Paul Scheerbart
Liwûna und Kaidôh
Paul Scheerbart

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Und er fühlte wieder wohltuende Wärme. Weiche Tropfen betupften seine Haut, sodaß er wieder staunte – denn er hatte lange nicht so deutlich seine Haut empfunden.

»Du bist mitten in einer großen Gassonne.«

So rief ihm zischend wieder mal eine Stimme zu, die er niemals gehört hatte.

Und er sah einen Schlangenkopf vor sich – der sprach kalt und lachend:

»Liwûna ist zur Knotenschlange geworden.«

Und er fühlte, wie ihr hellgrüner ungeheurer Schlangenleib mit den vielen Knoten sich um alle seine Glieder wand und nur die Arme und den Kopf freiließ.

In Liwûnas hellgrünem Schlangengesicht war die Schlangenhaut so fein, daß Kaidôh die schwarzen Adern deutlich unter der Haut sehen konnte; er sah in den Adern das schwarze Blut dahinströmen wie wilde Wasserfälle; er unterschied sogar weiße Schaummassen in den schwarzen Fluten.

Die Schlange sagte ruhig:

»Du hast gehört und hast gesehen, daß ich in sehr vielen Gestalten Dir erscheinen kann. Ich kann Dir in unendlich vielen Gestalten erscheinen. Wenn Deine Liwûna das schon kann, denkst Du da, daß große Sterne das nicht auch können? O ja – sie können das. Jedes Stück Welt erscheint anderen Sinnen anders. Da das Erscheinen aber ein Sein ist, so ist jedes Stück Welt auch immer wieder etwas Andres, in jedem Augenblick – zu gleicher Zeit das Eine und auch das Andre – Alles, was es scheinen oder sein kann – ist es auch immer. Und was vom Stück gilt, wird wohl vom Ganzen erst recht gelten. Auch der Allgeist ist nur in unendlich großer Mehrzahl zu denken. Und mit einem so unbegreiflich großen Geiste willst Du Dich vereinen? Weißt Du, wie Dein maßloser Wunsch zu behandeln ist? Ich dächte, Du könntest Dir die Frage selber beantworten.«

Kaidôh sah, daß Liwûnas Schlangengesicht immer wilder blickte, ihre zwei großen Augen wurden ganz weiß und traten weit vor. Die schwarzen Adern schwollen heftig an. Und der Riese Kaidôh hatte ein Gefühl, als würde ihm der ganze Rumpf durch den Schlangenleib vom Kopfe getrennt – er fühlte seinen Rumpf nicht mehr – und glaubte, nur noch Kopf zu sein und weiter Nichts.

Und ihm gingen die Gedanken ganz und gar durcheinander, und es befiel ihn plötzlich eine zuckende Angst – Angst vor dem Wahnsinn.

Und er rief laut:

»Liwûna! Liwûna! Ich will nicht mehr das Ganze. Es ist zu groß. Es ist zu viel. Ich will nur einen Teil – nur ein Stück von der Welt. Ich will nicht mehr das Gewaltigste.«

»Was willst Du also?« fragte die Liwûna rauh.

»Ich will«, erwiderte der Kaidôh scheu, »eine vereinfachte Welt. Und mit der will ich zusammen eins werden.«

Und Kaidôh fühlte wieder seinen Rumpf unter sich – aber seine Fäuste schienen ihm noch weiter entfernt zu sein – seine Arme standen steif im rechten Winkel zum Körper.

»Eine einfache gewaltige Stunde!«

Also schrie Kaidôh in gräßlicher Angst.

Und die Knotenschlange verschwand.

Alles wurde dunkel.

»Ich will sterben«, flüsterte der große Riese, »denn das Leben ist zu schwer zu ertragen. Der rasende Wirrwarr ist zu groß. Man verliert zu oft den Kopf, und Alles wird sinnlos. Und ich sehne mich doch nur nach der gewaltigen Stunde – und die finde ich doch nur – wenn ich sterbe.«

Seine letzten beiden Worte klangen dumpf hallend durch die Finsternis, und ferne Echos riefen höhnisch zurück:

»Ich sterbe! Ich sterbe!«

Und er fliegt lange dahin ohne jeden Gedanken – in die Finsternis.

Dann aber fühlt er, daß er nur mit Mühe weiter kann. Er muß stehen bleiben.

Er versucht, die Fäuste aufzumachen und die Finger auszuspreizen, als wenn er Halt suchen möchte – da er ja keinen Boden unter den Füßen fühlt.

Und er kann die Fäuste aufmachen; es geht so ganz allmählich.

Und ihm ist so, als hänge er in der Finsternis.

Und er weiß nicht, wo er ist.

»Ich wußte«, sagte er, »allerdings niemals, wo ich war. Das weiß ja Keiner. Daran muß man sich gewöhnen.«

Winde pfeifen um seine Ohren.

Und bald braust ein Sturm heulend durch die finstre Welt.

Es dröhnt in der Ferne, als würden gewaltige Schlachten geschlagen, und es knattert, als platzten große Granitsterne entzwei. Und dazu pfeift es gellend in keifenden hohen Tönen. Und es knallt und faucht und stöhnt und rasselt. Und es knistert, als flögen brennende Funken durchs All. Und dann bricht was Großes zusammen, daß Milliarden Scherben durcheinander splittern.

Und bei alledem ist es stockfinster.

Und dem Kaidôh wird das Sturmgetöse unerträglich, er ruft weich:

»Liwûna! Das ist zu viel! Mach den Sturm einfacher! Mach ihn zur Musik mit Melodieen, denen ich folgen kann.«

Und der Sturm wird zur Musik mit langen weichen Tönen.

Unzählige Geigen erklingen und wiegen sich und schaukeln sich und schwirren, und die Töne dehnen sich aus und schwellen an und jubeln auf und klagen und summen und ziehen wieder hinaus in die Ferne in langen Zügen – in die Unendlichkeit hinein.

Und Kaidôh wird von so vielen Empfindungen bestürmt, daß er sie nicht auseinanderhalten kann und unter dem Wirrwarr der Empfindungen ebenso leidet wie unter dem rasenden Sturmgepolter.

Der große Riese glaubt, die Musik wolle die Unendlichkeit auflösen, er aber kann alles Unendliche nicht mehr ertragen. Er flüstert wieder wie zu sich selbst: »Auch das ist zu schwer für mich!«

Und dann sagt er, wie die Gegenwinde immer weiter anschwellen und ihn immer weiter fortzuziehen suchen: »Liwûna, gieb Worte dazu!«

In der dunklen Ferne sieht er einen langen dünnen Stab – gebildet aus lauter blutroten Rubinen – auf- und niedersteigen – auf- und niedersteigen – wie ein Taktstock.

»Das ist ein Scepter!« hört er die Liwûna neben sich sagen.

Er wundert sich nicht, daß sie das neben ihm sagt, während doch das Scepter so weit weg ist. Er will nur noch Worte hören.

Und er hört Worte.

Viele Männerstimmen singen.

Das Erste versteht er nicht – es ist ein vielstimmiger Gesang – und sehr gedämpft ist er.

Wie sie aber lauter singen, versteht er – diese Verse:

Wir mußten neulich so furchtbar lachen:
Ein Alter sprach so voll Herzeleid;
Er wollte die herrlichsten Verse machen
Zum Lobe der tiefen Unendlichkeit.
Ihm aber gelang nicht das kleinste Gedicht,
Und dazu schnitt er noch ein Gesicht,
Als wenn die Unendlichkeit böse wär.
Ach Alter, wo kamst Du eigentlich her?
Mach Dir doch nicht das Leben so schwer.
Was machst Du bloß für Sachen?
Man muß ja so furchtbar lachen.

Die Geigen summten weiter, doch die Töne schließen sich nicht mehr zu Melodieen zusammen.

Liwûna sagt:

»Du hörst nur Kopfnaturen in der Finsternis.«

Kaidôh denkt an die schlafenden Sternriesen und findet es seltsam, daß er selbst so lange ohne Schlaf durch die Welt schwebte. Er vergleicht das Sterben mit dem Einschlafen, wird aber durch ein Trompetengeschmetter aufgestört. Helle Hörnerklänge jubeln dazwischen. Die Geigen sind nicht mehr zu hören.

Mit einem Male wirds still, und tiefe Männerstimmen sprechen im Chor:

Diese ganze Welt ist nur Sein Alltagsmantel,
Und wir Alle sind nur schlechter Zwirn.

Tausend Echos hallen die Worte auf allen Seiten wider. Und es erklingen helle Glocken in einer lustigen Klimpermelodie. Dem Kaidôh kommt das Geklinge so bekannt vor. Tiefe Frauenstimmen singen dazu:

Du kannst die ganze Welt verstehen,
Wenn Du vermagst, sie schweigend anzusehen.
Doch rufst Du dabei mal: Ich habs!
So kriegst Du einen derben Weltenklaps.

Kaidôh will lächeln, denn er sieht ja nichts.

Er bleibt finster.

Die Glocken verstummen.

Eine tiefe Baßstimme, die so knarrt, spricht vertraulich in Kaidôhs nächster Nähe:

Umfangreich sind die Weltengräber,
Aber wen verblüfft das noch?
Jeder schneidige Alldurchstreber
Findet unten doch ein Loch
In dem großen Grabestrichter.

Es bleibt nach diesen Worten ein fernes Brummen wie von Bienenschwärmen in der Finsternis, und Kaidôh denkt wieder an den Schlaf und möchte träumen. Und er träumt von weiten Wunderländern, die er noch nie gesehen hat, und ihm ist plötzlich so, als offenbare sich ihm plötzlich das ganze Allwesen, und es durchrauscht ihn; es wird ihm Alles so klar – traumklar.

Da weckt den Träumer ein zwitscherndes Flötengedudel, und lachende Kinderstimmen singen zu den Flötentönen:

Groß ist das Weltensein!
Alles gehört hinein.
Gestern noch kam ein Kind,
Schrie wie ein wilder Wind,
Pries den ganzen Weltenlauf,
Blies sich dabei drollig auf,
Tat, als läge jede Note
Fein seciert auf seiner Pfote,
Und sprach von einem Wunderland,
Das allen Weisen unbekannt,
Als wärs fürwahr sein Vaterland.
Wir sagten: So – so – so!
Du bist recht zauberfroh!
Und das Jenseits war seine Mütze.
Das Bekannte nannte er Pfütze.
Kindchen, laß das Schreien bleiben,
Sonst wird Dich ein Floh vertreiben.

Und die Flöten dudeln – und entfernen sich nach allen Richtungen.

Es steckte eine Marschmelodie in den Versen.

»Köpfe können doch nicht marschieren!« sagt Kaidôh.

Er wagt es nicht, noch einmal zu träumen.

Tiefe Frauenstimmen sprechen im Chore:

Dunkel bleibt uns immer was.
Doch es giebt ein Träumen
Über allen Räumen.

Nachdem die Echos auf diese Worte lange nachgehallt haben, ist das Bienengebrumm abermals zu hören.

Es wird etwas heller.

Dumpfe Pauken dröhnen in der Ferne, und Trommeln rasseln wie Ketten, und zu dem Getöse singen viele Stimmen schreiend durcheinander:

Jede tolle Narrenpein
Wird ja wohl notwendig sein.

Diese Verse werden sieben Mal wiederholt, und die Stimmen – es sind lauter Knabenstimmen – schreien jedesmal lauter, sodaß der Gesang schließlich zum Gekreisch wird, das schließlich in Gewimmer umkippt und dann plötzlich weg ist.

Und nun wirds allmählich hell.

Und Mondlicht umfließt den großen Kaidôh.

Es wird so still, daß Kaidôh sein Herz klopfen hört.

Mit weit ausgebreiteten Armen dreht sich der Riese langsam um sich selbst.

Und er sieht in der Runde in sieben tiefe Schluchten, in denen Nebelschatten geisterhaft auf und nieder gleiten. Im Mondenschein glänzen die Nebel wie bewegte Schleiergebilde – wie geisterhafte Rauchgewänder.

Hier ist Alles so ruhig wie auf einem Friedhof.

Zwischen den Schluchten liegen große Bergnasen im hellen Mondenschein – Gletscher, die aus unzähligen Sternen bestehen.

»Ich suchte vielleicht doch nur das Stille!« flüstert Kaidôh, und seine Augen irren über die Mondscheinpracht, und er geht ganz auf in dieser Glanzwelt, in der die Geheimnisse des ganzen Alls zu schlummern scheinen. Er vergißt sein ganzes Leben.

Und nach einer Weile spricht er fragend:

»Die gewaltigen Stunden des Lebens – sollten sie immer stille Stunden sein?«

Die Bergnasen sind ihm so nahe.

Und nun sieht er die Gletscher in zitterndem Zauberschein – so glanzreich.

»Irrsinnige Schönheit!« flüstert er zaghaft.

Und er wagt nicht zu atmen. Er dreht sich langsam, ohne es zu wollen. Und seine Augen verlieren sich in den glänzenden Gletschern, die hoch aufragen – und seine Augen verlieren sich in den Schluchten, die tief hineingehen in Nebelreiche.

Und aus den Nebeln der sieben Schluchten kommen nun sieben große Walfische – sie schwimmen in den Nebeln, als wären sie im Wasser. Schwarz und weiß schachbrettartig karriert ist das Fell der Walfische. Wie sie mit den großen dicken Köpfen aus den Schluchten heraus sind, heben sie die Schwänze hinten hoch auf, sodaß ihre Leiber krummen Schwertern nicht so unähnlich sehen.

Und nun sprechen die Walfische im Chore, während sich Kaidôh noch immer langsam mit ausgebreiteten Armen um sich selber dreht:

Ja nun wollen wir singen das lange Lied,
Das so still wie ein Schwan durch das Weltmeer zieht,
Unser Lied von der sternraumentrannten Zeit
Mit der weithinflammenden Ewigkeit.

Das klang so dunkel und schwer, als hätten die großen Tiere großes Leid zu tragen.

Nach einer längeren Pause, in der sich Kaidôh nicht mehr dreht, flüstern die Tiere – geheimnisvoll wie Mondscheinnebel:

Morgen Heute Gestern
Sind drei liebe Schwestern,
Aber nicht die Ewigkeit.
Wir aber wollten zum Herzen des Lichts
Und da die Ewigkeit umfassen.
Urplötzlich aber begriffen wir Nichts
Und mußten alles Denken lassen.

Der Riese horcht und schaut die Tiere lange an, deren weiße Hautquadrate heftig leuchten im Mondenlicht, während die schwarzen dunkler sind als alles Andre.

Sodann spricht ein Walfisch allein – seine Stimme dröhnt so wie tausend rauhe Bässe:

Als langes wüstes Träumen
Erschien uns alles Leben.
Stumpf wie altes Weltgewürm
Schwammen wir nun ohne Worte
Durch den langen Himmelsraum,
Kamen so an eine Pforte,
Deren weite Schallgewölbe
Auf Säulen ruhten, die aus Glas bestanden
Und blitzten, daß wirs überall empfanden.
Als wir nun sehr bald bemerkten,
Daß die Schläge sich verstärkten,
Riß uns die Geduld – wir schimpften;
Unsre dicken Walfischfelle brannten.

Nach diesen sehr kräftig gesprochenen Versen räusperten sich die Wale, wackelten bedächtig mit den hinten hoch aufragenden Schwanzflossen hin und her und sprachen – abermals im Chore:

Und mit vielen Donnerworten,
Die wir itzo singen werden,
Brüllten uns die Säulen an.

Dröhnend sprach hiernach der Walfisch mit der rauhen Baßstimme:

Es sangen die Säulen!

Und im mächtigsten Posaunentone sangen die Walfische, was die Säulen gesungen hatten:

Also scheuert Ihr nicht ab
Eure Weltnatur.
Diese Pforte sei für Euch
Starres Sinnbild nur
Und ein Jenseitsgruß.
Denn hier geht es zu den Weltgesichtern,
Die auch hinter allen Räumen lachen,
Und auch hinter allen Farbenlichtern
Leben aus den Sehnsuchtsträumen machen.
Zwar zu der Jenseitsherrlichkeit
Kommt ganz allein die Weltenzeit.
Die geht so leicht durch diese Pforte
Und weilt an manchem Wunderorte;
Sie hängt beinah an jeder Weltallsfalte,
Nicht nur an der, die sich mit Sternen schaukelt;
Sie ging nach vielen Seiten,
Ohne zu verschwinden,
Und pflegte fortzuschreiten,
Ohne wegzugehen.
Die in Räumen sich befinden,
Werden niemals das verstehen.
Es schwebet die leichte Unbekannte
Nicht über dem ganzen Allgewande,
Doch hat sie viel davon gesehen.
Wollt Ihr das Ganze sehen, seht Ihr Nichts,
Wollt Ihr das Ganze hören, hört Ihr Nichts.
Ihr schwimmt im räumlichen Faltenschooß
Und wißt von Formen und Farben bloß.
Und die andren Höhen Weiten und Tiefen,
Die im Allgewande wachten und schliefen
Und weder Höhen, noch Weiten, noch Tiefen sind –
Für Euch sind sie nicht da.
Ihr wißt nicht, was geschah.
Was wißt Ihr von dem Ganzen?
Mit dem könnt Ihr nicht tanzen.
Doch hier vor unsrer Säulenpforte
Entwickelt sich ein Ahnungsspiel
Von andrer Sinne Sehnsuchtsziel.
Atmet doch in jedem Augenblick
Noch manches andre Weltgeschick,
Das weder Lichter noch Schatten kennt
Und nicht vom Einen zum Andern rennt.
Und jede selige Stunde
Wird von dem Ahnungsspiel durchglänzt,
Daß eure Sehnsuchtsallkunde
Sich licht- und schattenlos ergänzt.
Ja, nur Zeit und Ewigkeit
Stehn mit einem Bein in andren Sphären,
Des Gewürmes Wenigkeit
Soll in Sehnsucht sich verzehren
Und ein Ahnungsspiel gebären.
Diese Pforte sei für Euch
Starres Sinnbild nur
Und ein Jenseitsgruß
Von der Allnatur
Mit den Faltengebilden
Aus den Rauschglanzgefilden.

Nach diesem langen Gesange rufen die Wale sämtlich, als wär ihnen ein Stein vom Herzen gefallen:

Schluß!

Es steckte viel Trutzigkeit in diesem kleinen Wort.

Und die sieben Wale im karrierten Fell kommen mit ihren dicken Köpfen dem Kaidôh in Brusthöhe ziemlich nahe, sodaß die Köpfe einen Kranz um seinen Oberkörper bilden. Während sich nun Kaidôh mit ausgebreiteten Armen um sich selber dreht, streichen seine Hände, ohne daß ers will, über die Köpfe der Wale.

Und die Wale sinken nach dieser Berührung langsam in die Tiefe, in der ein blutrotes Rubinmeer funkelt. Die blutroten Rubine sind natürlich lauter große Sterne.

Kaidôh kann nicht den Kopf bewegen und sieht so nichts von dem Meere. Er hört nur unten die Wale noch einmal singen.

Der Gesang klingt so lächelnd.

Die Wale singen:

Nun schwimmen wir wieder ohne Begehren,
Wir ahnen der Welten Sehnsuchtsziel –
Und wollen uns Garnichts weiter erklären,
Wir bleiben beim großen Ahnungsspiel.
Und tun wir auch vielen Skorpionen leid,
Wir sind doch die Weisen – im Narrenkleid!

Es hallt lange in den Schluchten nach.

Die Wale tauchen im Rubinmeere unter, und klatschend schlagen die Rubinwogen über den schwarz und weiß karrierten Leibern zusammen. Ein Brausen steigt empor und weckt in den Schluchten dumpfes Donnergetöse.

Kaidôh reißt weit seine beiden Augen auf, daß sie leuchten wie Phosphorsonnen und aussehen, als sähen sie Unsägliches.

Der Mondschein zergeht. Oben im Himmel erscheinen viele Sterne. Und ganz hinten über den sieben Schluchten erscheinen sieben ungeheure Sternriesen mit Raketenarmen und unzähligen Köpfen, die goldene Hörner haben und bunte Brillantenaugen. Die Leiber der Riesen sind goldene und silberne Astknorren, um die sich Opalschlangen winden. Und Alles funkelt und glitzert. Die blauen und roten und grünen Sternfarben brennen gewaltig in die Nacht hinauf.

Die Bergnasen und die Schluchten sind dunkelbraun und nicht sehr hell.

Kaidôh sagt leise:

»Nun will ich das Letzte!«

Da spricht der Sternriese, der zuerst erschien:

Ja! Wir Großen preisen nie das Letzte,
Denn das Letzte giebt es nicht.
Wen das Unbegreifliche verletzte,
War noch nie ein Rauschgedicht.

Kaidôh versucht, seine Arme zu heben, und will damit sagen, daß er auch das Unbegreifliche empfangen wolle mit weit offenen Armen.

»Es muß aber doch einen Abschluß geben!« ruft er heftig beim Armheben aus.

Und der zweite Sternriese erwidert ihm:

Das Unaufhörliche durchlacht auch diesen Raum,
Und nur ein Farbenspiel ist jeder Todestraum.

Kaidôh bemerkt, daß die Sternriesen ganz einfach sprechen – trotz ihrer vielgestaltigen Körper. Und er fühlt, daß ihm die einfache Sprache der Sternriesen so wohl tut – er wollte ja das Einfache.

Nun wird ihm die ganze Welt immer einfacher.

Und er will nur noch das, was doch geschieht.

In seiner Nähe weilt wieder seine Liwûna. Wohl sieht er sie nicht, jedoch er fühlt sie wie einen kühlen Luftzug, und sie spricht feierlich:

»Jetzt kann ich Dich verlassen.«

Und sie tut, wie sie sagte.

In der Ferne hört er sie noch einmal in schweren Tönen rufen:

»Kaidôh! Kaidôh!«

Er will sie noch einmal sehen und ruft:

»Liwûna!«

Indessen – nur Echos antworten in der Ferne.

Die Echos wollen garnicht aufhören, rufen immerzu:

»Liwûna! Liwûna!«

Wie die Echos nur noch ganz schwach aus der weiten Ferne über die Berge herübertönen, spricht Kaidôh still zu sich selbst:

»Ist Liwûna ein Echo geworden? Ein Allecho? Ein Sehnsuchtsallecho?«

Und er denkt über die Sehnsucht nach und möchte wissen, ob ihre Macht so weit reicht wie Zeit und Ewigkeit.

Und der dritte Sternriese giebt ihm Antwort – in leichten Worten – diesen:

Nur wo immer viele Dinge
Gründlich sich verändern sollen,
Fühlt die Sehnsucht sich zu Hause.
Ist der Wandel der Erscheinung
Gründlich eingeleitet worden,
Macht die Sehnsucht, daß sie fortkommt.

Kaidôh hebt seine Arme höher und versucht die Finger noch immer weiter auszuspreizen – ihm ist, als würden sie immer länger.

Und er fühlt sich so frei.

Er spricht nach ein paar stillen Augenblicken hart und deutlich:

»Der Schatten ist fort. Nun ist Alles einfach. Ich bin allein.«

Und der vierte Sternriese flüstert, daß es zischt:

Doch glaube nicht,
Daß dies das Letzte sei.
Dem Letzten folgt
Noch immer Mancherlei.

Aus den Schluchten dringen Töne an sein Ohr, die er nicht versteht – sie sprechen von Tod und Einsamkeit – von rasendem Rausch und festlichem Zusammenbruch. Und die Töne stören den großen Kaidôh; er empfindet, daß er bereits in seiner gewaltigen Stunde lebt – und er empfindet gleichzeitig schmerzlich, daß dem Gewaltigen noch etwas fehlt – daß es noch nicht voll ist – daß ers noch nicht vollendet nennen kann.

Er hebt die Arme höher und höher.

Es wird heller auf den Bergnasen und in den Schluchten, die den großen Kaidôh wie Radspeichen anmuten.

Und der fünfte Sternriese brüllt heftig:

Es giebt auch keine vollendeten Sachen;
Die Kugeln drehen sich zu viel,
Die Weisen müssen zu viel lachen.

Ein Ahnungsspiel entwickelt sich vor Kaidôhs Augen; er bildet sich ein, Geister zu bemerken und diese Geister mit Sinnen wahrzunehmen, die er bislang nicht gekannt und nicht besessen hat. Und er hat die Überzeugung, tiefer ins All blicken zu können, und es durchzuckt ihn: er erkennt in der Tiefe des Alls einen großen Riesen, der ganz allein da sitzt und sich nicht rührt. Und er hält diesen einsamen Riesen für die große Ruhe, die da kommen soll in dem Reich, das weder Licht noch Schatten kennt. Und er bildet sich trotz Allem wiederum ein, das Ganze verstanden zu haben.

»Er ist allein und ruhig!« sagt Kaidôh.

Aber der sechste Sternriese brüllt wie ein Donnerwetter:

Auch in jenem Jenseits,
Das wir hinter Licht und Schatten wissen,
Ist die große Welt kein Ruhekissen;
Das Unaufhörliche kann nie vollendet sein.
Durch Schlaf und Tod gehts nur zu neuer Lebenspein
– Aber auch zu neuer Lebenslust –

Kaidôh hebt die Arme ganz hoch, daß sich seine Hände hoch überm Kopfe beinahe berühren.

Er wartet auf einen Augenblick, der gewaltiger ist als alle andern.

Die Sternriesen verblassen allmählich.

Die Bergnasen kommen noch näher.

Der siebente Sternriese spricht – mit abgewendeter Stimme:

Wo du auch hinüberfliehst,
Niemals kommst du an das letzte Ziel!
Preise jede Welt und auch die Sterne.
Alles, was du hier so siehst,
Ist ja nur ein feines Lichterspiel,
Eine große Wunderweltlaterne.

Und Kaidôh fühlt, während die Bergnasen immer näher und näher kommen – auf seinen Fingerspitzen und auf seiner Kopfhaut einen scharfen Druck.

Und er fühlt Boden unter seinen Füßen.

Rauschende Lichtfülle bricht hernieder und macht die Bergnasen und die Schluchten ganz hell – so hell, wie's tausend Sonnen kaum vermögen.

Kaidôh ist nicht geblendet: er sieht seine Welt in einem neuen Licht.

Die Bergnasen sind keine Gletscher mehr, es sind bunte Fliesenterrassen mit bunten Wasserfällen und bunten Springbrunnen, mit Blumenhecken und spiegelnden Teichen, mit Turmkanten Galerieen Säulenhallen und blanken Treppen.

Ein glänzendes Fliesenreich!

Da sind keine Häuser, die Kaidôh nicht mag, da sie an schwerfällige Schnecken und Schildkröten erinnern.

Und doch bildet das Ganze ein großes Bauwerk mit sieben Terrassennasen und mit sieben Terrassenschluchten.

Und Kaidôh jauchzt.

Diese Welt ist einfach.

Mit dieser einfachen glänzenden Terrassenwelt kann er sich verbinden – mit all den bunten Fliesen, die so einfach sind, kann er Eines werden.

Und er wirft den Kopf ins Genick – das geht langsam nur – doch es geht.

Die Sternriesen sind unsichtbar.

Der Himmel ist dunkelblau und so voll leuchtender Strahlenglut – wie ein ewiges Rauschdach.

Und Kaidôh sieht oben aus seinen Fingerspitzen weiße Flammen herausflackern.

Und er fühlt, daß seine Hände brennen.

Und er jauchzt.

Er fühlt seine Hände nicht mehr – er fühlt Fliesenterrassen.

Und seine Arme brennen.

Und es brennt seine Stirn – und er sieht nicht mehr mit seinen alten, großen Augen.

Unter seinen Fußsohlen fühlt der brennende Kaidôh Eiseskälte – das Rubinmeer ist gefroren.

Weiße Flammen lodern um Kaidôhs ganzen Leib.

Aber nun beginnt ein neues Sehen und ein neues Fühlen für den großen, lodernden Kaidôh – er sieht mit Fliesenaugen in die hohe Welt – und er fühlt mit den sieben Terrassennasen.

Während sein Riesenleib in hell blitzenden weißen Lichtflammen verbrennt, verbindet er sich mit den sieben Terrassennasen und mit den sieben Terrassenschluchten.

Und er schaut anders in die hohe Welt – als ein buntes einfaches Fliesenrad.

Und die Eiseskälte unter seinen Füßen zerfließt – er geht ganz auf in dieser vereinfachten Welt.

Die Bergnasen mit den Schluchten erwachen zu einem neuen Leben – und ihnen ist so als hätten sie lange geträumt.

Und das ganze Rad dreht sich und funkelt – und schwankt nun mit den sieben Sternriesen zusammen hin und her – hin und her – hin und her.

Das ganze Rad dreht sich und funkelt.

Die Sternriesen drehen sich langsam mit und funkeln auch.

Und das Rad schwankt mit den sieben Sternriesen zusammen hin und her und schwebt dann weit hinüber in die Nacht hinein, daß die ganze lichtrauschende Weltblüte bald so klein erscheint – – wie ein einfacher Lichtpunkt.


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