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Das Gleichnis

Vom unsichtbaren Königreich

Daß doch die Leute immer alles verstehen wollen! Bilder, Musik und Gedichte wollen sie verstehen. Als ob der Verstand in der Sphäre der Kunst als maßgeblicher Sachwalter in Betracht käme! Man will, man kann es wohl auch nicht begreifen, daß Kunst sich an ein ganz andres Organ im Menschen wendet, ein Organ, das durchaus nicht alle, die sich damit abgeben, von Amts wegen besitzen: die Seele.

Seele? – Die Vernunft zuckt die knochigen Achseln. Seele? »Das gibt's gar nicht.« Und sie hat ja von ihrem Standpunkt aus recht, die armselige alte Jungfer. Das ganze große Gebiet der Seele ist ihr ein unsichtbares Königreich. Deshalb ist keine Verständigung möglich zwischen den Vertretern der beiden Mächte Vernunft und Seele. Die rangklassenmäßig uniformierten Delegierten der Vernunft verstehen die Sprache der andern nicht. Über das Dreidimensionale, das Fünfsinnengemäße hinaus geht ihre »Intelligenz« nicht mehr mit. Sie kann es auch nicht. Jenseits des unsichtbaren Grenzstriches braucht man Flügel, und wer keine hat, kann halt nicht mitfliegen.

Daß die glücklichen Besitzer von Flügeln, eben weil sie's sind, sich überhaupt einer beflügelten psychischen Konstitution erfreuen, ist eine Tatsache, die sich mit Beweisen aus dem numerierten Arsenal der Gegner wiederum – leider oder Gott sei Dank – nicht feststellen läßt. Auch der Kompromiß, diese widerliche moderne Erscheinung – eine Errungenschaft des asthmatischen Fettwanstes Opportunismus – ist zwischen den legitimierten Repräsentanten unmöglich. Die Seele lehnt jede feige Transaktion ab. »Wer nicht für mich ist, der ist wider mich«, sagt sie – und existiert weiter, wie so manches andre, das gewisse Barbaren längst über den Haufen gerannt zu haben fest überzeugt sind. Die Dummheit, die darin liegt, lebendig Wirkendes einfach zu »negieren«, wäre rührend, wenn sie nicht gar so unverschämt aufträte. Kämen diese armen Hascher der »vernünftigen« Weltanschauung einmal darauf, wie tief sie in der Reihe der tätig IHN Beweisenden stehen, wie tief unter der Ameise, der Biene, dem Biber, wäre es denkbar, daß es einmal in ihren blankgescheuerten Hirnschalen aufblitzte wie ein Funken ihrer gepriesenen Elektrisiermaschinen: eine Enttäuschung von den Dimensionen dieser Trostlosigkeit verlangte geradezu nach einem neuen Mythos vom Sündenfall der Menschheit!

Die Vernunft ist sicherlich eine sehr schöne Sache. Sie hat, solang sie sich auf ihr Gebiet, die Verarbeitung von Sinnesempfindungen zu Verstandeserkenntnissen, beschränkte, Großes geleistet, leistet innerhalb ihres Bezirkes noch immer Großes: das unsichtbare Königreich der Seele aber ist herrlich wie am ersten Tag (Plato steht noch immer so hoch wie damals, als er seinen Platz eingenommen hat) und gedeiht im klaren Gotteslichte der Gnade. Seine Einwohner und Untertanen sind die »Gläubigen«, die einander erkennen, ohne sich erst wie die Disputaxe der diesseitigen Welt miteinander auseinandersetzen zu müssen.

Da die Seele aber, wenn auch ihre angestammte Domäne, dennoch nicht ihr Privateigentum ist, sondern (für ein das Ganze beherrschendes, schauendes Auge) in allen Geschöpfen lebt, je nach den Erscheinungsstufen und Gnadegraden mehr oder weniger deutlich, sind jene Enterbten der Seele zwar mißratene, unglückselige (übrigens zumeist sehr selbstzufriedene) Kinder, dennoch aber mit den »Armen im Geiste«, die die Reichen der Seele sind, eines Ursprungs und können ihn wider »besseres Wissen« niemals gänzlich verleugnen, sei es auch nur, indem sie gegen ihn revoltieren, ihn schmähen und verachten, kurzsichtig, wie sie nach unbegreiflichem Ratschluß zu leben und zu sterben verurteilt scheinen. Scheinen, – denn auch sie bekennen, kaum wohl in erhabenen, doch aber unterweilen in schmerzlichen und freudigen Gefühlen ihr besseres unvergängliches Erbteil, die Kindschaft Gottes, zu dessen Anschauung sie alle, alle dereinst berufen sind. Hier unten in der Schattenwelt der Erscheinungen und unauflöslichen Geheimnisse – denn drüben wohnt die unbedingte heitre Klarheit –, hier unten herrscht freilich ungebrochen der leidige Zwist zwischen den vielen und den wenigen.

Und immer wieder, seit die weltgeschichtliche Phase der großen religiösen Glaubenskrisen verebbt ist, sind es die Künstler, diese stets ungewitzigt ihr Herz auf den redebegabten Lippen tragenden Kinder, die am ärgsten unter dem unfruchtbaren Zwist zu leiden haben. Immer wieder geben sie Dinge, die für wenige sind, selig-unbesonnen vielen preis, immer wieder müssen sie es gepeinigt erleben, daß diese, wie es ihre Natur fordert, sich gegen die Gaben der Künstler »wie ein Mann« erheben, mit den Steinen der Vernunft nach der unverwundbaren Seele des Kunstwerks, dieses ihnen hassenswürdigen Non-ens und Nonsens, zielen und – die Künstler am heißen Menschenherzen verwunden. Es ist doch sonderbar: die Musik empfinden die Menschen unmittelbar, da geht ihnen ihre berühmte Vernunft ganz offiziell aus. Ja, sie drehen sie ab wie eine Lampe und setzen sich behaglich, die Hände überm Magen, ins Dunkel des rein Musikalischen. Schon bei der bildenden Kunst wollen und können sie es nicht Wort haben, daß sie eine unmittelbare Wirkung äußere und so, nur so erfaßt werden könne. Sie sehen Skulpturen und Bilder und müssen sie sofort auf – Gefühlseindrücke hin kritisieren, indem sie sie als Vehikel zu Gedanken und (moralisch-psychologisch-sentimentalen) »Gefühlen« gebrauchen oder als fortgeschrittene »Kenner« das Technische, das Materiell-»Malerische« schnüffelnd begutachten. Malerisch, im künstlerischen Sinn, sind sie nicht imstande zu genießen. Sie lassen sich vom Sinneseindruck hemmen, bleiben an diesem (gradmäßig vom Anekdotischen bis hinauf zum Malerisch -Sensuellen gesteigerten) Oberflächenhaften kleben, befragen das Kunstwerk nach dem Was, Wie und Warum, lassen es nicht »musikalisch« schwingen, ausschwingen, tönen.

Bei den Kunstwerken in Worten aber ist es am ärgsten. Weil Worte auch den zivilen Zweck haben, Mitteilungen zu vermitteln, ist ihnen jedes Wortkunstwerk Mitteilung. Sie hören oder lesen Worte und suchen sie nun grammatikalisch, logisch, intellektuell zu bewältigen, gehen ihrer Bedeutung, der grob-konventionellen oder der abstrakt-allegorischen, nach und merken die großen Augen der Seele nicht, die die armseligen Worte durchscheinen, strahlend, zehrend, versengend. Andre wieder, die sich besonders vorgeschritten dünken, werten die Worte rein phonetisch, als Lautmusik, also genauso materiell wie die »malerischen« Techniker simpel sensuell die Farben »schmecken«, glauben ein Unerhörtes zu ahnen, wenn sie die Worte, von ihrer sinngemäßen Bedeutung absehend, ja bewußt gegen diese, als bloße Klänge in ihr geschmeicheltes Ohr aufnehmen, als ob das Hören der Geräusche um eine Stufe höher stände als das verstandesmäßige Sehen der Lautbilder.

Daß ein ganz anderes Prinzip, siegreich kämpfend gegen die Mittel – die phonetisch=physikalischen sowohl wie die grammatikalisch=»abstrakten« – am Werke sei, ahnen sie nicht, wollen es nicht glauben. Und es ist ja leider wahr: man kann nicht glauben wollen!

Das eine, das Wesentliche, den Zusammenhang, die in sich selbst zurückkehrende Kreislinie, das Geheimnis der völlig runden Kugel, das Mysterium der Alldurchdringung, des Gegensatzlosen, Insichselbstseligen verstehen sie nicht, können sie ja auch nicht »verstehen«, weil es hier eben nichts zu verstehen gibt, sondern zu schauen, zu hören, zu vernehmen, zu leiden.

Zum Problem der Kunst

1

Das künstlerische Problem ist ein metaphysisches. Aus keinem anderen Grund, als weil das Problem der Welt auch ein metaphysisches ist. Wer sich mit dem Eindruck der Sinne bescheidet, wem der Sinn für die seelische Bedeutung der Welt nicht aufgegangen ist, dem wird das Problem der Kunst auch ewig verschlossen bleiben.

Was uns einen Gegenstand im Raum wahrnehmen macht, ist nicht das körperliche Sehen: es ist ein unendlich vielfältiger Vorgang, der sich knapp an einer »Grenze« vollzieht. Hier ist der uns nicht näher bekannte Gegenstand der Natur, dort der Mensch, der ihn wahrnimmt. Sie könnten nie zusammenkommen, wenn das wahrnehmende Subjekt nicht den Apparat der Raum- und Zeitvorstellung in sich trüge. Kein optisches Experiment kann einem dieses Rätsel lösen, das das noch völlig bewußtlose Kind bereits handhabt.

Genau an dieser Grenze siegt oder scheitert die künstlerische Darstellung. Sie hat nicht mit dem Schein zu arbeiten, sondern mit ihren Mitteln. Und diese ihre Mittel sind um nichts minderwertiger als die Mittel der Natur. Wir kennen die Mittel der Natur nicht, wir kennen nur ihre Wirkung. Der Maler, der Bildhauer aber kennt aus der Tradition und durch die Erfahrung seine Mittel und hat ihre Wirkung zu erwägen. Natürlich gilt auch dies nur relativ. Denn das »an sich« seiner Mittel kennt der Maler ebensowenig wie das »an sich« des von ihm darzustellenden Gegenstandes. Er operiert mit einer »Schale«, die ihm in ihrer Vorläufigkeit etwas Endgültiges sein muß. »Im farbigen Abglanz haben wir das Leben.« Alle Versuche der »realistischen« Täuschung sind aus diesem einfachen Grund unkünstlerisch.

Und das Gegenteil von »Täuschung« ist die japanische Technik, die sozusagen unmittelbar, ganz visionär den Raum erschafft. Sicherlich wird der unkünstlerische Mensch weder die Größe eines Velasquez noch die der Japaner jemals begreifen. Er sieht ein Bild wie andere Bilder, unterscheidet nur, wenn er reflektierend Bilder zu betrachten gewöhnt ist, verschiedene »Manieren« und drückt sein Urteil mit »ja« und »nein« aus.

Das Wort »Stimmung« darf man im Künstlerischen nicht etwa »poetisch« deuten. Es handelt sich in der bildenden Kunst immer nur um Stimmungen ihrer eigenen Natur. Das kann nicht oft genug wiederholt werden. Wenn ich von der japanischen Stimmung eines Aquarells, genannt »Abschied«, spreche, meine ich nicht die schwermütige Stimmung des dargestellten Vorganges. Die ist natürlich von der malerischen nicht trennbar. Denn der Maler hat ja zunächst einen »Abschied« malen wollen. Aber sogleich, wenn er Künstler ist, das heißt die »Grenze« ungefährdet passiert hat, wo seine Mittel sich mit der Schnelligkeit eines schöpferischen Gottesgedankens in »ideelle« Werte umsetzen, alsogleich hat nur sein Reich Anspruch auf Geltung: der Maler spricht, der Maler hat das Wort. Der künstlerisch, nicht der »poetisch« Empfindende wird als Schätzer herangerufen. Es gibt keine Scheidung zwischen Inhalt und Form, Gegenstand und Darstellung. Das ist alles bereits Sache der Abstraktion, der Vernunft, und die Vernunft hat nichts mit Kunst, mit der künstlerischen Auffassung der Kunst, mit der »natürlichen« Auffassung der Natur zu tun. Man möge sich den geheimnisvollen Vorgang der künstlerischen Empfängnis des Betrachters vorstellen wie eine seelische Läuterung, etwa unter dem Bilde der plötzlichen Bekehrung vom Saulus zum Paulus, oder man denke an jene Szene in Tolstois unerreichbarem Roman »Krieg und Frieden«, da der Fürst Andreas, auf dem Schlachtfeld unter Sterbenden und Toten erwachend, die Augen zum Himmel hebt, an dem Wolken dahinziehen, und mit einemmal die Welt begreift. Es ist dem, der sich in diesem Problem nicht zurechtzufinden vermag, nicht anders als mit dem Trost des Evangeliums zu helfen, der wie eine Warnung klingt: Viele sind berufen, wenige sind auserwählt.

Die künstlerischen Fragen sind durchaus seelisch wie die Glaubensfragen. Sie wenden sich nicht an den Verstand, haben mit ihm gar nichts zu tun und können von ihm auch nicht begriffen werden. Und was die Grenze im Reich der Darstellung bedeutet, das bedeutet ihr Analogon im Gemüte des künstlerisch schauenden Menschen. Es ist nicht Stimmung, nicht Empfänglichkeit, die geübt werden kann, sondern Gnade. Der Dilettant – das ist sein Wesen – sieht trotz dem Vergleich mit künstlerischen Schöpfungen in seiner eigenen Darbietung etwas Gleichartiges, höchstens etwas graduell Verschiedenes. Das ist das Stigma des Dilettanten, daß er eben nicht anders sieht. Sähe er, so würde er aufhören, ein Dilettant zu sein.

Auch der dichterische Dilettant »sieht« nicht. Immer bleibt er diesseits der Grenze und daher in den Verhältnissen dieser »anderen Welt« befangen. Das Drüben ist ihm nicht aufgegangen. Man kann es ihm auch nicht erklären, nicht erweisen. Man muß sich und ihn auf die Bekehrung des Saulus vertrösten.

Für die Künstler »diesseits« der Grenze gibt es immer auch ein Publikum. Es ist gut so. Es können auch nicht alle Leute »Geschmack« besitzen. Der Mensch, der es in dieser und jener säuerlich beizenden ungelüfteten Atmosphäre seines mit ödem Fabrik-Surrogat-Krimskrams behängten und bestellten Wohnzimmers aushält, den Öldruck an der Wand erträgt, dem ist nicht zu helfen. Über Geschmack läßt sich nicht streiten, aber nicht deshalb, weil es verschiedene gibt, die gleichberechtigt wären, sondern weil es nur einen gibt, wie es nur eine Kunst gibt. Der »Geschmack« ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern wesensgleich gewesen, wie sich die Kunst ewig treu geblieben ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Der Ausdruck wechselt. Ganz gewiß. Das sind Fragen der äußeren Kultur. Die innere Kultur aber eines Hellenen und eines vornehm fühlenden Menschen von Rasse und Tradition unserer Zeit ist dieselbe. Und der künstlerisch genießende Mensch aller Zeiten würde das künstlerische Element in Rembrandt und Beardsley begreifen, wogegen es gar keinen Einwand bildete, daß ein Holländer des 17. Jahrhunderts sich in der von Beardsley dargestellten Welt unbehaglich fühlen müßte ebenso wie am Hofe eines asiatischen Satrapen Alexanders des Großen. Das Unglück in diesen Fragen ist die seichte Verwechslung von Gnade und Wissen. Wissen ist nichts, Gnade ist alles. Wissen erweitert dein Wesen nicht um einen Zoll. Wissen legt sich als Stückwerk nebeneinander. Gnade baut von innen heraus auf. Und nochmals: mit Wissen und Vernunft kommt man der Kunst um keinen Schritt näher. Durch Gnade tritt man in ihren Mittelpunkt.

2

Jeder große Künstler ist, als er auftrat, ein Ketzer gewesen. Der Gläubigste muß ein Ketzer gewesen sein. Das ist das Gesetz der Ahnenreihe. Der große Künstler, der jeweils als »Erster« der letzte in der Reihe ist, erscheint als einzelner seiner Zeit fremdartig und unbequem. Man vergleicht seine abweichende Weise mit der der eben Herrschenden, und die Herrschenden sind immer die letzten Ausläufer, die letzten blassen Ableger seines unmittelbaren Vorgängers, massenhaft, wie es die Natur von Ablegern ist. Die Menge hält sie in Ehren, weil sie selbst Menge sind. Jeder einzelne aus der Menge fühlt sich ihnen verwandt. Sie sind ein schmeichelnder Spiegel der selbstzufriedenen Kläglichkeit. Der Neue aber ist der Feind. Ihn gilt es zu verhindern. Er soll nicht aufkommen. Das ist das Feldgeschrei der Massenhaften. Und scheinbar gelingt es ihnen auch immer wieder. Darum muß jeder große Künstler, das Kreuz der Kunst auf dem Rücken, das schwerer und schwerer drückt, seinen Passionsweg mit allen Stationen abschreiten, bis er sein Golgatha findet. Aber wenn sie ihn gekreuzigt haben, dann zerreißt der Vorhang des Tempels, und die Erde bebt und birst und speit ihre Toten aus: die Ahnen stehen auf. Da erkennt die zitternde Menge, daß dieser »Gottes Sohn« gewesen ist. Und nach drei Tagen oder drei Jahrhunderten ersteht er von den Toten, der er von Anfang an unsterblich ist, in Huldigung vor Gottes Thron stehend von Ewigkeit zu Ewigkeit.

3

Der Weg jedes wahrhaftigen Künstlers führt ihn zu sich selbst. Und wer völlig zu sich gelangt ist, dem wird die Welt, wie sie sich langsam um ihn rundet, seltsam fern und wiederum innig verwandt. Denn nur aus den Tiefen des innersten Ich heraus kann er sie erfassen. Es ist ein Sich-in-die-Welt-Ergießen und ein In-sich-Trinken der Welt zugleich, ein Prozeß des vollkommensten Vereinsamens und der Allgegenwärtigung. »Wohin gehen wir?« fragt Novalis, und: »Immer nach Hause« antwortet das Echo seiner alliebenden Einsamkeit. Ganz zu sich selbst gelangen, heißt Gott nahekommen. Das erhaben-demütigende Gefühl des »Mittelpunkts« ist der Schauer der Gotterkenntnis. Jeder Mensch ist einmal im »Mittelpunkt« gewesen. Die meisten aber vergessen es. Es ist, als fürchteten sie, sich zu verlieren, wenn sie sich so dem Übermächtigen hingäben. Und wahrhaftig, es ist auch ein Sich-Verlieren, dieses seligste Sich-selbst-Finden. Denn alles Wesen der Oberfläche, das, worin die Werte der Realexistenz beruhen, muß ja in diesen ungeheuern Augenblicken der sich verzehrenden Selbstbesinnung zum Schein werden. Der Gläubige und der Künstler allein können sich in solchen Augenblicken behalten, der Gläubige, indem er sich ganz persönlich Gott übergibt – die heilige Katharina und Franz von Assisi haben Christus geradezu leibhaftig erlebt –, der Künstler, indem er sich seiner Person ans Werk entäußert. Alle großen Kunstwerke sind aus solchen erhabenen Augenblicken geboren worden. Es gibt viele bedeutende Kunstwerke gleichsam der Wanderung, wenige nur des Am=Ziele=Seins. Und auch dieses Am -Ziel-Sein ist nur ein Verweilen. Denn das Bewußtsein der Habhaftwerdung verwandelt sich alsogleich wieder in die Erinnerung der bloßen Anteilnahme. Und so gelangt der Künstler eben wegen seines die süße Bewußtlosigkeit immer wieder störenden und dadurch zerstörenden Bewußtwerdens niemals ans Ende, das der Anfang ist, oder, wenn man will, immer wieder darüber hinaus ins Wiederum oder Weiternoch.

4

Viele führen sie im geschwätzigen Munde, wenige besitzen sie, kaum vermag ihr wundersames Rätsel ein und der andere anders denn durch ein Gleichnis zu deuten, in Umschreibungen ihr Wesen zu vermitteln: die Kunst bleibt wie die Religion der bloßen Vernunft unfaßbar. Verstandesmäßige Kritik kann ihre Resultate feststellen, ihr Substrat zergliedern, nicht ihr Gesetz ergründen. Der Glaube aber weiß von ihrem Ursprung jenseits der Erfahrung und also auch ihr Gesetz: Die Sprache der Seele kann nur die Seele hören. Und also kann immer wieder nur ein einzelner ein Kunstwerk aufnehmen, das, seiner Natur gemäß, stets verstummt, um stets von neuem laut zu werden. Tausenden bleibt es tot, einer kommt, und es erwacht. Das ist die Einsamkeit der großen Kunst.

Und andererseits: diese notwendigerweise jeweils einmalige Wirkung ist immer wesenhaft dieselbe, absolut. Endlich: jedes große Kunstwerk äußert dieselbe Wirkung. Denn es gibt nicht zwei und mehr Sprachen der Seele, und hinwiederum: es gibt nicht zwei und mehrere Arten, wie die Seele hört. Oder anders, wieder im Gleichnis: jedes große Kunstwerk spiegelt die Seele. Wenn keine Seele vor es tritt, bleibt der Spiegel leer. Und: nur das große Kunstwerk vermag die vor es tretende Seele abzuspiegeln.

Was spricht die Seele? Was hört die Seele? Immer sagt die Seele, wenn sie laut wird, Gott. Immer hört die Seele, wenn sie lauscht, Gott. Nur kann nicht jede Seele Gott verlauten lassen, nicht jede Seele Gott vernehmen. Einmal kann wohl jede Seele Gott sagen, einmal ihn hören. Die Künstlerseelen aber sagen immer Gott, hören ihn immer. Jede sagt ihn anders: immer aber wird er vernehmlich. Wer eine Künstlerseele hat, wird sie manchmal stumpf und matt, ja unfähig fühlen, Gott zu vernehmen. Wer eine Künstlerseele hat, muß nicht in Werken Gott sagen können. Und es gibt große Künstlerseelen, die ihn nie laut, nie ganz sicher aussprechen können. Ja, es mag Künstlerseelen geben, die ihn in Qualen verschweigen. Und andre, die nicht darum wissen, daß sie Gott sagen. Andre hinwiederum, die sich zwingen, ihn nicht zu sagen. Denn es wollen nicht allzuviele von ihm hören. Und anderseits: Wer ihn nicht vernimmt, dem kann man ihn nicht zeigen. Und wenn die großen Kunstwerke dem einen reden, dem anderen schweigen, so kann der eine sie nicht dem anderen reden machen. Kein großes Kunstwerk bleibt gänzlich unerhört. Jedes wird gewiß einmal vernommen. Und wenn es einer einmal vernommen hat, dann ist es auch in der Historie der Kunstwerke unsterblich. Die zugestandene Unsterblichkeit eines Kunstwerks ist nur die Bestätigung vieler, daß sie es gehört haben. Aber keiner verleiht Unsterblichkeit. Er kann nur davon verkünden. Am allerwenigsten verleiht die Menge Unsterblichkeit. Die Menge zieht nur hinterher. Sie ist ihrer Natur nach massenhaft, und also ist ihr Echo massenhaft und vielfältig. Die Hintersten wirken mit, die, die gar nicht sehen, worum es sich handelt. Aber auch das Kunstwerk von zugestandener Unsterblichkeit ist verurteilt, einsam zu bleiben, so lange, bis wieder einer kommt und es vernimmt.

Spieluhrenklänge

Warum enthalten manche geradezu zur Fröhlichkeit geschaffene Melodien, namentlich gewisse spieluhrenartig perlende altmodische Tanzstücke, eine unsägliche Traurigkeit? Wohl weil die Seele, der sie entstammen, da sie sich, wenn auch in gemessenen Tönen, aussprach, unwillkürlich ihren Grund aufwühlte. Und die Seele des schöpferischen Menschen ist in ihren Tiefen von unerschöpflichem Weh erfüllt.

Zum Problem des Musikalischen

»Die Sprache, als das absolut geistig bestimmte Medium, ist das eigentliche und wahre Medium der Idee ... In der Sprache wird das Sinnliche als Medium zum bloßen Werkzeug herabgesetzt und beständig negiert ... Wenn ein Mensch so spräche, daß man den Schlag der Zunge hörte, dann würde er schlecht sprechen ... Gerade da ist die Sprache das vollkommene Medium, wo alles Sinnliche negiert ist ... Was eigentlich gehört werden soll, macht sich beständig frei vom Sinnlichen.« Das sind Sätze von Kierkegaard. In seiner Abhandlung »Die unmittelbar-erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische«, enthalten in »Entweder – Oder«, 1842, gelangt er auf seine eigentümlich-halblaute divinatorische Weise zu der deutlichen Zwischenwahrheit, daß die Musik überall an die Sprache grenze. Sie ist als Medium nicht auf der Höhe der Sprache, nicht so reich wie diese. »Die Musik bringt nämlich beständig das Unmittelbare in seiner Unmittelbarkeit zum Ausdruck ... Der ausgebildeten Sprache liegt die Reflexion zugrunde; deshalb vermag die Sprache nicht das Unmittelbare auszusagen ... Aber diese anscheinende Armut der Sprache ist gerade ihr Reichtum. Das Unmittelbare ist nämlich das Unbestimmbare; darum kann die Sprache es nicht in sich aufnehmen.« Das Unmittelbare, das vom Geist ausgeschlossen wird, »die sinnliche Unmittelbarkeit«, hat in der Musik sein absolutes Medium. »Der absolute Gegenstand der Musik ist also sinnliche Genialität. Diese ist durch und durch lyrisch; und gerade in der Musik kommt sie in ihrer ganzen lyrischen Ungeduld zum Ausdruck ...« Die Musik »kann in dem wesentlich Geistigen nicht ihren absoluten Gegenstand haben«. Sie ist auf diesem Gebiet ein »unvollkommenes Medium« ...

Im dritten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« sagt Schopenhauer von der Musik: »Der Begriff ist hier, wie überall in der Kunst, unfruchtbar: der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht ...« »Denn überall drückt die Musik nur die Quintessenz des Lebens und seiner Vorgänge aus, nie diese selbst ... Gerade diese ihr ausschließlich eigene Allgemeinheit, bei genauester Bestimmtheit, gibt ihr den hohen Wert ...« »Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere Allgemeinheit der Abstraktion, sondern ganz anderer Art und ist verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit.« Sie ist »nicht Abbild der Erscheinung«. Sie gibt (im Gegensatz zu den Begriffen) »den innersten, aller Gestaltung vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge«. Dieselbe Komposition »paßt zu vielen Strophen«. Der Text der Oper sollte seine »untergeordnete Stellung« nie verlassen. »Die vom Komponisten aufgefundene Analogie« (zwischen dem »Kern einer Begebenheit« und jener »allgemeinen Sprache« der Musik) »muß aus der unmittelbaren Erkenntnis des Wesens der Welt, seiner Vernunft unbewußt, hervorgegangen und darf nicht, mit bewußter Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein ...«

In der Novelle »Der Dichter und der Komponist« läßt E. T. A. Hoffmann seinen Ludwig vom Operndichter sagen, er »müsse, dem Dekorationsmaler gleich, das ganze Gemälde nach richtiger Zeichnung in starken kräftigen Zügen hinwerfen; und es ist die Musik, die nun das Ganze in so richtiges Licht und gehörige Perspektive stellt, daß alles lebendig hervortritt und sich einzelne unwillkürlich scheinende Pinselstriche zu kühn herausschreitenden Gestalten vereinen«. Aber keineswegs dürfe der Operndichter bloß eine »Skizze« geben. Er solle vielmehr »ganz vorzüglich bemüht sein, die Szenen so zu ordnen, daß der Stoff sich klar und deutlich vor den Augen des Zuschauers entwickle. Beinahe ohne ein Wort zu verstehen, muß der Zuschauer sich aus dem, was er geschehen sieht, einen Begriff von der Handlung machen können. Schopenhauer: »... daher spricht seine (Rossinis) Musik so deutlich und rein ihre eigene Sprache, daß sie der Worte gar nicht bedarf ...« Kein dramatisches Gedicht hat diese Deutlichkeit so im höchsten Grade nötig wie die Oper ... Was nun die Worte betrifft, so sind sie dem Komponisten am liebsten, wenn sie kräftig und bündig die Leidenschaft, die Situation, welche dargestellt werden soll, aussprechen; es bedarf keines besondern Schmuckes und vorzüglich keiner Bilder.« Nicht Worte, sondern Handlung und Situation müssen den Komponisten begeistern. »Das ist ja eben das wunderbare Geheimnis der Tonkunst, daß sie da, wo die arme Rede versiegt, erst eine unerschöpfliche Quelle der Ausdrucksmittel öffnet.«

»Ferdinand: Auf diese Weise müßte der Operndichter rücksichtlich der Worte nach der höchsten Einfachheit streben, und es würde hinlänglich sein, die Situation nur auf edle und kräftige Weise anzudeuten.«

»Ludwig: Allerdings, denn, wie gesagt, der Stoff, die Handlung, die Situation, nicht das prunkende Wort muß den Komponisten begeistern, und außer den sogenannten poetischen Bildern sind alle und jede Reflexionen für den Musiker eine wahre Mortifikation.«

»Die meisten sogenannten Opern sind nur leere Schauspiele mit Gesang ...«

»Oft hat der Komponist unwillkürlich ganz für sich gearbeitet, und das armselige Gedicht läuft nebenher, ohne in die Musik hineinkommen zu können.«

Und seine Idee vom »musikalischen Drama« spricht »Ludwig« in den nur scheinbar befremdenden Worten aus: »... in der Oper soll die Einwirkung höherer Naturen auf uns sichtbarlich geschehen und so vor unsern Augen sich ein romantisches Sein erschließen, in dem auch die Sprache höher potenziert oder vielmehr jenem fernen Reich entnommen, d. h. Musik, Gesang ist, ja wo selbst Handlung und Situation, in mächtigen Tönen und Klängen schwebend, uns gewaltiger ergreift und hinreißt. Auf diese Art soll ... die Musik unmittelbar und notwendig aus der Dichtung entspringen.« Der Dichter Ferdinand glaubt, »kein guter Vers könne in seinem Innern erwachen, ohne in Klang und Sang hervorzugehen«. Worauf Ludwig, der Komponist, erwidert: »Ist das nicht die wahre Begeisterung des Operndichters? Ich behaupte, der muß ebenso gut gleich alles im Innern komponieren wie der Musiker, und es ist nur das deutliche Bewußtsein bestimmter Melodien, ja bestimmter Töne der mitwirkenden Instrumente, mit einem Worte die bequeme Herrschaft über das innere Reich der Töne, die diesen von jenem unterscheidet.« Hiermit wäre zu vergleichen, was Eckermann von Zelter berichtet: »Wenn ich ein Gedicht komponieren will, so suche ich zuvor in den Wortverstand einzudringen und mir die Situation lebendig zu machen. Ich lese es mir dann laut vor, bis ich es auswendig weiß, und so, indem ich es mir immer einmal wieder rezitiere, kommt die Melodie von selber.«

Allen diesen Betrachtungen ist eine intuitive Erkenntnis gemeinsam: die Unvereinbarkeit des Begrifflichen mit dem Geiste der Musik. Die Musik grenzt – nach Kierkegaard – an die Sprache. Sie ist – nach ihm, der sich ausdrücklich im Musikalischen nur als einen »Proselyten des Tones«, als einen Laien bezeichnet Wozu wiederum Hoffmann anzuziehen wäre, der den Musiker Ludwig zum Dichter sagen läßt: »Wenn du unter musikalischen Kenntnissen die sogenannte Schule der Musik verstehst, so bedarf es deren nicht, um richtig über das Bedürfnis der Komponisten zu urteilen: denn ohne diese kann man das Wesen der Musik so erkannt haben und so in sich tragen, daß man in dieser Hinsicht: ein viel besserer Musiker ist als der, der, im Schweiße seines Angesichts die ganze Schule in ihren mannigfachen Irrgängen durcharbeitend, die tote Regel wie den selbstgeschnitzten Fetisch als den lebendigen Geist verherrlicht und den dieser Götzendienst um die Seligkeit des höheren Reiches bringt.«
Ferdinand: Und du meinst, daß der Dichter in jenes wahre Wesen der Musik eindringe, ohne daß ihm die Schule jene niedrigeren Weihen erteilt hat?
Ludwig: Allerdings! – Ja, in jenem fernen Reiche, das uns oft in seltsamen Ahnungen umfängt, und aus dem wunderbare Stimmen zu uns herabtönen und alle die Laute wecken, die in der beengten Brust schliefen und die nun, erwacht, wie in feurigen Strahlen freudig und froh heraufschießen, so daß wir der Seligkeit jenes Paradieses teilhaftig werden – da sind Dichter und Musiker die innigst verwandten Glieder einer Kirche: denn das Geheimnis des Wortes und des Tones ist ein und dasselbe, das ihnen die höchste Weihe erschlossen.« (Kierkegaard: »Das mir bekannte Reich, an dessen äußerste Grenze ich gehen will, um das wunderbare Reich der Musik zu entdecken, ist die Sprache.«)
, der »außerhalb der Musik« steht – keine »Sprache« im Sinne jener geistreichen Menschen, die von der Sprache der Natur reden« (sofern jeder Ausdruck der Idee eine Sprache ist, denn zum Wesen der Idee gehört die »Sprache«); wohl aber ist sie »mit vollem Recht« eine »Sprache« genannt worden, insofern das vom Geist »Ausgeschlossene«, wenn es diesem gegenüber eben als »Ausgeschlossenes« »sich geltend machen soll«, »ein Medium verlangt«, »das geistig bestimmt und beherrscht ist«. Überall, wo die Sprache aufhöre, begegne einem das Musikalische. Wenn aber »die Sprache aufhört, die Musik anhebt und, wie man sagt, alles musikalisch wird, so schreitet man nicht vorwärts, sondern man geht zurück«. (Weshalb Kierkegaard für die »sublimere Musik, welche des Wortes nicht zu bedürfen meint, niemals rechte Sympathie gehabt habe«; solche Musik trete »in der Regel mit der Prätension auf, erhabener zu sein als das Wort, obwohl sie unter ihm steht«.)

Womit freilich Hoffmanns Bewunderung der »unnennbaren Wirkung der Instrumentalmusik« (»Ist nicht die Musik die geheimnisvolle Sprache eines fernen Geisterreiches, deren wunderbare Akzente in unserm Innern wiederklingen und ein höheres, intensives Leben erwecken? ... Kann denn die Musik etwas anderes verkünden als die Wunder jenes Landes, von dem sie zu uns herübertönt?«) nicht zu stimmen scheint.

Wenn wir jedoch mit Kierkegaard die Musik das »Unmittelbare in seiner Unmittelbarkeit« zum Ausdruck bringen lassen, mag sich die Versöhnung anbahnen. Kierkegaard unterscheidet streng: »Es gibt Unmittelbares, was seiner Natur nach in die Sphäre des Geistes fällt«; hier bewegt sich die es ausdrückende Musik »im Grund auf einem fremden Gebiet, sie bildet ein Vorspiel, welches bald wieder verstummt, woraus folgt, daß jenes nicht der absolute Gegenstand der Musik sein kann.« Dem Unmittelbaren »außerhalb der Sphäre des Geistes« ist es »wesentlich, in der Musik seinen Ausdruck zu erhalten; ja es kann allein in dieser, nicht in der Sprache recht ausgedrückt werden, da es außerhalb der Sphäre des Geistes und darum auch außerhalb der Sphäre der Sprache liegt.«

Also: es gibt ein essentielles Musikalisches, das »außerhalb der Sphäre der Sprache liegt«. Kierkegaard setzt es ins »sinnlich Unmittelbare«, Hoffmann ins ferne Geisterreich, Schopenhauer in den Willen. Die Musik, sagt er, ist »darin von allen anderen Künsten verschieden, daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist« ... »Das sinnliche Unmittelbare« und das »unmittelbare Abbild des Willens« lassen sich wohl unschwer vereinigen. Erfährt man aber weiter, daß Schopenhauer »das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht ...«, darauf beruhen läßt, »daß sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual«, so schließt sich über Hoffmanns »fernes Geisterreich« (»Alle Leidenschaften kämpfen schimmernd und glanzvoll gerüstet miteinander und gehen unter in einer unaussprechlichen Sehnsucht, die unsere Brust erfüllt«) der Kreis.

 

Die Musik »spricht« nicht, sie verkündet auf ihre Art etwas, das über (oder »unter«; dies sind keine Gegensätze im Absoluten) der »Sprache« ist. Sie geht aus der Sprache hervor, die Sprache geht in sie über, sie grenzt an die Sprache, aber sie »wiederholt« die Grenzlinien nur gleichsam an der andern Seite. Sie verläuft wie die Sprache (Kierkegaard) in der Zeit (eine »Negation des Sinnlichen«). Ihr Wesen ist eben »sinnliche Unmittelbarkeit«.

Da die Musik nicht redet, kann sie auch nicht erzählen. Ebensowenig wie die Malerei (wohl aber die Zeichnung, die Graphik) erzählt, die Dichtung bloß »tönt«. Wenn die ältere Oper – ich wähle als ein klassisches Beispiel Verdis »Maskenball« – »architektonisch« verfährt, ein vielfältig geschmücktes, in seinen Umrissen klares Gebäude errichtet (auf dem Grundriß des dem konventionellen musikalischen Bedürfnis gemäß gegliederten Textes), vereinigt das »musikalische Drama« Wagners das Wesen des dramatischen Gedichtes mit dem Wesen des Musikalischen zum untrennbaren Ineinander. In der älteren Oper stand der Text neben (vor) der musikalischen Ausführung. Er war nur für sie geschaffen, wirkt, für sich genommen, als gröbster Entwurf, daher operiert er mit den trivialsten Worten. Und mit Recht. Man bedarf seiner eigentlich gar nicht mehr: die Musik hat ihn erschöpft. Wie ein Netzgrund, ein Gerüst, ist er mit Musik bedeckt, bekleidet. Einzelne Stücke des Textdrahtes sind immerhin nicht nur als unsichtbares Fachwerk notwendig, sondern auch als sichtbares nützlich. So reiht manche der älteren Opern ihr Musikalisches nicht wie Perlen auf die verdeckt durchgleitende Textschnur, sondern wie die »Mandoletti«-Krämer das verzuckerte Obst auf robuste Holzstäbchen: das Gerüste wird naiv, arglos preisgegeben, ja manchmal sind diese »Pausen« sogar ganz artig vom Textdichter gezackt, geschnitzelt: der »verbindende« Text. Damit ist nun freilich eine deutliche Scheidung gegeben. Musik und Text vertragen sich zwar prächtig, sind aber doch einander gegenüber körperlich vereinzelt. Wagners Musikdrama läßt keineswegs den »Text« in der Musik aufgehen, ebensowenig wie »Text« und Musik einander gegenüberstehen, einander »ablösend«. Die Musik ist hier nicht von der Dichtung, diese nicht von jener zu trennen, wenn auch beide »Hälften« – dabei darf man nicht an ein Halbieren, Zerschneiden denken – auch eine Weile für sich allein bleiben können, was bei der alten Oper, mit dem Text wenigstens, nicht der Fall gewesen war; der Text allein war nichts als Opernbüchel für solche, die seiner nicht entraten zu können meinen, »Büchelleser«, eine subalterne Lesergruppe.

Wagners Musikdrama ist ein künstlerisches Ganzes, das Wort nicht Mittel der Musik, die Musik nicht Mittel des Wortes, keines des andern Zweck, beide zusammen (nicht addiert, sondern als Faktoren) die Einheit. Nicht zu Worten sind Noten verdeutlichend, oft vergröbernd, jedenfalls betont wie in der älteren Oper gefunden, nicht aus Worten werden Töne »verständlich«, aber anderseits löst sich auch das Musikalische niemals rein formal (Gluck, Mozart) vom Text, es bleibt immer »sinnlich unmittelbar«. Die Musik drückt aus, was die zurückbleibenden Worte nur vorstellen; die Musik bringt gleichsam das zur vernehmbaren (sinnlichen) Existenz, was dem Dichter nur im Verein mit dem begnadeten Leser gelingt. Das ist nicht etwa bloß das »Gefühl«, noch weniger die »Stimmung« (wie es irregehende angebliche »Wagnerianer« musikwidrig zu behaupten wagen): es ist »das Metaphysische« (Schopenhauer), das im Leben, im typischen (allgemein menschlichen) Leben eben das ist, was im Werk das essentielle Künstlerische symbolisiert. Denn die Kunst ist das Symbol des Ewigen im Aktuellen.

Worte sind bloß Zeichen. Auch die Noten sind Zeichen. Aber die Wortzeichen gehen auf den Begriff; ihr Zweck, ihre durch Übereinkommen verstandesmäßig ihnen auferlegte Bestimmung ist die (absolut unsinnliche) Bedeutung. Die Note als Zeichen des Tones dagegen ist eine in ein ganz anderes (sinnliches) Medium zu übersetzende Chiffre, für den Musiker bloß ein Behelf der Darstellung, ein Aufbewahrungsmittel.

Die Buchstaben setzen sich stets nur zu fixen Wortzeichen zusammen, die Noten dagegen leben tönend in immer anderen Verhältnissen unmittelbares Leben. Die Worte müssen erst vom Dichter einzigartig gesagt werden, um im Leser oder Hörer einzigartige dichterische (nicht begriffliche) Zusammenhänge zu erhalten. Der Musiker, der seine musikalische Schöpfung in Noten niederschreibt, verbucht in offizieller Geheimschrift ein nunmehr Unverlierbares: der Musikalische liest die Schöpfung stumm ab und hört sie inwendig. Der Dichter gibt sein Werk gleichsam mit doppeltem Boden her: der unkünstlerische Hörer oder Leser vernimmt nur den syntaktischen Zusammenhang und erfährt das Begriffliche. Jeweils ein einziger wiederkommt, den obern »Boden« des Rationalen zu heben. Der unmusikalische Hörer eines Musikwerkes gibt sich dem rein sinnlichen Eindruck des (ihm mehr oder weniger angenehm) Tönenden hin. Insofern hat die musikalische Schöpfung einen größeren Wirkungsbereich als das spezifisch künstlerische Wortwerk.

Wagner nun ergänzte das, was ihm musikalisch über »die untere Region der Worte« (Hoffmann) hinausging, durch das Tönende. Wenn Hugo Wolf ein Lyrikon von Mörike komponiert, so gibt er ihm nicht etwa ein Mangelndes. Er gibt nur dem »anschaulichen« Eindruck jenes »jeweils einzigen« künstlerischen Empfängers sinnlichen Ausdruck. Wagner hütet sich, seinen Worten ein dichterisches Plus zu verleihen, das erst im Musikalischen sinnlich werden soll. Oder vielmehr: sein Dichtertum bleibt genau um das hinter dem einem »Nur«-Dichter im Wort Erreichbaren zurück, was sein Musikertum zu vergeben hat: daher die wundervolle Einheit, dieses centaurenhaft Verwachsene von Wort und Ton. Bei Hugo Wolfs Eichendorff- und Mörike-Kompositionen ist das Originelle der Wiedergabe das Rechtfertigende dieser im Grunde »überflüssigen« Vertonung des lyrisch schon vollkommen »Tönenden«. Es ist nicht genau die Musik des einzelnen Gedichtes, die er oder ein anderer großer Komponist »findet«. Er erfindet aus Erfülltsein einen neuen Ausdruck des Fertigen. Wie der echte Nachdichter, im Gegensatz zum Übersetzer, aus Erfülltsein das fremde Gedicht neu schafft. Aber der Nachdichter gibt für das fremde ein neues, eigenes. Der Liederkomponist setzt nicht an die Stelle des Gedichtes sein Lied. Er umhüllt es, gleichsam anschmiegend – es kann auch lose Verbindungen, lose Stellen geben – mit dem Musikalisch-Körperlichen. Wagner dichtet zunächst und steigert die Dichtung ins Musikalische. Der ältere Opernkomponist läßt sich durch den Text »anregen«. Er gibt ein Allgemeineres (so daß sich aufeinanderfolgende, den Gedanken fortführende Strophen mit derselben Melodie unbefangen decken). Wagner erlebt seine Dichtung im Musikalischen erhöht. Daher sein – noch so »willkürlicher« – Tonausdruck des Wortgebildes einzigartig, die Unterschiebung anderer Wortgebilde verbietend, bestehen bleibt. Die Schaffensweise Wagners – Tongebilde als Erhöhung des Dichterischen – bedingt seine weise Ökonomie im Stoffgestalten. Er dichtet bis an die »Grenze« des Musikalischen, nicht darüber hinaus.

Und hier setzt der künstlerische Einwand gegen eine »Salome« ein.

Richard Strauß komponiert in »Salome« in Konkurrenz mit dem Dichterischen, wobei es notwendigerweise zum Vernichtungskampf der denselben Boden besetzenden Elemente – des Dichterischen und des Musikalischen – kommen muß. Und das Übel wird noch größer dadurch, daß die Wildesche »Salome« (ganz abgesehen von dem Surrogat der Lachmannschen Übersetzung) statt des Dichterischen vorzüglich das Literarische pflegt. Es ist ganz unmöglich, die rein literarischen Wortmalereien, die artistischen Bilder und Vergleiche der Wildeschen »Salome« musikalisch zu empfinden. Der dichterische Gehalt des Werkes ist musikalisch von Strauß auf das höchste gesteigert worden. Aber es wäre aus dem Wildeschen Kunstwerk ein großliniger Text zu schaffen gewesen. So wie sie dasteht, ist die Straußsche »Salome« ein unorganisches Gemisch aus Musikalischem und von überflüssiger Musik begleitetem Literaturgefüge.

Die Wildesche »Salome« ist ein trefflicher Vorwurf zu einem Musikdrama. Aber das Wildesche artistisch-literarische Kunstwerk ist weder ein »Text« für eine »Oper«, noch die organische »Hälfte« eines »Musikdramas«. Man verstehe mich: das, was in der Wildeschen »Salome« steckt, ist musikalisch erlebbar, das, was das Buch »Salome« von Oskar Wilde vorstellt, ist so, wie es vorliegt, kein zu komponierendes.

»Salome« ist die Tragödie der bis zur »Perversität« sich steigernden unbefriedigten Pubertät. Strauß hat das Brünstige im Todesrausche, die Grausamkeit des Besitz ergreifenden Erotischen musikalisch wunderbar erfühlt. Seine Musik gibt dem mit Worten fast Unausdrückbaren sinnlichen Ausdruck. Insofern ist »Salome« ein großes Werk. Wie im »Tristan« die Schatten des Landes, in dem keine Sonne scheint, über die unendliche Liebe fallen, die über sich selbst hinausstrebt, so steigt hier die Sehnsucht nach dem Unerlebt-Unbegreiflichen über die Liebe hinaus in die süße Wollust des Vernichtens. Und daß dies aus der (von Wilde dichterisch-kräftig entworfenen) »Übergangs«-epoche des Tetrarchen Herodes, dessen scheue Umrisse von Christi mildem Schein umflossen sind, einzig menschlich erlebbar wird, ist überzeugend.

Die Musik ist wie keine andre Kunst fähig, das Ekstatische, die Hyperbel des elementaren Gefühls zu gestalten. Die Musik kann keine Mondaufgänge »darstellen«. Musik, die Mondaufgänge begleitet (»Lustige Weiber«) wird fälschlich von musikalischen Doktrinären als »Darstellung« gedeutet. Der Schritt zur Musik, die etwa das Einfließen von Bier aus dem Faß darstellte, wäre nicht zu gewagt. Man kann freilich die Musik auch zu Spielereien mißbrauchen, und keineswegs ist selbst der Meister des Tristan, der Meistersinger davon freizusprechen (das Gehämmer in »Rheingold«). Etwas andres aber als Darstellung ist es, wenn in »Rheingold« der Rhein und seine Töchter musikalisch leben; wieder kann nur das Wort metaphysisch als ein Vehikel für die unendlichen Gefühle stehen, die hier aus einem Kunstwerk zum künstlerisch, das ist ebenso auch philosophisch oder religiös oder menschlich Empfindenden »sprechen«.

»Salome« ist ein wahres Wunder des Dionysischen. Wenn der Sturm der gepeinigten Seele dem Tetrarchen durch die im Fieber klappernden Glieder fährt, wenn Salome tanzt, wenn der Henker zu Johannes hinabsteigt, wenn der Schrecken lautlos wie Luft im Palast steht, alles dieses Vage, Mystische, Weltraumfrösteln und Seelenschauern, Ungeheuerliches, das der Mensch in sich trägt und immer außer sich mit aufgerissenen Augen sucht: Richard Straußens Musik bringt es zu entsetzlich-packender Fühlbarkeit. Und es ist eminent musikalisch, nur in Musik »darzustellen«. Aber wenn der Komponist an dem blassen Rosenkranz der Wildeschen Wortperlen entlangtastet oder die teils historisch-charakteristischen, teils bloß »dekorativen« Gespräche der Krieger, Juden, des Milieus, in willkürlich auf- und absteigende Töne wie auf schwankende Nußschalen setzt, dann ist das eminent unmusikalisch und wirkt peinlich wie alles Unnötige. Auch Wagner läßt seine Götter und Helden lange, musikalisch geschwellte Gespräche führen, aber das ist so gut Stil wie der melodramatische Clavecin-Canevas, auf dem Mozart seine rieselnden Applikationen stickt. Straußens Begleitung der Wildeschen Geschwätzigkeit (die Salome ist geschwätzig im alttestamentarischen Geschmack) ist kein »Teppich«, sondern »Charakteristik«, musikalische Psychologie, ein Unding wie literarische Malerei. Wagners einheitliches Drama – das darf man nicht vergessen – ist dramatisch gestaltet, mit feinster theatralischer Ökonomie in große Massen gegliedert, die sich gegenseitig bedingen. Wer das dichterische Knochengerüst geprüft hat, weiß, da hier keine Lücken mit musikalischem Fett verdeckt, keine Gliedmaßen gestückelt sind. Die Beredsamkeit dieser gesprächigen und dramatisch doch so sparsamen Tragödien ist nicht Selbstzweck wie beim Literaten Wilde, sondern fein empfundenes und richtig plaziertes Mittel der lyrisch-dramatischen Entwicklung. Breit mag man manche Wagnerschen Mono- und Dialoge finden, niemals wird man sie als überflüssig verurteilen. Bei Wilde ist das meiste eigentlich nur (gehäufte) Stimmungsmalerei und undramatisch, ja antidramatisch. Und nun kommt noch die Musik und wogt als dünner Nebel über diesen endlosen Worten hin. Sobald das Dramatische einsetzt, erhebt auch sie sich. Denn das Dramatische, die Bewegung, verlangt nach ihr. Aber am Ornamentalen der Attribute siecht sie hin.

Der »Sturm« ist mit einem vollendeten Lyrikon von Goethe oder Mörike zu vergleichen. Er hat die Süßigkeit des Kerns vollkommener Gedichte. Hier hätte der Komponist jedoch die Freiheit der Neuschöpfung. Die »Undine« war ein tadelloser Opernstoff, weil sie – von Fouqué mit dilettantischer Hand entworfen – nicht dichterisch ausgetragen war. Den »Tasso« kann kein Mensch komponieren, weil es ein psychologisches, ein Bekenntnis-Drama ist. (Wer wollte Constants »Adolphe«, ohne ihn auf das Epische etwa der »Manon Lescaut« zu restringieren, vertonen mögen!) Der Stoff der »Salome« bietet sich – wie gesagt – dem Musikalischen drängend an. Aber nicht Wildes Verzuckerung war zu benützen, oder es war der literarische Zucker vom reinlichen Gerippe abzuschmelzen. Wagner hat ein divinatorisches Empfinden für die erst musikalisch zu erschöpfenden »Stoffe«. Er war von der konventionellen Oper, die in Arien-Höhepunkten und Märschen über die verbindenden Banalitäten stelzte (»Rienzi«), zur Ballade (»Holländer«) gelangt, von der romantischen Handlung (»Lohengrin« – »Tannhäuser«) zur elementaren Zuständlichkeit (»Tristan«) emporgestiegen, vom Mythos (»Ring«) zum Symbol (»Parsifal«) getrieben worden. Diese künstlerische Entwicklung ist selbst musikalisch-dramatisch.

Richard Wagners Werke sind Stationen seines Lebens. Wilde war ein pretiöser Amateur. Sein Erlebnis war das Schöne. Er gefiel sich als Connaisseur. Und als Liebhaber hat er die »Salome« geschrieben (französisch und für die Bernhard ...). Wildes Geist ist in jedem seiner Werke. Wildes Menschlichkeit aber lebt nur in seinen unmittelbaren geistreichen Mitteilungen, die Paradoxe und blitzende Aperçus sind. Aus Wagners Werken steigt sehnsüchtig sein Urmenschliches.

Das größte an einem Künstler ist immer er selbst mit allen seinen Schwächen. Gott ist unendlich im Kleinsten. »Wann« (»Pippa«) hört die Sphären donnern, wenn ihm das Marienkäferchen über die Hand kriecht.

Alte Kupfer

Die unbeschreiblich wohlige Wirkung, die alte Kupfer, wenn sie den Text eines Buches begleiten, auf den Betrachter ausüben, liegt in ihrem diskret dekorativen Charakter. Sie stehen für eine Arabeske. Baudelaire nennt die Arabeske das Ideal der Zeichnung, die »spiritualisierte« Zeichnung. Was er meint, ist offenbar jenes Element des im ästhetischen Sinne Zwecklosen, in sich selbst Beschlossenen, vom »Gegenstand« Entbürdeten, gleichsam Entmaterialisierten, als dessen Gegensatz die eigentliche Illustration, die erzählende Zeichnung, auftritt. Auch der Kupfer, wie die Illustration, lehnt sich an Worte an. Auch der Kupfer zeigt eine Situation der Erzählung. Trotzdem wirkt er nicht als »Illustration«. Warum? Wenn man die Faktoren dieser Wirkung aufzählte – den einheitlichen Ton, das Verhältnis einerseits des Figuralen zur Umrahmung, andererseits des ganzen Bildchens zur Seite: das Fleckenverhältnis Schwarz-weiß, d. i. Bild und Rand; die bei aller Individualität des Zeichners und des Stechers doch deutlich respektierte Konvention – würde man aus ihrem mechanischen Nebeneinanderlagern keine Erklärung gewinnen. Wie bei allen rein künstlerischen Resultaten entscheidet das Musikalische. Das Musikalische aber ist ein Problem der Seele. Der kleine Kupfer wirkt, weil er im Takt bleibt, weil er Stil hat. Es ist ganz nebensächlich, was er darstellt. Das Wesen seines Eindruckes ist das Beruhigende einer Harmonie.

Wenn wir nun vom kleinen Kupfer zum Gemälde aufblicken, wird uns dieselbe Erfahrung. Auch das wahrhaft künstlerische Rahmenbild wirkt vorzüglich als Ganzes, als farbige Fläche, nicht als Inhalt, Darstellung. Aber es ist ein Unterschied da: was beim Gemälde das Letzte ist, die vollkommene »in sich selbst selige Schönheit« (Mörike), ich meine, was nur von der ganz großen Kunst als Gnadenwirkung ausstrahlt, das ist im kleinen Buchkupfer schon bei verhältnismäßig minderer Kunst, bei artiger Gefälligkeit erreicht. Den Kupfer trägt nämlich die Tradition. Das Gemälde ist etwas Einzelnes, der Kupfer ein Glied in einer Reihe, das Gemälde hat als Individuum den Kampf mit allen anderen Gemälden (auch wenn sie nicht körperlich vorhanden sind) zu bestehen, um »selig in sich selbst« seiner Idee, seinem künstlerischen Prinzip Genüge zu leisten; dem einzelnen Kupfer hilft der Rhythmus der Reihe (Rhythmus ist Wiederholung). Trotz aller Trefflichkeit muß die Illustration den künstlerisch empfindenden Betrachter als ein Beiwerk immer stören. Der Kupfer bleibt im Rahmen des Buches. Sie ist ein Plus, eine Zugabe. Sie ist um ihrer selbst willen da, verzichtet, noch so »stilisiert«, auf rein dekorative Wirkung, will als Darstellung mit dem Intellekt betrachtet, nicht als »Fleck« vom Gefühl genossen sein. Eine Parallele wären auf dem Gebiete der Musik die »reine« und die charakterisierende Musik. Doch ist die Parallele gefährlich, denn die »charakterisierende« Musik, wenn sie auch meist in Illustration, in Nebenbei und Überdies steckenbleibt, kann sich doch – Wagner – zum An-sich steigern, wenn sie das Wort erlöst, nicht bloß begleitet. Die Illustration aber erlöst nie das Wort. Sie bedarf seiner als »Erklärung«, sei die Situation noch so klar. Anders die symbolische Illustration (Wagners scheinbar charakterisierende Musik ist symbolische Musik). Sie ist je nach dem geistigen Standpunkt Arabeske oder Vorgang. Sie setzt, um »erkannt« zu werden, mehr voraus als der Kupfer. Nicht etwa »Verstand«, aber musikalisches Empfinden.

Vom Wesen der Kunst

Kunst ist nicht der Gegensatz zum Leben, sondern ein Erleben des Lebens eigener Art, ein Dasein genau so wahr wie das Leben, aber nach eigenem Gesetz, eine Durchdringung des Lebens, die des Lebens, damit sie überhaupt sichtbar werde, niemals entraten kann, aber sich seiner anders bedient, als es dem Leben gemäß ist, ein Regenbogen durch eine Landschaft, der nicht unwirklicher ist als sie, traumhafter bloß dem scheint, der durch ihn die Landschaft erblickt, ihn durch die Landschaft, als wäre sie nicht, sich wölben sieht.

 

Das Kunstwerk ist der persönliche (subjektive) Ausdruck des Überpersönlichen (nicht Unpersönlichen, Allgemeinen, wenn auch Allgemein-Menschlichen, besser Allgemein-Geschöpflichen), Seelischen durch das Mittel der gesetzmäßigen Form. Sein Wesen ist Wirkung. Seine Wirkung beruht im Einklang seines Grundtones, der Seele, mit den die Gestalt als Erscheinung, Wirklichkeit bedingenden Lebenszügen. Das Kunstwerk lebt, aber da es bloß als Wirkung, von ihr, in ihr lebt, erfordert es zu seinem wahrhaftigen, sich selbst bestätigenden Dasein den es erfassenden, es erkennenden Empfänger. Die Natur lebt für sich, ihr Wesen ist ausdrucksames Dasein, nicht Wirkung. Denn die ästhetische Erfassung der Natur ist schon eine höhere Ebene, deren Träger der ästhetisch empfindende Betrachter ist. Sie bedarf dieser Auffassung nicht, um ganz sie selbst zu sein. Das Kunstwerk aber entsteht immer erst im Empfänger sozusagen zu sich selbst, wird, was es (latent) ist.

Mörike hat in dem feinen kleinen Gedicht »An eine Lampe« die Erkenntnis ausgedrückt: »Was aber schön ist, selig ist es in ihm (sie) selbst.« So bezaubernd dieser – eine durchaus künstlerische Anschauung gleichsam dem Objekt schenkende – Ausdruck bleibt, genau betrachtet ist die Seligkeit des schönen Daseins doch bereits Personifikation seiner Wirkungsfähigkeit. Es wird dem schönen Ding ein Selbstgefühl beigelegt, das erst ein es hierbei belauschendes Subjekt festgestellt haben muß. Selig in sich selbst ist die Natur, nicht das Kunstwerk, dessen reinste Seligkeit, objektiv, die des Schöpfers am Gelingen ist. Immer wieder als so gelungen zu »erscheinen«, sich zu sich selbst wiederholend, zu erneuern, ist die »Seligkeit« des Kunstwerks, die aber eben als Wirkung im Empfänger atmet, also zwar vom Objekt ausgeht, doch aber erst vom Genießer in es zurückverlegt werden muß, um wahrhaftig zu sein. Denn sonst könnte ja, paradox gesprochen, der Empfänger des Kunstwerks überhaupt entbehren, es bloß vorstellen (und dies ist der Genuß an der Vorstellung des Schönen, das ist des Ebenmäßigen überhaupt, die Erinnerung an Wirkung ist. Ein der Sinne Entbehrender kann sich ein Kunstwerk nicht vorstellen).

Schaffen ist, nach Wagners (Hans Sachs) Wort Wahrtraumdeuterei. Er schränkt es auf die Dichtung ein, da er das Gewicht auf das Deuten legt und überhaupt, als Musiker, das Dichten zur Verdeutlichung des sein Werk erfüllenden und es umwölkenden Tönens nutzte (seinen Gaben gemäß, die verteilt waren auf die beiden einander ergänzenden Ausdrucksamkeiten, von denen die begrifflos tönende überwog). Aber »Deuterei« des »Traumes« zur Wahrheit, des ungeklärten Empfindens zur umrissenen Erscheinung, die ihrem lebendig zum notwendigen Umkreis wirkenden Mittelpunkt die Gestalt dankt, ist alles künstlerische Schaffen, zum Unterschied vom unkünstlerischen Formen, das auf die eine Seite die tote Form stellt und daneben die »Deutung« setzt, weil die beiden sich nicht durchdringen können. Daran, in diesem Nicht-Innen, Nicht-Außen-Sein liegt's. Es gibt keine Regel, nach der es zustande gebracht werden könnte, wohl aber ein Gesetz, demgemäß es notwendigerweise zustande kommt. Notwendigkeit heißt Werdenmüssen. Im Grunde ist dies ein Pleonasmus, denn es ist kein Werden ohne Müssen. Sein Gegensatz – der Gegensatz dieses Passivums: »es« wird – ist das Machen. (Das griechische ποιεἰν = machen hat den dichterischen Prozeß in der Sprache bloß als Tätigkeit festgehalten, begreiflich aus der sprachschöpfenden Eigenart eines Volkes heraus, das auf das Bildnerische, das Plastische vorzugsweise sich gerichtet fühlte; auch die griechischen Tragödien sind tönende Plastik, zum Festen, Körperlichen, Schattenden drängendes musikalisches Chaos, und die griechische Redekunst ist in der Pause, zu der gleichsam die hinaufstürmenden Worte gerinnen, dem Kristall der Pause, dem die Wirkung des vorwärtsgetriebenen Wortes abwartenden Augenblick der abermaligen Selbsterraffung am wirksamsten: hier hält der »Gehalt«, hier sammelt sich das Immaterielle zum Sprechergewicht).

Schaffen ist Deuterei. Das besagt klärlich, daß das Bewußtsein daran beteiligt ist. Im Schaffenden ringt sich ein Etwas, eine Blase los vom unfaßlichen Mutterstock, aber alsbald, wie sie auftaucht an der Oberfläche, dem »Spiegel« des Bewußtseins, wird sie, aufgehend im andern Element, dem ihr ureignen, Teil dieser Fläche, die keine Grenze ist und doch ein Übergang. Und eben hier, genau in dieser Bewegung, die sich verliert, entsteht das Kunstwerk.

 

Kunst ist Symbol. Jedes Kunstwerk ist ein Gleichnis. Aber der Sinn des Gleichnisses kann nicht erklärt werden. Ein Gleichnis kann man nur deuten. Es ist weder eine zu errechnende Aufgabe noch ein zu lösendes Rätsel. Die Deutung des Kunstwerks ist der Schöpfer. Denn das Kunstwerk ist sein Ausdruck.

Das Urteil über ein Kunstwerk kann nur lauten: Es ist vollkommen oder: es ist unvollkommen. Das Urteil Vollkommenheit ist nicht zu begründen, das Urteil Unvollkommenheit dagegen kann als Negativum begründet werden. Es gibt nur eine Vollkommenheit, Unvollkommenheit aber ist verhältnismäßig. Vollkommenheit heißt Unbedingtheit, Erfüllung des (immanenten) Gesetzes.

Das vollkommene Kunstwerk wirkt auf den Kunst fassenden, Kunst erkennenden Geist absolut wie die Natur. Aber Kunst erkennen ist etwas anderes als Natur empfinden. Erkennung von Kunst ist Kunstgenuß, dem gesetzgerechten Wesen der Kunst entsprechend. Mit dem Wort »absolut« soll die Einheitlichkeit des Kunsterlebnisses bezeichnet werden. Alles Ganze, In-sich-Eine, gleichsam Kugelige wird von einem gewissen, aber nicht »feststellbaren« Mittelpunkt getragen. Der Mittelpunkt der Natur ist Gott, der Mittelpunkt der Kunst ist Seele. Wer Kunst erkennt, erkennt sie von ihrem Mittelpunkt aus, zu dem er nicht von außen durch Erklärung gelangen kann, sondern in den er »versetzt« wird im Augenblick des Erkennens. Nur »Seele« kann Kunst erkennen. Der Vernunft entzieht sie sich. Sie ist der Vernunft ungreifbar, unbegreiflich. Begriffe greifen sie nicht. Seele erfährt sie unmittelbar.

Jeder Mensch, jedes Geschöpf hat Seele. Aber in den meisten Menschen ist sie entweder unentwickelt oder verkümmert.

So wie die ganze Natur Gott enthält, aber nicht in jedem Ding und nicht von jedermann und nicht immer Gott sich vernehmen läßt, der sich gleichsam in sich selbst zurückzieht, wenn man seiner nicht bedarf, so enthält die Kunst Seele, aber sie antwortet nur im Einklang mit sich selbst.

Es ist ein durch die Alltäglichkeit in seiner Traurigkeit nicht gemindertes Ereignis, daß Kinder Seelenkraft erwachsend einbüßen. Seele erfordert Pflege, die ihr Bildung nicht gewährt. Bildung erzieht den Intellekt. Der einfachste Mensch kann Kunst erfahren. Aber der Grad der Deutlichkeit, der ihre Erkenntnis vollkommen macht, steht wie die Gott schauende Religion über dem blinden Glauben.

Weder Religion noch Kunsterkenntnis lassen sich vermitteln. Wohl aber kann innere Erleuchtung jedem zuteil werden. Und die gegebene Fähigkeit kann erbildet, zu sich selbst vervollkommnet werden.

Es ist ein vergebliches Beginnen, Menschen, die sie nicht ahnen, Kunst zu zeigen. Solche Menschen lassen sich, wenn sie naiv und ehrlich sind, an ihrem wahllos um sich greifenden Vergnügen an Kunst und Afterkunst – einer subjektiven Lustempfindung, die der am Wohlgeschmack einer Speise, am Wohlgeruch einer Blume gleichwertig ist – genügen; wenn sie sogenannte Kunstbildung erfahren haben oder gar Kunstbildung verschleißen, reden sie um die Tatsache mehr oder weniger abgeschmackt herum und sind mit sich und ihrem »Verständnis« sehr zufrieden. Es gibt auch »Künstler« unter ihnen, »Dichter«, »Maler«, »Musiker«, »Schauspieler« usw., die, weil sie »Kunst ausüben«, noch um ein großes Teil selbstgefälliger und sicherer von ihr zu erzählen wissen. Es gibt ja auch Priester, die mit Gott auf dem gemütlichsten Fuß leben, ohne daß er sich ihnen jemals auch nur von fern verraten hätte.

 

Das Gesetz der Kunst ist Wahrheit, das des Lebens Liebe. Die Kunst hat nur dann ein Recht auf Dasein neben dem Leben, wenn sie notwendig ist wie es. Was aber notwendig ist, ist wahr. Das Leben ist gegründet auf Unfreiheit. Niemand wünscht sich das Leben, es wird ihm, und er hat sich damit abzufinden. Darum bedarf er der Liebe. (Und sei es bloß als Kind, dem Liebe zu schmälern wahrhaftig Sünde ist.) Die Kunst aber entstammt der Freiheit des Geistes. Er spiegelt die Welt, aber er ist unrein, durch die Sinne, die ihn zugleich bedingen. Die Kunst ist die Vergeistigung der Sinnlichkeit (die ihr zum Grunde liegt). Nur die Vergeistigung der sinnlichen Erfahrung, das ist die Verwandlung der Welt in den Geist, ist echte Kunst. Aber es muß eben die Welt, das ist die Sinnlichkeit, sein, die verwandelt wird, das dem Künstler an der Welt persönlich Zugängliche, seine Erfahrung. Hierin besteht die Wahrheit der Kunst. Unfehlbar ist echte Kunst, weil jeder echte Künstler gemäß seiner Erfahrung die Welt in Geist verwandelt. Jeder noch so kleine Spiegel der Welt erfaßt sie. Aber nur der Künstler kann das Spiegelbild aus sich heraus setzen, im Brennpunkt festhalten, das ist gestalten. Ein Grad zu viel oder zu wenig fälscht bereits das Erschaute. Echte künstlerische Besonnenheit ist zugleich Unmittelbarkeit, Höchstes Bewußtsein ist innigste Bewußtlosigkeit.

 

Erkenntnis ist mehr als Gestaltung, ebenso wie Idee mehr ist als Gestalt. Und so hoch Kunst steht: da sie auch in ihren letzten Schwingungen an die Sinne als (aktive und passive) Vermittler gebunden ist, bleibt das Höchste, das sie erreicht und zu schenken fähig ist, doch hinter der rein geistigen Erfassung des Wesens der Welt um einen Kreis zurück. Freilich enthält Kunst im Kern genauso das Wesen der Welt wie die Welt selbst, deren Spiegelbild in Farben, Worten, Tönen sie ist, aber sie ist als Erscheinung immer noch nur Ausdruck, nicht wie Erkenntnis Einkehr.

Es ist Irrtum und Sünde, wenn Kunst das, was sie enthält, anders als durch sich selbst, ihr Dasein, auszudrücken bestrebt ist. Geheimnis ist ihre Seele jenseits der Mittel, nicht ihr Objekt. Mißverstehe man mich nicht: Geheimnis kann ihr Objekt sein, aber nicht das Geheimnis der Kunst selbst. Feuer drückt sich durch Brennen aus, Kunst durch Kunst-Sein. Ein Stück Fleisch ist genauso geheimnisvoll, als Natur, wie eine Nelke (an einem Fahrrad ist nichts Geheimnis, alles Lösung der Aufgabe). Ein Vers von Ovid ist genauso geheimnisvoll, als Kunst, wie ein Porträt von Holbein. Aber nicht im Mittel einerseits, nicht im Objekt anderseits besteht das Geheimnis, sondern im Mittelpunkt der Einheit Kunst-Werk. Daher sind alle Versuche von Dichtern oder Malern, Geheimnis der Kunst durch Kunst (als Aufgabe) zu erzielen, von vornherein nicht nur hinfällig, sondern der Leistung an sich abträglich: Das »Bild« kommt nicht zur Ruhe, die die Anschauung bedingt, schwankt in verschobenem Augenschein, zwiespältig, unklar. Aus sich selbst hervor atmet das echte Kunstwerk Geheimnis, Rembrandts »Geschlachteter Ochse« wie Giorgiones Madonna, Shakespeares Hamlet wie Mozarts Figaro.

 

Das Höchste, daher Unerreichbare, aber als einzig erstrebenswert ewig zu Erstrebende ist Wahrheit. Kunst ist bloß ein Ausdruck des Übersichstrebens des Menschen, eine der vielen Formen seiner Sehnsucht nach der Einheit, die er, bewußt lebend, in die Vielheit zerbrochen erfährt. Wahrheit ist Einigsein mit dem Einen, Vereinigung. Wir wissen von ihr, sonst wäre sie nicht unser Ziel, und dieses Wissen stammt von ihr, die sich ihrerseits in uns, unerlöst, nach Erlösung, das ist nach dem Aufgehen zu sich selbst, dem Zusammenfallen des Vielfältigen in sich selbst sehnt. Daher ist der Inhalt aller Kunst Symbol dieser Sehnsucht. Seine primitivste Form ist der Mythus. Einerseits Sündenfall der Schuld, anderseits Sühne und Heimkehr. In den hunderttausend Versuchen der Kunst, sich der Erscheinung durch Erfassen des in ihrer Vergänglichkeit Dauernden zu bemächtigen, liegt die ganze schmerzliche Bewegung des Bewußtseins: zurück zum Unbewußten, bloß Seienden, der gelassen gebreiteten Wahrheit.

 

Die Malerei als die Kunst, die Erscheinungen der Natur in Farben zu gestalten, wendet sich an das Auge, das tätigste und daher am Menschen im allgemeinen am vollkommensten entwickelte Sinnesorgan. Das Auge spiegelt nicht die Welt, sondern es erschafft sie. Anders das leidende Gehör, das, dem Andrang der Schallwellen ausgesetzt, den Ton nicht bildet, sondern empfängt. Daher sind die Gehöreindrücke der Menschen – nicht freilich die geistige Gehörarbeit – einander durchschnittlich gleich, die Gesichtseindrücke, die besser als Sehausdrücke zu bezeichnen wären, voneinander, ganz abgesehen von ihrer Wertung, verschieden. Hierauf beruht die Unendlichkeit der Malerei, die Unendlichkeit der Musik anderseits auf der innerlichen Unerschöpflichkeit der Tonbildung. Malerei ist nicht so sehr Schaffung eines neuen Objektes für das Auge als vielmehr Erneuerung des sinnlichen Eindrucks im individuellen malerischen Ausdruck. Musik ist nicht so sehr Erneuerung des sinnlichen Eindrucks als vielmehr Erschaffung eines neuen Ausdrucks als Objekt des Vernehmens. Malerei müßte letzten Endes nicht erblickt, Musik aber muß gehört werden, um zu existieren. Der Maler bewältigt, seinem Schöpfertriebe gemäß, seine jeweilige Aufgabe, die ihm von außen als wirksamer Eindruck kommt, durch den seinem Eindruck gemäßen Ausdruck des malerischen Erschauens der Erscheinung, der Musiker muß sein Werk, und sei es bloß innerlich – so vielleicht am vollkommensten –, vernehmen, wenn er auch der Wiedergabe seines tönenden Einfalls im rein Akustischen nicht bedarf, den zum Kunstwerk zusammenklingenden Schall im Geist vorwegnimmt, was der Maler nicht vermag: sein Werk entsteht erst im Entstehen. Der Maler, der ein Porträt oder einen Baum malt, »sieht« freilich den Gegenstand seiner sinnlichen Wahrnehmung und empfängt von ihm einen ganz bestimmten Sinneseindruck, der schon Bild ist, aber erst, indem er in seinem Material, der Farbe, und sei es im größten allgemeinsten Umriß oder im andeutendsten Flecken, diesen seinen Eindruck sich selbst vergegenwärtigt, wird ihm, was er erschaut hat, zum künstlerischen Abbild (das dem »gegebenen« Gegenstande keineswegs entsprechen muß, wohl aber seinem Bildeindruck. Hierher gehört die von unkünstlerischen Beurteilern so oft falsch verwertete »Ähnlichkeit«. Es gibt keine »objektive« Ähnlichkeit, sondern so viele Ähnlichkeiten, als es einen Gegenstand erblickende Augen gibt. Das Bild, das ich von einer mir vertrauten, etwa täglich gesehenen Person mit mir trage, ist nicht etwa der wiederholt »aufgetragene« Eindruck ihres sinnlichen Wesens, sondern eine Abbreviatur des hier vom Schauen ausruhenden Gedächtnisses. Zum Erblicken muß ich erst das Auge in unmittelbare Tätigkeit versetzen, und es mag vorkommen, daß ich plötzlich einen Bekannten »erkenne«).

Nur der Maler kann künstlerisch Wertenden ein Künstler heißen, dessen Werk den besondern Mitteln seiner Kunst sowohl wie dem einzigen Erschauen, das ihm eignet, vollkommen entspricht, das ist der Maler, der dem neuen Gegenstande des Erblickens, seinem Werke, die eigene Seele als unsterblichen »Kern« des wiederum Seele anrufenden Werks und seine ganze Kunst, den höchsten Erfolg seines Könnens als malerisches Eigenleben zu verleihen imstande ist. Das heißt: Das Kunstwerk muß aus ihm hervorgegangen, und seine Kunst muß ganz in es hinein und durch es hindurchgegangen sein. Weder darf von ihm etwas hinter dem Werk zurückbleiben (obwohl er sich behält), noch darf das Technische als Technisches im Werk unerlöst, starr bleiben. Es kommt also auf zweierlei an, das sich im vollkommen malerischen Kunstwerk als Vereinigung ausdrückt und den Kunstempfangenden als Einheit anspricht: Das Ewige des im Werk zum Gegenstande gestalteten Individuellen und das Vollkommene der darin erschöpften malerischen Erschaffenskraft.

Der Musiker »hört« seinen tönenden Ausdruck der Welt und will ihn genauso vernehmen lassen. Er erreicht es wenigstens im »Umriß« der Töne, da, wie gesagt, die Reaktion des Gehörs auf den Schalleindruck im allgemeinen gleich verläuft. Sonst wäre ja Musik als persönlich gestaltetes Vernehmen des Kunstwerks andern geradezu unvernehmbar. Aber die Mittel der Technik des Hörens sind auch die Gefahr des Verkennens des zu Vernehmenden. Die Seele des Musikers kann immer nur gleichsam in den Intervallen zusammengeballt ihr Eigenstes gestalten; alles Tonwerk ist gefühlsmäßig Konvention und demnach Gemeingut. Daher der verzweifelte Drang des leidenschaftlichen Musikers, in Dissonanzen und Kakophonien die Erlösung immer wieder hinauszuspannen, um durch diese Steigerung der Hindernisse den »wahren« Ton nur den geduldig seine Entwicklung Mitleidenden zu vergönnen (daß es die Malerei in wüsten Zersetzungen der farbigen »Töne« hierin der Musik gleichtun will, ist ein Mißgriff, eine dem Wesen der Kunst widersprechende Verirrung).

 

Der »gesunde Menschenverstand«, an und für sich eine harmlose Eigenschaft – ich weiß nicht, warum mir dabei ein Bierwärmer einfällt – wird bedrohlich, wenn er »wissenschaftlich gebildet« auftritt, gespenstisch aber geradezu, wenn er sich mit ästhetischer Normalwäsche bekleidet sehen läßt. Der gesunde Menschenverstand läßt die Kunst im allgemeinen gelten, aber er »lehnt sie ab«, wenn sie es sich herausnimmt, ihm »unverständlich« zu sein. Es ist possierlich, festzustellen, wann sie ihm, seiner Meinung nach, taugt. Zunächst wenn sie »klassisch« geworden ist, das heißt, wenn er sie unbesehen hinnimmt. Dann, wenn sie in Massen und offiziell auftritt. Endlich, wenn er sozusagen von Amts wegen mit ihr zu tun hat.

Ich habe immer den braven Mann leiden mögen, der unbefangenerweise sein Ja-ja, Nein-nein ausspricht, auf dem Gebiete der Kunst in der Form: »Es gefällt mir«, »Es gefällt mir nicht«. Aber die Leute, die, weil sie die an Lebewesen üblichen Augen und Ohren und außerdem eine »Stellung« besitzen, »urteilen«, wo sie zu Schweigen zu gerinnen verpflichtet wären, lassen mich, leider, noch immer nicht kalt. Ein Mensch, der mir, ohne daß ich ihm den geringsten Anlaß dazu geboten hätte, erzählt, welchen Eindruck ihm, wofür er nichts kann, ein Kunstwerk gemacht hätte, erregt mir unaussprechliche Gefühle. Warum gibt niemand ein Urteil ab über eine Dreschmaschine, sondern begnügt sich damit, wenn er ihrer bedarf, sie von einem Sachkundigen für sich erstehen zu lassen? Und warum urteilt jedermann über das, was er nicht einmal wahrnimmt? Denn eine Dreschmaschine kann jedermann erblicken, aber ein wirkliches Gedicht, einen Satz vollkommener Prosa, ein paar Takte großer Musik, ein malerisches Bild erlebt nur der, dessen Wesen kunstgemäß beschaffen ist.

Ein Irrtum ist hier am Werk, der grauenhafter nicht ersonnen werden kann. Er liegt in der Verwechslung der rein mechanischen Empfindung des aufnahmefähigen Sinnesorganes mit dem Erlebnis, das eine Tat seelischen Schöpfertums ist. Religiosität, Liebe, Kunsterkenntnis sind aktive Begabungen, Kräfte, nicht bloß »Reaktionen«. Sie sind »gegeben«, nicht erlernbar (wenn auch erbildbar). Kunstgenießen ist ein Zustand seiner Art (sui generis) wie Fernsehen. Das wollen die niemals Wort haben, die davon keine Ahnung haben. Ein intelligenter Mensch, der etwa germanische Philologie betreibt und ein gewisses Maß an Kenntnissen erworben hat, meint, zu ästhetischen Urteilen befugt zu sein, obwohl es ihm am Wesentlichen, der kunstgemäßen Organisation der Seele, gebricht. Daß dieser Irrtum überhaupt sein geräumiges Dasein fristet, ist der Tatsache zuzuschreiben, daß ihm kunstfremde »Künstler« immer wieder zur Bestätigung seiner selbst (im Gegenteil) verhelfen. Denn die Kunst hat eine Stiefschwester, der alles eignet, was scheinbar die echte ausmacht, nur das ausschlaggebende Moment der Legitimität fehlt. Auch in der echten Kunst geht dieses Erbe der »anderen Seite« um, ja es ist ihr – Blut ist unverlierbar – zuweilen eine erschreckende Warnung vor Überhebung. Die Möglichkeit der »Stiefschwester« ist ja in dem einen »Elternteil« gegeben. Doch um das wie alle unmittelbaren Bilder zeugende und zugleich auch den Gedanken verzerrende Bild zu verlassen: Die echte Kunst hat die Mittel mit der unechten gemeinsam. Freilich im allgemeinsten Verstande. Ein Gedicht besteht aus Worten, die nach einer gewissen Ordnung (Rhythmus) aneinandergefügt sind. Das verfügbare »Material« ist beschränkt. Sogar das Wie ist erschöpfbar. Aber das innerliche Wie, die höchstpersönliche Seele dessen, der das Gedicht schafft, ist potenziell unendlich. Und hiermit ist das am Tage liegende Geheimnis der Kunst enthüllt: es kommt auf die jeweils einmalige Individualität an, die in ihrem Werk lebt. Sie läßt sich nicht als ein »Faktor« herausrechnen, sie ist unentwirrbar im Ganzen enthalten, sie ist das, was es ausmacht (eine notwendige Tautologie): Die Einheit.

 

Mit der Nachbildung der Natur, ihrer Laute und Gestalten beginnt die Kunst. Gleichzeitig ungefähr entwickeln sich in primitiver Form Musik, Zeichnung, Malerei, Plastik. Die Dichtung ist reiferen Epochen der Selbstbesinnung des Geistes vorbehalten. Aus Musik und Tanz geboren, ist sie zunächst Chorgesang, dann »Drama« (Pantomime, kultische Verkörperung), später auch Lied, Gedicht, endlich Epos, in Erzählungen gestaltete Darstellung. Als die reifste Frucht am Lebensbaum der Kunst hängt sie zuhöchst, jedem sichtbar, wenigen erreichbar. In der Sprache erst überwindet sich der Mensch, wie er sich zuerst in ihr gefunden hat. Von diesen beiden Enden seiner Entwicklung – denn ehe er sich gefunden hatte, war er nicht Mensch gewesen, das ist selbstbewußtes Wesen – wurzelt auch die Erkenntnis der Kunst in Worten, der Dichtung. Jedermann erlernt die Mittel, die der Dichtung dienen, die Worte. Nur der Dichter aber erschafft sie. Das Geheimnis des Dichtertums liegt im Erschaffen der vorhandenen Worte. Es ist der Irrtum der undichterischen Dichterlinge, daß sie nach nicht vorhandenen Worten aus sind (die sie in Verballhornungen der bestehenden gefunden zu haben meinen) und den üblichen Verbindungen der Worte ängstlich ausweichen. Der Irrtum besteht darin, daß sie das Neue in den Faktoren suchen, während es im Resultat liegt, das zugleich Ziel ist. Das einfachste Lied von Claudius oder Uhland ist »neuer« als die Verrenkungen jener armseligen Lyriker, die in weißen und blauen Blättern ihre Seelenstummheit zum Brüllen zwingen.

Das, was diesen Machern jedes ihrer »Gemachte« tot zur Welt kommen macht, ist die Bewußtheit, die Absichtlichkeit ihrer Wortunternehmung. Man kann nicht dichten, ohne daß es in einem dichtet.

Daß aus Worten, die sich an den Verstand um Übersetzung der Begriffe in Vorstellungen wenden, während die Linien und die Farben den Gesichtssinn unmittelbar in die ihm ureigene Tätigkeit des Erschauens versetzen, Tönen das Gefühl antwortend mitschwingt, sich Gestalt ergibt, das ist das Werk der Vorstellungsfähigkeit, Phantasie, die jeder Mensch, ja jedes Tier besitzt, denn Leben heißt Vorstellenkönnen. Es ist die Gabe, Zeit zu Raum zu bannen, im jeweiligen Durchschnitt des zeitlich entgleitenden Objekts mit der Ebene der Räumlichkeit, einer Idee, Zeit zu Fläche zu verbreiten.

 

Wirklich gültig ist bloß das Erlebnis des Kunstwerks. Man kann es bis zu einem gewissen Grad auch anderen vermitteln, freilich niemals es selbst ersetzen, sondern bloß an seiner Stelle das eigene verlebendigen, also gleichsam das persönliche Erlebnis des Kunstwerks für andere selbst zum Erlebnis machen. Es geschieht durch kunstgemäße Einführung in das Wesen des (einzelnen) Kunstwerks, während durch seinen Vortrag, seine Darstellung (in den »redenden Künsten«) es andern als Darstellung, nicht mehr unmittelbar zum Erlebnis werden kann (weshalb dramatische Dichtungen nur der dem Dichter gemäß genießt, der sie lesend erwirbt; daß er sie laut liest, wird ihm den Genuß der Erkenntnis, durch Resonanz, erhöhen, Zuhörern kann es einen eigenartigen Genuß gewähren, aber den des Werkes selbst, unverfälscht durch den noch so großen Leser, nur, wenn sie auch bereits das Erlebnis erfahren hatten und es sich jetzt, wie im Spiegel, erneuern).

Was ein Kunstwerk sei und was es nicht sei, darüber gibt es für den Kunsterkennenden keinen Zweifel. Wie aber wären dann die absprechenden Urteile von Künstlern über anderer Künstler Werke zu erklären? Die Antwort ist einfach: Weil nicht notwendigerweise der Künstler, der Schaffende, Kunst erkennt. Freilich ist Kunsterkennen, wenn überhaupt vorhanden, im Künstler zuhöchst entwickelt. Aber auch der Künstler muß es in sich erbilden. Mit seiner Kunstfähigkeit, der Schaffens-, der Gestaltenskraft ist es nicht immer gleichmäßig gegeben. Mit einem Wort: Kunsterkenntnis ist eine Gabe eigener Art wie Farbenblindheit ein Mangel eigener Art ist.

Noch eines: Die Erfahrung, daß dieses und jenes Erzeugnis der kunstschaffenden Tätigkeit ein sogenanntes Kunstwerk sei, ist zunächst nur immer wieder ein persönliches Erlebnis des einzelnen Kunsterkennenden. Die Feststellung aber, daß ein Kunstwerk als ein solches zu gelten habe, ist das Ergebnis blinder Meinung, das Echo der Unberufenen. Goethe war ein Künstler für sehr wenige Menschen gewesen (daß er eine Zeitlang – nach Götz und Werther – ein weithin bekannter Dichter war, ist nicht damit zu verwechseln): daß er aber in der allgemeinen Meinung als »großer Dichter«, das ist als Künstler, gilt, ist das Ergebnis späteren Hörensagens. Und der »Ruhm« des großen Künstlers ist eine Übereinkunft der Gebildeten, das heißt der Menschen, die auf geistigem Gebiet einigermaßen Zusammenhängendes gelernt und nicht ganz vergessen haben.

 

Das Prinzip der Welt nach unsern sinnlichen Vorstellungen – die ja auch das Begriffliche tragen – ist die Kugel. In der Kunst wird diese Erkenntnis auf eine fast unheimliche Weise dem Kunsterfassenden deutlich. Denn jedes echte Kunstwerk steckt im Lebenswerk des Künstlers, und das Lebenswerk selbst steckt in seinem Leben: alles ist konzentrisch, hat einen Mittelpunkt. Daher ist auch das Leben des Künstlers unlösbar verbunden mit seinem Werk, mit jedem einzelnen. Die unechten, die unwahren, unwahrhaftigen Werke aber stehen neben dem Schöpfer, haben nichts mit ihm zu tun. Denn alle Willkür fällt aus dem »Rund« der Notwendigkeit.

 

Der schöpferische Mensch ist gläubig. In welchen Formen sein Glaube sich ausdrückt, ist gleichgültig. Er ist gläubig, ist, solang er lebt, in Bewegung zu sich selbst, niemals fertig. Glauben heißt, sich nach Geahntem sehnen. Das Geahnte ist das im Gegensatz zum unwahrscheinlichen Erlebten niemals zu erlebende Gewisse. Alles, was er erlebt hat, wird dem Nachsinnenden alsbald unwahrscheinlich, Traum. (Traum ist Gegenwart des Unwahrscheinlichen.) Zweifel sind Wolken, die das Gewisse, aus der gläubigen Seele selbst aufsteigend, immer wieder verdunkeln. Das ist der Sinn des Lebens: auf dem Wege sein. Der schöpferische Mensch gibt diesem Wandern immer wieder Ausdruck: durch das Werk, das hinter ihm zurückbleibt, an seinem Weg. Da jedes Menschen Weg seiner ist, wird kaum je einen wiederum sein Weg den des andern führen, genau gewiß niemals. Daher die Einsamkeit der Werke, die eines Menschen wirklicher Ausdruck sind (die unechten Werke sind nach den sogenannten Erfahrungen »allgemeinmenschlich« hergerichtet: als ob ein Mensch anders denn als er selbst »allgemein-menschlich« wirken könnte!)

Die Größe eines Menschen drückt sich nicht so sehr in den Werken, die er hinterläßt, aus (sie machen seine Größe bloß deutlicher) als in der Wegspur selbst, ihrer Vertiefung.

Größe

Wir sollten Schriftsteller und Künstler nur dann groß nennen, wenn sie Größe, das ist sittliche Würde, nicht Menschenmaß, sondern Übermaß zeigen. Ein großer Mensch flößt Ehrfurcht ein. Ein noch so bedeutender Schriftsteller muß nicht so wirken. Man bewundert mit mehr oder weniger Verständnis für die Gründe, die keineswegs am Tage liegen, seine Ausdrucksfähigkeit, unterliegt immer wieder – darauf kommt es an – seinem mächtigen Eindruck, stellt ihn aber darum nicht etwa höher als einen Menschen, dem solche Begabung mangelt, der jedoch unmittelbar das Gefühl des Edeln hervorruft. Darin täuscht sich auch der Ungebildete nicht, während er, ohne Maßstab dafür, Kunst verkennt. Das Bessere, das noch lange nicht das Gute, wohl aber sein Abglanz ist, besiegt auch den Widerwilligen.

Das Gesetz der Kunst

Das Wesen der Kunst liegt in der geistigen Vermittlung ihres Gegenstandes. Gegenstand der Kunst ist das Darstellbare, also nicht nur die Natur, sondern auch der Geist. Aber während die Natur und ebenso der Geist je aus sich selbst sich ergeben, wird Kunst immer nur durch Geist. Das Gebiet der Natur ist das Ursächliche, das Bedingte; das Gebiet des Geistes ist das Freiwillige, das Unbedingte; das Gebiet der Kunst ist das Schöpferische, das Notwendige. Kunst zeigt nicht, was ist, sondern wie es sich, hindurchgegangen durch ihr Mittel, den künstlerisch, d. i. nach dem Gesetz der Kunst, es erfassenden Geist darstellt. Kunst wiederholt nicht Natur und Geist, sondern erneuert sie in Freiheit.

Im Durchgang durch den mit Schöpferkraft begabten Geist entsteht das Bild der Natur, das Kunstwerk. Der Brechpunkt der Strahlen bestimmt sein Wesen, das anderer Art ist als das des in der Wirklichkeit vorhandenen Gegenstandes, den es wiedergibt, ohne ihn zu wiederholen. Dieses Gesetz des echten Schöpfertums duldet keine Ausnahme, versagt sich gewaltsamem Eingriff. Wer erzwingen will, was sich durch Gnade schenkt, hat seinen Lohn dahin: das Zerrbild, das er als die in Kunst erneuerte Natur ausgeben zu dürfen meint, spottet seiner selbst und seines von Wahn verblendeten Urhebers. Daß die unberatene Welt es eine Weile mag gelten lassen, hat nichts für seine Gültigkeit zu besagen. Früher oder später muß es sich Einsichtigen als das erweisen, was es ist: ein Aftergebilde, ein Gemächte. Das echte Werk aber des schöpferischen Geistes, in seiner neuen Wirklichkeit – denn Neuheit, Einmaligkeit ist sein unvertilgbares Gepräge – sich selbst ein Wunder, bestätigt sich immer wieder als an seinem unbestechlichen Zeugen an dem ihm innewohnenden, dem ewigen Gesetz der Kunst.

Fragen

Wann und wie stellt sich etwas in der Zeit Geschaffenes als zeitlos fest? Durch Übereinstimmung des Urteils Gleichzeitiger und in der Zeit Folgender? Woher schreibt sich ihre Berufung zu solcher Feststellung? Und warum braucht Schöpfung Zeit sich durchzusetzen? Hat die Überzeugung des Schöpfers selbst nur durch Zeitablauf bestätigt Gewicht? Ist Sicherheit des unterscheidenden Urteils nur der eigenen Schöpfung gegenüber fraglich? Kann der Maßstab versagen? Sind die Menschen, die vor fünfzig Jahren Manets Bilder mit Schirmen bedrohten, nicht dieselben, die sie heute bewundern? Hatte die Zeit Rembrandts mehr Einsicht in das Schaffen des Künstlers als die Zeit, die Böcklin mit ihm verwechselte oder die Liebermann und Klinger pries gegenüber den Piloty und Anton von Werner, als hätte sich in jenen die Kunst wiedergefunden? Darf Makart dem als Irrtum gelten, den Rodin eine Erkenntnis dünkt? Hat man nicht ein Jahrhundert lang Heine neben Goethe gestellt? Und hält sich nicht Grisebach für einen Dichter (obwohl er Bürger und Kleist, Lichtenberg und Herder zu »entdecken« wähnte)? Hat Schopenhauer nicht Kant berichtigen zu können geglaubt? Ward Dryden nicht gegen Shakespeare ausgespielt? Aber schon Aristophanes hat Sokrates verspottet.

Kunst

1

Wann kann Leistung auf dem Gebiete der künstlerischen Tätigkeit als Kunst gelten? Es liegt weder am Können – Kunst ist Können, aber Können ist nicht schon Kunst – noch am künstlerischen Wollen – denn künstlerischer Wille wird nur als künstlerische Tat wirksam –, nicht am Eindruck auf den Betrachter (Hörer, Leser) – der Eindruck ist nicht nur von der künstlerischen Eindrucksfähigkeit, sondern von Wissen und Vorurteil, Lage, Beziehung, Stimmung, kurz von allerlei außerhalb des Wirkenden, Werk und Künstler, Wirksamem abhängig –, nicht am Ausdruck als persönlicher Äußerung – die stark, beachtenswert, unübersehbar sein mag, aber nicht Kunst sein muß, sondern Gesinnung oder zufällig sein kann.

Kunst als Leistung des Künstlers ist Darstellung einer der Kunst als Idee gemäßen notwendigen Vorstellung, der künstlerischen Eingebung. Kunst als Idee ist eindeutig und unbedingt: das Bild der Natur im Spiegel der Freiheit. Natur ist Werden in Abhängigkeit, Freiheit ist Sein in Selbstbestimmtheit. Natur ist in der Zeit, Freiheit in der Zeitlosigkeit. Kunst ist also Dauer, Gegenwart, Ruhe im Augenblick. Diesen Gehalt an Ewigkeit im Vergänglichen hält das Kunstwerk durch dessen Vergegenwärtigung in der Gestalt. Es befreit die Erscheinung, indem es sie in ihrer Idee spiegelt – dies gemäß der Idee Kunst –, von der Abhängigkeit des Werdens, steigert den vergänglichen Eindruck im Spiegel der Freiheit zur verweilenden Anschauung. Das Kunstwerk ruht in der Idee seines Gegenstands als Sein vom Werden aus.

2

In der Kunst gibt es nur einen Maßstab, der zugleich ihr inneres Ziel ist: die Vollendung. Was Vollendung als Aussage über ihren Gegenstand, das Kunstwerk, bedeutet, das ist Meisterschaft in Anwendung des Begriffs auf den Künstler. Wie Vollendung und Meisterschaft die zwei einander ergänzenden Seiten einsichtiger Kunstbetrachtung, ihrer Erkenntnis, den Sinn der Kunst ausmachen, so ist es sinnlos, von Kunst dort zu sprechen, wo ihr Mangel sich offenbart. Eine Leistung auf dem Gebiete der Kunst, die ihr Ziel nicht erreicht hat, hinter ihm auch nur um die Spanne des Zweifels zurückbleibt, mag ein achtungswerter Versuch sein, der unerfüllbaren Aufgabe zu genügen: nur in der Erfüllung aber liegt, was ihn rechtfertigt. Man kann nicht gelten lassen, was sich nicht als vollgültig erweist. Das Unzulängliche ist verwerflicher als das Schlechte, das sich selbst richtet: es täuscht, selbst in Wahrhaftigkeit, die vielen Empfänger, an die Kunst sich wendet, ohne daß sie ihr als Erkennende gewachsen wären, gibt sich, auch ohne die Absicht zu fälschen, für etwas, was es nicht sein kann, obwohl es nichts ist als Unfug. Nur der Befugte, der Meister, schafft das Meisterhafte, das Vollendete, das wirkliche Kunstwerk.

Der Meister, sagt das Sprichwort, fällt nicht vom Himmel. Sicherlich ist Meisterschaft nur durch unablässige Bemühung und Übung, Fleiß zu erwerben. Aber das Meisterliche, das was den Meister nicht vom Schüler, denn als Schüler hat auch er angefangen, doch von seinem Afterbild unterscheidet, die Begabung, die Veranlagung, bringt er genauso auf die Welt mit wie der Musikalische das Gehör. Es ist noch nie jemand Meister geworden, der es nicht hatte werden sollen.

Kunst ist ein offenbares Geheimnis. Wenn das Kunstwerk »selig in ihm selbst« ruht, wie das Schöne überhaupt – häßliche Kunst gibt es nicht, kann es nicht geben, weil wahre Kunst auch am sogenannten Häßlichen ihr Gesetz, das Ebenmaß, erweist –, so ist es doch, um wirksam zu werden, auf einen, und wär's Einer, angewiesen, der dieses selige Schweigen zum Sprechen bringt, den Genießer. Aber es ist ein verbreiteter großer Irrtum, daß sie jedermann und ohne weiteres zugänglich sei. Im Gegenteil bleibt sie den Allermeisten stets unbekannt. Was man volkstümliche Kunst nennt, ist, wenn es sich, was selten zutrifft, um wirkliche Kunst handelt, nichts weniger denn als Kunst, das heißt in seinem Wesen, dem gemeinen Empfinden erschlossen. Seine Wirkung schreibt sich nicht von dem Mittelpunkt her, der, auskreisend bis genau an den notwendigen Umfang der Gestalt, das Ganze hält und erhält, wie er in ihm aufgeht. Es ist alles andere als die in Form erlöste, die einmalige schöpferische Idee, was macht, daß das Kunstwerk einleuchte. Es ist der in der Form verlautende Gehalt an Tatsächlichem, Gefühl oder Aussage, der sich, wenn er »einfach ausgedrückt« scheint, als verständlich erweist. Derselbe Gehalt, ebenso einfach ausgedrückt, aber ohne die Spur von »Seligkeit«, ist derselben Wirkung fähig, ja gewiß. Der Eindruck ist nicht durch die innere Vollendetheit des Ausdrucks bestimmt. Deshalb muß der Meister als Meister anerkannt sein, um als das zu gelten, was er ist. Dieser Vorgang der Anerkennung aber setzt den Anblick eines voraus, der in einem kunstmäßigen Gebilde Kunst zu erblicken imstande war. Von ihm, dem ersten, der das Kunstwerk bei seinem Namen genannt, der es angerufen hatte, geht die Geltung des Gültigen aus. Sie wird ohne Einsicht in ihren Grund von denen übernommen, die ohne zu sehen geglaubt haben. Und immer wieder das abermals Gültige, eh es anerkannt ist, mit dem Ungültigen verwechseln.

Das Schöne

1

Schön nennen wir das, was uns in hohem Grad befriedigt, ausnehmend gefällt, weil es in seiner Ordnung einem bestimmten Verhältnis entspricht. Dieses Verhältnis ist zwar anschaulich nachzuweisen, aber nicht erklärbar. Es wechselt in Zeit und Ort nach seinem Urgrund, dem Mittelpunkt unserer Gefallensweise. An ihm arbeiten die Vorstellungen von Geschlechterfolgen innerhalb verschiedener Menschenstämme. Das Tier hat keinen Schönheitssinn: sein Gefallen ist vom Trieb bestimmt. Während es das Wesen des menschlichen Schönheitsbegriffes ist, daß er unabhängig vom Trieb besteht. Es ist ein Ergebnis der Urteilsfähigkeit, also rein vernünftig.

2

Schönheit ist nicht Gefühls-, sondern Vernunftssache, eine Idee: Übereinstimmung der Verhältnisse eines Zusammenhangs. Es ist das Wesen der Idee, des Vernunftbegriffs, daß sie leitend, regelnd auf den Verstandesbegriff wirkt, der die Empfindung bestimmt, das ist formt und die Anschaulichkeit zur Erkenntnis erhebt. Sie gibt der einzelnen Erfahrungstatsache die Stelle im vorausgesetzten Ganzen. Ohne Verstand, Begreifen, keine Anschauung des Wahrgenommenen. Aber ohne Vernunft keine Einheit der Erkenntnis. Das Tier nimmt verstandesmäßig wahr, ordnet aber seine Eindrücke nicht zu vernunftmäßigem Zusammenhang. Daher erfaßt das Tier auch nicht Schönheit.

Es gibt räumliche und zeitliche Schönheit, körperliche und geistige. In beiden Fällen ist sie der Sinn, die Bedeutung einer Einheit, die Wohlgefallen erregt, Anschaulichkeit (auch im Geistigen), die den Willen befriedigt, also beruhigt. Ihr Vermögen ist Schönheitssinn, Bereitwilligkeit zu solcher Sinnerfassung.

Der Mensch muß Schönheit erfassen lernen. Wäre Schönheit Gefühlssache, dann hätte jeder Empfängliche auf seine Weise recht. Es gäbe keine Einsicht, keine Lehre der Schönheit. Sicherlich gibt es verschiedene Schönheiten, das heißt Ausdruck von Schönheit. Denn die Idee hat vielerlei Verwirklichungsmöglichkeit. Aber ihr Gesetz ist eines, wie die Idee einfach ist.

Meisterschaft und Genie

Meisterschaft ist, wenn auch Anlage, nicht eigentlich Begabung, sondern Vollendung, also höchste Anstrengung, zielbewußtes Handeln, des sich und seine selbstgewählte Aufgabe, seine freie Bestimmung erkennenden Geistes.

Meisterlich ist jeder sichere Schritt in dieser unverbrüchlichen Richtung. Während die Begabung ihrer sie beseligenden Gnadenwahl geradezu unbewußt vertraut, sich auf jede Neigung mit der anmutigen Selbstgefälligkeit ihrer glücklichen Berufung einläßt, dem Wunder in sich selbst Raum gibt, befehligt die Meisterschaft die ihr verfügbaren Mittel sparsam, herrisch und rücksichtslos, in strenger entsagender Zweckmäßigkeit.

Man kann das Genie, die mühelose Fähigkeit seiner selbst, in Bewunderung betrachten. Hochachten wird man nur die alle Mühen mit dem unbeugsamen Fleiß ihres reinen Willens überwindende Meisterschaft. Und, wenn sie Menschlichkeit zugleich bewahrt und entsagend zügelt, lieben müssen.

Der Schöpfer und die »Geistigen«

Daß dem einen Schöpfer, der, weil er nicht anders kann, sein Leben an sein Werk verliert, damit es andere daraus empfangen, unzählige Unschöpferische nachäffen, ist ein Mißstand, den erst der Fortschritt, das heißt die fortschreitende Entgeistigung mit sich gebracht hat. Nicht daß sie den ihm gebührenden Erfolg beschlagnahmen, also Anerkennung und Gewinn einheimsen, während er leer ausgeht und unbekannt bleibt, ist das Empörende. Denn der Erfolg, der Zoll der Alltäglichkeit, ist nur für das Alltägliche vorhanden. Aber daß das hehre Bild des Schöpfers in aber tausend Fratzen an allen Heerstraßen steht, dieses das öffentliche Wesen unserer Zeit bezeichnende Greuel, ist unverwindlich.

Schöpfertum

Der große Schöpfer ist notwendigerweise größer als sein Werk. Denn das, was das Werk groß macht, ist seine, des Menschen, Größe. Der größte Schriftsteller, wenn er in seinem Werk aufgeht, also hinter ihm zurückbleibt, ermangelt dessen, was Größe ausmacht: nicht Geist noch Kunst, sondern Herz und Wahrheit. Nicht gut muß der Schöpfer sein – »Wer ist gut«! –, wohl aber tief, das ist unerschöpflich, und echt, das ist lauter. Weil er sich schaffend nicht ausgeben und sich nicht übertreffen kann, darum und darum allein überdauert er, sie überragend, auch seine vollendete Schöpfung. Die unsterblichen Werke leben von Gnaden des Sterblichen, weil Menschlichen, ihres Erzeugers. Aber Gottes sterbliches Werk, die Schöpfung, verkündet in ihrer Vergänglichkeit selbst den ewigen Schöpferwillen. Denn Gottes Wesen ist wohl als Leben und Weg Wahrheit – für den Menschen, eh er sie, jenseits des Lebens, schaut, das heißt als in die Alleinigkeit in sie einkehrt, die er nur an ihrem Spiegelbild, ihrem gebrochenen Widerschein, erkannt hatte –, in seinem Inbegriff aber weder Wahrheit noch Unwahrheit, weder Wirklichkeit noch Unwirklichkeit, sondern sich selbst an alle Stelle setzendes unerschaffenes Sein.


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