwungen, mit dem, was sich ihm entgegenstellte, allein fertig zu werden, holte er aus sich heraus, was herauszuholen war.

Er legte sich mißmutig auf den Bauch, so wie er als Junge immer im Bett gelegen hatte. So konnte er besser nachdenken. Das fiel ihm jetzt nicht leicht. Der Oberleutnant hatte es satt. Wenn er zurückging all die Monate, all die Jahre, da mußte er sich doch sagen: Unglaubliches war da auf ihn eingestürmt. Er wußte es noch genau: in den ersten Monaten der Gefangenschaft, als er aus den Lazaretten, die seinen gesprungenen Schädel kurierten, entlassen war, da konnte er es hinter den Bretterzäunen, bei der öden Kost, überhaupt nicht aushalten. Obwohl er dann gleich ins Offizierslager kam. Er wich aus, ging in die Stadt. Und da, eines Tages hatte es geschnappt. »Schlimm!« sagten die Ärzte. »Bei vorsichtigem Leben volle Erwerbsfähigkeit dennoch nicht ausgeschlossen!« Einerlei war ihm das nicht, nein. Wie sollte denn das daheim werden, wenn er zu seiner Braut kam? Die Sorgen drückten damals. Er warf sie rasch beiseite. Nun trieb er es schlimmer und schlimmer. Wenn er vor sich ehrlich sein wollte: war die Sucht nach dem Genuß nicht eine Flucht?

Der Oberleutnant wälzte sich auf seinem Strohsack. Verdammt: war es nicht so, daß er vor sich selber floh, daß er vor den Gedanken ausriß, daß er nicht zur Besinnung kommen wollte? Wie lange sollte das noch so gehen? Diese Lebensweise, zu Hause fortgesetzt, führte unweigerlich ins Zuchthaus – wenn er nicht vorsichtig war. Nicht vorsichtig war? Der Oberleutnant erschrak: war es schon so weit mit ihm gekommen, daß er das Räuberdasein nicht von vornherein ablehnte, sondern, um es für die Wohlanständigkeit genießbar zu machen, mit der Bedingung der Vorsicht verknüpfte? Was, ein Lump? Spaß, Spielerei – Spielerei ist doch alles. Der Oberleutnant riß sich gewaltsam hoch: jawohl, Spielerei auf der Bühne des Eingekerkertseins. Ein notwendiges Sichwehren.

Froh war er, daß Holm und Kunowski ihn aufsuchten. Das war Ablenkung. Sie machten ihm ohne lange Umschweife klar, was sie wollten. Der Oberleutnant stutzte. Ein Geldschrank? Unter den Trümmern? Neuer Wille durchströmte ihn. Ein neues Ziel. Gierig griff er danach. Das war Arbeit, das war Beschäftigung. Die Möglichkeiten stiegen in seiner Phantasie ins Unbegrenzte. Vielleicht war in dem Schrank so viel, daß man ein für allemal genug hatte.

Daß man ganz Spaßkoje bestechen und dann ausrücken konnte?

»Uund die andern, wwissen die wwas ddavon?«

»Was da ist, wird unter dem Löschtrupp verteilt. Ehrensache!«, meinte Holm.

»Aber wie soll die Schar hinauskommen? Die ersten Arbeiten können nur wenige machen!«

»Wir hatten gehofft, daß der Löschtrupp zu den Aufräumungsarbeiten kommandiert werden würde!«

»Ddar-ran ist nnicht zu den-ken!« warf der Oberleutnant ein. Er hatte schon einen Plan gefaßt. Ganze Arbeit wollte er vor dem Kommissar leisten. Von wegen: sich verantworten. Er kam als Fordernder.

»Aaber ten Hoven muß mit!«

Und ten Hoven ging mit.

Zu viert standen sie vor Wladimir Wladimirowitsch. Sein schwermütiger Blick blieb auf dem Oberleutnant haften. Das war doch der mit der Pistole. Wladimir Wladimirowitsch hatte keine Lust, sich von einem Plenny verraten zu lassen. Um dieser Gesinnung Ausdruck zu verleihen, legte er seine langrohrige Waffe auf den Tisch. Wladimir Wladimirowitsch wußte: Spaßkoje war ein umstrittener Platz. Vor Wladiwostok knatterten die Gewehre. Um die Bahnlinie wurde hart gekämpft. Der Eisenbahnverkehr war unterbrochen. Die Rote Garde ließ Panzerwagen auf der Strecke laufen. Jeden Tag konnten in Spaßkoje Granaten platzen. Und da liefen Gefangene mit Pistolen umher? Wladimir Wladimirowitsch war zornig. Er fing an zu reden. Jedes Wort entzündete zehn andere. Der ganze Körper bebte, das Gesicht war blau angelaufen. Hemmungslos stürzten die Sätze aus ihm heraus. Er kündete furchtbare Maßnahmen an. Sprach vom Erschießen, Standgericht. Seine Geduld sei zu Ende. Der gute Wille werde mißbraucht. Und dabei flog eine Zigarette nach der andern in die Stube.

ten Hoven ließ den Kommissar ausreden. Der Erfahrene wußte: in einer Viertelstunde war die Wut verraucht.

Als der Kommissar erschöpft auf seinen Stuhl zurückfiel, war es für ten Hoven an der Zeit, zu sprechen.

»Towarisch, Towarisch, höre: Seitz hat die Waffe nicht aus dem Lager mitgenommen. Der Überfall der Chunchusen überraschte uns. Wir rüsteten uns zur Gegenwehr. Und da griff Seitz zur Waffe, die zufällig auf dem Schrank im Zimmer – draußen in Spaßkoje, Towarisch – lag. Wir wollten gegen die Chunchusen vorgehen. Da kam die Patrouille, Towarisch. Es wäre besser gewesen, Towarisch, die Soldaten wären gegen die Chunchusen vorgegangen!«

Der Kommissar sah düster drein.

»Hier, Towarisch, hier, die Leute, die ich mitgebracht habe, die haben gesehen, Towarisch, daß ...«

Der Kommissar winkte ab. Schrie: »Genug!« Wollte nichts mehr hören. War alles Schwindel. Für diesmal wollte er es genug sein lassen.

Ob dann die Urlaubsscheine noch ausgestellt würden?

Der Kommissar war im Zweifel. Dann ein scharfes »Ja!«

Und nun kam die Bitte um einen schnellen Urlaub. Der Ausgang des Oberleutnants wäre durch die Chunchusen gestört worden. »Und dann, Towarisch, die Gefangenen hoffen auf Entgegenkommen für ihre Löscharbeit!«

Der Urlaub wurde genehmigt

 

8.

Der Oberleutnant war als Sieger aus der Affäre hervorgegangen. Die Gamaschen blitzten wieder. Der Gang war wieder elastisch. Das Rasiermesser fegte wieder über die Stoppeln. Jetzt hatte er die alte Überlegenheit gegen die Moralisten wiedergewonnen. Und nun rasch ans Werk. Es war Mittag.

Am gleichen Abend noch sollte die Sache vor sich gehen. Aber ehrliche Makler wollten sie sein. Holm ging zu den Mitgliedern des Löschtrupps und sagte ihnen, was los war. Mal spionieren, mal nachsehen. Wenn das Glück gut war: handeln! Um Gewähr zu geben, daß alles mit rechten Dingen zuging, würden sie den Oberleutnant und ten Hoven mitnehmen. »Vier Augen sehen mehr als zwei. Und Geheimnisse sind unter vier Augen schlechter aufgehoben als unter zwei.«

»Immer ehrlich! Mmmenschenskinder!« setzte der Oberleutnant hinzu. Die andern sollten froh sein, daß ihnen die Hauptarbeit abgenommen wurde. Wenn für die Pioniere etwas Besonderes abfiel, war das recht und billig.

In den dicken Schädeln regten sich Zweifel. Immerhin: man kam ja offen zu ihnen. Bei einer bösen Absicht hätte man alles geheim machen können. Holm beteiligte sich an den Vorarbeiten, und Holm betrog nicht

Zu Schünemann war Holm nicht gegangen. Er fürchtete diesen Gegner.

Aber Schünemann erfuhr alles.

Er machte einen Spaziergang im Lager. Ein scharfer Wind fegte herein und hob an den ungeschützten Stellen den Schnee hoch. Der stob ihm ins Gesicht. An den Brauen und den Wimpern bildeten sich Krusten. Die Nase wurde gefühllos. Schünemann wanderte und wanderte, immer im Kreis herum, ohne Unterbrechung.

Ein paar Vermummte kamen ihm entgegen. Einer mit einem Höcker. Der andere tänzelnd und frierend.

»Man müßte auch mal in die Stadt rein!«

»Vielleicht in der nächsten Woche.«

Immer die Stadt, dachte Schünemann. Die Stadt, die Stadt. Ja, und heute abend. Was würde da erst werden?

Schünemann sah, daß die beiden an den Bretterzaun gingen und durch ein Astloch guckten, um etwas vom Leben zu erhaschen, einen Graben zu sehen, ein paar Leute, eine Straße. Schünemann wurde unruhig. Er lief schneller, wanderte um das Lager, bog zum Haupttor ab, vor dem der Posten stand, und schritt hin und her. Der Soldat wurde aufmerksam; Schünemann ließ sich nicht stören. Er wanderte auf und ab und ging dann nach dem Zaun. Der Posten starrte hinter ihm her. Schünemann trat zurück und stellte sich hinter einen Baum, verharrte hier einige Minuten und drückte sich dann, sich noch einmal umschauend, wieder an den Zaun, paddelte den Schnee beiseite und warf die abgerissenen Brocken zurück. An dieser Stelle befand sich unter dem Zaun eine kleine Vertiefung, durch die früher im Sommer die Gefangenen hindurchgekrochen waren. Der Posten beobachtete das Treiben aufmerksam. Schünemann grub und grub. Da drückte der Soldat im Schilderhäuschen auf den Knopf der Klingel.

Der Kommissar schäumte und brüllte den Posten an: »Niemand darf raus! Auch die nicht, die Scheine haben!«

Als Schünemann die Aufregung sah, ging er gleichmütig fort und verschwand in der Baracke.

 

9.

Der Oberleutnant wurde blaß, als er gegen Abend mit den drei Freunden am Ausgang stand und der Posten mit der Hand entschieden »Kehrt!« winkte. Man zog entrüstet die Scheine hervor, zeigte auf die Unterschrift, drohte, die Sache zu melden. Nichts! Strenger Befehl: Urlaubsscheine ungültig, weil Ausbruchsversuche eines Gefangenen festgestellt

Das war dem Oberleutnant noch nicht passiert. ten Hoven lächelte verlegen. Hier war seine Kunst machtlos. Kunowski konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären. Holm aber wußte: der Feind!

Er sprach den Verdacht aus. Freilich, es war nicht anders. Dieser dumme, blöde Ausbruch am hellen Tag vor dem Angesicht des Postens mußte beabsichtigt gewesen sein und war Schauspielerei mit einem bestimmten Zweck.

»Schünemann!« sagte Holm.

Der Oberleutnant fluchte: »Nun erst recht!«

»Nun feste!«

»Verbitten uns die Bevormundung!«

»Werden dem Mann zeigen!«

Holm standen die Tränen in den Augen. Er hatte alles auf eine Karte setzen wollen. Um sich aus dem Schlamassel herauszuarbeiten. Nun dieses beschämende Ergebnis. Er hätte weinen mögen. Und niemand wußte (er würde es auch niemand erzählen, gelobte er sich): er fühlte den Wahnsinn in den stillen Nächten, wenn er schlaflos auf seiner Pritsche lag und die Leiber seiner Kameraden ringsum dampften. Immer dieses Vegetieren unter der Masse. Kein Stübchen, kein Fürsichsein. Morgens, wenn der Krakeel anbrach, aufstehen, waschen im gemeinsamen kalten Waschhaus draußen. Den wässerigen Tee in einer großen Kanne für die Eßkorporalschaft holen. Den trockenen Kanten Brot vom Bord herunternehmen. Ein bißchen Fett aufstreichen. Zur Arbeit antreten. Irgendwo gleichgültig die Hacke in die Erde schlagen. Mittags zurück. Ausgefroren. Dreckige Hände. Waschen nicht immer möglich. Umziehen erst recht nicht. Den Fraß in einer großen Schüssel holen. Das Fleisch, das beim Abmessen durch wer weiß wie viele Hände gegangen war, in die Faust nehmen und die ausgelaugten Strähnen verschlingen. Ein Radau in der Baracke, so daß einem die Ohren dröhnten. Jeder hat das Recht auf den andern, keiner kennt das Recht auf sich selbst. Keine Aussicht: daß bald ein Ende. Revolution im Land. Lebte man morgen noch? Wer spannt die Gefangenen morgen vor seinen Wagen? Von einer Hand in die andere. Die Heimat weit weg. Was ging dort vor? Niemand wußte es genau. Ungewißheit. Was werden die Angehörigen anfangen? Hunger, Not? Durfte man den Versicherungen in Briefen und Karten glauben?

Holm biß die Zähne zusammen. Er mußte etwas tun, mußte einen Ausweg finden, mußte die Hände rühren. Mußte.

 

10.

Der Oberleutnant kam hinzu, als ein Russe in der Baracke im geheimen Sprit, gewöhnlichen Kartoffelschnaps, den gemeinsten Fusel, den es gab, verkaufte. Der Oberleutnant griff in die Tasche, zog die Brieftasche, frei und offen, so daß jeder sie sehen konnte, und erstand ein paar Flaschen. Die nahm er unter den Arm, stellte sie auf seine Pritsche und schob einen Schemel davor. Er setzte an und gulkerte eine in einem Zug bis zur Hälfte aus. Kröger lag daneben auf der Pritsche, schmunzelte und wußte: da fiel auch für ihn etwas ab. Der Oberleutnant war doch eine tolle Marke. Unbezahlbar. Eine seltene Rübe. An andern Tagen hätte sich Kröger über den Oberleutnant, der mehr hatte als er, geärgert. Heute war Kröger in aufgeräumter Laune. Die Freude stand in ihm. Er hatte von seiner Frau einen Brief erhalten. Sie schickte ihm eine Photographie. Darüber hatte er sich so gefreut. Als aus der Kanzlei der Postsack hereingetragen wurde und alle zum Kanzlisten strömten, hatte er gedacht: du kriegst ja doch nichts. Im letzten Vierteljahr war er bei jeder Post leer ausgegangen. Den Ehering hatte er schon längst vom Finger genommen. Wenn er keinen Brief erhielt, brauchte er auch den Ring nicht zu tragen. Der wurde in das dunkle Verließ des Portemonnaies gesperrt. Da mochte er ruhen bis zur Auferstehung. Heute aber hatte er ihn hervorgeholt. Heute glänzte der massige, funkelnde Streifen an der rechten Hand. Heute war Post gekommen. Ein Hauch von daheim war über Erdteile geflogen. Da wog jedes Wort, das die Frau schrieb. Älter war sie geworden. Die Zeit nagte eben auch in diesem Gesicht. Wie konnte es anders sein? Wovon sein Blick sich aber nicht losreißen konnte, das war der Junge da. Er kannte den Bengel nicht, der war geboren, als er schon im Feld war. Und nun war das Kerlchen schon herangewachsen, guckte keck den Alten an.

Kröger wurde nachdenklich.

Ein Schatten fiel auf seine Phantasien. Wann würde das Wiedersehen sein? Wann? Er malte sich aus, wie es sein würde, wenn er aus dem Anhalter Bahnhof käme, mit dem Köfferchen in der Hand und dem eleganten, sauberen Anzug auf dem Leibe. An der Sperre würde die Frau stehen, der Junge neben ihr. Die Begrüßung würde kurz sein. Nur keine rührseligen Auftritte. Aber die Freude. Die Freude, die unbändige Freude.

Kröger hielt mit dem Gedanken inne. Er bremste. Da war ein Punkt, an dem jede Vorstellung an die Tage der Heimkehr haltmachte. Man sehnte sich nach der Heimat, und man fürchtete sich vor ihr. Kröger sog wie toll an der Shagpfeife und blies den Rauch in mächtigen Wolken von sich fort, dem Oberleutnant ins Gesicht. Der saß mit stieren Augen da und lallte. Kröger betrachtete ihn aufmerksam. Das war auch ein Unglückswurm. Auf dem halbkahlen Schädel blinkte eine kahle Krone. Ein verfrühter Totenkopf, der dem Grab entgegengrinste. Auf den Backen nur wenig Fleisch. Die Augen von düsterem Grau umrandet. Das sorgfältig gestutzte Schnurrbärtchen lag wie ein Strich über den bläulichen Lippen, an denen Speichel glitzerte.

Kröger grauste es. Würde er auch einmal so aussehen? Dann lieber Schluß machen. Was hatte er verbrochen, daß er sich mit diesen Gedanken trug? Er war in den Krieg gezogen, ungern, er liebte sein Leben, hatte dann im Feld seine Pflicht getan, hatte getan, was man ihm geheißen, hatte gestochen, geschossen, Hurra geschrien, hatte Feldpostbriefe geschrieben, zum Aushalten ermuntert, von der glänzenden Stimmung an der Front berichtet, Patrouillengänge geschildert, hatte gefroren und sich nach einem warmen Bett gesehnt Und eines Tags war er leicht verwundet bei den Russen gelandet. Die erste Nacht schlief er tief und selig. Die Granaten zischten ja nicht über das Dach. Die ersten Wochen brachten Neues, Abwechslung. Man lag im Lazarett und fuhr dann im Viehwagen wochenlang durch Sibirien, lag mit heißen Augen vor den Fenstern und war unglücklich, wenn fern in irgendeiner Hütte ein Lichtlein aufblitzte wie ein Stern. Da mußte doch eine gemütliche Stube sein mit einer Lampe und einem prasselnden Ofen und mit einem Bett Man verkaufte die Stiefeln und das Hemd, das tagelang wie eine Fahne vor dem Fenster geflattert hatte: das Radikalmittel zur Vertilgung der Läuse. Später sank man tief in Dreck und Speck hinein, sah, wenn man zur Arbeit geführt wurde, hinter jedem Mädchen her, das der Blick ergatterte. Das Auge sog an jeder Brust, die ihm entgegenschaukelte. Mit jedem Jahr würgte die Gier gräßlicher. Die Jünglingsgesichter in der Baracke, denen der erste Flaum auf der Oberlippe sproß, wurden in Gedanken heiß umworben. Auch eine Seligkeit

Und dann kam ein Tag, ein schöner Abend, eine klare Nacht. Kröger seufzte, als er daran dachte. Er ging auch einmal hinaus. Der Dolmetscher nahm ihn mit. An die Nacht dachte er, vielleicht sein Leben lang.

Er hatte viele Bücher in öden Stunden gelesen. Fand er aber die Gerechtigkeit, die er suchte? Wo war das Recht? Da mußte er doch lachen. Hatte er freiwillig die furchtbaren Verhältnisse aufgesucht? War er dafür verantwortlich, daß die Natur ihn in dieser Lage zu einer Lebensäußerung getrieben? Warum mußte er aber für das, was aus Notwendigkeiten entstand, büßen? Und so ging es allen hier. Ein einziger Trost, daß er nicht allein war.

Krögers Blick fiel wieder auf den Oberleutnant. Der hatte eine neue Pulle umkrallt und wollte sie sich in den Mund stopfen. Der Schnaps lief aber daneben und plätscherte auf den Boden.

»Sauf, Kröger, sauf!«

Die Baracke wurde munter. Ach so, der Oberleutnant soff. Manche hopsten im Hemd herbei und nahmen einen Schluck. Andere schimpften. So eine Schweinerei. Immer der Oberleutnant. Immer der »Äh«.

Kröger holte eine Flasche und setzte an. Es war ja alles einerlei. So oder so.

Die Schatten der Nacht geisterten durch die Baracke. Draußen goß der Mond sein fahlgoldenes Licht auf das schweigende Land, durch das wohl irgendwo im einsamen Wald der Wolf sich durch die Gebüsche zwängte.

Im Haus der Geschlagenen blinzelten nur wenige Lichter. Eins stand vor dem Oberleutnant Er lag mit dem Schädel auf der Pritsche. Kröger saß daneben und schmauchte.

Da flatterte ein weißer Mantel. Der Arzt mit dem Glühpünktchen der Taschenlampe. Seine Brille funkelte aufmerksam herüber.

 

11.

Holm wühlte in seinen Papieren. Er hatte vor Jahren, um die Langeweile zu vertreiben, ein Theaterstück hingekritzelt. Es waren Szenen, deretwegen man ihn daheim gesteinigt hätte. Wenn der Oberleutnant sich betrank, warum, so folgerte Holm, sollte er sich nicht mit diesen Sachen betrinken? Er mußte etwas tun. Sonst kam er um. Er würde dieses Theaterstück hier aufführen lassen, mit Gefangenen, die auch die Frauenrollen spielen mußten. Jawohl!

ten Hoven war von dem Plan begeistert.

»Weißt du«, sagte er, »wir werden den Kommissar und seine Damen einladen. Die vertragen die Kost. Wir werden alle Maßgebenden einladen. Ganz Spaßkoje wird das sein. Wir werden uns glänzend rehabilitieren. Ein Heidenspaß wird das sein. Der Kommissar läßt sich nachher um den Finger wickeln, sage ich dir.«

Der Oberleutnant sprudelte vor Vergnügen. Das Reitstöckchen klatschte nur so gegen die Gamaschen. Aber mitspielen würde er nicht. Nein. So gern er es täte. Man wußte ja, er stotterte. Und zum Gelächter wollte er sich nicht machen. Und, setzte er für sich hinzu, das »Oberleutnant, äh« möchte er auch nicht hören.

Holm beteuerte, daß er das Stück vielleicht nicht aufführen würde, wenn ihm Schünemann nicht jenes andere Schauspiel vorgeführt hatte. Nun erst recht das tun, was Schünemann und seinesgleichen nicht gefällt.

Ein Fähnrich, dem zarte Jugendröte auf den Wangen leuchtete, dessen Augen unter langen, seidenweichen Wimpern hervorstrahlten, wurde für die weibliche Hauptrolle gedrillt. Sämtliche Proben hielt Holm in fertigen Kostümen ab. Es sollte alles klappen. Er tat, als hätte er Idioten vor sich. Es verdroß ihn nicht, jeden Spieler einen Satz dreißigmal hintereinander sprechen zu lassen. Holm befahl den Tonfall, befahl jedes Lächeln, jeden Schritt. Kunowski spielte eine Dame gesetzten Alters. Klein hatte ein Dienstmädchen zu geben, was er für mit seiner Würde nicht ganz vereinbar fand. Manteufel war eine Dienerrolle wie auf den Leib geschnitten. ten Hoven aber hob beschwörend die Hand, als Holm ihn schnappen wollte. ten Hoven wollte zusehen, diesen Heidenspaß sich nicht nehmen lassen. Der Kesselschmied übernahm eine Hinausschmeißerrolle. Dem Kantor wurde, was ihm sehr gefiel, eine Don-Juan-Rolle aufgedrängt. Kleckermaxe durfte nicht fehlen. Er brauchte nur seine Natur zu spielen. Dem Briefträger aber wurde das seltene Glück zuteil, mit Posttasche und Postmütze Briefe zu bringen.

Die Vorbereitungen beanspruchten das ganze Lager. Da mußten Kulissen angefertigt werden. Man half sich, indem man große Papierflächen bunt strich und mit einfacher Tapete versah. Zusammengeheftete Decken waren der Vorhang. Möbel wurden aus den Wohnungen der Ärzte geliehen. Ein Raum zur Vorführung war auch da. Die Bühne wurde auf Tischen aufgebaut. Die meisten Schwierigkeiten verursachten die Damenkleider. Die Not war behoben, als ten Hoven dem Kommissar das Anliegen vorgetragen hatte. Wladimir Wladimirowitsch versprach sich von den Dingen sehr viel.

Die Damenspieler steigerten sich ausnahmslos zu höchster Korpulenz. Die Kleider waren sehr weit ausgeschnitten. Die Stimmen flöteten.

Theaterzettel waren angeschlagen, Kassen für den Vorverkauf eingerichtet, Stühle und Bänke aufgestellt, die Plätze eingeteilt

Vorn saßen die Ärzte und die Russen mit ihren Damen. Der Oberleutnant kannte sehr viele. Er schlug die Hacken zusammen, strahlte mit seinem liebenswürdigsten Gesicht und beugte sich ehrfurchtsvoll auf die ringgeschmückten Hände.

Hunderte von Augen waren starr auf die Rücken der Frauen gerichtet und brannten Löcher in das füllige Fleisch.

Der Vorhang rauschte empor. Die Stimmung auf der Bühne floß in einem dicken und zähen Brei herab, eroberte den Saal, füllte jede Ecke aus und stieg, da der Zustrom nicht versiegte, höher und höher, bis jeder Zuschauer auf dieser dumpfen Schwüle zappelte.

Es wurde Deutsch gesprochen. Damit die fremden Gäste auch ihren Spaß hatten, übersetzten die Spieler die besten Brocken. Sie sprachen einen Satz Deutsch und gleich darauf Russisch. Das Wiehern schwappte aus allen Zuhörern nur so heraus. Man hielt sich den Bauch. Man konnte nicht mehr.

Am andern Tag waren die Tore weit aufgetan. Wladimir Wladimirowitsch schwamm in Seligkeit. Wer solche Stücke spielte, sann nicht auf Umsturz. Das ganze Lager strömte hinaus und blieb nächtelang fort. Wochen hindurch. Es kostete neue Opfer. Unter denen, welche die Baracke wechselten, waren ten Hoven, Erdmannsdörfer, Kunowski, Klein, Kramm, Müller, der Kesselschmied, der Kantor, der Briefträger, Kleckermaxe und der Steuermann. Auch Schünemann hatte es gepackt. Der Feind hatte ihn besiegt. Doppelt. Holm aber war, soweit man es wußte, frei von der Krankheit geblieben.

Das Stück wurde wiederholt. Immer vor vollem Haus. Die Ärzte waren machtlos.

 

12.

Die Rote Garde setzte sich bei Spaßkoje fest. Sie hatte zurückweichen müssen. Die Tschechen drängten nach. Geschütze mahlten durch den papsigen Schnee. Die Regimenter verteilten sich.

Auf den Hof des Lagers sprengte ein Reiter in schmutzbespritztem Gummimantel. Das kleine, zottige Pferd tänzelte hin und her. Die Gefangenen bildeten einen Ring darum. Sie hatten auf Befehl hierher kommen müssen. Und der Reiter redete mit heiser, überanstrengter Stimme auf sie ein.

Der Roten Armee sollten sie sich anschließen. Kämpfen sollten sie in den Reihen derer, die für die Freiheit, für das Volk stritten. Nie hätten die Gefangenen es so gut gehabt wie unter dem Sowjetstern. Es gelte, die Gewehre gegen die Knechte des Kapitalismus zu richten. Von denen hätten die Gefangenen nichts zu erwarten. Die Tschechen machten alles nieder. In andern Städten, durch die sie gekommen, hätten sie sogar Spitäler eingeäschert Wenn die Gefangenen in der Kaserne blieben, würden sie unter den Granaten der Tschechen zusammensinken. Denn es wäre wahrscheinlich, daß die Rote Armee noch etwas zurückgehen müßte. Die Tschechen könnten schon übermorgen in Spaßkoje sein. Da gelte es zu handeln. Der ehemalige deutsche Soldat werde in der Roten Armee sofort ein Kommando erhalten, einerlei, ob er in der deutschen Armee Offizier war oder nicht. Die ehemaligen Offiziere aber würden in ganz hohe Stellen kommen.

Die Gefangenen hatten die Köpfe gesenkt Was war das, was sie da hörten? Was ging sie Rußland an, was die Rote Armee? Sie gehörten nach Deutschland, hatten jahrelang gelitten, um dereinst die Heimat wiederzusehen. Und jetzt wollte man sie sogar aus der Sehnsucht nach dem Land der Kindheit entwurzeln? Und was wollte man geben? Kampf für etwas, das man nicht einmal recht kannte? Ungewißheiten, ein Räuberdasein, den sicheren Tod.

Bei andern wirkten die Worte anders. War das nicht ein Weg, um der Verzweiflung, der Enge, dem Hunger, der Entbehrung zu entrinnen? Was nützte dieses Schattendasein in der Baracke? Ungewißheiten hier, Ungewißheiten dort. Was wartete daheim? Wann würde man nach Hause kommen? Fort von der Pritsche, hin zur Freiheit. War man erst im Dienst, dann würden sich neue Möglichkeiten öffnen, Bolschewismus hin, Bolschewismus her. Was kümmerte sie der Bolschewismus? Nur hinaus!

In der kleinen Schar, die dem Mann auf dem tänzelnden Pferd folgte, war Holm. Seit den Theateraufführungen war etwas in ihm gebrochen. Er hatte äußerlich gegen Schünemann gesiegt, im blinden Zwang die Leute zum Lachen gebracht. Das andere aber, das war eine Niederlage. Er fand keinen Ausweg.

Föhn brauste über die Dächer. Von denen tropfte es ohne Unterlaß. Aus den Mäulern der Rinnen gurgelte das Wasser, das sich in den zusammengesunkenen Schnee biß und tiefe Löcher nagte. Gräser, die im Sommer aus der fruchtbaren Erde gesprossen und dann von der weißen Decke zugedeckt worden waren, erhoben sich, halb verdorrt, als das Naß über sie hinweg sprudelte. Am Himmel jagten die Wolken, vollgesogen wie Schwämme und bereit, die Kreide von der Tafel der Natur fortzuwischen. Schon waren schwarze Flecke darauf. Und über allem glühte der Sonnenball, von dem sich heiße Pfeile lösten und in Fülle herabsanken.

Holm drückte seinen Kameraden die Hand.

 

13.

In den nächsten Tagen schrien die Kanonen mit hohler Stimme, rasselten die Maschinengewehre, knallten die Pistolen, schwärmten die Kompanien auf den Feldern aus. Die Vögel huschten in den Zweigen ängstlich hin und her.

In der Nacht gingen die Rotgardisten längs der Bahnlinie zurück.

Tschechische Offiziere zogen, mit dem schußbereiten Revolver in der Faust, durch die Baracken.

Der Oberleutnant stürzte verzweifelt zu ten Hoven.

»Dddu, Holm wwird erschossen.«

»? ? ? ? ?«

Der Oberleutnant zitterte am ganzen Körper, konnte kaum sprechen. Es ist so, versicherte er immer wieder. Holm hatte eine Batterie geführt, die bis zum Letzten gekämpft hatte. Die Tschechen waren weit in den Flanken ausgeschwärmt und hatten ihn gefaßt. Auch Wladimir Wladimirowitsch sollte unter den Gefangenen sein.

»Und woher weißt du, daß ...«

»Dddie Tschechen erschießen jjeden Gefangenen.«

Dumpfe Erregung füllte die Baracken. Die Gruppen und Parteiungen wurden vom Entsetzen überdeckt. Spielte man so mit ihnen? Freilich, Holm war für die Tschechen kein Gefangener, kein deutscher Soldat, sondern ein Bolschewik. Was aber hatte Holm dazu getrieben, es zu werden? Die Verzweiflung, die in jedem von ihnen wühlte. Nur die Verzweiflung. Und waren sie für die verantwortlich?

Schünemann traf es hart. Peinigender Unruhe voll, hastete er durch das Lager. War er nicht der gewesen, der in Holms Schicksal eingegriffen hatte? Holm war auf dem Wege gewesen, eine Dummheit zu begehen, etwas zu tun, was er, Schünemann, für verderblich hielt. Er bremste. Bremste, weil er nach seinen Einsichten bremsen mußte. Was wäre aus Holm geworden, wenn der den Angriff auf den Geldschrank ausgeführt hätte? Vielleicht wäre das Ganze harmlos verlaufen. Die andere Wahrscheinlichkeit war aber größer. Und warum handelte er?

Schünemann holte tief Atem. Weiß Gott, er würde heute nicht anders handeln. Konnte er es? Mußte er nicht tun, was er für richtig hielt? Freilich, der Ausgang war empörend. Es kam das Theaterspiel. Es kamen die Opfer. Er selbst war unter ihnen. Holms Tod war das Letzte. Schünemann lachte bitter. Man tat das Gute, um Fluch zu ernten? Man tat, was man für Segen hielt – und es kommt der Niedergang. Oder ist das, was wir für den Niedergang halten, die Rettung, die höhere Rettung? Die Tiefe ist Höhe. In Schünemann verwirrten sich die Begriffe. War – das – nicht – Wahnsinn? Angstgeschüttelt rannte er fort, nur um das Grauen des freien Raums, in dem er, mitten im Lager, stand, zu überwinden. Er fühlte hier die Leere übermächtig. Er lief, bis er einen Baum faßte. Und war das nicht etwas, worauf er sich verlassen konnte? Er fühlte da etwas in der Hand, das war.

Was war zu tun? Schünemann überlegte, ob es nicht besser war, einen Sturm zu entfesseln. Er brauchte nur in die Augen seiner Gefährten zu sehen, und er wußte: da konnte in kurzer Zeit eine Schar zusammengestellt werden, die mit geballten Fäusten gegen die Maschinengewehre anrennen würde. Würde das nicht ein Flammenzeichen sein, das loderte und allen, die noch fühlten, sagte: hier versinkt etwas! Oder würde man von Meuterern sprechen, von Aufrührern, von verseuchten Elementen? Man würde das. Schünemann wußte: Wahrheit ist, was die Telegraphenbüros verbreiten. Nein, das war nichts. Und sollte man der Familie den Ernährer nehmen? Nein, das war wirklich nichts.

Schünemann erklomm eine kleine Erhöhung, einen Unratberg, von dem aus er eine kleine Strecke weit ins Land hinaussehen konnte. Von zwei Planken im Zaun war oben ein Stück herausgefault. In dem kleinen Ausschnitt dehnte sich eine kleine Wiese, daneben floß ein Bach. Und nicht weit davon mußte ein Häuschen stehen. Ein Schornstein reckte sich neugierig empor und Rauch kräuselte in die Höhe. An Baum und Strauch sproßte das erste Grün.

Als Schünemann wieder hinabsteigen wollte, erregte ein Bild, das sich plötzlich in den Ausschnitt hineingeschoben hatte, seine Aufmerksamkeit. Drei Tschechen führten einen Mann herbei, der an der Stirn einen Verband trug. Sie machten halt. Der eine drückte dem Verwundeten einen Spaten in die Hand. Zögerte der, das Werkzeug zu nehmen? Es schien so. Genau konnte Schünemann es nicht sehen. Hat er den Spaten? Ja, der Verwundete gräbt. Langsam hebt er die dampfende Erde heraus. Manchmal hält er inne. Und sein Blick schweift umher, als tränke er gierig: die Luft, die Wiese, den Waldsaum, alles. Dann bückt er sich wieder. Gräbt. Gräbt. Es wird ein Loch. Viereckig. In der Höhe eines Mannes und so breit wie ein Mann. Der Verwundete gräbt und gräbt. Und immer langsamer. Da, er scheint den Spaten zu heben, scheint losschlagen zu wollen. Springen die Tschechen nicht auf ihn zu? Nein, der Grabende gräbt. Gräbt und gräbt. Zögernder, immer zögernder sinkt der Spaten in die Erde. Die Schollen poltern heraus. Die Ränder wachsen. Der Mann steht bis zum Bauch im Grab. Da heben die Tschechen den Arm. Stählernes glitzert in den Händen. Drei Feuerschlangen züngeln nach der Stirn. Drei scharfe Knalle. Ein surrendes Aufschlagen.

Man fand Schünemann ohnmächtig auf dem Unratberg.

Ins Lager stürzten tschechische Offiziere. Sie fuchtelten mit den Pistolen umher und schrien: »Eine Schande, ihr geht mit den Russen! Wir stellen euch alle an die Wand!« Dann tapsten ein paar Kompanien herein, die sich um die zu einem Haufen zusammengetriebenen Gefangenen stellten. Vorn und hinten, auch an den Seiten fuhren Maschinengewehre. Man schleppte die Gefangenen ins Feld.

Das letzte Stündlein?


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