Paul Scheerbart
Liwûna und Kaidôh
Paul Scheerbart

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Paul Scheerbart

Liwûna und Kaidôh

Ein Seelenroman

Es schneit Jasminblüten.

Und ich schwebe in dem Jasminblütenschnee ganz langsam, als hätte ich Zeit – viele Tausend Jahre nur so hinzuschweben in duftenden Blüten.

Betäubend ist der Duft, und es ertönt unter mir lautes Gelächter – das wird immer stärker – so stark wie wildes Donnern.

Der lachende Donner wird aber bald schwächer und verhallt in der Tiefe.

Und ich höre nichts mehr von dem großen Lachen.

Es verschwinden auch die Jasminblüten – die letzten fallen schnell hinunter.

Der Vollmond scheint mir ins Angesicht. Ich schwebe zwischen weißen flockigen Wolken, die ebenso vom Vollmonde beschienen sind wie mein Angesicht, höher und höher.

Es geht immerzu hinauf, und es geht so leicht; ich brauche nur die Fußzehen zu bewegen.

Der Mond wird kleiner und geht zur Seite als kleiner Stern.

Und dann sehe ich nur noch Sterne – über mir – unter mir – und überall.

Schwarz ist der Himmel, und die Sterne sind alle zu sehen – auch die kleineren.

Ich schwebe leicht durch die unzähligen schimmernden Sterne durch – weiter hinauf in die dunkleren Räume, in denen nicht mehr so viele Sterne leben.

Es ist da so kühl.

Und mir ist so, als schwebe was neben mir.

Es sind leichte feine Gewänder – weiße – zarte.

Und ich frage leise:

»Wer ist bei mir?«

Und ich höre eine ferne Stimme sagen:

»Dein Weib ist bei Dir – die Frau, nach der Du Dich gesehnt hast so lange lange Zeit.«

Und ich antworte still:

»Ich erinnere mich garnicht mehr, daß ich mich mal nach einem Weibe oder nach einer Frau gesehnt habe. Das hab ich wahrhaftig beinahe vergessen.«

Im weiten dunklen Himmel werden jetzt Farben wach.

Mit verwehten olivgrünen Wolkenschleiern beginnt es. Hinter den Schleiern entstehen dunkelgrüne Flecke, die rund werden und bald kleiner und bald größer erscheinen. Und flockiges rosa leuchtendes Gewölk sinkt von oben dazwischen und hängt bald wie zerzauste Watte da – so still wie alte Träume.

Aus allen Wolken fallen Bänder, die sich ringeln und immer dünner werden – so dünn wie Haare. Blond sind die Haare; sie verlieren allmählich das Krause und hängen sich in schlaffen Strähnen über die dunkelgrünen runden Scheiben, die starren Augen gleichen. Die olivgrünen Wolkenschleier schwanken, als wärens Schaukeln. Das rosa leuchtende Gewölk hängt dazwischen ganz ruhig. Die blonden Haare zittern vor den grünen Augen.

Neben mir sagt nun eine mir sehr bekannte Stimme:

»Weißt Du immer noch nicht, wer bei Dir ist? Blick mich doch einmal an!«

Ich drehe den Kopf und sehe eine Frau neben mir; sie hat große meergrüne Augen. Ich weiß, wer es ist. Aber ich fühle keine Erregung; es wird nur noch stiller in mir.

Wir schweben oben durch das rosa leuchtende Gewölk zusammen empor – immer höher. Sie bleibt bei mir.

Und die Farben verschwinden unter uns.

»Ich bin nicht so, wie Du denkst!« sagt sie da plötzlich.

Ich bewege heftig meine Fußzehen und fliege hinauf wie ein Pfeil; die Sterne sausen neben mir runter, als wenn sie fielen. Ich bin sehr ungeduldig.

Doch meine Begleiterin bleibt an meiner Seite. Ich fühls; es geht langsamer.

Aus dem nachtschwarzen Himmel tauchen abermals farbige Wolken heraus, diesmal sinds purpurrote und goldene Wolken; sie ziehen sich in langen Streifen rund um den Raum, sodaß ich die Empfindung habe, in einem schwarz-rot-golden gestreiften Bienenkorbe emporzuschweben.

Ich drehe meinen Kopf meiner Begleiterin zu und sehe, daß sie anders aussieht. Ihr Gesicht ist mir allerdings wiederum sehr bekannt; heiße braune Augen und rote Backen glühen mir wild entgegen.

Ich bewege wieder meine Zehen und schieße oben aus dem Bienenkorbe raus.

Doch meine Begleiterin schwebt an mir vorbei, und ich erschrecke.

Sie ist jetzt so furchtbar groß und üppig wie eine Riesendame auf Jahrmärkten.

Sie schwebt dicht vor mir, und ich höre, wie sie leise sagt:

»So küß mich doch!«

Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, ich sehe nur ihren breiten weißen Nacken und zwei lange braune Zöpfe, die auf einem gelben Seidenkleide hin- und herpendeln.

Ihr Kopf ist mit meinem Kopf in der gleichen Höhe, und ich komm ihrem Rücken ganz nahe und greife mit der Linken in ihren vollen Arm. Doch die Hand geht gleich durch ihren ganzen Leib, und die Riesendame lacht wie ein Kobold.

Und sie sagt lachend:

»Ich bin doch nicht aus Fleisch und Blut. Was fällt Dir denn ein? Ich bin doch Liwûna. Und Du bist doch Kaidôh. Weißt Du das noch nicht?«

Ich muß lächeln und erwidre traurig:

»Also Kaidôh bin ich? Na ja, ich ahnte ja stets, daß ich was Andres sei.«

»Natürlich!« ruft sie, »sonst könntest Du doch nicht so fein fliegen. Wir sind Beide aus sehr feinem Stoff; Luft ist plump wie Blei dagegen. Paß auf, was Deine lustige Liwûna machen kann.«

Dabei dreht sie sich um, zieht aus der Rocktasche ihres gelbseidenen Kleides zwei große Gewichte hervor, die viele Centner schwer zu sein scheinen, und hantelt mit den Centnergewichten, daß ihr die blauen Adern auf der Stirn und an den Schläfen anschwellen.

Ich frage sie, was das soll.

Da tun sich die Centnergewichte auf, und es fallen lauter Botokudenregimenter mit Schornsteinfegern untermischt aus den Gewichten heraus. Die Kerls sehen so klein und drollig aus, daß ich herzlich lachen muß.

»Gefall ich Dir jetzt endlich?«

Also fragt sie nun sehr rauh.

Und ich muß noch mehr lachen, bewege aber gleichzeitig wieder meine Zehen, um höher zu kommen.

Die Riesendame verschwindet unten, und ich denke mir, daß sie nicht so schnell fliegen kann – da sie ja so dick ist.

Doch ich irre mich, denn ich fühle sehr bald, trotzdem ich mit rasender Hast höher steige, ihre Nähe wie zuvor.

»Du entfliehst mir doch nicht!« flüstert sie hinter mir – mit einer ganz anderen Stimme.

Ich drehe mich rasch um und blicke in ein kleines feines sanftes Gesicht mit grauen Augen, die so ernst und milde mich ansehen – wie ein guter Geist.

Und sie flüstert:

»Ich will so sein, wie Du es willst. Ist Dir das noch immer nicht genug?«

Es liegt so viel Sehnsucht in diesen Worten, ich werde weich und sage sanft:

»So schaff mir neue Welten – ganz neue, die ich mir noch niemals ausgedacht habe und auch gar nicht ausdenken kann.«

Und ich höre die Liwûna erwidern:

»Liwûna tut Alles.«

Und dann verläßt sie mich.

In der Ferne höre ich sie rufen:

»Kaidôh! Kaidôh!«

Es wird Alles dunkel und zuletzt ganz schwarz vor meinen Augen.

Das Schwarze bleibt lange.

Allmählich wirds aber drüben an einer Stelle heller, und ich sehe einen Stern – der sieht aus wie ein riesiger Diamant mit tausend feingeschliffenen Ecken und Kanten.

Und der Sterndiamant dreht sich um sich selbst.

Und seine Farben brennen.

Mächtige prächtige Lichtkegel in allen möglichen Farben drehen sich zuckend und zitternd durch die schwarze Nacht.

Und die Farben brennen sich mir ins Auge, daß ich geblendet werde.

Diamantenbrand!

Ein buntes ecken- und kantenreiches Farbenfeuer mit glitzernden Flächen, die sich immerfort durcheinander schieben.

Und die spitzen Funken sind so grell.

Ich muß die Augen zumachen.

Ich halts nicht aus.

Ich fühle, daß Liwûna mich fortzieht – ich bewege krampfhaft die Zehen.

»Du kannst das nicht aushalten«, sagt sie mitleidig.

Und ich werde sehr unruhig; Angstgefühle klemmen mir die Brust zusammen.

»Ich kann das nicht aushalten«, spreche ich tonlos nach.

Wir schweben weiter. Ich kneife die Augen fest zu; sie tun mir weh. Und dann bitte ich die Liwûna, mir andre Welten zu zeigen, die ich wenigstens ansehen kann.

Sie redet mit sanfter Stimme lange Zeit auf mich ein, und ich wage es danach, wieder die Augen zu öffnen.

Ich schwebe in einem zerklüfteten schwarzen Gebirge. Die steilen Felswände sind so hoch, daß ich oben Stein und Himmel nicht mehr unterscheiden kann. Der Himmel wird immer dunkler. Und unter uns ist alles sehr tief, und in der Tiefe ziehen sich graue Nebelstreifen wie Schlangen hin.

»Langsam!« ruft mir meine Begleiterin zu.

»Ich weiß«, fährt sie fort, »daß Du Etwas suchst, aber ich weiß auch, daß Du noch nicht weißt, wie das aussieht, was Du suchst.«

»Ja«, versetz ich rauh, »ich weiß nicht, was ich suche. Daß ich aber Etwas suche, das weiß ich. Ich suche!«

Es umweht mich kühlende Luft. Liwûna sehe ich nicht, ich fühle nur ihre Nähe – und das tut sehr wohl.

Da entdecke ich in der schwarzen Felsenwand einen Spalt, der hell ist. Ich nähere mich dem Spalt und blicke in ein grünes Wunderreich.

Lauter grüne Pilze! Sehr große Riesenpilze mit wunderlichen Pilzdächern – gezackten und gespreizten! Und auch viele kleinere Pilze in allen denkbaren Grüns. Viel giftiges und viel glänzendes Grün – helles und dunkles – totes Grün und ein Grün, das so voll echter Lebensgier ist. Diese grüne Welt kann ich ruhig anschauen. Das Auge wird beruhigt durch das viele Grün.

Kleine weiße Elephanten mit hellgrünen Libellenflügeln fliegen emsig von Pilz zu Pilz. Und es strömt überall ein scharfes Licht aus dieser grünen Pilzenwelt. Die weißen fliegenden Elephanten krümmen drollig ihre Rüssel, als wenn sie lachen möchten. Sie lachen aber nicht – ich kanns wenigstens nicht hören. Vielleicht lachen sie innerlich – wie die falschen Narren.

Ich wende mich ab und schwebe weiter durch eine große schwarze Schlucht.

Die schwarzen Felsen sind nur ganz matt erleuchtet. Das Licht kommt aus der Tiefe, in der sich die grünen Nebel zusammenballen wie Fäuste. Oben sind keine Sterne. Der Himmel ist so schwarz wie die Felsen.

Ich möchte hinaus aus der schwarzen Schlucht. Liwûna will aber nicht. Sie hat jetzt ein so gelbes glattes hartes Antlitz, als wärs aus Elfenbein. Und sie zeigt mit der Rechten auf ein rundes Loch in der Felsenwand. Ich sehe durch und – wieder was Andres.

Da drinnen ist Alles bunt und glitzernd. Eine Glanzwelt! Blumen sinds nicht, Blätter auch nicht. Es sieht aus, als seien da Milliarden Schmetterlingsflügel durcheinander geschüttelt. Es sind aber keine Flügel, denn Alles scheint sehr dick zu sein. Die blauen und roten Töne sind so verschiedenartig wie die violetten und gelben. Und sie sind gleißend hell wie durchsichtiges Email, das ich so liebe. Und die Muster sind zierlich verschnörkelt mit krummen Hörnern und gekräuselten Bändern. Goldene Riesenkäfer kriechen über die Emailwälder. Die Käfer kriechen bloß, fliegen nicht.

»Suchst Du immer noch?«

Also fragt neben mir die Liwûna.

Und ich weiß nicht, ob ich noch suche.

Mir ist wie in einem wirren Traume. Ich habe so viel vergessen, und ich möchte doch so viel behalten.

Liwûna ruft drohend:

»Kaidôh! Kaidôh!«

Ich schrecke zusammen und taste mit den Händen um mich, doch ich fühle nichts. Auch der schwarze Stein läßt sich nicht anfühlen; die Hände gehen ohne Empfindung durch. Ich kehre der Glanzwelt den Rücken, bewege wieder die Zehen und schieße in die Höhe – immer höher – aber aus der schwarzen Felsenschlucht komme ich nicht raus. Plötzlich giebts einen Krach, und auf allen Seiten fällt was runter, und ich habe das Gefühl, daß alle schwarzen Felsen in die Tiefe fallen.

Und ich blicke in eine Spiegelwelt.

Lauter Spiegelwände! Grade und krumme Spiegel – in verschiedenen Winkeln stehen sie zu einander. Oben sind auch Spiegel kantenreich durcheinander gestellt – unten nicht.

Ich sehe Liwûna in den Spiegeln viele Tausend Mal. Sie hat noch ihr Elfenbeingesicht – grüne Augen funkeln darin. Sie starrt mich an allen Ecken und Enden wie eine richtige Medusa an.

Neben der Liwûna erblicke ich ein anderes Wesen.

»Das ist Kaidôh!« sagt sie neben mir.

Kaidôh sieht ernst aus und hat eingefallene Augen, die grau sind, vergrämt und ruhlos umherschweifen wie die Augen der Diebe.

Kaidôh nickt der Liwûna zu und spricht zu ihr in all den Tausend Spiegeln.

Was spricht Kaidôh?

Seine Stimme tönt hell und splitternd – es ist aber nur eine einzige Stimme.

Er sagt langsam und hört sich dabei:

»Das Glück ist stets in dem Andern. Deswegen müssen wir der Andre werden. Wir müssen nach dem Andern suchen. Wenn wir suchen, ohne zu wissen, was wir wollen, so suchen wir immer ein Andres – das ist das Unbekannte – das Fremde – das ist es, was wir herbeisehnen. Und wir sehnen uns nach der großen Überführung. Für gewöhnlich verstehen wir uns nicht. Es ist jedoch kein einfaches Hinübergehen – wir müssen hinübergeführt werden – ins Andre hinübergeführt werden – von dem Geist, der uns immer begleitet. Das Eigene müssen wir vergessen – aus uns herauskommen – nur dadurch kommen wir in uns hinein. Eine sehr drollige Geschichte – aber auch eine sehr ernste – so schauerlich ernst wie der Unsinn, der uns als Wahrheit erscheint. In den Spiegelwelten sehen wir die Wahrheit im Unsinn und auch den Unsinn in der Wahrheit. Alles ist verzerrt und verschoben – Fratzenreich! Aber so ist immer die Welt, wenn sie sich uns von sehr vielen Seiten zeigt. Wir müssen sie im Ganzen fühlen – fühlen – im Ganzen.«

Liwûna führt den Kaidôh fort, streichelt seinen Kopf, der ihm weh tut – so furchtbar weh. Kaidôh weint – weint.

Liwûna weint mit – in allen Spiegeln.

Und sie führt ihren Kaidôh weiter durch die schwarze Schlucht, die wieder da ist – durch die schwarze Felsenschlucht, in der keine Sterne leben – in der nur ein graues Dämmerlicht heraufdringt aus der Tiefe – aus den Nebeln, die da leuchten.

Und die Liwûna führt ihren Kaidôh hinunter in das stille Nebelreich, in dem die großen Schläfer träumend schlafen.

Das Reich der Schläfer ist sehr sehr groß. Sie liegen unten unter den Nebeln mitten in der freien Luft – umhüllt von feinen perlgrauen Schleiern. Die Nebel bilden den Himmel der Schläfer. Sie liegen neben- und untereinander – aber berühren tun sie sich nicht. Die Luft ist ihr Bettzeug. Die feinen perlgrauen Schleier hängen schlaff wie die Zweige der Trauerbirken; einige Schleier zittern und bewegen sich, als würden die Körper von tiefen Seufzern durchzogen.

Es schlafen da Riesen und Zwerge und Wesen mit seltsamen Gliedern, Tiere mit tausend Köpfen und Kinder mit einem Kopf, der größer ist als ihr Leib. Alle schlafen und träumen – einzelne schnarchen ein bißchen – doch nicht zu laut. Zuweilen bewegt sich ein Fuß oder ein Arm. Lange Haare hängen an manchem Haupt – und die Haare bewegen sich – ganz wenig im Takte wie die langen Perpendikel alter Uhren. Es ist so still im Reiche der Schläfer.

Und die Liwûna erzählt ihrem Kaidôh von den Träumen der Schläfer, und sie führt ihn dorthin, wo Kinder und Knaben träumen. Und die Beiden legen sich über den Träumenden genau so in die Luft wie die Kinder und Knaben.

Und leise flüstert die Liwûna:

»Alle, die hier im Nebelreiche liegen, hatten so viel geträumt – ihr ganzes Leben hindurch. Im Traume schwebten sie durch viele Sonnen Monde und Sterne. Dann aber kam eine Nacht, in der sie nicht mehr von all den Glanzwelten träumten. Ihre Freude am Traumleben war zerstört – von einer unsichtbaren Hand. Und die Nacht wurde finster. Sie lagen da in banger Pein, und ihnen wurde so schwer. Sie fürchteten sich auf einmal vor einer schweren Stunde; ihnen war so, als käme das große Schweigen heran. Und sie hatten Angst vor dem großen Schweigen – Angst vor dem großen Sterben. Und dann dachten sie an die ersten Jahre ihres Lebens – an Eltern Freunde und Frauen – an Kinder und Greise – an alte Möbel und alte Stuben, die garnicht mehr da waren – oder zerfielen wie altes Gemäuer am Meeresstrande, wenn die großen Wogen unaufhörlich gegenschlagen. Und die Gedanken an das Vergängliche machten so schwer; die schweren Hände wollten noch was greifen – aber sie wußten nicht was. In der Finsternis nur bleiche Angst und Herzenskrampf.«

Und dem Kaidôh wird zu Mute, als träume er noch einmal einen langen Kindheitstraum; in dem Traume entwickelt sich Alles sehr schnell, der Träumende wird älter und anders und empfindet zugleich, daß er das Älter- und Anderswerden nur träumt.

Und die Liwûna fährt leise fort:

»Und da packte die Traurigen, als die schweren Stunden allnächtlich wiederkehrten, ein neues Empfinden an. Sie näherten sich langsam dem großen Geiste, der überall ist – auch in ihrer Brust. In seiner Nähe fanden sie ihre alte Traumruhe wieder, und sie vergaßen ihre Angst und gaben sich in der geheimnisvollen Stille der Finsternis ganz dem Großen hin, der keinen Namen hat – der das Ewige ist – der bleibt, wenn auch alles vergeht. Ging es Dir nicht ähnlich, mein lieber Kaidôh?«

Ein paar Kinder öffnen unten ihre kleinen Fäuste und irren mit den kleinen Fingern durch die Luft.

Kaidôh träumt noch und empfindet das Verwirrende und Erschöpfende des Traumes; er möchte aufwachen, kann aber nicht – es liegt sich auch so gut und weich.

Es ist so still im Reiche der Schläfer. Kaidôh lächelt und nickt, er wundert sich, daß Liwûna so viel weiß, und während er von schwankenden Kornfeldern träumt, sagt er nachdenklich:

»Ja! Die Sehnsucht nach der zerstörten Vergangenheit ist die schwerste Sehnsucht; sie gebiert die bittersten Stunden der Wehmut. Und alles Andre, was Liwûna sprach, stimmte gut zusammen – wußte sie noch von mehr?«

Seine ganze Vergangenheit zog vor ihm vorüber.

»Ich weiß noch«, versetzte Liwûna schnell, »von Deinem lautlosen Gebet.«

»Sei still!« sprach Kaidôh, »laß uns weiter schweben. Wir wissen nicht, ob wir die Schläfer stören – sie wollen doch weiter träumen.«

Und die Beiden erhoben sich, indem sie mit den Armen um sich griffen, reckten ihre Glieder und verließen das Nebelreich – schwebten empor und weiter durch die schwarze Schlucht, in der die Dämmerung so schwer an den Steinen hing wie die schweren Stunden, in denen Alles zu Ende zu gehen scheint.

Kaidôh klagte über die Schwere.

Da wandte sich Liwûna zur Rechten und schwebte durch ein gewaltiges Felsentor.

Kaidôh folgte.

Und blaues Licht umfloß die Beiden.

Das blaue Licht leuchtete wie Geisteraugen. Aber es umfloß nicht bloß Liwûna und Kaidôh – es hing sich auch an viele schwebende Köpfe, die wie blaue Schneeflocken aus der Lichthöhe herunterrieselten. Die schwebenden Köpfe waren auf der Schädelplatte sehr stark behaart, und alle hatten Vollbärte, die den ganzen Hals verdeckten. Und das blaue Licht hing an den Köpfen, als ob es sie herunterzöge.

Liwûna sagte, das wären lauter Denker – große Denker – weises Volk! Und in den Haupthaaren der Denker fing es plötzlich zu brennen an; buttergelbe Flammen schlugen aus den Hirnschalen heraus, und durch die brennenden Haare entstand ein großer Feuerregen – buttergelb war der. Liwûna schwebte mitten in den Feuerregen hinein; die gelben Funken rieselten knisternd um die perlgrauen Gewänder, die so dünn erschienen wie feinste Schleiergebilde.

Kaidôh erschrak; er glaubte, die Liwûna müßte gleich Feuer fangen und brennen wie die Hirnschalen der Denker.

Und besorgt flog der Erschrockene zu Hilfe.

Doch seine Freundin wandte sich lächelnd um und meinte lustig:

»So ganz gleichgültig scheine ich Dir also nicht mehr zu sein. Das freut mich. Aber Angst brauchst Du meinetwegen nicht auszustehen. Mir schadet das Feuer der Denker ebenso wenig wie Dir. Warum wunderst Du Dich nicht, daß wir garnicht Feuer fangen können?«

Kaidôh gab keine Antwort, und sie flogen rasch durch die brennenden Köpfe durch in ein großes Blumenreich.

Berauschender Duft steigt da den Beiden in die Nase. Der Himmel ist hell und weiß wie Kreide. Doch unten blühen Riesenblumen – so hoch wie Berge – Blütenkelche so tief wie Täler – Staubfäden wie schwankende Leuchttürme. An einer langen Mauer hängen Weintrauben, die so groß sind wie dicke Bündel aufgeblasener Luftballons.

Ringsum ein Urwald aus Riesenblumen!

Glockenblumen, die großen Tempelhallen ähneln! Rosenstengel, die nicht von tausend Gorillas zu umspannen wären! Lilienkelche – so tief wie Kellergewölbe in alten Burgen.

Lauter farbenstrotzende Blumenwälder unter dem weißen Kreidehimmel! Sehr viele dicke Blumen haben Blütenblätter – die sind gemustert – wie zusammengeknotete Salamander und Schlangen. Manche Blüten bestehen aus riesenhaften Schmetterlingsflügeln – faltenreich geknillt, verbogen und verschroben sind die. Und Alles ist schrecklich bunt und so sammetartig. Der Blütenstaub liegt an vielen Stellen so dick, daß er farbigen Schneemassen gleicht.

Eine Riesen-Gärtnerei!

Sie schweben langsam über den großen Blumen dahin und blicken immerzu staunend in die Tiefe.

Und erst nach geraumer Zeit brach Kaidôh das Schweigen.

»Früher«, bemerkte er, »kam mir die Welt fast immer drollig vor; ich mußte über Alles lachen. Und jetzt empfinde ich nicht den geringsten Lachreiz, obwohl diese Riesenblumen einen ernsten Eindruck kaum erzeugen. Wie kommt es, daß ich so wenig lache? Kannst Du mir das erklären?«

Liwûna lächelte und sah recht zufrieden aus. Sie hatte jetzt hellbraune Augen und strohgelbe Haare. Sie erwiderte: »Die Welt wäre sehr eintönig, wenn sie fortwährend drollig wirken wollte. Sei doch froh, daß sie Dir mal anders kommt. Das Trübe ist so selten unerträglich, und es ist dabei so notwendig an der Pforte der Klarheit. Diese würde uns ohne jenes garnicht als Klares zum Bewußtsein kommen. Und Du weißt doch: nur das Klare lacht hell! Ich freue mich übrigens, daß Du Dich schon mit mir unterhalten magst. Aber das Lachen, von dem Du vorhin sprachst, lernt man zumeist nur dann, wenn man lange Zeit von vielen verbissenen Möpsen umgeben ist – und das wird denn garkein helles Lachen. Den Möpsen hab ich Dich nun entführt – die siehst Du nie mehr wieder – daher lachst Du nicht mehr so – wie Du's gewöhnt warst. Du hast es ja garnicht nötig, über die Verbissenheit zu lachen; die liegt ja hinter Dir.«

Liwûna lachte nach dieser Rede so laut und hell, daß aus allen Blütenkelchen ein tausendfaches Echo herausschallte. Das Echo war so fein und vielstimmig, daß die Beiden lange voll Entzücken dem Wohllaute lauschten. Und der stumpfe weiße Kreidehimmel ward klarer.

Es tauchten unten aus der riesigen Blumenwelt alte Tempelruinen empor; sie gaben dem Gespräch eine andre Richtung.

»Sieh mal«, sagte Kaidôh, »hier entwickelt sich in mir wieder der Schmerz um die zerstörte Vergangenheit. Ich vermag es nicht, diesem Schmerze zu entfliehen. Es ist keine trübe Wehmut, die nur im eingebildeten Unmut weh tut – es ist echter richtiger Schmerz.«

»Der wird Dir wohl ganz dienlich sein.«

Also lautete Liwûnas Antwort.

Und Kaidôh hatte das Gefühl, als tasteten alle Weltwesen wie die Blinden in der Welt umher – Alles schien ihm unsichere Tasterei zu sein.

Die Ruinen konnte er garnicht überschauen – so groß waren sie. Sie waren auch stellenweise so überwuchert von Dorngestrüpp. Und er empfand es sehr schmerzlich, daß die Liwûna so schnell vor ihm weiterflog und sich garnicht nach ihm umdrehte. Er hätte so gerne die Ruinen länger angesehen, um einen Überblick zu gewinnen. Es ging aber nicht; die Liwûna flog zu schnell.

Bald zogen auch weiße Wolken unter seinen Füßen vorüber und verhüllten die ganze Blumenwelt und alle Ruinen.

Als sich die weißen Wolken wieder auflösten, lagen mächtige schwarze Felsen unter ihnen. Und als sie nach oben blickten, waren auch oben schwarze Felsen.

Die Beiden schwebten durch eine große schwarze Felsenhöhle, in der es immer dunkler wurde.

»Ein Blick in den Sternenraum«, rief Kaidôh, »ist doch das Größte in dieser Welt. Warum, Liwûna, zeigst Du mir keine Sternenwelten? Sind die alle zu groß für mich?«

Es wurde ganz dunkel. Und Liwûna war nicht mehr zu sehen. Sie rief aus weiter Ferne:

»Kaidôh! Kaidôh!«

Das klang so voll Jubel, daß er gleich hinstürmte; er bewegte dabei so heftig die Fußzehen, daß sie ihm weh taten.

Als er wieder die Nähe seiner Freundin fühlte, hörte er sie leise rufen:

»Duck Dich, Kaidôh! Hier ist der Ausgang! Komm! Komm!«

Er folgte und sah plötzlich rauschende Lichtfülle und – unzählige funkelnde Sterne.

Und Kaidôh sah hinab – und unten glühten in grausiger Tiefe unzählige rote Sterne – die bewegten sich alle hin und her.

Und Kaidôh sah hinauf – und da drehten sich Sterne um sich selbst – die schimmerten so wie Perlen.

Und Kaidôh sah gradaus und rechts und links – und da wanden sich unzählige bunte Sterne durch den Raum – die hatten eckige kantige schlauchartige und linsenförmige Gestalt.

Und Kaidôh sah hinter sich und erblickte eine riesige schwarze Felswand – die ging nach oben, nach unten und nach allen Seiten der Fläche steil und grad als glatte Platte ins Unendliche.

Liwûna schwebte nicht weitab von Kaidôh. Beide ließen sich seitwärts wehen von einem sanften Himmelswinde.

»Jetzt kommt ein Stern ganz nahe vorbei!« rief die Liwûna.

Und es schwebte durch die Luft ein Stern heran, der wie ein plumpes Ungeheuer aussah – wie ein höckriger Schlauch. Eine ungeheure, unregelmäßig nach allen Seiten aufgequollene Weltenmasse – mit kurzen bunten Rüsseln – bunten Raupen ähnlich! Wie Fühlhörner bewegten sich die Rüssel. Und dicke spitze Stachel bedeckten den ganzen Leib des Sterns. Einen Kopf hatte das Vieh nicht; wo man vorn den Kopf vermuten konnte, kam weißer Dampf aus vielen Löchern hervor. Aus einzelnen Rüsseln wirbelten ebenfalls weiße Dampfwolken nach allen Seiten. Der Dampf kam stoßweise und ging schnell auseinander.

Während das Ungeheuer vorüber flog, bewegten sich seine vielen Fühlhörner, die besonders auf den Höckern saßen, sehr heftig, als wenn sie die Nähe von feindlichen Wesen witterten.

Die plumpe Schlauchmasse, die sich in der Form immerfort veränderte und zuweilen einem zerknillten Kopfkissen ähnelte, drehte sich plötzlich um sich selbst und rollte sausend schnell davon, wobei sich viel weißer Dampf entwickelte, der wieder rasch auseinander ging.

Und Kaidôh wollte wieder seine Zehen bewegen – es gelang aber nicht. Er blickte hinunter – und – oh! – seine Füße waren so tief, daß er sie kaum noch zu erkennen vermochte.

Kaidôh war größer geworden – und seine Füße und seine Zehen ebenfalls.

Er mußte laut auflachen.

Doch Liwûna rief heftig aus:

»Kaidôh! Das finde ich nicht hübsch, daß Du über Deine Größe lachst! Du hast doch immer größer werden wollen! Und jetzt, da Du's bist, ist es Dir wieder nicht recht? Ich glaube, Du bist sehr undankbar und sehr launenhaft.«

»Ich lache doch«, erwiderte Kaidôh, »nur über die Größe meiner Fußzehen, die ich jetzt garnicht regieren kann.«

»Die brauchst Du auch nicht zu regieren«, versetzte die Liwûna, »laß Dich nur von den Wandwinden treiben.«

»Was sind Wandwinde?« fragte Kaidôh, »ich verstehe nicht, was Du unter Wandwinden verstehst.«

»Tu doch nicht so«, gab da die Liwûna spitz zurück, »als ob Du Alles verstehen möchtest. Ich kenne Dich! Sei still! Es kommen neue Sterne.«

Und die kamen auch näher – es waren lauter Glassterne.

Kaidôh brummte: »Sie wird dreist!«

Die Glassterne brummten ebenfalls – nur anders. Es waren nämlich viele hohle Sterne dabei mit Löchern, aus denen seltsame dumpfe Töne in die Weltlüfte drangen.

In den hohlen Sternen leuchtete ein grünes Licht, sodaß sich die verschnörkelten Formen der Glasgebilde haarscharf vom schwarzen Welthintergrunde abhoben.

Manche Sterne ähnelten aufgeblasenen Fröschen, denen die Beine verloren gingen – und andere Sterne starren Tintenfischen. Dazwischen drehten sich helle regelrechte Kreisringe, in denen viele helle Farben schimmerten. Auch schwebten in der Nähe Würfel und Oktaëder, deren Flächen glitzerten, als wären sie mit Phosphor bestrichen.

Liwûna sagte leise:

»Glaube nicht, daß das Alles Glas ist. Es sieht nur so aus.«

Und Kaidôh sah Millionen kleiner Tiere auf den Glassternen hin- und herkrabbeln.

Einzelne der Sterne funkelten so stark, daß dem Kaidôh all die Farbenspiele durcheinander gingen. Er konnte oft nicht folgen.

Drollig wirkten große Ketten, deren Glieder aus vielen vielkantigen blauen Säulen bestanden.

Jedoch Kaidôh bemerkte bald, daß seine Augen immer stärker wurden. Er fühlte, daß er nicht bloß größer sondern auch anders wurde. Leider wußte er nicht, ob er Grund habe, sich über das Anderswerden zu freuen.

Liwûna schwebte weitab wie ein großer grüner Schleierstern.

Und nun tauchten smaragdgrüne Balkensterne aus dem Dunkel heraus – die waren ganz mit grünen Wäldern bedeckt, die wie dunkles Moos auf den Balken saßen und wie Smaragde leuchteten. Kaidôh konnte erkennen, daß das grüne Licht unzähligen kleinen Häusern sein Dasein verdankte; die Häuser – die reinen Glühwürmer – lagen in den Wäldern so friedlich eingebettet – wie junge Katzen in Waschkörben – wenn es dunkelt und das Katzenauge funkelt.

Die größten Balkensterne setzten sich aus sehr vielen Balken zusammen; die kleineren Balken waren fast alle in rechten Winkeln an die größeren geleimt. Und die vielen rechten Winkel trugen so viel Berechnetes in sich, daß man glauben mochte, sehr fein ersonnene Weltwerkzeuge vor sich zu haben. Kaidôh dachte in dieser Richtung und meinte dann zu sich selber sprechend:

»Wozu ich mir über diese Sterne den Kopf zerbreche! Man kann sich noch so sehr verändern – etwas bleibt doch immer in uns: jene Genuß hemmende Denkerei! Aber sie wird wohl nötig sein – sonst würde man wohl öfters vor purer Seligkeit platzen.«

Doch die Gedanken waren bald verscheucht; Raketensterne sausten vorüber – fix wie Kometen – zischend und rauschend.

Wie unheimliche Feuerspinnen kamen sie angerannt – in ihren Beinen züngelten zuckende Glutquallen. Bunte Augen saßen den Raketensternen auf den Zehen. Einige Sterne ähnelten glimmenden Knochengerüsten – und andre wilden Aalen.

Sodann prasselten Feuergarben aus den Sternleibern heraus; blaue und grüne Feuertropfen flogen hinunter und hinauf. Lange gewundene Feuersäulen – Riesenfinger – bogen sich hinüber zu den blauen Feuertropfen und durchstießen die, so daß sie wie Ringe auf die roten Feuersäulenfinger hinaufglitten.

Kaidôh fuhr oft erschrocken in die Höhe, da ihm das feurige Spinnengebein recht nahe trat.

Eine ungeheure wie Quecksilber zitternde Feuerschlange schloß den raschelnden Zug.

Der letzten Schlange saßen auch ein paar grüne und blaue Feuerringe auf dem Leibe. Dieser Leib – rotglühendes Eisen – wand sich und zuckte, als läg er in heißen irrsinnigen Fieberkrämpfen.

»Wenn man die Welt«, flüsterte Kaidôh, »nicht mehr wiedererkennt – dann ist wirklich Alles anders. Und ich erkenne diese Welt nicht wieder, denn ich habe sie noch nie gesehen. Ich erkenne mich nun auch selber nicht mehr.«

»Du wolltest doch«, fiel da lebhaft die Liwûna ein, »unter allen Umständen das Neue und das Andere. Ich fühlte sogar, daß Du das wolltest. Jetzt hast Du das Neue und das Andere – und jetzt ist es wiederum nicht recht. Ich werde Deine Wünsche bald unbeachtet lassen, denn Du willst offenbar noch Etwas, von dem man sich nicht einmal im Traume eine Vorstellung machen kann. Was Du sagst und empfindest, ist garnicht wichtig für Dich. Deine Gelüste sind Dir selber ein Rätsel. Kaidôh fühlt nur, daß er Garnichts fühlen kann.«

»Das mag stimmen!« brummte der große Kaidôh.

Aber zum Weiterreden kams nicht. Unter ihnen schwebten schon wieder neue Weltgebilde – die Schalensterne in allen möglichen Muschelformen mit krummen Schnäbeln.


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