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Dritter Teil

 

Gespenst

Nun – was war das letzte, als wir unsere eitle Freundin verlassen haben? Sonnensprenkel und Buchengrün, Strahlenfächer der Sonne über dem wieder blühenden lippeschen Land; Augustsonne, Augustreife, Ernte und Stille und Glut des Lebens; und Gepoch und Gehämmer der Bauleute, Knarren der Wagen, Hufestampfen und Wolken des Schutts, der aus dem Schloßhof gefahren wird. Die Wipfel verfärben sich, die Glut wird milder, September, Oktober – das Laub beginnt sich zu lösen, der Himmel wird blasser, die Tage werden kürzer … die Schleier der Herbstnebel fallen …

Nun ist es dunkel, und was wir darin erkennen, ist eine der engen Gassen in der Lemgoer Neustadt, die freilich ihr Alter schon damals hatte. Es gibt keine Laternen, die leuchten könnten, nur aus Fenstern fällt hier und da spärlicher Lichtschein und läßt das Balkenwerk an einem überhängenden Geschoß, schön gebogene Fenstergitter, die Schnitzfiguren an einem Erker erkennen. Und kein Laut – als jetzt ein näher kommender Schritt, und nun ein schwankender, ausgefächerter Lichtschein.

Diese vermummte Gestalt im weiten dunklen Umhang ist die Ärztin Pea Deuterlein, die allein mit ihrer Laterne einen späten Weg ihres Berufes geht. Die langen Lichtstreifen schwanken durch die Bewegung ihres Gehens zu den Fensterwänden empor, die oben eines über dem andern in die Gasse hineingebaut sind. Nun in die Breitestraße hinein, die so ist wie ihr Name, an mehreren Quergassen vorüber, endlich in eine ganz enge hinein, und die nächtliche Wanderin tritt auf den langen stillen Marktplatz, wo der Laut des plätschernden Brunnens vernehmbar ist. An der einen Langseite des Platzes ist noch ein Fenster zu ebener Erde hell und ein Licht in der Torfahrt daneben. Es ist ein Gasthof; eine hemdärmelige Gestalt mit einer Schürze, die unter dem Tore steht, dürfte der Hausknecht sein; die Ärztin redet ihn an.

Er führte sie mehrere Treppen hinauf in das oberste Stockwerk auf einen schmalen Flur, indem er sagte, der Patient wäre ein Kurier von Emden nach Nürnberg, der eben vor Torschluß gekommen war auf ganz nassem Pferd.

In dem dunkel verhangenen Bett in dem dunklen Zimmer, das nun die Laterne erhellte – er wollte kein Licht, sagte der Hausknecht, nun wies ihn die Ärztin hinaus –, erschien ein junges blondes Gesicht mit schmerzlich verkniffenen Augen. Er murmelte erstaunt: »Enne Fru«, während sie die Laterne auf den Boden dicht an das Bett setzte, so daß ihr Dach oben schattete. Sie nahm sein Handgelenk, sagte freundlich: »Nu swig man!«, ließ sich seine Zunge zeigen und fing an zu zählen. Bald schon fragte sie nach Schmerzen.

Schmerzen – überall. Ja, schon gestern, in allen Gliedern – furchtbar im Kopf und im Rücken; konnte nicht mehr im Sattel bleiben, war halb blind galoppiert, die Hände am Sattelknopf. Ja, auch Schwindel. Ja, Erbrechen auch, schon am Morgen und mehrmals wieder, obgleich kaum etwas genossen.

Er warf sich zur Wand herum und ächzte. Frau Pea saß geraume Zeit still auf dem Bettrand und sah vor sich hin.

Dann erhob sie sich, sah Krug und Waschbecken auf einer Kommode und ging hin, goß etwas Wasser in das blecherne Becken und wusch sich. Als sie sich umwandte, die Hände in ihrem Taschentuch trocknend, setzte der Kranke sich auf und stotterte: »Moder, Moder – ne, Moder, eck möt nech starwe.«

Sie lachte leise und versetzte, dazu wäre er noch zu jung. Nun solle er zu schlafen versuchen, sie schicke gute Arznei. Darauf warf er sich wieder zur Wand um, sie stopfte die Decke unter ihm fest, bückte sich tiefer, um ihre Laterne aufzunehmen, und tat zwei Schritte zur Tür. Aber sie strauchelte, da ihr linker Fuß umknickte, sie streckte schwankend die Hand aus, um sich am Türgriff zu halten, und stand so eine lange Weile.

In der Torfahrt unten sagte sie zu dem wartenden Hausknecht, sie käme in der Frühe mit Arznei; der Patient sei recht krank, bis sie komme, solle niemand sein Zimmer betreten.

Dann ging sie in das Dunkel des Platzes hinein, stand aber nach einiger Zeit still, als ob sie nicht weiter könnte oder wüßte. Nun wendete sie sich zum Rathaus hinüber, die bemalten Erker der »Laube« an seinem Ende glänzten bunt im Laternenschein; sie schritt durch die kleine Gasse, und nun ragte die mächtige Masse der Nikolaikirche mit ihren schwarzen Türmen zum nebligen Nachthimmel empor. Die Ärztin ging zum nächsten Portal, die vielen Steinrippen der breiten Spitzbogen und die zierlichen Säulen darunter wurden hell. Sie setzte ihre Laterne nieder und ging in die Tornische; sie drückte ihre Lippen auf das Holz der Tür und stand lange Zeit, die Stirn an die heilige Pforte gedrückt, und sie sagte:

»Miserere, Domine, miserere! Misericordiam tuam mitte misero oppido tuo! Ne manus tua jam rursus, Domine, cadat!«

Erbarme dich, Herr, erbarme dich! Schicke dein Erbarmen, o Herr, zu deiner armen Stadt! Laß deine Hand, o Herr, nicht schon wieder fallen!

Endlich sich wendend, nahm sie ihre Laterne auf und wanderte klein und gebeugt in das Dunkel zurück, das sich vor ihr erhellte. Später begann sie eiliger zu laufen, die stummen Gassen hindurch, wo alles im Schlaf hinter den dunklen Fenstern lag, bis der schwarze Schattenriß der Marienkirche sich in die Nebelnacht emporhob. Sie lief zum Tor hin, warf sich fast dagegen und stammelte wieder die flehenden Worte: »Herr, Herr, der du nicht in Häusern wohnst, verschone doch unsere Häuser!«

Wenig später erschloß sie die Tür ihres eigenen Hauses. Im Flur unten rief sie halblaut den Namen ihres Mannes, der bald darauf, noch angekleidet, oben an der Treppe erschien.

»Klemens«, sagte sie, »ich muß dich erschrecken. Ich schlafe heut nacht im Speicher.«

Eine Weile blieb es still oben und unten. Dann sagte er: »Heiliger Gott!«

»Grüße die Kinder!« bat sie. »Wenn ihr mich braucht, werde ich ja für euch auch dasein.«

Beide streckten die Hände nach einander aus und standen so, getrennt, und er betete: »Vater unser …«

Am nächsten Morgen besuchte Pea wieder ihren Patienten, und danach erfuhr die Stadt Lemgo, daß die Schwarzen Pocken wieder in ihr eingekehrt waren.

 

Die Seuche

Die Schwarzen Pocken wurden in jenen Tagen auch Pest genannt und hatten kaum eine andere Wirkung. Ein Mensch gab sie dem andern durch den Hauch seines Mundes; dann trug der sie neun oder auch zehn Tage heimlich mit sich herum, ehe sie ausbrach. Der junge Kurier, Peas Patient, genas nach einer Woche nur leichter Krankheit und verließ vergnügt, wenn auch noch klapprig, die Stadt, sein Geschenk ihr zurücklassend. Ein paar Tage später erkrankte der Hausknecht, dann die eine Magd, dann die Wirtin, dann die Stadt überall. Schonungsloser und schneller und noch qualvoller vielleicht mordete die Pest; aber Gott weiß, ob es ein Vorzug ist, langsam zu ersticken, wenn die Eiterblasen den ganzen Körper zerfressen und tief in den Schlund hinunter aufquellen, und das Leben ein rasendes Feuer des Juckens wird außen, und ein Feuer des Fiebers und des Verdurstens innen. Oder war es ein Vorzug dieser Seuche, daß sie Respekt vor dem Alter hatte, es zwar keineswegs schonte, aber lieber um sich fraß unter der Jugend? Oder daß sie so langsam war, viele Tage im Leibe hockte, ehe sie im Kopf oder im Genick mit dem ersten Zucken des Schmerzes anpochte? Jeder einzelne ging herum, angstgelähmt wartend, bis es in ihm ausbrach. Heilmittel gab es keine, kaum Linderung durch kühlende Umschläge. Wen es getroffen hatte, der nahm Abschied und legte sich hin. Der Wasserkrug wurde ihm hingesetzt und erneuert, wenn er rief – wenn noch jemand da war zu hören. Sonst konnte Liebe nichts tun. Ihren Kindern konnten die Mütter die Hände festhalten oder sie mit Tüchern umwickeln, damit sie sich nicht heillos zerkratzten. Denn die Blattern selbst hinterließen in der Regel nur geringe Spuren, aber die zerkratzten tiefe Gruben.

Also fing das Sterben an in der wehrlosen, durch Jahrzehnte der Entbehrung geschwächten Stadt; aber bald auch ringsumher in den Dörfern. Wieder wurde die junge, noch dünn gesäte Nachkommenschaft halb vernichtet. Die Wohnungen leerten sich, die Schreiner kamen mit den Särgen nicht nach. Bald wurden die steifen, verrenkten Toten mit den eiterbedeckten, im Todeskrampf blutig zerkratzten Gesichtern in Tüchern hinausgetragen – von den vermummten Helfern in spitzen Hauben mit Augenschlitzen. Wieder standen Pflüge und Eggen rostend auf den Äckern, von denen die Männer schwindelnd davongetaumelt waren; wieder brüllte das ungemolkene Vieh rasend in den Ställen. Zwischen den Betten des Jammers, zwischen Sterbenden und Särgen gingen die Überlebenden stumpf umher, die einen abwartend, bis die Reihe an sie kam, die andern nicht begreifend, warum von ihren Lieben sie allein verschont blieben. Wohin Janna kam, war Geröchel, das Wimmern der sterbenden Kinder, das Wimmern der Mütter oder ihre Versteinerung, das Tote, das sie geboren hatten, in den Armen. Ein unbeweglicher grauer Wolkenhimmel stand unveränderlich nichtssagend oben.

Janna tat, was sich tun ließ, an den Kranken, die keine Pfleger hatten, und denen in ihrem eigenen Haus, was wenig genug war, das gleiche überall: die kühlenden Umschläge wechseln, immer wieder das Wasser in Krug und Schüssel erneuern, Eimer und Krug am Brunnen füllen und ins Haus tragen, die Bettwäsche wechseln, soweit es möglich war, die Kinder umbetten oder verbinden, und beten mit denen, die beten konnten und wollten, solange sie Atem hatten. Mit der Zeit hob die körperliche Anstrengung die seelische Leidenskraft auf, wenn auch jedes Aufstehen am Morgen einen harten Entschluß kostete. Der Tod schien unausweichlich, ob man ihn fürchtete oder nicht, aber das Grausen wucherte darüber, und das Sterben der Kinder war und blieb kaum zu ertragen, dagegen gab es kein Abstumpfen, aus dem zerlöcherten Schlaf quollen noch die Angstgesichter, die flehenden und die brechenden Augen, das Röcheln, das ersterbende Gewimmer; und Kopf und Mund eingehüllt – weniger wegen der Ansteckung, als um die entsetzliche Luft nicht so unmittelbar atmen zu müssen –, hatte sie nichts als ihre Augen, um zu lächeln und einen Hauch Trost zu spenden. Nach dem Tod der beiden Ärzte waren Pea Deuterlein und sie lange Zeit fast die einzigen, die für andere sorgten, bis die Genesenden dazu wieder fähig waren.

Von Tassilo war sie längst getrennt. An den ersten Tagen, vor dem vollen Ausbruch der Seuche, als Janna von der Ärztin schon unterrichtet war, hatte sie gegen Vater und Sohn geschwiegen, denn sie wußte, daß beide verlangen würden, daß sie ins Schloß hinaufkäme, und sie war ungewiß, was sie zu tun habe. Sie war selbst zuerst erschrocken; von den Greueln der Krankheit wußte sie genug, und es schien ihr auch unmöglich, das Los der Menschen, unter denen sie lebte, nicht zu teilen, und Flucht jedenfalls eine Feigheit, so war es nicht entschieden, zu wem sie gehörte, zu den Menschen in der Stadt oder zu Tassilo und seinem Vater. Diese würden sie natürlich für sich beanspruchen; ein paar Monate später, und sie hätte schon im Schlosse gewohnt. Den Tod fürchtete sie weiter nicht, glaubte aber auch nicht, daß sie sterben könnte. Doch in einer schlaflosen Nachtstunde hörte sie eine innere Stimme deutlich sagen: »Du brauchst nichts zu entscheiden; dies ist die Entscheidung.« Sie fragte nach einer Weile: »Was für eine Entscheidung?« Und wieder nach einer Weile kam aus dem Nichts die Antwort: »Auf die du gewartet hast.« Und dann hatte sie die klare Gewißheit, daß sie Tassilo nicht liebte.

»Soll ich denn sterben?« fragte sie. Denn ihn in seiner Höhe würde die Krankheit kaum erreichen. Auf diese Frage stellte sich keine Antwort ein, und ihre Gedanken und die Bilder vor ihren Augen begannen sich zu verwirren. Liebe ich ihn wirklich nicht? fragte sie immer wieder, ohne Antwort darauf zu bekommen. Ich liebe ihn, wenn er da ist – wenn er fern ist, wo ist er dann? James, James – warum ist dein Gesicht unbeweglich? Darum ist alles so – darum – darum sind wir wie von Stein, nichts bewegt sich, alle Bewegung nur Schein … Vergeblichkeit – Unbeweglichkeit – das ganze Leben! Warum bewegt es sich niemals? Nur die Augen – da ist das Leben gefangen – da ist mein Leben gefangen – da hat alles angefangen …

Die Woge des Schlafs deckte am Ende den Traumwirrwarr zu, und am nächsten Morgen fand sie die Entscheidung über Gehn oder Bleiben aus ihrer Hand genommen. Ein halbes Dutzend verkümmerter alter Leute, die für sich allein lebten, fand es selbstverständlich, zu ihr zu kommen, und füllten bereits den Hausflur. Da nicht Betten genug vorhanden waren, ließ Janna den Eßsaal ausräumen und mit einer Schicht Stroh bedecken und gab Laken heraus. Später schickte sie den Reitknecht mit einem Brief ins Schloß, in dem sie mitteilte, daß die Pocken in der Stadt wären und sie nicht kommen könnte; vielleicht wäre sie schon angesteckt. Zwei Stunden danach stand Tassilo vor ihr, ganz außer sich, und verlangte, daß sie mit ihm komme. Seine Not anzusehn war schlimm; er begriff nicht, daß sie bleiben wollte, fragte entsetzt: »Willst du sterben?« »Gewiß nicht«, sagte sie. »Warum willst du dann bleiben?« »Hier wird jeder gebraucht«, sagte sie und wies ihm den Saal mit den Alten. Er sagte, sie wäre von Sinnen, diese Greise – sie und er wären jung. »Wenn du hier unten lebtest«, sagte sie, »würdest du nicht bleiben?« Er versetzte, er wisse es nicht, und sie sah, daß er Angst hatte. »Du liebst mich nicht«, sagte er, »wie kannst du mir dies antun?« »Antun?« entgegnete sie nun feindlich, »siehst du nicht, was den Menschen angetan wird?« Nun rief er, er sehe nur sie, und dann bleibe er auch, dann sei alles ihm einerlei. Am Ende half nichts andres, als ihn mit dem Versprechen zu beschwichtigen, daß sie am Nachmittag kommen würde, sobald sie im Haus alles geordnet habe, und ihn fortzudrängen mit Küssen und zärtlicher Besorgnis und Bitten, daß er in der Stadt nicht leben könne, die Luft ihn töten würde. Als er zum Fortgehn bereit wurde, konnte sie fast nicht denken, daß er ihrem Versprechen geglaubt habe; als es Abend wurde, begann sie zu zittern, er komme wieder, aber er kam nicht. Statt seiner erschien am nächsten Morgen sein Vater, mit dem sie indes leichter fertig wurde, sei es, daß er ihr Verhalten für richtig hielt, oder wußte, daß er nichts ausrichten würde, nachdem Tassilo selbst versagt hatte, oder sie einfach bewunderte und ihrem Willen die Ehre antat, ihn gelten zu lassen. Solange die Seuche wütete, kam er an jedem zweiten oder dritten Tag, um nach ihr zu sehn; für sich selber fürchtete er nichts, ihn schütze seine Malaria.

 

An einem Abend im zweiten Monat der Krankheit – der November ging eben zu Ende – stand Janna vor ihrem Bett, um sich hinzulegen, erschöpft, für ein paar Stunden Schlaf. Ihre Schläfen brannten von Übermüdheit, sonst fühlte sie kaum ihren Körper, und von dem wochenlangen Entsetzen des Sterbens, der Qualen, des Schreiens, Würgens, des Gestanks und all dem Ekel hatte ihre Seele sich endlich zu einem Funken zusammengezogen, der in einem Klumpen von Stumpfheit glomm. Um ihr Kopftuch niederzulegen, ging sie zwei Schritte zum Spiegeltisch, der, unten mit geblümtem Stoff verhangen, die ovale Scheibe in einer Draperie hielt. Es war im Raum eben dämmrig geworden, undeutlich und fern sah sie ihr blasses Spiegelbild, aber kaum daß sie es gesehn hatte, fing es an, dämmrig zu werden, und löste sich in einen Nebel auf; und statt seiner erschien das graue braune Gesicht des Mannes, jedoch mit geschlossenen Augen und einem hilflosen Ausdruck des Leidens. Dann hoben sich die Lider, und die Augen blickten sie an – jedoch ohne klaren Blick, und alles fing an zu erlöschen und wegzudämmern, bis ihr Spiegelbild dahinter wieder zum Vorschein kam.

»Ja«, sagte sie, »ich komme.«

Sie machte ein kleines Bündel zurecht mit Wäschestücken für sich selbst, und was sie sonst für notwendig erachtete. Sie war schon an der Tür, als sie noch einmal umdrehte, nach ihrem Haar fassend, das ohne Kopftuch war; und sie ging zu einer kleinen Truhe, nahm das seidene Tuch heraus und band es über ihr Haar. Dann verließ sie das Haus und ging durch die todstillen Straßen, verließ die Stadt und ging mit einer Leichtigkeit, ohne ihre längst übermüdeten Glieder zu spüren, den stundenweiten Weg an der Bega entlang zum Donopshof, wo sie anlangte, als es längst Nacht war. Sie sah, als sie von der Brücke den Weg hinaufging, ein rotes Licht durch die Bäume schimmern, und als sie auf den Platz vor dem Haus hinaustrat, war es das einer Fackel; eine der wohlbekannten Gestalten mit der spitzen Gugelkappe hielt sie, über den Stufen der Haustür stehend und hineinleuchtend, davor hielt ein Leiterwagen mit einem Pferd bespannt. Im Haus drinnen waren die Geräusche schleifender Füße und ein Gepolter zu hören, und nach einer Weile wurde ein Sarg von vier Gestalten herausgetragen, von denen die eine James, die andre der schwedische Knecht war, und zwei waren Gugelmänner. Der Sarg wurde auf den Wagen gehoben und geschoben; danach verschwanden alle wieder ins Haus und kamen nach einer Weile mit einem zweiten Sarg und hoben ihn auf den Wagen. Die Träger stiegen auf, das Pferd setzte sich in Bewegung, hinter dem Wagen erschien jetzt eine große Gestalt, die eine Laterne hochhob. Gleich darauf aber knickte sie ein, taumelte vornüber und hielt sich hinten am Wagen, griff mit beiden Händen zu, so daß es aussah, als ob sie den Wagen vornübergebeugt schöbe. Nun bewegte Janna sich zu ihm hin und faßte ihn am Arm; er richtete sich auf, der Wagen fuhr weiter, sie sah im Laternenschein sein Gesicht mit roten Pusteln bedeckt bis unter das Haar. Die Augen waren nur kleine, zugeschwollene Schlitze ohne Blick, geschweige Erkennen. Seine Arme fielen herab, Janna ergriff die Laterne, und so brachte sie ihn, halb über ihr hängend, stammelnd und ächzend, in das Haus.

Drinnen war niemand mehr als ein älterer Knecht, der die Krankheit überstanden hatte und gutwillig war und Janna ablöste, wenn sie schlafen mußte; was sonst im Hause gewesen war, war gestorben oder davongelaufen. Janna saß drei Tage und Nächte an seinem Bett, schlief dazwischen in einer Kammer, oder sie saß klein und gebückt in der leeren Küche und verzehrte, was sie für sich und den Knecht gekocht hatte. Sie gab ihm zu trinken, sie löste immer wieder die glühend gewordenen Umschläge von seinem furchtbar aufbrechenden Gesicht, tauchte sie in die Wasserschüssel, legte sie wieder auf, ging mit dem Krug zum Brunnen und holte frisches Wasser. Sie wickelte seine Hände in Tücher und hielt sie fest, ihr Widerstand war nur schwach wie sein zorniges Knurren und Schelten; sie wischte den Blutschleim von seinen Lippen, sah die Krankheit sich in ihn hineinfressen, tiefer und tiefer, hörte sein nicht mehr verständliches delirierendes Stammeln und einmal, als er schwächer wurde, ihren eigenen Namen. Sie war selbst kaum noch vorhanden und halb in Schlaf, im Bett hinter dem Kranken hockend, dessen Schultern sie mit den Armen nach oben drückte, damit er aufrecht blieb und nicht im Liegen erstickte. Zuletzt lag sie neben ihm, zu nichts mehr fähig, und hörte die Reste seines Lebens sich verteidigen in der verbrennenden Tiefe. Als das Röcheln seines Erstickens schwächer wurde und immer seltener kam, fing sie vor Kraftlosigkeit zu weinen an und hörte auf, etwas zu fühlen.

In den Fenstern tagte es fahl, als sie wieder zu sich kam. Sie tastete nach seiner Hand und fühlte sie linde warm. Sie richtete sich auf; über seinem Gesicht lag ein weißes Tuch, aber dort wo seine Lippen darunter waren, hob und senkte es sich, langsam und gleichmäßig. Ihr Kopf sank vornüber, ihre Lippen berührten das fleckige Tuch, und es kam ein heiser gebrochener Laut zwischen Lachen und Schluchzen. Darauf legte sie ihre Wange auf seine Schulter und schlief ein, so wie er.

Zwei Stunden später ging sie, wie sie gekommen, mehr ein Geist als ein Körper, in die Stadt zurück und legte sich in ihr eigenes Bett und begann ihre eigene Krankheit.

 

Genesung

Eines Tages war dann wieder Sonne auf den braunen Dielen des Zimmers, und es war hell – die Wintersonne und die Helle des Schnees. Aber die Vorhänge mußten geschlossen werden, ihren Augen war das Licht zu scharf, sie blieben noch lange entzündet und tränten, und sie selbst blieb so matt, daß sie für Wochen ihr Bett nicht verlassen konnte und fast der Winter darüber hinging. Sie lag im Schlaf oder dämmerte in der wohltuenden Schwäche des Genesens, die Wange auf den flachen Händen, auf der Seite liegend, und nichts sehend – doch zuweilen den Freiherrn, der am Fenster saß und mit seinen blauen Augen still hinaussah.

Von ihm erfuhr sie dann, als sie so weit gekräftigt war, daß sie Fragen stellen konnte, wer noch lebte oder wer tot war.

Der Pfarrer hatte es nicht überlebt, obgleich er nicht an den Pocken, sondern an Lungenentzündung und Überanstrengung gestorben war, und von den Kindern nur die Hälfte. Pea selbst war am Leben, die Elisabeth auch. Tassilo war tot, aber man wußte es nicht genau.

An dem Tage, an dem die Ärztin glaubte, daß es mit Janna zu Ende ginge, war er plötzlich im Zimmer erschienen, in dem sie und sein Vater waren, und an ihr Bett gekommen. »Du hattest da kein Gesicht mehr«, sagte er, und sie wußte selber, daß es nur aus Pusteln und Eiterköpfen bestand bis unter das Haar. Tassilo hatte erst furchtbar gezittert, dann sich auf ihre Hand gebückt und sie mit den Lippen berührt und danach Pea angesehn, die auf seinen fragenden Blick versetzte: »Wenn Gott will …« Sie dachten, er sei wieder fortgegangen, nachdem er das Zimmer verlassen hatte, aber in der Nacht hörten sie ein furchtbares Stöhnen im Haus und fanden ihn in einem leeren Bett, in das er sich hineingewühlt hatte. Morgens war er fort, war nicht auf seinem Baum, als sein Vater einen Knecht hinaufschickte, da auf seinen Ruf keine Antwort kam, und er blieb verschwunden.

Viele Zeit später, als der Freiherr einen Förster hatte und mit ihm den Wald abging, sah er einen riesigen Findlingsblock und einen Spaten daneben liegen. Sie entdeckten dann ein großes, halb von Erde verschüttetes Loch unter dem Stein und darin eine menschliche Gestalt. Ein Rinnsal floß in der Nähe, das mochte er aufgesucht haben, um seinen Durst zu stillen. So war er dort allein gestorben, wie die Tiere tun, die sich in das Dickicht hinein verkriechen, als ob es ihnen eingegeben wäre, daß Totes nicht in der offenen Natur liegen soll. Nun war nichts mehr zu tun, als sein selbstgeschaufeltes Grab mit Erde anzufüllen und auf den Block einen Kranz und seinen Namen zu meißeln.

Nun, das sind die Dinge, die von Menschen und dem, was ihnen geschieht, sich mitteilen lassen.

James Hick war schon lange wieder in seiner Tätigkeit, aber in keinem der beiden Särge, die Janna gesehn hatte, war seine Frau gewesen, sondern die war in Detmold. Der düstere Hang, oder wie man es nennen will, der sich ihrer schon früher einmal so bemächtigt hatte, daß sie Gift nahm, hatte sie nach der Geburt eines toten Kindes im fünften Monat ganz in Besitz genommen, so daß sie in sich versank und nur zuweilen umherging und mit irgendeinem spitzen Gegenstand, den sie fand, Menschen auflauerte und sie anfiel. Ihr Mann konnte sie auf die Dauer nicht hüten und brachte sie zu einer Verwandten in Detmold, die unverheiratet war und in Dürftigkeit lebte, sie für Hicks reichliche Vergütung daher gern in Hut nahm.

Von Pea Deuterlein läßt sich noch sagen, daß sie für fast ein Jahr wie erloschen war. Es waren nicht einmal so sehr ihre Kinder, die sie sterben gesehn hatte, als der Tod ihres Mannes, der ihr das Leben entzog. Solange er lebte, hatte sie selbst kaum gewußt, daß er der Boden war, in dem ihr Leben wurzelte. Sie hatten jeder ihrem Beruf gelebt und darin die Lasten des leiblichen und seelischen Jammers getragen, den sie Jahr um Jahr ansehen mußten. Sie hatten für sich selbst niemals Zeit gehabt, und als es anfing besser zu werden, war sie allein. Sie wurde da für lange Zeit stumpf und hart, vermochte nur das Notwendigste zu tun, hockte auf dem leeren Bett des toten Mannes mit einem verzweifelten, bitteren Gemurmel. Am Ende erfolgte ihre Heilung durch ihren ältesten Sohn, als er vierzehn war. Er hatte die Krankheit selbst nicht gehabt, war aber durch den Anblick all des Leidens und Sterbens sehr verändert, begann ernsthaft zu lernen und verlangte eines Tages von seiner Mutter Unterricht in der Heilkunde, wodurch sie dann nach einiger Zeit zu ihm und zu sich selber zurückkehrte.

Auch Janna tat dies an einem Morgen im Februar, indem sie ihr Bett verließ, sich ihrem Spiegel näherte, nicht ohne Grauen, und sich vor ihm hinließ. Es war dann ein Glück für sie, daß sie noch so wenig bei Kräften war und daher vor dem, was sie zu sehen bekam, sich nicht zu Tode entsetzte. Denn auf den ersten Anblick sah das so aus, als ob sie es gar nicht wäre, sondern ein eumenidenhaftes Geschöpf in zottigen und gesträubten Haaren, mit einem Grauensblick in erloschenen Augen und einem weißlich grauen, zernarbten Gesicht. Wie sie in das viele Wochen lang nicht gewaschene, verfilzte Haar hineinfaßte, blieben ganze Büschel davon in ihren Fingern, und Janna saß lange Zeit in Trostlosigkeit, überschwemmt von mattfließenden Tränen. Die Stirn war zum Teil von Narben zerstört, auch am Kinn links waren Gruben, und vom rechten Ohr lief eine Kette von Gruben zum Hals hinab; sonst war die Haut wie von einem farblosen Schleier bedeckt, einem feinen weitmaschigen Netz – alle Zartheit und Frische war dahin, und am ärgsten waren die Halbkreise unter den Augen, die eingesunken und beinah schwarz waren.

Aber nun, da sie doch nicht bleiben konnte, wie sie war, und auch nicht verzweifeln konnte, so fing sie alsbald zu arbeiten an, wusch und bürstete ihr Haar, und es fing wieder an zu glänzen, gewann auch später seine kräftige Fülle wieder. Und als sie nach ein paar Wochen des Salbens und Massierens, auch des wieder Gehens und Reitens das Elend besah, so war der Schaden nur halb so groß. Die Zerstörung war freilich geschehn, aber so wie das Haar hatten die Augen ihr goldenes Feuer wieder, die Wangen gute Farbe. Die frühere süße und reine Zartheit war unwiederbringlich hin; aber sie lebte, der unversiegbare Quell der Erneuerung spülte Schlacke um Schlacke fort, und Augenaufschlag und Lächeln, das Licht der Verlockung aus halbgeschlossenen Lidern, unter den langen Wimpern, der ganze Reiz, der an kein einzelnes gebunden war, sondern aus ihrer Natur blühte – alles war zuletzt wieder da; nicht für das oberflächliche Auge, aber das hatte schon immer über sie hingestreift. Ein Mensch kann von Zügen häßlich sein oder schön – ob er schön oder häßlich erscheint, hängt nicht davon ab, sondern von dem Licht seiner Seele und des inneren Lebens, das sich darin ausbreitet und die Schönheit wertlos macht oder die Häßlichkeit schön. Das Ebenbild des Schöpfers ist nicht im Gesicht, sondern in der Seele. Janna hatte außer einer Anzahl von Gedichten, die sie von Tassilo bekommen hatte, einige kleine Geschichten, die er ihr erzählt und auf ihre Bitte ihr aufgeschrieben hatte; unter ihnen war die folgende, die wir zum Übergang hier einfügen.

 

Das goldene Band

Als der junge Theoderich – der nachmals unsterblichen Ruhm gewinnen sollte als der Kaiser Theoderich der Große – in die eroberte Stadt Ravenna einritt, war es Nacht, und er saß, blau gekleidet, auf einem mächtigen gelben Hengst, umgeben von Fackelträgern, vorn und hinten und neben. Obgleich nicht mehr in seiner Jugendblüte, sah er noch knabenhaft aus – blond und bleich – ausgenommen seine Augen, die alt waren, kaltblaue Steine jetzt – jetzt lichtblaue Flammen. Die dunkle Menge, die auf beiden Seiten die Straßen säumte, unter den lichtlos dunklen Mauern, war still; doch sie haßten ihn nicht, den Helden, der sie von ihrem Unterdrücker Odoaker befreit hatte und ihre Häuser verschont mit Brennen und Plündern. Und sie blickten auf ihn mit Ehrfurcht, weil er so, wie sie ihn jetzt sahen, in der Wolke von Feuer und rotem Rauch, in einer Wolke von Siegen und großen Taten dahinritt.

In dem Augenblick, wo die enge Straße sich auf einen Platz vor einer Basilika öffnete, fiel der Blick des Feldherrn auf das weiße Gesicht einer Frau, das zu seiner Rechten über der Menge schwebte. Im nächsten Augenblick fand er sich überströmt von solch einem Anschaun flammender weiblicher Bewunderung, nein, Anbetung, nein, brennender Süße der Liebe, daß er sich verzaubert glaubte; sein Wesen schmolz ihm weg. Ihr kleines Antlitz, weiß und rosig im Fackelschein, erschien ihm als die früheste Blüte der Jungfräulichkeit, zwischen zwei starken dunklen Zöpfen, durchflochten von Perlensträngen, und ein feiner goldener Reifen schimmerte vor ihrer Stirn. Und er sah nichts als dies; er hörte in tiefer Stille nur die Eisen seines langsam tretenden Pferdes auf dem Pflaster, bis das Innere der Kirche vor seinen Augen erschien, hell von Kerzen, und er hörte die Töne der Orgel.

Eine halbe Stunde danach die Kirche wieder verlassend, sah der Feldherr wieder das Antlitz des lieblichen Mädchens, ihn erwartend, so schien es. Und er, zwei seiner nächsten Hofleute zu sich winkend, befahl ihnen, dieser – wie er sagte – Blume des Mädchentums mit dem Goldreif zu folgen und zu sehn, wo sie lebte und unter welchen Umständen. Sie gehorchten, doch bald in Verwunderung, weil die Person des Mädchens, nachdem sie von einer steinernen Bank herabgestiegen war, nur klein war, breit und plump von Gestalt, in grobes Gewand gekleidet. Ihr nachgehend verloren sie sie beinah in der Dunkelheit der Straßen; und plötzlich, eben noch als grauer Schatten vor ihnen gleitend, verschwand sie in einer langen und schwarzen Mauer.

In der Tat war da eine kleine hölzerne Tür, und nach kurzer Beratung klopften sie. Nach langer Stille wurden Fußtritte drinnen hörbar, die Tür ging auf, im Schein eines winzigen Öllämpchens, das sie selber emporhielt, erschien die Frau in der Türöffnung, seltsam aussehend. Denn ihre Augen waren fast zu, und sie lächelte wie in Erwartung, und dieses Lächeln in einem breiten und graubleichen Gesicht schien entweder das einer Irren oder einer Hure zu sein. Sie schien mittleren Alters; keine Perlen waren in ihren Flechten, sondern weißes Band und ein gelbes vor ihrer Stirn.

Die Höflinge wollten nicht glauben, daß dies die Person war, nach der ihr Herr sie geschickt hatte; doch nach einem Schweigen fragten sie, wer außer ihr in dem Hause wohne – niemand, sagte sie – und ob sie soeben draußen war, um mit der Menge den Feldherrn zu sehn – ja, sagte sie, stärker lächelnd, doch ohne die Lider zu heben.

Darauf wandten die Männer sich ab, die Tür wurde geschlossen; sie fanden ihren Herrn in der Burg, in seinem Schlafzimmer auf dem Bett sitzend und sie eifrig erwartend. Und da er nur die Frage tat, ob sie das Haus gefunden hätten, antworteten sie ja, und dann, daß es arm sei; aber von der Frau wagten sie nichts zu sagen, zumal Theoderich sie nichts fragte.

Den ganzen nächsten Tag lang gingen von Stunde zu Stunde Boten zu jenem Haus mit Geschenken, den allerkostbarsten: Teppichen und Lampen, Betten, Tischen und Stühlen, Ebenholz, Gold und Elfenbein, Seidengewändern, Schuhen von feinstem Leder, Halsketten, Ohrringen, Diademen, Gemmen, Spiegeln und Kämmen, alles Notwendigkeiten für eine Frau, die geliebt wird, aus Kristall, Silber und Bernstein. Der letzte Bote im Dunkel des Abends war Theoderich selbst, als ein Diener gekleidet, um nicht erkannt zu werden.

Vierzehn Tage weilte Theoderich in Ravenna, und da war kein Abend, wo er nicht dem Blick der ihm Folgenden hinter der kleinen hölzernen Tür in der dunklen Mauer verschwand. Die Hofleute, die dem Mädchen zuerst gefolgt waren, ganz außerstande, die Leidenschaft ihres Herrn zu einer so gemeinen und unschönen Person zu begreifen, entschlossen sich endlich, es für bösen Zauber zu halten. Aber unwissend, was sie tun sollten, mußten sie sich mit dunklen Winken und Andeutungen begnügen, die sie so wiederholt fallen ließen, daß ihr Herr endlich fragte, was sie damit meinten.

Sie sagten: Nichts, gar nichts – außer daß sie gehört hätten, wie die Stadt Ravenna seit alters berühmt sei für Hexen. Dann auf einmal fielen sie beide auf ihre Knie und flehten ihn an zu glauben, daß er selbst in den Krallen von böser Magie sei, verliebt in eine Person, die nicht wert war, nur die Sohlen seiner prinzlichen Füße zu berühren. Theoderich, gerührt von der augenscheinlichen Aufrichtigkeit und Sorge seiner Leute, versetzte: unmöglich, und nannte sie Narren, denn es brauchte da keinen Zauber, wo das Mädchen so schön war, das holdeste, liebendste von der Welt.

Eben das, erwiderten beide, eben das ist es, denn wir wissen, weil wir selber sie sahen, daß sie gemein und häßlich und alt ist. Theoderich lachte und sagte: Häßlich? Ihr saht eine andere, sagte er, aber sie gaben zur Antwort: Da ist außer ihr keine im Haus, und du weißt es selbst.

Ich weiß es, sagte er zaudernd und setzte sogleich hinzu: Geht! Bringt sie im Augenblick zu mir! Und sagt ihr, rief er ihnen nach, sie soll in den gleichen Kleidern kommen, die sie trug, als sie mich sah in der ersten Nacht.

Eine Stunde danach sah Theoderich, in einem kleinen goldenen Saal auf einem erhöhten Stuhl sitzend, die Tür aufgehen und die beiden Männer hereinkommen, eine Frau zwischen sich führend. Klein war sie, breit und plump, in rauhes Gewand gekleidet; die Lider in ihrem graubleichen Gesicht waren gesenkt, und es war weißes Band in ihren Zöpfen und ein gelbes vor ihrer Stirn. Die Männer sagten: Hier ist sie.

Sie sagten darauf zu ihr: Weib, sieh auf! Sie gehorchte jedoch nicht, sondern blieb stumm mit niedergeschlagenen Augen. Theoderich, erstaunt, fast erschreckt, sah nach ihr voll Unglauben. Er atmete schwer, seine Augen wechselnd von Stein zu Flammen; doch zuletzt sagte er ruhig:

Sieh mich an.

Bei dem Klang seiner Stimme hob die Frau ihre Lider. Aus ihren Augen strömte sogleich der Blick ihrer Liebe mit ganzer, zauberischer Gewalt: er wandelte Grobheit in Schönheit, wandelte Alter in Jugend, vertauschte ihr ganzes Wesen, vertauschte Wangen, Lippen, Haare, Brauen und Kinn; er verkehrte am Ende – selbst in den Augen der ungläubig starrenden Höflinge – die weißen Bänder in ihren Flechten zu Perlen und das gelbe vor ihrer Stirn zu Gold.

 

März

Früh in dem Jahr 54, das Jannas einundzwanzigstes war, kam der Frühling. Schon der Februar brachte viele sonnige, milde Tage, und an einem schon vorsommerlich warmen zu Anfang März stieg Janna zum erstenmal wieder zu Pferd und ritt zum Schloßberg hinauf. Sie wäre lieber zu Fuß gegangen, aber sie wußte, daß der Freiherr so gut wie sie selbst sie in schönen Kleidern sehn wollte, und in einem solchen war schlecht zu Fuß zu gehen. Es war das erste Mal, daß sie selbst wieder Lust hatte, unter ihren Kleidern zu wählen und eine holde Zusammenstellung an sich zu bereiten – wie er selbst einmal gesagt hatte, eine schöne Frau müßte sein wie ein ganzes Gastmahl, mit Vorspeisen und Nachspeisen und unerwarteten Überraschungen vom Hut bis zu den Füßen. Also trug sie zu einem weißseidenen, vielfaltigen Kleidrock mit einer Silberschnur am Saum eine leichte schwarze Samtjacke – mit gerafften Schößen und kleinen Puffen vor dem Handgelenk an den glattanliegenden Ärmeln – vorne offen, so daß der Silberbesatz und lichtes Blau der unten gespitzten Taille hervorschimmerte und im viereckigen Ausschnitt die Rosenfarbe ihres unversehrt gebliebenen Busens. Das wieder füllig und lockig gewordene Haar schimmerte durch das schwarze Spitzentuch, dessen Dreieckzacke, tief in die Stirn hängend, nicht nur die Blatternarben verbarg, sondern auch die Brauen schwärzer, die Wangen, die es umhüllte, zarter und das Gold der Augen leuchtender machte. So ritt sie langsam durch das Wiesengelände auf die zum Schloß hinanführende Straße zu.

Die Natur war noch kahl und leer; die Wälder auf den Hügeln lagen violettbraun, von dem ernsten Dunkelgrün der Nadelbäume gefleckt, und die Wiesen noch graulich gelb, eben ergrünend, unter dem sanften Blau des Himmels, der von einem ganz leichten Dunst überflort war. Ein verschleiertes Licht breitete sich wie ein goldener Duft über die ahnungsvolle Landschaft aus; ein erstes, schwaches Zirpen kam mitunter zitternd hervor, ein Laut von herzrührender Süße durch die Lindheit der Luft. An den Rändern des Weges blühten die ersten gelben Sterne des Lattichs, und an den Sträuchern waren erst über Nacht grüne Spitzchen hervorgebrochen. Janna saß, die Hände im Schoß zusammengelegt, in sich hineinlächelnd, die Augen halb geschlossen, im verträumten Genuß des milden Glanzes, der hauchenden, süßen Wärme. Das wiedererwachte Leben in ihr schwoll mit jedem Atemzug, ein Glück, ein Heil, eine Dankbarkeit, ein unendliches Hoffen – oder ein nicht mehr faßlicher Schmerz, der sich durch Entsagung in etwas verwandelt hatte, wofür die Sprache kein Wort hat. Denn es gibt in uns Unerfaßliches, das wir selbst nur ahnen, nicht wissen; ein Sein – fast ein Nichtsein, eine Reinheit aller Gefühle, der Vollkommenheit nahe, wäre nicht ein Erinnerungshauch an Verlorenes – so leise, daß die Wehmut zu süßem Klang wird; so wie die Luft des März, so wie das verschleierte Licht, so wie das goldene Zirpen ihren Zauber nur dadurch haben, daß der Schnee zerschmolz, der lange Winter verging.

Als die Straße gegen den Wald zu anstieg, verließ Janna ihren Sitz und fing an, von den gelben Blüten zu pflücken. Das folgsame kleine Pferd war es gewohnt, hinter ihr herzugehen wie ein Hund, mitunter stehenbleibend und dann herantrabend, um mit der schwarzsamtenen Oberlippe an ihre Schulter zu stoßen. Auf den Wiesen standen hier schon Maßliebchen einzeln auf ganz kurzen Stielen, weiß mit blutroten Spitzen; am Waldrand gab es Leberblümchen, allmählich sammelte sich ein Strauß in ihren Fingern, sie hob ihn an Lippen und Nase empor, blickte mit einem plötzlichen Ernst darüber hin und sagte kaum hörbar: Für wen? Und nach einer Weile bewegten sich ihre Lippen, um unhörbar die Worte zu bilden:

»O du nächstes, o du fernstes,
lächelnd ernstes,
du geliebtes Angesicht!«

Doch sie lächelte nicht dabei; ihre Augen wurden langsam starr, die Brauen zogen sich zusammen, als ob sie nach etwas forschte – dann schüttelte sie den Kopf, schauderte leise zusammen und sagte: »Fort … Nichts mehr da …«

Sie ging zu ihrem Pferd und stieg auf und ritt langsam, Schritt vor Schritt den Berg hinauf.

 

Sie fand den Freiherrn auf der Bank vor der Mauerbrüstung des Gartens, in einem alten polnischen Pelzrock, der offen stand, aber barhaupt, wie er sommers und winters ging. Und er las vermittels einer großen Hornbrille in einer sehr kleinen Zeitung.

»Ach«, sagte er, nachdem er Janna umarmt und bewundert hatte, »hättest du nicht eher kommen können?« Er hatte einen Malariaanfall gehabt und ihr sagen lassen, sie möchte sich einige Tage lang nicht um ihn kümmern. »Ich sitze hier und werde ganz dumm und kindisch von dem Alleinsein. Da lese ich diese Zeitung – ich weiß nicht, warum ich es tue, kindische Menschen tun so etwas. Ein Jesuit aus Sardinien hat sich eines falschen Wunderwerks schuldig gemacht, in einem Bläslein Blut in den Mund genommen und beim Kommunizieren gegen die Hostie gespuckt, damit es aussehe, als ob sie blute. Muß ich das wissen? In Rom ist es geschehen, am 13. Dezember des vorigen Jahres, in der Postzeitung steht es nun, die Leute sagen: Eine Neuigkeit! alle Protestanten werden da schreien, die es lesen: Seht – so sind sie! Aber so sind sie gar nicht. Ach, was rede ich da herum. Komm, setze dich neben mich, nein, setze dich auf die Mauer, ich lege meinen Pelzrock darauf, es ist warm, ich brauche keinen Pelz.« Er zog ihn wirklich aus und saß in seinem spitzenbesetzten Hemd, in seiner lässig freien Haltung der gekrümmten Schultern, ein Bein über dem andern, und sagte: »Nun fange du an zu reden, damit ich aufhöre. Aber nicht von Tassilo. Von Tassilo kann ich nichts hören. Ich bleibe nun still, als ob ich die Zeitung läse, ich habe nun dich zum Hineinschaun.«

Janna saß auf der breiten Mauerfläche, die Füße an sich gezogen, über die der Kleidrock im schönen, ihr wohlgefälligen Bogen des langen Saumes nach unten hing, die Hände mit ihrem kleinen Strauß im Schoß, aber nur still lächelnd, ohne etwas zu sagen, indem sie die kleinen Stiele auseinanderzupfte und die Blüten anders ordnete. Endlich sagte sie halblaut:

»Ein Grab sollten wir doch haben.«

»Ja«, sagte er, »gewiß – weil du Blumen hast.«

Bald darauf fing er an:

»Nein, höre du, um Tassilo mußt du dich nicht grämen.« Sie schüttelte leise den Kopf. »Der liebe Junge – aber habe ich ihn gekannt? Kaum vier Jahre. Habe ich Menschen sterben gesehn – nun, du auch. Nun kann ich mich fast nicht erinnern. Sonderbar ist das – wenn ich einmal an ihn denke, fange ich fast an zu weinen. Aber ich denke gar nicht an ihn. Ich kann ihn auch gar nicht mehr richtig sehen. Aber ich bin wohl solch eine vollgekritzelte Schieferplatte, da kann nichts mehr drauf haften.«

Janna blickte ihn mit einem Erschrecken an und sagte:

»Aber so geht es mir auch … Mitunter ist er ganz nah – aber fast nicht wie ein Mensch – nur wie ein alter Traum. Ich glaubte, es wäre – weil es so viele waren, die starben. Er war doch so schön! Wie konnte er so verschwinden?«

Und nach einer Weile setzte sie hinzu:

»Er war so anders als alle Menschen. Mit ihnen verglichen war er fast wie ein Schauspieler – und doch war er die Natur.«

Sie schwiegen beide. Janna drückte mit verschlungenen Händen ihre Arme langsam aneinander, daß die schönen Schultern sich bogen, zugleich das Kinn auf die Brust senkend, eine ungewußte, wollüstige Bewegung des Lebens in ihr, das sich unter der Sonne dehnte.

Sie sagte:

»Heut in der Frühe fand ich ein Päckchen Verse, die er für mich gemacht hat – süße Verse, manche. Aber sie waren wie gar nicht von ihm.«

Da der Freiherr fragte, ob sie nicht welche davon auswendig wisse – indem er den französischen Ausdruck brauchte »par coeur« – wiederholte sie nach einem kleinen Scheinbesinnen, da sie die Verse längst auf den Lippen hatte, die drei Zeilen – als die ersten, die sie von ihm bekommen hatte, wie sie sagte:

»O du nächstes, o du fernstes,
lächelnd ernstes,
du geliebtes Angesicht!«

Aber auch diesmal, ohne zu lächeln. Danach waren sie lange still.

 

»Liebes Kind«, fing er mit etwas zittriger Stimme an, »du wirst mich doch nicht verlassen? Ich will dich gewiß nicht quälen – wie alt bist du? Danach fragt man nicht – gar kein Alter. Aber nun haben wir alles in Gang gebracht, die Wintersaat steht sehr schön, und das Haus ist gebaut, möchtest du nicht darin sein? Ich bin wohl gierig? Ja, ich bin gierig, aber das ist nicht vom Alter. Du glaubst doch nicht, daß ich alt werde? Nein, ich werde nicht alt. Eigentlich bin ich noch immer der Junge, der in den Schloßgraben fiel und nach Luft schnappte, bis er merkte, daß er Grund unter den Füßen hatte. Ich habe die Welt gesehen – die ist wieder weit weg, aber du bist mir nah – hier habe ich gesessen und gedacht, ob du kämest; ich wollte dir den Wagen schicken, aber ich tat's nicht, ganz dumm und kindisch, aus lauter Stolz, aber so bin ich eben, so biete ich mich dir an. Heiraten will ich dich nicht, ich würde es tun, wenn ich wüßte, daß ich nur noch fünf Jahre zu leben habe, aber ich lebe noch zwanzig, das ist für dich zu lange. Aber ich kann dich adoptieren, ich habe Tassilo auch adoptiert –«

Jannas Lächeln, mit dem sie in ihren Schoß hinabblickte, war zwar nur leise, aber äußerst befriedigt. Nun, da er still war, schlug sie einmal rasch die Augen zu ihm auf und hatte, als sie die Lider wieder senkte, sein Bild darin: das fast lederig braune kleine Gesicht im weißen Haar und die großen blauen Augen, die ganz ohne Alter waren, und die bequeme Haltung von solcher Überlegenheit und unbewußter Würde, einen Arm über der Lehne der Bank: »fürstlich«, dachte sie – darum kann er so leichtes Geschwätz machen. Plötzlich warf sie die Hände hinter sich, stützte sie auf die Mauer und legte den Kopf tief in den Nacken zurück. Sie sah über sich weiße Wolkengebilde im Blauen schwimmen, die an Gestalten erinnerten, und sagte nach oben hin:

»Oh, ich sehe – du siehst wie ein alter Gott aus. Ich meine, einer von den alten Göttern – aber sie hatten kein Alter.«

Dann lachte sie leise und glücklich und sagte, nur das Gesicht zu ihm wendend:

»Wie ich hier zum erstenmal saß, dachte ich: hier will ich bleiben! Ich sagte es auch zu Pea.«

Ehe er antworten konnte, hatte sie sich von der Mauer gelassen, lief um die Bank, ihre Blumen darauf werfend, und stellte sich hinter ihn. »Danke«, sagte sie leise, küßte ihn leicht auf den Scheitel, legte einen Hauch ihrer Wange darauf und fing dann an, sein Haar an den Schläfen zu heben und nach hinten zu legen, indem sie sagte:

»Glaub aber nicht, daß ich dich Vater nennen werde.«

»Nenne mich Reginald«, sagte er.

»Heißest du Reginald? Das paßt dann gut.«

»Warum paßt es?«

»Reginald hieß mein Vater.«

»Ja, es ist ein englischer Name; ich bekam ihn von einem Herzensfreund meines Vaters, als der Gesandter in London war. Was machst du mit meinen Haaren?«

Sie hatte angefangen, Lattichblüten hineinzustecken, strich sie nun wieder heraus, nahm die übrigen Blumen auf und ging mit ihnen zur Mauer, beugte sich über und fing an, sie eine nach der andern in die Tiefe fallen zu lassen, wo die braungelben Wasser der kleinen Bega in kleinen Wirbeln davonzogen.

»Lebewohl«, sagte sie kaum hörbar, »lebewohl!« lächelnd ernst, ohne Tränen.

 

Am späten Nachmittag klopfte Janna an die Tür Pea Deuterleins, das heißt, an die Tür des Studierzimmers ihres Mannes, wo sie an dessen Schreibtisch – einem rohen Fichtentisch – neben dem Fenster saß, die Hände über der offenen Bibel gefaltet und zu dem kleinen beinernen Cruzifixus aufblickend, der an der Wand hing. Janna erinnerte sich indes an Peas eigene Mahnung, daß man zu Leidenden nicht von ihrem Leid sprechen soll, sondern von anderen Dingen; sie löste daher ihr Kopftuch, schüttelte ihr Haar und sagte, wie warm es sei, sie habe sich heiß geritten, und warf sich in das tiefe alte Roßhaarsofa neben dem Tisch, während die Ärztin still ihr kleines Gesicht mit den hart gewordenen Augen und Lippen zu ihr hinwandte. Aber das offene Strahlen von Jannas Augen blieb nicht ohne Wirkung, so daß sie nach einiger Zeit bemerkte, die Krankheit habe ihr gutgetan; sie gehöre, scheint's, zu den Menschen, die von Krankheit immer gesunder würden, und Janna erzählte von ihrer kränklichen Kindheit, und wie sie dünn wie ein Brett war. Eine Weile stand dann die Stille zwischen ihnen, Kinderstimmen tönten in der Tiefe des Hauses; Janna sagte:

»Ich hab heut einen Mann gesehen.«

»Einen Mann – nun, wohin du siehst, da wächst einer.«

»Dies ist der erste Mann, den ich je gesehn habe.«

»Freilich – der arme Tassilo …«

»Diese Jungen sind alle wie große Knaben. Dieser ist aber schon alt – über sechzig.«

»Gott bewahre dich!«

»Er will mich auch nicht heiraten.«

»Scheint ein weiser Mann zu sein.«

»Doch ich bin so verliebt in ihn.«

»Alter schützt vor Torheit nicht«, sagte Pea kurz lachend.

»Weißt du – bei ihm hat sich das Alter grade auf sein Haar und sein Gesicht geworfen –«

»Da sieht man es leider am meisten. Aber das habe ich eher als du gewußt.«

Janna fragte nur erstaunt mit den Augen, und die Ärztin sagte: »Das war nicht schwer zu erraten. Erst der Sohn, dann der Vater – die Witwe von Ephesus.«

»Sei nicht so bitter«, bat Janna, die Hand ausstreckend, zärtlich, »ich werde ja nur seine Tochter.«

»Das ist etwas anderes – wenn er dich adoptiert.«

Janna erhob sich und fing an, ihr Kopftuch aufzuknüpfen und wieder umzulegen.

»Wie ich heute in das Land hineinritt«, sagte sie, mußte ich wieder an Ludwig denken. Und an ihn erinnert er mich – seine Augen. Ludwig hatte auch dies – dies Zarte und Große innen. Wenn er so alt geworden wäre –« Sie verstummte.

Die Ärztin erhob sich und sagte mit weicherer Stimme, das Buch zuschließend und weglegend:

»Du bist so jung – und hast schon drei Gräber am Weg. Wer jung ist, kann davon leben. Vertrau du nur deinem Stern.

Du wirst deinen Weg nicht verfehlen«, setzte sie liebreich hinzu.

Janna, die eben fertig geworden war, legte ihr heißes Gesicht in die Hände, und dann sagte sie, ohne aufzublicken:

»Da irrst du dich wohl.«

 

Chronik

Die beiden nun folgenden Jahre waren in Jannas Leben, wo nicht die glücklichsten, die beglücktesten und die vollkommensten Jahre.

Noch im März, bald nach jenem Gespräch mit dem Freiherrn Reginald im Garten, zog Janna ins Schloß hinauf. Ihr Stadthaus gab sie deshalb nicht auf, um in den strengen Wintermonaten darin zu wohnen, und das untere Stockwerk diente nach wie vor den Zwecken des Wortes »Caritas«, das sie über der Tür hatte einmeißeln lassen, die sich aber mit dem zunehmenden Wohlstand der Bevölkerung reduzierten. Janna hatte nun eine Wirtschaft zu führen, sie nahm auch Anteil an der Landwirtschaft, gewann Kenntnis und Liebe für Feld, Wald und Vieh, ritt oder ging bestiefelt mit dem Freiherrn über die Äcker, wußte Bescheid mit Drainage, hatte ihr Auge auf das Ergehen der Bauern, sorgte für gute Schullehrer und Schulstuben und hatte bald die ganze Geldwirtschaft in den Händen, denn mit Zahlen und Rechnungen konnte der Freiherr nicht umgehn, und das Wesen einer guten Frau besteht bekanntlich darin, das einfach zu tun, was der Mann einfach nicht kann. Auch er fuhr zwar fort, seinen Garten zum Teil zu pflegen, aber bald nur noch in den Morgenstunden, und nahm mit ihr an dem gesellschaftlichen Leben teil, worin sie als Vater und Tochter erschienen. Indes war die Folge der verehrungsvollen Art, die er ihr bezeigte, und des Glücks, das sie sichtlich strahlten, daß sie die Titulatur »das ungleiche Brautpaar« erhielten, dann einfach »das Brautpaar«. Anträge konnte Janna jetzt mit der Begründung abweisen, daß sie den »alten Mann« nicht verlassen durfte. In der Tat waren sie weder Brautpaar, noch Ehepaar, noch Vater-Tochter-Paar, sondern alles drei in eins und doch keines, vermittels eines nur ihnen bekannten Geheimnisses.

Ein Sommer war rasch dahin; im Herbst des Jahres erhielt Janna von ihrem Vetter Thomas die Nachricht, daß sein Vater sie gern noch segnen möchte, bevor er das ganze Zeitliche segnete, da nach mehreren Schlaganfällen der letzte jeden Augenblick eintreten konnte; und sie reiste mit dem Freiherrn nach Hamburg, wo sie nun Thomas nach langer Zeit wiedersah. Ihm war es inzwischen wechselnd ergangen, wovon Janna durch einen langfristigen, das heißt lebhafter von seiner als von ihrer Seite geführten Briefwechsel wußte. Er lebte längst nicht mehr in Hamburg, sondern in Tondern an der Küste von Schleswig, einer kleinen Marktstadt für die Fischerbevölkerung. Dorthin war er gegangen, in Jannas Fußstapfen tretend, oder wie er es ausdrückte, um die Herrlichkeit des Herrn in der Natur kennenzulernen, also die mehr furchtbare Herrlichkeit des Meeres, und er hatte sie nicht nur anbeten und lieben, sondern auch ganz in ihr leben gelernt. Die Menschen lebten in unablässigem Kampf mit dem Urfeind des festen Landes, den sie, als ob er ihresgleichen wäre, den »blanken Hans« nannten, der trotz aller Bollwerke mit den alljährlichen Springfluten dem Land Stück um Stück wegfraß. Auch wurden beständig halbwracke Schiffe von der Hochsee herangetrieben oder scheiterten in den Sturmnächten an der Küste oder den vorgelagerten Inseln. Thomas konnte hier moralisch und tätig eingreifen, denn für die Überlebenden wurde zwar gesorgt, aber für ihre Errettung aus Seenot wurde nichts getan, eher das Gegenteil, denn alles antreibende, herrenlose Gut galt als Ernte und Segen des Meeres. Thomas hatte auch Inseln und die einsamen Halligen zu betreuen und führte selber ein Fischerleben, sah auch nun ganz danach aus, kupferrot im Gesicht von Sonne und Wetter, feuriger von Augen, und seine Männlichkeit grenzte an das Herrische. Überdies hatte er eine Braut; ja, er hatte ein Mädchen gefunden, das nach seiner Beschreibung eine Janna duCoeur war in – wenn das möglich war – Übertragung ins Ländliche oder Fischermäßige, denn sie war eine einfache Fischerstochter. Janna bedauerte, sie nicht sehen zu können, denn sie war sehr neugierig, die Vorstellung zu sehn, die Thomas von ihr hatte.

Janna verließ ihn in diesem glücklichen Zustande, nachdem ihr Onkel wider Erwarten die Zeitlichkeit nicht gesegnet hatte, wenn auch sie selbst, um nach London zu fahren und auch die alten Stätten von Mosley-Haus dem Freiherrn zu zeigen. Sie besuchten auch Hicks Gefängnis, »The King's Head and the Swan«, und sahen die Zelle, aus der ihn Cromwell erlöst hatte. Janna hatte dem Freiherrn von ihrer Begegnung mit ihm erzählt, wenn auch nur flüchtig; denn wenn sie sich auch mit ihren Erfolgen brüstete, war sie fast außerstande, von sich selbst zu sprechen. Von London fuhren sie nach Antwerpen und weiter dann nach Brüssel, Paris, überall die Sehenswürdigkeiten, die Geselligkeit und Kenntnis von Land und Leuten genießend; von Paris dann über Lyon und Marseille nach Genua. Im Frühjahr waren sie in Rom, gingen von dort über Florenz nach Venedig, und dort erlitt der Freiherr einen so heftigen Anfall seiner Malaria, daß Janna nicht verstand, wie er es überlebte – noch weniger die Ärzte, denn er hatte sich überall den Koryphäen gezeigt, und keine konnte begreifen, wie sich mit Malaria so lange leben ließ, gleichsam wie mit einer Göttin; und sie weissagten ihm Unsterblichkeit. Obgleich noch sehr geschwächt, bestand er auf der Heimreise, denn Heimweh hatte ihn überfallen, er glaubte in seinem Zustand nicht an Unsterblichkeit und wollte sein Leben unter Tassilos Baum beschließen. Zur Strafe für seine Übereilung bekam er einen Anfall von Angina pectoris in Wien; aber er verlor auch dadurch weder die Lust noch die Kraft zum Leben, wenn er ihre Betätigung auch von nun an einschränken mußte, lebte vielmehr wieder auf, sobald er seine Mauern wiedersah, nur ein wenig krummer in den Schultern und zugestehend, daß er mit über 70 zum Altsein nun gleichsam verpflichtet war; aber auch dazu, Janna für einen guten Mann zu sorgen und für sich selbst endlich Enkel. Jannas Adoption, die bis dahin unterblieben war, sollte dies ermöglichen, wenn es auch keine echten waren. Janna selbst war es leid, daß ihr wie ihm diese Freude bisher versagt war, obschon sie nicht davon redete.

Bei der Heimkehr im Frühsommer fand Janna einen Brief von Thomas, der lange geschwiegen hatte, aus Hamburg mit der Anzeige des Todes ihres Onkels. Die Ursache seines Schweigens war gewesen, daß in sein Glück ein Schatten gefallen war, nachdem seine Braut schon bald nach der Verlobung angefangen hatte, Charakterzüge von ungefälliger Art hervorzukehren, so vor allem ein Begehren nach schönen städtischen Kleidern, Federhüten und Schmuck und äußerst dringlich das Verlangen, in einer großen Stadt zu leben, womit sie Jannas Bildnis nur teils, teils entsprach. Der unsichere Zustand seines Vaters hatte Thomas, zu seinem Glück, die Hochzeit hinausschieben lassen; die Entfremdung vertiefte sich, zumal die Aussicht auf Stadtleben wirklich bestand. Denn der Hamburger Senat hatte Thomas wissen lassen, daß man ihn, der in Tondern sich einen ausgezeichneten Ruf als Seelsorger wie als Kanzelredner erworben hatte, gern an seines Vaters Stelle, in der dritten Generation Becker, sehen würde; so ehrenvoll für ihn, so doch unwillkommen, denn er glaubte, in einer Stadt nicht mehr leben zu können und die Hamburger insbesondere nicht mehr zu ertragen. So schrieb er:

»Da rühmen diese Bürger sich der Weite ihres Blicks, über sieben Meere hin, dran sie wohnen; aber sie wohnen da gar nicht, sie wohnen an der Elbe. Sie bekommen das Meer nie zu sehn, sie haben keine Weite des Blicks, die schwarze Enge wohnt hinter ihren Stirnen. Ich denke dann: da tauchen sie ihre Pinsel hinein, mit denen sie Pernambuco oder Fernando Po auf ihre Säcke und Kisten schreiben, und meinen, sie hätten es drin. Wie kann es auch anders sein, da sie nur rechnen und kalkulieren, und es gar nichts ausmacht, ob die berechneten und kalkulierten Objekte sich da oder dort auf dem Globus befinden. Die Meere, die Küsten, die Inseln, die Pflanzungen jenseit der Meere – keiner hat mit dem leiblichen Auge etwas davon erschaut. Der Matrose erblickt sie, aber der kommt nicht aus dem Kontor; ja nur selten aus Hamburg; der Hamburger geht nicht zur See, der geht ins Kontor. Gott den Herrn vermag auch der Blinde zu sehn oder zu erfahren, aber sein irdisches Kleid von Herrschaft und Furchtbarkeit kann nur mit dem leiblichen Auge erfaßt werden. Was ist es also, das sie sehn? Kaffee und Baumwolle, Pfeffer und Indigo, das heißt Säcke, Ballen und Kisten auf ihren Waagen, aber nicht Küsten, Palmen und Korallenriffe, nicht die einsame Weite der Meere. Was also kommt darauf an, ob die Säcke und Ballen in Kalkutta stehn oder in Sankt Pauli? Entfernungen machen die Weite nicht aus, und was sind auch alle Meilen der Welt an der einen Ferne gemessen, die allein maßgeblich ist? Aber die Hamburger Giebel küssen sich beinah gegenseitig.«

»Sieh einmal«, sagte Janna zu Reginald, »dieser Brief könnte schon beinah von dir sein.« Er konnte das »schon« nicht begreifen; Janna schrieb auf den Brief nach kurzer Zeit zurück:

»Ich bin sehr bange, Dir zu schreiben, daß ich Deinetwegen mit Graf Simon gesprochen habe, weil es sich eben so machte. Nämlich wegen der Marienpfarre, wo zur Zeit ein Ungetüm auf der Kanzel steht und brüllt wie ein Ochs, was aller Bevölkerung unleidlich ist, auch sogar Graf Simon, obwohl er da ebenso brüllen würde. Doch ist Graf Simon mir hold, er hat etwas Menschliches übrig für meine schönen Augen, die bereits hier auf Erden mein einziger Überrest sind. Er ist ein Unhold sonst, mit dem härtesten Herzen, wo Du auf beißen kannst (ich fürchte, dies Deutsch ist Englisch), und das erste Wort, wenn Du ihn etwas bittest, ist: ›Je ne pense pas à ça.‹ Er hat sich den Mund mit etwas Französisch lackiert mangels Honig. Wir haben ihm aber zugesetzt, Reginald und ich – Du weißt, ich nenne ihn Reginald nach meinem Vater –, und wie er sagte, daß ein Hamburger nicht vom hiesigen Schlage wäre und den Leuten nicht nach dem Munde reden könnte, habe ich ganz staunend gesagt: ›Erlaucht – soll er denn das?‹ Sagt er: ›Wie denn nicht?‹ und ich sage: ›Ein Pfarrer soll Gott nach dem Munde reden, aber nicht Menschen.‹ Das hat auf ihn Eindruck gemacht, nicht wegen der Christlichkeit, sondern nur so als Antwort. Und wie ich dann sagte, es würde ihm wohl schwer werden, Dich dem Hamburger Senat zu entreißen, hat ihn das natürlich heftig für Dich entflammt. Nun, und so – ja, so bin ich eben bange, ob dies die richtige Antwort ist auf Deinen Brief.«

Wenn Jannas Bangnis darin bestand, daß er in seiner geraden Art entweder nein sagen würde oder mit einem Antrag antworten, so hatte sie sich geirrt; höchstens konnte sie eine Andeutung in dieser Richtung in der Mitteilung sehen, daß er in ledigem Stande komme. Thomas mußte inzwischen gelernt haben, daß die offenen Wege nicht allein zum Ziele führen und für Janna jedenfalls die verdeckten gangbarer waren. Er sagte also ja zu dem Pfarrangebot, sonst nichts, vorbehaltlich des Senats, der allerdings große Schwierigkeiten machte, sogar mit Entziehung der Bürgerrechte drohte, in seinen – des Senats – Augen so gut wie eine Ächtung, schließlich aber aus Achtung vor Thomas' Vätern nachgab und ihn als verlorenen Sohn ziehen ließ, worüber es Herbst wurde.

 

Die Hexe

Wenn Thomas Becker nicht allein der Lemgoer Pfarre wegen herkam – was mehr als wahrscheinlich war und Janna nicht entging, als er da war –, so verhielt er sich dann ganz so, wie es in ihren Augen das richtige war. Und das heißt, daß er sich recht eigentlich gar nicht verhielt, das heißt, daß er nichts tat, nichts von irgend werbender Art, nichts als dazusein und sie nur empfinden zu lassen, daß er ihrethalb da war. Er war den Winter über in dem Stadthaus, in dem sie mit dem Freiherrn lebte, ihr Tischgast an allen Sonn- und Festtagen, kam aber auch sonst wohl am Abend nach einer schweren Schneefahrt zu einem Sterbenden, erholte sich am Ofen stehend und mit einem Glas Grog, einem Getränk aus erhitztem Arac mit Zucker und etwas heißem Wasser, das er von der Wasserkante her eingeführt hatte und das Janna und der Freiherr mit ihrem – wie Thomas sagte – »Burgundergaumen« roh fanden wie ein Schifferlied. Er konnte auch solche und sang eins und das andre auf Verlangen, wenn er getrunken hatte, die besten Stellen jedoch ohne Worte. Übrigens schien er mehr für den Freiherrn dazusein als für Janna, spielte Schach mit ihm – was Janna ihm gern ließ, denn sie hatte zwar die Gabe, aber wenig Vergnügen daran, außer einem Mann zu Gefallen; aber bei dem Freiherrn bedurfte sie dessen nicht mehr, und der konnte nicht zusehn, wenn sie mit Thomas spielte. Er konnte auch vortrefflich erzählen, von seinen Erfahrungen mit Menschen als Seelsorger und allerlei Abenteuern zur See, den Gefahren des Nebels und den stillen Frauen, die abendlich auf den Dünen standen und warteten, ob die heimkehrenden Segel sich vollzählig zeigten, vom Zweiten Gesicht und der merkwürdigen Erscheinung der Widergänger. Er enthüllte so mit der Zeit seine Vorzüge ebenso wie seine Fehler, die innere Festigkeit bis zur Selbstsicherheit, mehr Weichheit als Güte, und wenn er auch keineswegs bigott war, so doch nicht frei von kleinlichen Zügen und von einer harten Moralität. Die Hamburger Engstirnigkeit fehlte ihm nicht ganz so sehr, wie er selber glaubte; die geheimen und wahren Labyrinthe der Menschennatur waren ihm nicht nur ungangbar, sondern unsichtbar; seine Lebenserfahrungen hatten sein Wesen nicht wie das des Freiherrn vertieft oder erweitert, um nicht zu sagen versüßt, sondern nur gehärtet, und einmal kam es fast zu einem Zerwürfnis, als er eine angebliche Hexe brennen wollte. Die Schwierigkeit war, daß das arme, verwirrte Kind, eine Bauerntrine, wie so viele ihresgleichen sich selbst des Umgangs mit einem gehörnten Incubus und weiter aller Schwarzen Künste bezichtigte, die von ihr verlangt wurden, und Thomas nicht begreifen konnte, daß eben dies der Beweis war, daß alles nur Einbildungen waren – und nicht einmal das; denn sie gab immer nur zu, was andre sich ausgedacht hatten und sie fragten.

Während Thomas davon berichtete und darüber sprach und der Freiherr ihm widersprach und er wieder dem Freiherrn und beide nach und nach in Erregung gerieten, hörte Janna zu, an ihrem gewohnten Platz hinter ihnen neben dem Ofen sitzend. Nun stand sie plötzlich auf, ergriff ein Tablett, auf dem sie Gläser und Karaffe hereingebracht hatte, stellte des Freiherrn leeres und Thomas' halbvolles Glas sowie die Karaffe darauf und trug sie zur Kredenz, nahm danach auch den kleinen Tisch und stellte ihn auf die Seite, so daß die beiden vor einer Leere saßen. Jetzt, nachdem sie dem Vorgang stumm und staunend zugesehn hatten, fragte der Freiherr, was er bedeuten solle; sie gab darauf keine Antwort und wußte wohl gar keine, da sie eben nur stillschweigend »aufgeräumt« hatte. Wieder am Ofen stehend, sagte sie mit maßvoller Stimme:

»Wenn das Mädchen brennt, brenne ich auch.«

Thomas fragte, noch ohne Begreifen, warum und wie sie das machen wolle, worauf sie versetzte, sie würde aufs Rathaus gehen und sich derselben Hexenkünste bezichtigen wie jenes Mädchen.

Thomas erwiderte: »Liebste Janna«, und wen sie wohl schon behext habe, und sie versetzte mit heißen Augen: »Ich?« und dann, eine Hand ausstreckend, »ich habe dich behext, und den da, und –« Sie verschluckte weitere Namen und schloß: »– drei Dutzend andre.«

Wenn sie das meine, entgegnete er rot geworden, doch langzähnig lächelnd, allein Janna fuhr fort: auch sie könne sagen, daß sie ihre Künste durch Buhlschaft mit dem Schwarzen erlangt habe, »und dann mußt du mir glauben, ebenso wie du dem Mädchen glaubst. Und wenn du es nicht tun solltest, so wird Graf Simon es tun, und wenn auch nur deshalb, weil er dann mein Vermögen und mein Haus einziehen kann, wovon der Richter seinen Anteil erhält, wie du wohl weißt.«

Thomas erwiderte, daß er dieses selbst auf das schärfste verurteile; doch sie hatte sich schon der Tür zugewandt und verließ das Zimmer und wurde an dem Tag nicht mehr sichtbar. Auf welche Weise es Thomas gelang, das Schicksal des Mädchens zu wenden, erfuhr sie nie; der Freiherr berichtete ihr von ihm, daß er beim Fortgehen an jenem Tage geäußert habe, er hätte immer gewußt, daß sie von ausgeprägtestem Willen wäre, und er bereue es nicht, das an sich selber erfahren zu haben.

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Thomas besaß den Vorzug in Jannas Augen, daß er sehr musikalisch war; sie war es nicht, aber sie liebte Musik, und er sang nicht nur mit einer schönen und tiefen Baßstimme, spielte auch die Orgel und die Laute. Er war daher sehr erfreut von einer Lemgoer Sage, die sie ihm kurze Zeit nach jenem Vorfall erzählte, wie nämlich die Stadt Lemgo in eben seiner Marienkirche lutherisch geworden war.

In der Zeit der Glaubensspaltung, als die Mehrzahl der Bürgerschaft der neuen Lehre bereits anhing und angefangen hatte, schöne geistliche Lieder im Gemeindechor zu singen, schickte der Bischof von Paderborn einen Kaplan nach Lemgo, um das Singen der Lieder zu untersagen, von denen es hieß, daß sie durch ihre Süße und Lieblichkeit die Altgläubigen oft verführten. Der Kaplan meldete sich bei dem Bürgermeister, der katholisch war, und der sandte ihn zum Gottesdienst in der Marienkirche. Er kam aber nicht wieder, und der Bürgermeister sandte ihm erst den Ratsdiener nach und dann, da auch der nicht zurückkam und er niemand anders zum Schicken hatte, seine Tochter. Als auch diese ausblieb, ging er zornig selbst zur Marienkirche; die tönte vom vollen Gesang der ganzen ergriffenen Gemeinde, und er sah gleich sich gegenüber seine Tochter zwischen dem Ratsdiener und dem Kaplan stehen, der vor Ergriffenheit schon seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte; und alle drei sangen von einem Notenblatt, das sie hielt. Darauf machte der Bürgermeister sich nach Paderborn auf und überließ seine Tochter dem Kaplan und die Stadt der evangelischen Lehre.

Die Sage war nicht ganz so; die Tochter war von Janna aus eigener Erwägung hinzugefügt worden, obgleich es nicht sie war, sondern die Musik, die den Zauber gewirkt hatte.

 

Wenn ihre beiden Männer, wie Janna frivol genug war, sie zu nennen – wenn auch nur bei sich selber oder gegen Pea Deuterlein, die ihr, wie beide wußten, als Ableitekanal für ihre Prahlsucht diente –, wenn sie in ihren Armstühlen zurückgelehnt saßen, ihre Abenteuer von unterschiedlicher Art, aber mit fast ähnlichem Humor erzählend oder auch disputierend, auf dem Tischlein zwischen sich, von dem sie das Spielbrett entfernt hatte, ihre Burgundergläser – das des Freiherrn öfters leer als das Thomas' durch den Zwang der Ärztin und Jannas –, saß Janna hinter ihnen neben dem warmen Ofen, mitunter die flachen Hände daranlegend, denn sie fröstelte leicht diesen Winter, sagte nur selten ein Wort, genoß nur still die männlichen Reden als Äußerung ihrer Männlichkeit, wohl wissend, daß Witz und Schwung und Humor nicht von selbst aus den Geistern kamen, auch nicht durch Befeuerung des Weins, sondern durch ihre im Dunkeln blühende Anwesenheit.

Freilich – wenn sie sich öfters in dieser Zeit sagte, wie zufrieden sie sei, so sagte sie es sich doch, und wie ein kaum sichtbarer Schatten flog die Frage: »Was ist Zufriedenheit?« hinterher. Wenn sie an den Sonntagen die Gerichte ganz oder zum Teil selber zubereitete, um dann den Genuß der Esser zu genießen, den Tisch selber gedeckt und geschmückt hatte und alles zum Anfangen fertig dastand und glänzte, so dachte sie mit einem verzogenen Mundwinkel, es könnte nun auch zu Ende sein und sie ins Bett gehen, obwohl es noch heller Tag war. Die Handwerker und die Bauern saßen um diese Stunde am Ofen, die Hände auf den Knien; sie hatten wenigstens Ursache, müde zu sein. Sie war es nur, wenn sie spät des Nachts oder gegen Morgen vom Tanz heimkehrte, und auch da war es vorher das gleiche: wenn sie fertig gekleidet und frisiert sich ihren Pelz umhängen ließ und zur Tür ging, dachte sie, lieber alles wieder abzustreifen und im Bett und allein zu sein, obgleich sie schlecht schlief und viel ängstlich träumte. Leichtfertiger äußerte sie sich gegen Pea Deuterlein, als die sie einmal wohlwollend fragte, ob sie nun glücklich sei mit ihren beiden Haupt- und einem Dutzend Nebenkavalieren, mit denen sie Schlitten fuhr oder Schlittschuh lief und sich schneeballte. Sie sagte: »Du verstehst keine Weiberseele. Du meinst, wenn eine ein Dutzend vor ihrem Wagen hat, ist sie selig. Aber das ist sie gar nicht.« »Ist sie es nicht – was denn?« »Sie ist schwer leidend, daß es nicht noch viel mehr sind.«

Es war dann keine Überraschung für sie, als der beginnende Frühling die Wendung brachte und Thomas mit einer schönen Ehrerbietung fragte, ob er es diesmal besser gemacht habe und nun Geduld genug bezeigt. Die alte Schwesternliebe, die sie für ihn hatte, war durch seine männliche Gegenwart tief genug in Weiblichkeit eingetaucht, daß sie die Farbe der Liebe hatte, einer solchen jedenfalls, wie sie recht war für eine Ehe. Der Freiherr war sehr betrübt, aber der letzte, es anders zu wollen, und stellte nur die Forderung, seine Zimmer in Jannas Haus zu behalten und also nur mit Thomas den Platz – als Kommender und Gehender – an ihrem Tisch zu wechseln. Und eine Woche nach dem Verlobungstag überraschte er sie mit einem schön geschriebenen Instrument, das sie zu seiner Tochter und Freiin von Krosigk machte, was Thomas für nicht sinnvoll erklärte, da sie diesen Namen doch nur wenige Wochen tragen würde und dann er für sie der Verantwortliche sei; was aber das Erben angehe, war ihm das noch peinlicher, denn was sollte eine Pfarrersfrau mit Schlössern und Dörfern? Obwohl seine Haltung als Bräutigam in Ehrerbietigkeit unverändert blieb, hatte er doch bereits Meinung und Urteil in Dingen, die sie betrafen, und es war Janna klar, daß er sich weiter verändern würde. Die Zukunft, als ein gleichmäßiges, stilles Rollen von Pflicht und Gewohnheit, sechs Wochentage – ein Sonntag, sechs Wochentage – ein Sonntag, machte ihren Atem nicht leichter; doch sie war gesunder und blühender als je, und die Hoffnung auf einen baldigen Segen der Natur wirkte ermutigend.

Nach dem Willen der Brautleute wäre die Hochzeit bald und im stillen vollzogen worden, aber nicht nach dem des Freiherrn und der lippeschen Hofgesellschaft, deren Mitglieder sie nun einmal waren und die ihr übliches, lärmendes Fest wollte. Auch die Stadt wollte natürlich teilnehmen – da Janna ihr fast eine Patronin war – mit Zünften und Gilden, Abordnungen und Geschenken, und der Freiherr bestand auf dem Juni, damit der Wald völlig grün sei und das Fest nach Vätertradition aus den inneren Räumen sich in das Freie ausdehnen könne, einschließlich der alten Rotunde unter dem Eichbaum. Als Janna die Erinnerung an Tassilo erwähnte, ging er heiter darüber hinweg mit der Antwort, Tassilos Geist würde aus Elysium fröhlich auf dieses Fest herabsehn, was für Janna nicht eben wahrscheinlich war. Alles, was sie und Thomas erreichten, war, daß das Fest am Tage vor der Trauung stattfand und diese im kleinsten Kreis, frühmorgens unbemerkt, wenn die Festgäste noch schliefen. – Fast im letzten Augenblick wurde alles beinah aufgehoben und um Monate hinausgeschoben. Auf der Heimfahrt von einer anderen Hochzeit warf der schlaftrunkene Kutscher den Wagen an einer gefährlichen Stelle des Schloßbergs so tief um, daß der schlafende Freiherr sich die linke Schulter auskugelte, die Kniescheibe brach und das Auge so verletzte, daß die Sehkraft verlorenging. Janna blieb bis auf eine Beule an der Stirn unverletzt, da sie auf ihn fiel. Er dankte es außer seiner unverwüstlichen Natur der kundigen Hand der Ärztin, daß Arm und Bein nicht steif blieben und die Sehkraft des anderen Auges erhalten; doch er war danach nur noch etwas krummer als bisher und mußte am Stock gehn. Janna hatte freilich, statt ins Brautbett zu gehn, an einem Krankenbett wochenlang zu sitzen, aber sie war schlimmere gewöhnt, und es war, da er ganz bei Humor blieb und genas, keine unwillkommene Unterbrechung des Lebens. Die Hochzeit aber mußte auf den September verschoben werden.

 

Der Zettel

Janna war nicht vollkommen heiter gestimmt, als sie an dem vollkommen heiteren Septembertage im offenen Wagen, von berittenen Kavalieren umringt, den Schloßberg hinanfuhr, nachdem sie mit ihrer Frisur Stunden verbracht hatte, ohne Zufriedenheit zu erlangen. Ihr Haar war seit der Krankheit ihr Hauptschmuck, mehr als früher; es war ihr größtes Glück, daß seine Fülle und die natürliche Lockigkeit sich wiederhergestellt hatten. Daß sie es bei jeder besonderen Gelegenheit auch besonders trug, braucht kaum erwähnt zu werden; heute hatte sie die Perlenschnüre hineinzuflechten, die sie vom Freiherrn bekommen hatte, und Schleier und Kranz darüber zu befestigen, gegen die sie von vornherein mißgestimmt und ungeduldig war, weil sie erst dem folgenden Tag mit der Trauung zukamen. So wollten die drei Dinge auf keine Weise zusammengehn, sie verlor am Ende die Geduld und ließ die morgigen Dinge fort, strich das ganze Haar nach hinten und in die Höhe und wand die Perlenstränge um den Kopf. Das sah an sich reizend, obwohl ein wenig verwegen aus, es gab ihr ein entzückendes Profil, aber es verdeckte nichts von den Schäden der Krankheit, und die roten Flecke, die sich in den letzten Jahren auf den Wangen gebildet hatten, traten trotz alles Puderns stärker hervor. Er muß mich, dachte sie, nehmen, wie ich bin – ein Gedanke, den sie noch nie im Leben gehabt hatte, auch wenig logisch, denn es war eben an diesem Tag nicht so sehr Thomas, sondern andre, für die sie sich schön machte. Ihr Gesicht war schmal und sah eher knabenhaft aus. Das Brautkleid war gelblich gewässerter Atlas mit Goldstickerei und einem Überfluß von Spitzen am Hals und den halben Ärmeln; lange Schleppen waren ihrer leichten Beweglichkeit immer lästig gewesen, daher hatte diese nur die gewöhnliche Länge.

Um Mittag begann die Auffahrt der Karossen, die von überallher herbeirollten, nebst dem Anreiten der Kavaliere zu Pferd, und der Strom der Gildenzüge quoll aus dem Stadttor. Alle erdenklichen Farben leuchteten da unter der Himmelsbläue als: Birnengrün, Zwetschgenblau, Zinnoberbraun und Zinnobergelb, Lavendelfarbe, Lilarot, Erdbeerrot und Graurot, Sahnegelb, Zitronengelb und Burgunder. In den offenen Kutschen wehten die Straußenfedern und Reiherbüsche der Damen, in Sätteln wippten die breithütigen Kavaliere, die Banner und Seidenfahnen der Zünfte schlugen ihre schimmernden Falten, die Musik der Pfeifer, Trommler und Zinkenisten erscholl. Indes wollen wir in die Beschreibung des Festes mit seinem stundenlangen Mahl im Turnierhof, in der warm hineinflutenden Nachmittagssonne, und allen Belustigungen, Aufführungen, Ringelreiten und Reigentänzen weiter nicht eintreten. Die Waldstraße vom Schloß zur Lichtung mit dem Eichbaum war durch Masten, Girlanden und bunte Stoffe in eine Lustavenue verwandelt, in der es farbenreich wimmelte, und die Rotunde, unten so wie oben mit frischen Brettern belegt, mit jungen Birkenbäumen an ihren Pfosten und mit Gewinden von Tannengrün und Blumen um die Geländer, diente wieder ihrer eigentlichen Bestimmung. Unter dem Dach sprang das Landvolk seine dröhnenden Tänze; auf der Plattform bewegten sich Ratsherren und ihre Frauen, die adligen Damen und ihre Kavaliere feierlicher und graziöser in dem Gegeneinander- und Voneinanderschreiten und den tiefen Verneigungen ihrer Contretänze und Menuetts. Immer, sobald Klarinette und Baßgeige unten schwiegen, setzten oben die zarteren Violinen und Flöten ein.

 

Mitten im Tanz mit irgendeinem gleichgültigen Partner – er war so rot wie ein Ziegelstein vom Hut bis zu den Schuhen – auf der Plattform sah Janna im Sichaufrichten von einer Verneigung auf der Treppe den Kopf eines Mohrenknaben mit dick weiß gemalten Lippen und einem gelbroten Turban auftauchen, der sich suchend umsah. Dann kam die bunte kleine Gestalt auf sie zugelaufen, hielt ihr einen zusammengefalteten Zettel hin und entlief, als sie ihn genommen hatte. Janna, die an der Außenseite der Plattform tanzte, winkte ihrem Partner zu und trat an das Geländer, um das kleine Blatt zu entfalten; es enthielt in englischer Sprache die Worte:

»Habt die Güte, Euch von einem Freund, den Ihr kennt, am Denkstein erwarten zu lassen.«

Janna faltete den Zettel wieder und versenkte ihn in ihren Halsausschnitt. Der Denkstein lag nicht weit von der Rotunde im Walde zur Erinnerung an ein Kind, das vor zweihundert Jahren an der Stelle von Wölfen angefallen und zerrissen war; von der Lichtung führte ein Weg dorthin und im Bogen weiter zur Waldstraße zurück.

Sich umblickend, bemerkte Janna ihren roten Tänzer fünf Schritte abseits am Geländer, wie er Blumen aus dem Gewinde pflückte und nach unten warf. Sie sah noch, wie er eine auffing, die aus dem Unsichtbaren emporflog, nahm ihre Schleppe auf, ging zur Treppe und stieg hinunter. Sie kam fast unbeachtet durch das untere Gewühl, ging über den Grasboden und in den gebogenen Waldsteig hinein. Hier war Tannenwald und so dicht, daß es beinah dunkel war. Hoch oben in der Gasse mit ihrer plötzlichen Stille leuchtete der späte Himmel und unten hier und da, wo ein durchbohrender Sonnenstrahl auf Farnkraut traf, eine goldgrüne Rispe im Düster.

Ein kleiner grasiger Platz tat sich auf, in dessen Mitte der graue, bemooste Stein lag; und dort stand vor der Tannenwand im roten Braun seiner Kavalierstracht der Mann, der sie erwartete, und kam ihr nun entgegen, ohne daß sein Gesicht in der tiefen Dämmerung ihr erkennbar wurde. Auf der andern Seite des Platzes war die Rückseite eines geschlossenen Wagens mit einer geöffnet abstehenden Tür zu sehn, in das Gezweige hineingezwängt. Janna blieb stehn.

Dann war er in seiner Größe nahe vor ihr, über ihr, die Hutkrempe schattete über sein Gesicht, und schon hatte er sich niedergebückt, sie war von seinen Armen umfaßt und aufgehoben, war zu dem Wagen hingetragen und hineingesetzt. Er stieg ihr nach, setzte sich gegenüber, die Tür schlug zu, die Pferde legten sich in die Stränge und zogen an, der Wagen rollte, durch das dichte Gezweig sich drängend. Es war drinnen ganz finster; erst als der Wagen auf der Waldstraße rollte, wurde es heller.

 

Wieder im Wagen

Wir erinnern uns: Wagenfahrten haben in Jannas Leben eine nicht unbedeutende und nicht immer erfreuliche Rolle gespielt; nun aber diese … Vom Erdboden aufgehoben, fortgetragen und hingesetzt; Janna war – aus dem Tanz, aus dem Fest, aus Hochzeit und Versprechen, aus dem Leben gerissen; war wie eine ausgerissene Pflanze und saß, so wie sie hingesetzt war, steif da wie eine Puppe. Doch fühlte sie ihren Körper nicht; wenn sie überhaupt etwas fühlte, so war es Auflösung. Etwas war geschehen, gegen das es keinen Widerstand gab; es war über Widerstand weit hinaus, die Seele hatte keine Abwehr dagegen, und in der fürchterlichsten Schwäche glomm nur ein Funken, Erinnerung kaum zu nennen, das Gefühl einer Übereinstimmung mit irgend etwas vor vielen Jahren, zu dem dies hier paßte. Sie hatte in diesen Minuten sich selbst verloren, war schon wie ein Klumpen Schändung, saß da mit starr offenen Augen und sah nichts.

Als sie dann fühlte, daß sie vor Schwäche am Ohnmächtigwerden war, zwang sie sich zum Erwachen und fragte sich, ob sie träumte. Das ließ sich nicht feststellen – es konnte ihr träumen oder wahr sein, was geschah und was sie da sah: in der Enge ihr schräg gegenüber der Mann; der Blick, den sie auf ihn richtete, war fast furchtsam, und sie sah ihn nur dunkel, verschwommen und – wie ein Ungetüm, wie etwas Bärenhaftes. So saß er da – ja wie aus einem Märchen? Sein Gesicht, wie sie jetzt erkennen konnte, war dunkel und hatte eine Gedunsenheit; die Augen waren klein und schienen ihm zufallen zu wollen. Vielleicht war er betrunken, doch kein Weingeruch war zu spüren, aber etwas anderes, Unbestimmbares, Widerwärtiges. Sie mußte wieder die Augen schließen.

Sie schlug die Lider nicht auf, als sie ihren Namen hörte, fremdartig, in englischer Aussprache. »Janna«, wiederholte er dringlicher und fuhr fort in dieser Sprache: »Sagt mir – oh, sagt mir, ob Ihr bei mir wart, als ich krank war.« Nun schlug sie die Augen auf und sah ihn grade an. »Oh, ist es wahr, ist es wahr? Kein Traum, kein Traum?«, und er lag über ihren Knien, ihren Händen, sie hörte Stöhnen, Schluchzen: »Oh, so liebt Ihr mich? Liebt Ihr mich?« schrie er, »liebt Ihr mich?« Und sie antwortete: »Ja, ja«, und er: »Schon lange?« »Ja«, sagte sie, »immer.« »Schon seit England?« »Immer«, sagte sie, »immer.« »Immer, Janna?« »Immer, James«, sagte sie, »immer«, doch es war kein Ton in der Stimme, sondern nur der eines entfernten Echos. Schon zu spät, dachte sie, man kann's sagen. Doch lagen ihre Hände jetzt auf seinem Haar, und sie fragte leise und sanft: »Wolltest du das hören?« und dachte, nun wird es zu Ende sein. Indes hörte sie seine Stimme: »Oh, dann kommst du mit mir!« Er richtete sich auf und warf sich zurück, sie sah ein Glühen aus seinem Gesicht kommen, und dann lag sie in ihre Ecke gepreßt, in einem Brausen, gedankenlos, gefühllos, ganz leer. Bilder flogen vorüber, Gesichter, aus naher und ferner Zeit, dazwischen ein Aufflackern – von Zorn, von Reue … das ganze Leben verpfuscht, ein Griff – alles zerfetzt … dieser Mann, von allen hier dieser … alles zerschmettert … Bald bin ich tot, dachte sie, gut.

Gleich darauf hielt der Wagen an. Sie hörte den Schlag öffnen, dachte: Nun werde ich wieder getragen, und richtete sich auf. Er stand draußen und hielt ihr die Hand entgegen, sie stieg aus, ohne sie zu nehmen, ihre Schleppe blieb hängen und zerriß. Sie sah ihr weißes Kleid, rundumher stummen, dunklen Föhrenwald, einen kleinen Platz und die offene Tür einer fast schwarzen Hütte aus Balken und Brettern. Alles begann im Kreise zu schwingen; er hatte den Arm um sie gelegt, und sie hörte ihn flüstern: »Komm, komm, endlich – nun – hier –«

Dann hatte sie doch so viel Kraft, sich loszumachen und drei Schritte von ihm fortzugehen, sogar ihn ins Auge zu fassen und zu erkennen, daß sein Gesicht ohne Narben war, wie vorher, nur wie mit einem Netzwerk in der Haut durchzogen, dazu merkwürdig dunkel und von dieser schrecklichen Gedunsenheit, die seine Augen verkleinerte; und es fing an ihr zu grauen, weil die Augen wie aus dunklem, beschlagenem Glas waren, stumpf und ohne Blick. Aber das Schaurigste war, daß dies Gesicht, hinter dem jetzt die wildeste Leidenschaft wühlen mußte, keinen Muskel, keine Miene bewegte, eine Maske, starr und stumpf, so wie immer. Da begriff sie, daß hier etwas zerstört war, doch daß es vielleicht noch zu heilen war, daß sich vielleicht etwas tun ließ. Sie faltete die Hände und sagte:

»James – höre mich an! Bitte, kannst du mich hören?«

Es schien nicht so, er blickte ähnlich einem Hund, aber sie sprach hoffnungsvoll weiter:

»James, ich bin ja dein, ich bin – dein gewesen, immer, immer, noch ehe ich dich kannte, nur dein, und – ich schenke mich dir, mein ganzes Leben – verstehst du? ich will nicht glücklich sein, ich will – o James!« rief sie mit einem Jammerton, »was ist das mit deinem Gesicht? Kann ich es nicht bewegen?«

»Nein«, sagte er, »ja, ich verstehe, ich danke dir, komm nun, komm!« Und wieder in seiner Sprache: »Wirst du kommen?« und bewegte sich auf sie zu.

Das war umsonst gewesen. »Da hinein?« flüsterte sie, sich umsehend, »da hinein?«

Er kam näher heran, sie wich rückwärts, ihr Gesicht verkrampfte sich wild, sie stammelte: »Niemals, niemals!« »Nicht?« sagte er, »nicht? Oh, dann müssen wir sterben.« Und dann hatte er ein Terzerol hervorgezogen, nahm es von einer Hand in die andre und wieder zurück, er wußte nicht, was er tat, und sagte, die Waffe hochhebend:

»Keiner soll dich anrühren, keiner darf – keiner –«

Ein schauderhafter Krampf wollte sich Jannas bemächtigen, als ob eine Gewalt sie zu lachen zwänge oder ihr Kopf müßte bersten, wenn sie es nicht bezwingen könnte. Etwas davon mußte in ihrem Gesicht deutlich geworden sein, ein furchtbares Zucken ihrer Mundwinkel, denn er ließ einen murrenden oder schnaubenden Laut hören, kam und packte sie an und stieß hervor: »Oder – oder –?« Sie blickte ihn grade an, und er schrie: »Tassilo!« und fiel über sie her. Sie glaubte in der Luft ein wildes Gelächter zu hören, denn jetzt war ihre Seele in ihre Glieder gefahren, um sich für ihren Leib zu wehren. Sie schlug, hieb und stieß blindlings um sich, schlug ihre Hände in sein Gesicht, stemmte sie gegen seine Brust; aber sie war wie in Eisen gepreßt oder von einer riesigen Schlange umschnürt. Sie wurde lahm, sie erlosch, öffnete noch einmal ihre Augen und sah über sich ein Gesicht, das unkenntlich war.

»Elisabeth«, sagte sie unhörbar, und alles verging.

 

Wo ist Janna?

Nach Jannas Verschwinden waren an die zwei Stunden vergangen, bis es bemerkt wurde, und eine Stunde mehr verging – da das Fest sich über so viele und weite Räume verteilte –, bis festgestellt wurde, daß sie wirklich verschwunden war. Nun fuhr Thomas nach Lemgo hinunter, so gut wie gewiß, daß sie dort sei; ihr konnte unpäßlich geworden sein, oder sie war von einer Anwandlung sich zu entfernen ergriffen, was bei ihrer Natur sehr wohl möglich war, und sie war abgeneigt gewesen gegen das ganze Fest. Er kehrte zurück, nachdem er sie sowohl in ihrem Haus wie im Pfarrhaus wie bei Pea Deuterlein vergeblich gesucht hatte.

Unterdessen hatte sich bei dem Freiherrn Jannas letzter Tänzer gemeldet, der das Mohrenkind ihr den Zettel aushändigen sah, sehr verlegen, da er, als Jannas Verschwinden bekannt wurde, eine Affäre dahinter vermutete, die besser verschwiegen blieb. Der Mohrenknabe, der natürlich kein echter war, sondern ein Bauernkind und einer von einem halben Dutzend, die so verkleidet waren, wurde gefunden, wußte aber nicht mehr zu sagen, als daß ein großer Herr ihm den Zettel gegeben habe, als er mit anderen Jungen am unteren Geländer der Rotunde hing, um dem Tanz zuzuschauen. Wir haben unterlassen zu sagen, daß James Hick nicht unter den Gästen war, doch brauchten wir dies kaum zu erwähnen. Wir können aber nachholen, daß, als der Freiherr mit Janna zusammen die Liste der Einzuladenden aufstellte, er auch den Oberst nannte; aber sie schrieb die Namen auf, er gab später die Liste einem Schreiber, der die Briefe ausfertigte, die durch Boten überbracht wurden – und auf diese Weise erhielt James Hick keine Einladung; der Freiherr bemerkte erst am Festtage sein Fehlen.

Jannas Tänzer hatte nicht gesehen, wohin sie gegangen war; durch den Zettel stand aber nun fest, daß sie nicht allein war, wenn auch nur für die drei, die von ihm wußten, für Thomas und den Freiherrn ein unlösbares Rätsel. Als es Nacht geworden war, die Gäste den Verlust der Braut erfahren und sich in Verwirrung entfernt hatten, stand es für die beiden fest, daß sie gewaltsam entführt war.

Beide verbrachten die Nacht schlaflos, doch der Lakai, der frühmorgens mit einer Meldung zu ihnen kam, fand sie eingeschlafen in ihren Stühlen, in dem alten Zimmer des Freiherrn, in dem Janna ihn und James einmal beim Schachspiel gesehn hatte. Die Meldung war, daß ein Mann den Freiherrn zu sprechen wünsche, und dieser Mann, der dann hereinkam und sogleich dem Freiherrn zu Füßen fiel, sagte, er sei Kutscher beim Oberst Hick und bekannte alles, was er gesehen hatte, die ganze Entführung, deren er selbst sich mitschuldig gemacht habe und die in jenen Tagen ein fast todwürdiges Verbrechen war. Er bekannte auch das Terzerol, mit dem er Janna bedroht habe, und wie der Oberst Janna anscheinend ohnmächtig in das Haus getragen hatte. Er hatte ihn nicht wieder herauskommen sehn, denn solche Gewissensangst hatte ihn ergriffen, daß er nach einiger Zeit die Pferde davongepeitscht hatte und zum Donopshof gefahren war; dort hatte er ausgespannt und war in seine Kammer gegangen. Am Morgen hatte er gehört, daß der Oberst im Hause sei; sein Gewissen hatte ihn fortgetrieben.

Sogleich wurde angespannt, und der Kutscher Hicks fuhr den Wagen zu der Waldhütte, die zu einem lange verlassenen Kohlenmeiler gehört hatte, keine Viertelstunde Fahrt. Im Grase davor lag das Terzerol, das doppelläufig war; beide Läufe waren geladen. Drinnen war niemand, nur etwas Gerät, halb zerfault und zerfallen, ein Tisch, eine Truhe, eine Bettbank mit verrotteter Matratze, und auf dem Tisch eine lange Perlenkette, rund und wie mit Sorgfalt zusammengelegt.

Die beiden Männer fuhren sogleich weiter zum Donopshof.

Es war inzwischen elf Uhr morgens geworden. Als der Wagen auf den Platz vor dem Hause hinanfuhr, saß der Oberst weiter hinten in der Nähe der Stalltür hinter einem kleinen Tisch mit Papieren und Schreibzeug, Schreibtafel und Griffel in den Händen; auf der Seite stand eine Reihe von Pferden in verschiedenen Farben, die von Knechten gehalten wurden. Einer ließ eben vor Hick sein Pferd, einen mächtigen braunroten flandrischen Hengst mit gelber Bemähnung, die Füße heben, um den Beschlag zu zeigen, während der Oberst Eintragungen auf seiner Tafel machte. Das Dach glühte rot von neuen Ziegeln in der Morgensonne, Taubenflügel blitzten, das ganze Haus glänzte frisch geweißt mit den dunklen Balken des Fachwerks.

Der Oberst unterbrach jetzt sein Geschäft und stand auf, in hohen Stiefeln und einem gelben Lederkoller, als er die Männer aus dem Wagen hervorkommen sah, Thomas in seinem geistlichen Schwarz, der Freiherr noch in seinem Festkleid von grauem Atlas mit Granatknöpfen. Er trug nun ein schwarzes Band um den Kopf über dem zerstörten Auge und ging leicht hinkend auf Hick zu, auf den vergoldeten Griff seines Schwertes gestützt, wobei dessen schwarze Lederscheide sich an der Spitze umlegte. Er hatte während der Fahrt von Thomas erreicht, daß er mit dem Oberst sprechen würde; so blieb Thomas in der Nähe des Wagens stehn.

Indes war James' Blick auf seinen Kutscher gefallen, der auf dem Bock saß und lenkte und jetzt abstieg, während einer der Stallknechte die Pferde hielt; ein leichtes Erstaunen ging in seinen Augen auf, die übrigens mit seiner gewöhnlichen klaren Ruhe blickten. Sein Gesicht hatte noch die dunkle Färbung, aber die Gedunsenheit war verschwunden, und er grüßte den Freiherrn respektvoll und freundlich, der – mit dem einen Auge ihn anleuchtend – sagte, er wisse wohl, warum sie gekommen seien.

Nein, erwiderte der Oberst, er vermöchte nicht das zu wissen.

»Mann«, sagte der Freiherr, »wo ist meine Tochter?«

Hick blickte verwunderter und erwiderte:

»Das fragt Ihr mich? Ich kann es unmöglich wissen.«

Sein Auge und seine Sprache waren von solcher Sicherheit, daß der Freiherr einen Augenblick stockte.

»Niemand kann es wissen als Ihr, Hick«, sagte er dann mit Geduld, »denn Ihr habt sie weggefahren.«

»Ich habe sie weggefahren?«

Dies war dem Freiherrn zu viel; sich umdrehend sah er den Kutscher, einen kleinen graubärtigen und pockennarbigen Menschen, der schon bereit stand, herbeizulaufen, sich Hick zu Füßen zu werfen und ihn fast weinend anzuflehen, er möge in Christi Namen alles gestehn, was er begangen habe. James' Blick wurde da unsicher, doch er sah ohne Begreifen auf den knienden Mann herab, fragte ihn dann nach einer Weile, was das sei, das er begangen haben solle, und der fing an, alles zu berichten: wie der Oberst sich von ihm am gestrigen Tage zum Denkstein habe fahren lassen; wie er dort den Wagen verlassen habe, fortgegangen sei und nach kurzer Frist wiedergekommen; wie dann die Dame gekommen sei – und alles Weitere bis zu dem Terzerol und dem Kampf vor der Köhlerhütte, und wie er sie dort hineingetragen habe.

»Hineingetragen«, wiederholte Hick, als der Mann schwieg, dem er aufmerksam zugehört hatte; sein Auge haftete an dem Terzerol, das der Freiherr aus der Tasche genommen hatte und ihm hinhielt, und er sagte, wieder auf den Mann blickend, der aufgestanden war:

»Und wie ging es dann weiter?«

Dann war er, der Kutscher, von einem Grausen befallen worden; er wiederholte, was er dem Freiherrn bereits mitgeteilt hatte.

Inzwischen hatte das Auge Hicks angefangen, sich seltsam zu trüben. Er sah die Waffe an, den Kutscher, den Freiherrn, wieder die Waffe und bat, sie ihm zu geben. Er nahm sie in Empfang, betrachtete sie und sagte: »It is my own«, spannte die beiden Hähne auf, ließ schräg haltend das Pulver von den Pfannen in seine hohle Hand laufen, dann von dort auf den Tisch, und nun schien etwas in ihm zu dämmern. Er legte die Waffe nieder, hob eine Hand zu den Augen, sein Blick glitt zu Boden und wurde starr. Dann bückte er sich, um ein Blatt Papier aufzuheben, das dort lag, und legte es auf den Tisch.

Plötzlich schien er innen zusammenzuknicken, Zuckungen liefen durch seinen Körper, er setzte sich auf den Stuhl hin und senkte langsam seinen Kopf vornüber auf die Tischplatte.

 

Der Freiherr sah auf und gewahrte sich umwendend Thomas, der langsam näher kam. Jetzt brach die Angst um Janna in ihm auf, er packte den Oberst an der Schulter, schüttelte ihn und schrie, wo er sie gelassen habe, und Thomas, kalkbleich und mit eingesunkenen glühenden Augen, schrie die gleichen Worte. Hick richtete sich wieder auf.

»Heavenly father«, sagte er leise, »I don't know.«

Für eine Minute war es beiden Männern unmöglich, sich gegen die Wahrheit seiner Worte und seiner Augen zu wehren, die von Verzweiflung wie zerbrochen waren. Indes um so schlimmer für Hick, wenn er nichts wußte; Thomas beugte sich keuchend vornüber, sein Gesicht lief dunkelrot an, und in dem Augenblick, wo Hicks Auge das seine traf, holte er aus und schlug die geballte Faust auf Hicks Wange.

»Da«, sagte er, »und nun –« Es schien, als müßte er ersticken, während Hick sich unter dem Schlag nicht bewegt hatte, jetzt an die Stelle faßte und, den Kopf hin und her bewegend, nur sagte:

»That's of no use.«

Thomas schrie, seine Beffchen vom Halse reißend: »Nun – Waffen, habt Ihr Waffen, Mann, habt Ihr Waffen?« »Ja«, sagte Hick, und der Pfarrer in zitternder Wut, er sei in Gießen gewesen, habe Hieb und Stoß gefochten, und so Gott ihm helfe – »Mann Gottes«, unterbrach ihn der Freiherr, doch er überschrie ihn lauter: »Ja, Gottes, und der da ist Satans. Habt Ihr Waffen?« James, der aufgestanden war, hob seine flachen Hände und sagte zum Freiherrn gewendet, er möge helfen, er könne nicht gegen – Allein Thomas, der wie zum Tiger geworden war, übertönte ihn wie die Versuche des Freiherrn, ihm zu erklären, daß er kein Gegner für Hick sei, denn er hörte nur heraus, daß der ihm die Klinge verweigere. Darauf ging dieser zur Treppe hin und in das Haus. Thomas fing schon an, sich seines Rockes zu entledigen und warf ihn auf den Boden, den Freiherrn hörte er nicht, er ging hin und her, die Hände gefaltet und die Lippen bewegend, und bald kam James Hick wieder aus dem Haus mit zwei leichten Rapieren, die in ein Tuch eingeschlagen waren. Er enthüllte sie über dem Tisch, sagte, er bedaure, daß sie vor langer Zeit geschliffen seien, zeigte die gleiche Länge; Thomas ergriff den einen und trat in den leeren Raum, wo keine Pferde mehr waren, legte sich in Positur, einen Fuß vor, den rechten Ellbogen auf dem Schenkel, während Hick herankam, nachdem er seine Oberkleider abgelegt hatte, seinen Degen wie einen Stock vor sich tragend. Kaum daß die Klingen gebunden waren, fiel Thomas mit wütenden Stößen aus, allein auch das war »of no use«, der Oberst wehrte sie mit nur leichten kleinen Bewegungen ab, schien Finten nicht zu bemerken, und obwohl Thomas im Angreifen war, mußte er beständig gegen die Laube zurückweichen.

Auf einmal gab es einen klingenden Ton, Thomas stand waffenlos, sein Rapier rollte sich überschlagend am Boden, er selber stand, mit einem leicht schmerzlichen Ausdruck seine rechte Hand erhebend. Hick hielt sein regungsloses Gesicht mit trübem Ausdruck zum Freiherrn gewendet, der noch einmal Thomas zurief, er solle aufhören. Der bückte sich indes zu der Waffe, und der Kampf nahm seinen Fortgang, wenn auch langsamer oder schwerfälliger von Thomas' Seite – bis nach einer Minute die Waffe aus seiner Hand in die Luft emporstieg und im Bogen auf das Hausdach herabfiel, mit dem Gefäß nach unten rollend einen Bogen beschrieb und still lag.

Thomas blickte mit Unglauben nach dort oben – dann auf seinen Gegner – dann wieder nach oben – und: »Der Teufel«, sagte er leise, »der Teufel.«

»O nein«, sagte James nicht lauter als er, »nur ich.«

Thomas ging und nahm seinen Rock vom Boden, schüttelte ihn und zog ihn über. »Ich verstehe es nicht«, sagte er. Seine Zähne schlugen aufeinander, plötzlich prustete er wie ein hilfloser Junge ein Schluchzen hervor, und dann stürzte er über den Platz davon, an dem Wagen vorüber, den Weg hinunter, wo er zwischen den Bäumen und Büschen verschwand.

Der Freiherr und James sahen sich an, beide mit dem gleichen Blick der Verzweiflung, bis jener rief: »Was habt Ihr getan, Hick, was habt Ihr getan?« Er bekam keine Antwort. Der Freiherr ließ den Kopf hängen und stand so lange. »Ihr werdet mit mir kommen«, sagte er sich aufrichtend schließlich. Der Oberst winkte zu den Knechten, die vor dem Stallgebäude versammelt standen, gab einige Anweisungen und auch die, sein Pferd zu satteln. Der Freiherr sagte, er könne mit ihm fahren, besann sich indes im Gedanken an Thomas, den er würde aufnehmen müssen, und ging langsam zu seinem Wagen. Wenige Minuten später kam der Oberst zu Pferde, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Schon nach kurzer Zeit holte er Thomas ein, der auf der Straße dahinschritt und sich nicht weigerte, einzusteigen. So kamen die drei in die Stadt.

 

Weglos

Da es uns vergönnt ist, eine Verlorengegangene wiederzufinden, wo und wann immer wir wollen, so kehren wir nun in den vorigen Abend zurück und in den Wald, in dem keine Sonne mehr ist, sondern das Dunkel des Nachtanfangs – als die weiße Gestalt Jannas in der Tür der Hütte erscheint, an dem kleinen Platz, den die stillen und dunklen Tannen mit runder Mauer umschließen. Wir wissen, daß sie ihre Perlenkette auf dem Tisch zusammengelegt hat, und nun geht sie still über den Platz mit gesenkten Augenlidern; ihre Mundwinkel sind fast unmerklich zu einem Lächeln emporgebogen, einem stillen, geheimnisvollen, in sich gekehrten Lächeln einer wissenden Verschwiegenheit, das doch nichts mehr weiß von ihr selbst.

So verschwindet sie in dem Wald, im Dunkel gehend, ohne aufzusehn, erst den Weg weiter, auf dem sie gekommen ist, dann einen Holzweg, der abzweigt, tiefer in das Verborgene, dann, wo er endet, in den weglosen Wald hinein, durch eine kleine Mulde, durch das Unterholz, durch Gesträuch, bergab und bergauf, die Zweige mit den Händen vor sich teilend, langsam, Schritt vor Schritt, oftmals zögernd. Wenn eine Dornenranke ihr Kleid festhielt, sagte sie sanft verweisend: »Nicht doch!« oder: »Bitte, laß!« stehenbleibend, dann weiter gehend und das Verhakte losreißend. Hing es einmal zu fest, so daß sie nicht weiter konnte, drehte sie sich endlich um und machte es los, nahm einmal die Schleppe über den Arm, ließ sie dann wieder fallen, nahm sie später wieder auf und trug sie. An allzu dichten Gestrüppen oder Dickichtwänden ging sie hinunter, über Lichtungen, die vom aufgehenden Mond erhellt waren; und so im ganzen wohl eine Stunde, weglos doch den Weg, den sie gehen sollte. Nicht immer, doch mitunter wissen die Füße des Menschen den Weg, wenn ihn sein Wissen verlassen hat.

Im Winkel eines kleinen Tals zwischen zwei Hügeln, das sich im Breiterwerden zur nächtlichen Ebene senkte, näherte sie sich endlich dem kleinen Haus, aus dessen zwei Fenstern Lichtschein fiel und Sträucher erhellte. Janna mit ihren fast geschlossenen Augen konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte den leisen Gesang, der in andächtig getragenen Noten ertönte. Sie ging geradeswegs auf das eine tönende Fenster zu, das offen stand, blieb stehen und horchte auf den nun lauten Gesang, die Hände an ihren Wangen.

Drinnen in der Stube saßen zwei Frauen an einem Tisch bei einer Kerze, eine ältliche mit dunklen Haaren und dunklen Augen, die sie auf ein Nähzeug senkte; die jüngere gegenüber hatte hellblonde Zöpfe, ihr Gesicht war ein rosiges Oval, und sie sang aus einem Buche, das sie im Schoß hielt, lange, nasale Choraltöne, in die mitunter die andere einfiel. Sie hatte flache, wässerig helle Augen, mit einem Ausdruck so tiefer Einfalt, daß sie fast inhaltlos schienen. Aber auch das Gesicht der älteren Dunklen hatte eine ähnliche fromme Leere.

Nach einiger Zeit erhob sich die Junge und ging, immerfort singend, mit ihrem Buche zu einer Tür hinter der Dunklen und zog sie auf, und nach einer Weile schwieg ihre Stimme. Es dauerte aber nicht lange, so erhob sich in der Tiefe, von der Ebene her, ein Singen von einer Anzahl Stimmen, auch langgezogen choralhaft. Dort unten ging ein Licht auf, und es wurde nach einer Zeit zu einer Laterne und dahinter ein kleiner Schattenzug von Gestalten erkennbar. Unter dem großen Sternenhimmel, im Dämmer des unsichtbaren Mondes, kamen sie feierlich singend zum Hause herauf. Ein Bärtiger trug vorn die Laterne. Hinter ihm schritt in einem langen grünen Rock jener große, langbärtige Mann mit dem mächtigen Krempenhut, der einmal Janna und Tassilo am Waldrand erschreckt hatte, sich einen Turm Eder genannt und von sich geweissagt. Hinter ihm schritten noch fünf oder sechs Menschen, Männer und Frauen.

Die beiden in der Stube, in armen, fahlfarbenen Kleidern, standen jetzt Hand in Hand, Janna den Rücken wendend. Dann kamen sie von draußen herein, der Große voran, der seinen Hut nicht abnahm, zuletzt der Laternenträger. Sie begrüßten sich mit den Frauen, die Hände ergreifend und sich auf die Wangen küssend. Der kleine Raum wurde fast voll von ihnen, indem sie einen Kreis um den Großen bildeten. Nun wurden wieder Choralverse gesungen. Dann erhob sich die hohle, krampfhaft leidvolle Stimme des Großen:

»Amen! Amen! Seht, ich bin wieder bei euch! Ach, daß es noch sein muß im geheimen! Höret aber, merket auf meine Stimme! Denn Ich bin es, von dem Matthäus spricht im dritten Kapitel: Und er hat seine Worfschaufel in seiner Hand. Er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheuern sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer.«

»Amen, Amen!« scholl es ehrfürchtig im Kreise; dann erhob sich dröhnender seine Stimme:

»Ich bin der Turm Eder. In mir wird endlich die Wahrheit offenbar werden, die verkündet ist in der Schrift: Aus sechs Trübsalen will ich dich erretten, und in der siebenten soll dir kein Leid widerfahren.«

»Amen, Amen, Amen«, betete der Chor.

Nun eine Stille; alle Scheitel hatten sich tief geneigt, nur der Messias stand, den Kopf tief im Nacken, und sprach, das Gesicht und verzückte Augen zur Decke erhoben, pathetisch:

»Ist sie gekommen? Habt ihr sie gebracht, die nötige Opfergabe, die Jungfrau fein und rein – auf daß sich in Bälde nun eröffne das Buch des Lebens, so mit sieben Siegeln verschlossen ist, und der Schlüssel des Paradieses in meiner Hand erscheine! Denn schon – schon – schon sind drei der Siegel erbrochen.«

Eine Männerstimme erwiderte demütig: »Sie ist gekommen.«

»Dann, sage mir an – sage du selber, Lisabeth Gumto, mir an, ob du zugegen bist.«

Eine leise Mädchenstimme bejahte.

»So lege ich«, sprach jener, »meine Hände auf deinen Scheitel und löse das vierte Siegel.« Er hob sie flach empor und senkte sie feierlich auf den Scheitel des blonden Mädchens. »Auf nun«, frohlockte er, »betet an, meine Brüder und Schwestern! Wendet eure Seelen zu dem ewigen Licht, allwo die Braut mit dem Bräutigam eingeht.«

»Amen! Amen! Amen!« Alle Anwesenden sanken nieder und knieten; das ganze Innere ihres Kreises erschien von der Kerze inmitten beleuchtet, zusammengelegte, rote, verarbeitete Hände und die andächtig gesenkten Gesichter der Männer und Frauen, die auf das Licht blickten in geduldiger sanfter Torheit. Indessen hatte sich der Führer mit dem blonden Mädchen zu einer offenen Tür gewendet, in die er feierlich mit ihr hineinschritt und sie hinter sich zuzog. Eine Stimme fing an zu singen, und alle fielen ein.

Die der Außentür gegenüber Knienden blickten auf und erschraken, als darin eine weißgekleidete Gestalt erschien, Janna mit ihren gesenkten Augen und einem zarten Lächeln, die sie vielleicht für einen Engel des Paradieses hielten. Sie sagte indes mit stiller und reiner Stimme:

»Laßt mich bei euch sein. Laßt mich bei euch sein.«

Sie kniete hin wie die andern, sank aber bald weiter vornüber, bis sie am Boden lag.

Wir müssen sie dort verlassen für eine Weile, aber dort heißt nur: unter diesen Menschen, zu denen ihr Weg sie geführt hatte; die dunkle Frau, die Mutter des blonden Mädchens, ausgenommen, verließen sie noch in derselben Nacht das Haus, und Janna ging mit ihnen, in ihre Verborgenheit.

 

Wieder in einer Zelle

James Hick befand sich nun im Rathausgefängnis von Lemgo zur Untersuchung, und wenn auch sein Leben dieses Mal nicht in Gefahr war, so war sein innerer Zustand doch nicht besser als fünf Jahre vorher in London. Der Prozeß gegen ihn wegen Entführung des Fräuleins von Krosigk begann indes nicht so bald. Nach Janna wurde nun überall gesucht in der Annahme, daß sie entweder verunglückt war – eine Unwahrscheinlichkeit, da es in der ganzen Umgegend keine Abstürze oder tiefen Wasser gab, die Gelegenheit dazu boten – oder sich das Leben genommen habe. Auch wurden beim genauen Durchforschen des Bergwaldes kleine Fetzen ihres Kleides, an dürrem Gestrüpp und Brombeersträuchern hängend, gefunden. Die Bega, die kaum in ihrer Mitte tief genug war, daß ein Mensch darin versinken konnte, wurde bis in den November hinein Meile um Meile abgesucht. Graf Simon hatte dekretiert, das Verfahren gegen Hick solle nicht eher beginnen, als bis Janna als verloren anzusehn sei; und es solle dann so verhandelt werden, als wäre sie nicht mehr am Leben – eine absichtliche Verschärfung, für die er seinen persönlichen Grund hatte. Denn er hatte einen Haß auf den Rossezüchter als seinen Konkurrenten, obwohl Hick sich freiwillig verpflichtet hatte, keine Sennerasse zu züchten, und nur die halbwilde Methode angenommen.

Einige Tage nach Hicks Gefangensetzung, in die er sich ungenötigt begeben hatte, suchte der Freiherr ihn in seiner Zelle auf. Er war der einzige, der wußte, daß Janna ihm bereits in England begegnet war, und konnte es damit verbinden, daß sie einer Aufforderung gefolgt sein mußte, die der Zettel enthalten hatte; so hoffte er, Aufklärungen von Hick zu erhalten. Ihm war nichts Menschliches fremd, auch wenn es schwer zu begreifen war, vielmehr mußte gerade in dem Unbegreiflichen etwas verborgen sein, das es klärte. Außerdem war die Person des Obersten für ihn immer anziehend gewesen, und die Teilnahme für ihn war durch sein Verhalten auf dem Donopshof eher vermehrt als vermindert.

Er saß dann in einem Armstuhl, den ihm der Schließer besorgt hatte, am vergitterten Fenster von James' Zelle, die freundlicher war als die Londoner, James auf der hölzernen Pritsche, auf der eine strohgefüllte Matratze und wollene Decken lagen. Er selbst war in seiner Lederkleidung vom Tag der Verhaftung und ungefesselt, und er saß in der geraden Haltung, die er an sich hatte, war aber fast stumpf, in einem bleiernen Gram; auch sein Auge hatte fast keinen Blick, und er war nur schwer zum Sprechen zu bringen, bis er nach einiger Zeit die Wärme des Anteils spürte und davon auftaute, soweit das möglich war. Doch schien er nicht nur in Verzweiflung, sondern in Verwirrung zu sein; sagte auch selber, er wäre innen ein Dickicht, in das er nicht eindringen könnte. Überdies hatte er Schwierigkeit mit der deutschen Sprache, verstand sie zwar, war aber im Sprechen immer noch ungelenk, zumal er nur die Ausdrücke für das alltägliche Leben beherrschte.

Allmählich lockerte sich dann Hicks lahme Zunge, und der alte Freiherr, der vom Skorpion des Geschlechts frei geworden war, vernahm von ihm, was er selbst erst in dem Wagen von Janna vernommen hatte: daß sie sein Beistand gewesen war in der Krankheit, und das Geständnis ihrer Liebe. Das war zum Glück eins der wenigen Dinge, an die Hick die Erinnerung wiedergewonnen hatte; sonst war sein Gedächtnis lückenhaft geblieben und auch das Erhaltene nur schattenhaft, ein immer wieder zerfließendes Durcheinander, darin die Einzelheiten ihm gleichsam zwischen den Fingern zergingen, wenn er sie fassen wollte. So hatte es in seinem Gedächtnis keine Spur hinterlassen, wie und warum er die Hütte verlassen hatte, und wie er in sein Haus zurückgelangt war. Allem Anschein nach war er davongestürzt wie von einem Mord.

Auf die Frage des alten Mannes, was eigentlich er im Sinne gehabt habe an dem Tag, glaubte er sich zu erinnern, daß er mit Janna flüchten wollte; doch er wußte nicht einmal wohin, ins Hannoversche oder nach Holland, über die nächste Grenze; die Grafschaft war so klein, daß Grenzen ringsherum nahe waren. Aber er hatte nicht einmal für einen Vorrat an Geld gesorgt und nicht mehr in der Tasche als üblich.

»Ihr wolltet sie diesem Mann wegnehmen, das war es wohl«, sagte der Freiherr.

Ja, das war es wohl. Er war, sobald er Jannas Verlobung erfuhr, in eine furchtbare Unruhe geraten und hatte nicht gewußt, wie er sie einem andern lassen sollte. Bis dahin – aber wie seine Gefühle vorher gewesen waren, darüber konnte er oder wollte er keine Auskunft geben. Er wiederholte, in ihm sei nichts als ein unfaßliches Durcheinander und nur wie von unkörperlichen Schemen, seine ganze Vergangenheit, alles was »vorher« gewesen war. Doch konnte er sich darauf besinnen, daß er schon einmal in einem ähnlichen Zustand gewesen war, damals, als sie sich mit Tassilo verlobt hatte. Aber damals war es über diese Unruhe nicht hinausgekommen, denn die Verlobung war erst kurze Zeit vor dem Ausbruch der Pocken bekanntgemacht worden, und er war damals in Ungarn gewesen, um Pferde zu kaufen.

Warum er denn das Terzerol bei sich gehabt habe? – Nun, aus keinem besonderen Grunde; er führe es immer bei sich. Und warum er – wenn er über die Grenze habe gehn wollen, an der Hütte gehalten habe? – Aber er hatte da nicht gehalten; der Wagen war stehngeblieben, der Kutscher hatte gehalten, darauf konnte er sich besinnen. Und da war es über ihn gekommen – Er sprach nicht weiter, und der Freiherr rief aus: »Das ist furchtbar! Wenn da der Mann nicht gehalten hätte –«

»Ich nahm den falschen Mann«, sagte Hick.

»Oder den Teufel«, stöhnte der Freiherr in der Erinnerung an Thomas.

»Oh«, sagte Hick, »die sind auch von Gott abhängig.«

»Aber sie machen es einem schwer, an ihn zu glauben, Hick.«

Hick erwiderte, er könne darüber schlecht Auskunft geben; denn was den Glauben angehe – er finge selbst erst damit an.

Der Freiherr sagte nach einer Weile: »So habt Ihr sie sehr geliebt?«

Darauf gab er keine Antwort; er hüllte sich in Schweigen für lange Zeit.

»Ich weiß es nicht«, sagte er endlich. »Nein, ich glaube nicht.

Ich glaube«, sagte er, »ich fange jetzt damit an.«

 

Als der Freiherr sich erhob, um Abschied zu nehmen, fragte ihn Hick, ob er ihm wohl eine Bibel leihen könne, und der sagte es ihm zu. Da er aber nur seine Familienbibel hatte, mit eingeklebten Blättern voll hundert Jahre alter Eintragungen des Geschlechts, und sie nicht hergeben mochte, zögerte er nicht, ihm die Jannas zu geben, die nichts enthielt als auf dem ersten Blatt die Sprüche ihrer Taufe und Konfirmation. Der erste war unpersönlich und entsprach nur der Zeit, das Psalmwort: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« Der zweite war der zwanzigste Vers im vierten Kapitel des ersten Briefes an die Korinther: »Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft.«

Nun war nichts, was er gehört hatte, dazu angetan, dem Freiherrn das Verständnis heller zu machen. Die Gewalt, die da Hicks sich bemächtigt hatte – dahinein fiel kein Lichtblick, obschon sie seiner Männlichkeit nicht vollkommen fremd war und ihm jedenfalls keinen Haß auf den Täter verursachte, der sich selbst dadurch zerstört hatte. Dagegen war es für ihn ein Rätsel geworden, warum Janna sich so gewehrt und, wie es schien, erst dadurch den Dämon entfesselt hatte. Dies mußte ihm freilich dunkel bleiben, der in Wahrheit von Janna nicht mehr wußte als irgendein Mensch, der sie kannte. Nicht wußte, daß sie der Mensch war, der seinen Fuß nicht wegzog, wenn jemand darauf stand; der ein Versprechen nicht am Altar und vor einem Priester abzugeben brauchte, um es zu halten; und ein Mensch, von dessen Freiwilligkeit viel, sehr viel zu erlangen war, den aber bei dem geringsten Anhauch von Gewalt schon ein Schauder ergriff – wie erst durch den Mann, den sie liebte! Dann schoben die Wände des Weltgebäudes sich durcheinander und das Dach stürzte ein.

 

Er teilte Pea Deuterlein mit, was er von James Hick in Erfahrung gebracht hatte. Von den drei Menschen, die in verzweifelter Bangnis um Janna schwebten, war die Ärztin am geringsten besorgt, soweit es ihr Leben betraf – wenn auch das ihre Beängstigung kaum verminderte. Doch sie war gewiß, daß sie lebte; sie kam wirklich der Wahrheit am nächsten, wenn sie sagte, daß Janna in eine Verborgenheit gegangen sei; und sie vertraute auf ihre gute Natur, lebte jedenfalls der Hoffnung, daß sie nicht unheilbar zerstört, daß des Lebens innerstes Mark unverletzt geblieben sei. Nur wenn zu viel Zeit hinginge, sagte sie, dann könne eine solche Kruste sich um die Verstörtheit bilden, daß die Seele sich nicht mehr zu helfen wisse und drinnen gefangen bleiben müsse.

Gegen James Hick äußerte sie keinen Grimm, sondern sagte im Gegenteil, sie sei im mindesten nicht verwundert. Immer, sagte sie zu dem vergrämten alten Mann, der von dem Besuch Hicks angegriffen bei ihr Tränen vergoß, immer heiße es von den Frauen, sie seien halb Engel, halb Teufel, und das möge auf manche ja zutreffen. »Aber euer Geschlecht? Ihr singt unsterbliche Sänge, ihr schreibt Bücher der Weisheit, ihr dringt in das Innere der Natur und in das Firmament und hört Engelmusik in den Sphären, ihr heilt alle Krankheit, ihr kämpft wie die Erzengel gegen Lüge und Unglauben, ihr seid Kepler und Giordano, Paracelsus und Plato und was weiß ich für heilige Augustine und Franzen. Christus war auch ein Mann, obgleich es kaum zu glauben ist. Aber was ist all das wert? Dreißig Jahre, mein ganzes Leben habe ich nur Blut und Tränen gesehn, habe Städte in Trümmern, Dörfer brennen, Seelen zu Zehntausenden aus Flammen emporfahren sehn, Ketzer brennen, Hexen brennen, Leiber mit Instrumenten zerrissen, eine einzige Sense – aus zehntausend Schwertern – über die Erde gehen – o ihr Teufel, ihr Teufel! Zu unsereinem kommt ihr gelaufen, wenn der kleine Finger euch wehtut, daß ich Balsam darauf lege. Dann geht ihr hin und tötet, tötet, metzelt, schlachtet, zerschmettert, zerfetzt, zermalmt – das ganze Heiligtum Gottes. Soll ich mich wundern, daß noch in dem Sanftmütigsten die Gewalttat sitzt und eines Tages herausspringt – noch dazu in so einem wie Hick, der es gewohnt war, mit Eisen in Menschengesichter zu hauen?«

»Das eine ist doch nicht das andre«, seufzte der alte Mann, von ihrer Flammensprache fast überwältigt; aber sie versetzte: »Es ist! Hier seht Ihr, daß es ist. Löwe oder Skorpion – es ist all eins und das gleiche.«

»Dann fange ich an, mich zu wundern, daß Gott diese Dinge zuläßt«, sagte der alte Mann mißmutig.

»Dahinein müssen wir uns ergeben.«

Dies schien ihm nicht einzuleuchten, und er sagte nach einer Weile:

»Ich denke eher, daß geschrieben steht, er hat diese Welt aus Chaos geschaffen –«

»Ja, das hat er wohl.«

»Und dann ist es überall drin geblieben und will wieder heraus.«

 

Der Johannisturm

Der Prozeß gegen Hick wurde nach den Vorschriften der Carolina geführt, der hundert Jahre alten Gerichtsordnung Kaiser Karls V., und dauerte nicht sehr lange. Er hatte für sich nichts als seinen guten Ruf als gesitteter Bürger, der auch nachsichtig und freundlich gegen seine Untergebenen war, eine besondere Güte und Sanftheit in der Behandlung der Pferde zur Anwendung brachte, auch eine offene Hand für Armut und Not hatte, in summa so war, daß niemand, was er getan hatte, begreifen konnte. Aber gerichtet wurde nicht er, sondern seine Tat, zu der er sich bekannte, und so wurde er, als der mutmaßliche Verursacher von Jannas Tod, zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Aber die Entführung allein, so gut wie vom Altar hinweg, hätte ihn nach der Carolina auch zwanzig Jahre Kerker gekostet.

 

Hundert Schritte vom westlichen Stadttor, dem Johannistor, entfernt, linker Hand von der nach Salzuflen und Herford führenden Straße, stand der Turm der ehemaligen Johanniskirche inmitten des Friedhofs, der ein langschenkliges Dreieck mit der Spitze zur Stadt bildete. Der alte Turm, viereckig gerade, mit kleinen Rundbogenfenstern oben, dicht unter dem schlichten graden Dach, war allein von der Kirche übrig. Sie war Gaukirche gewesen und deshalb vor der Stadt gelegen, vielleicht sogar früher erbaut als die Stadt. Nach der erfolglosen Belagerung Lemgos durch die Schweden im Jahre 1638 hatte der kaiserliche Kommandant die Niederlegung der Kirche verfügt, von deren Turm und Fenstern aus die Schweden die Stadt unter Feuer gehalten hatten, bis diese kirchliche Festung ausgebrannt und halb zerstört war. Den Turm ließen die Lemgoer trotzdem übrig und brauchten ihn, um in sein einziges, unter dem Dach gelegenes Gemach ab und zu einen Verbrecher einzusperren, wenn das Stadtgefängnis vom täglichen Gesindel überfüllt war. Lebenslängliche wie Hick kamen in jenen Tagen selten vor, denn sie waren nur eine Last, und der Tod war in jeder Beziehung das Einfachste.

James hatte es daher vielleicht nicht ungut dort in der Höhe, obgleich kaum zu entscheiden ist, ob die Aussicht nach allen vier Himmelsgegenden in die unermeßliche Freiheit des Landes eine Milderung ewiger Haft ist oder eine Verschärfung. Der Totengräber, ein alter Mann ohne Weib und Kind, hatte James zu beköstigen von dessen eigenem Gelde. Seine Habe war sämtlich eingezogen; Graf Simon hatte das Odium nicht auf sich genommen, den Erlös in seine eigene Tasche fließen zu lassen, sondern ihn der Stadt überwiesen, die von den Zinsen alljährlich zwei bedürftige Bräute auszustatten hatte, abzüglich des Betrages, den der Totengräber erhielt für Beköstigung, Licht und Kleidung. Für einen Ofen, der nicht da war, und Feuerung reichte es indes nicht, doch dafür war der Freiherr da, der James nicht vergaß. Er gab dem Totengräber genug, daß er James erst die Nächte in seiner Stube auf dem breiten warmen Ofen schlafen ließ, dann – als der Dezember mit scharfer Kälte begann – auch am Tage darin sitzen. Falls jemand kam – aber es kam niemals jemand – war er draußen zu hören, und Hick konnte durch die Kammertür verschwinden. Als aber die Tage wieder länger und wärmer wurden, reichte der Greis bei der Stadt ein Gesuch ein, daß sein Häftling ihm als Gehilfe, um den er schon mehrfach vergeblich nachgesucht hatte, überlassen würde. Dem willfahrte die Stadt unter Nachdruck des Freiherrn, denn Hicks Vergehen stand nicht mehr in Blüte der Erinnerung, und er arbeitete umsonst.

Dies tat er also von nun an – eine leichte Kette an den Händen, die über den Nacken lief –, die neuen Gräber schaufelnd, die alten in Ordnung haltend, die keine Pfleger mehr hatten, und den Pflegern der neuen helfend mit Pflanzen von Bäumen und Sträuchern oder Wassertragen vom Pumpbrunnen. Es war ein schöner Garten mit vieler Blüte im Sommer, Holundern und Haseln, und schattig von alten Bäumen; eine niedrige, mit Gras und Gesträuch bewachsene Umwallung von Stein schloß ihn ein, wo die Eidechsen sich sonnten, Amseln schlüpften und der Zaunkönig zirpte. In den grünen Nischen des Buschwerks konnte er da müßige Stunden lang sitzen und lesen, auch Schach mit sich selber spielen, oder mit dem Freiherrn, der ihn mitunter besuchte. Denn er brauchte jemand, um von Janna zu reden, oder mit ihm gemeinsam sich ihrer zu erinnern, und zu beidem war James eher bereit als der hart und bitter gewordene Thomas, der fast sein Amt vernachlässigte, weil er, selbst ohne Trost, keinen für andre hatte und nicht aufhörte, in den Wäldern um Lemgo zu suchen.

 

Als die beiden Männer dort an einem Frühlingstage zusammensaßen – wir müssen uns so weit zurückversetzen –, machte der Freiherr die Bemerkung, daß Hick wieder und wieder in Pausen mit den Fingern in seinem Gesicht beschäftigt war. Er griff hinein und machte eine Bewegung, als ob er einen Faden oder eine Spinnwebe fortnehme; oder er rieb bald hier, bald da, an der Stirn, am Kinn, an der Nase, kniff Hautfalten der Wange zu einem Wulst zusammen oder knetete sein Kinn. Das ganze Gesicht war fleckig davon geworden; dazwischen machte es sonderbare Zuckungen: eine Braue, ein Mundwinkel schnellte plötzlich von selbst empor, die Ohren wackelten, die Stirnhaut runzelte sich. Als der Freiherr dies eine Stunde mitangesehn hatte, konnte er es nicht länger und fragte den Oberst, was da in seinem Gesicht vorgehe, ob er einen Juckausschlag habe.

Hick versetzte, so etwas müsse es sein; es jucke und zucke in einem fort überall, vor längerer Zeit habe es schon begonnen und sei mitunter ganz arg, besonders des Nachts, so daß er nicht einschlafen könne.

»Ihr hattet ein so unbewegliches Gesicht, wie ich es noch niemals gesehn habe«, sagte der Freiherr. »Auch habe ich Euch niemals lachen gesehn oder nur eine Miene verziehen.«

Hick versetzte, das sei ihm selbst bekannt; dann wurde er nachdenklich, als habe er etwas erfahren, seine Stirn runzelte sich, die Augenbrauen zogen sich zusammen; er sah den Freiherrn an mit einem angestrengten, beinah ängstlichen Lächeln.

»Ihr lächelt ja, Hick! Zum erstenmal sehe ich Euch lächeln.«

»Und ich habe keine Ursache dazu.«

»Dreiundzwanzig Jahre«, sagte er nach einer geraumen Weile, »konnte ich keine Falte bewegen …«

Er wurde sehr ernst danach, und als der Freiherr meinte, es werde am Frühling liegen, sein Gesicht fange an zu sprießen, schien er es nicht zu hören.

»Dreiundzwanzig Jahre«, wiederholte er und setzte hinzu: »bin ich kein Mensch gewesen.«

Warum dreiundzwanzig, fragte der Freiherr, und wie er das so genau wisse.

Aber Hick sah ihn nur dunkel an und gab keine Antwort. Nach einigen Minuten stand er auf und ging fort in den Turm hinein, und der Freiherr entfernte sich hinkend und kopfschüttelnd über die Rätsel des Menschen.

Als der Sommer vergangen war, war James Hicks Gesicht ganz so beweglich wie das eines jeden Menschen.

 

Ein Fund

Ende September war Jannas Hochzeit und ihr Verschwinden; an einem Julitage des folgenden Jahres, in dem wir uns nun befinden, machte ein Invalide, der am Rande des Bergwaldes über dem Städtchen Salzuflen auf dem Hang in der Sonne lag, einen unschönen Fund. Ein Bach rieselte in der Nähe, und er bemerkte zuerst eine Anzahl Krähen, die sich unter lautem Geschrei an einer Stelle des Bachufers sammelten. Er warf mit Steinen nach ihnen, aber sie ließen sich nicht verscheuchen, und er ging hin, als er sah, daß sie bemüht waren, unter einem großen Stein etwas Weißes hervorzuzerren. Er wälzte den Stein mit der einen Hand, die er hatte, zur Seite und entdeckte in der Lehmerde vergraben den noch gut erhaltenen Körper eines kleinen Kindes, der in ein großes Stück Leinwand gewickelt war. Es war ein sehr feiner Stoff, und obgleich er für einen einarmigen Invaliden eine Kostbarkeit darstellte, trug er den ganzen Fund auf das Rathaus. Dort wurde festgestellt, daß es ein Teil eines Hemdes war, und an der Stelle, wo es abgerissen war, die drei ersten Buchstaben des Namens Janna eingestickt waren – denn was andres konnten sie bedeuten?

Bald kam die Nachricht von Salzuflen nach Lemgo. Aber wenn die Ihren nun wußten, daß sie am Leben war, oder einen Monat vorher noch am Leben gewesen, so durfte nun keiner mehr den Versuch machen, sie in ihrer Verborgenheit zu entdecken. Es hieß zwar, daß der Körper des Kindes keine Zeichen eines gewaltsamen Todes aufweise; es mußte, kaum geboren, gestorben sein oder überhaupt kein Leben gehabt haben; aber auch die geheime Beseitigung eines eben geborenen Kindes galt für ein todwürdiges Verbrechen und unterlag nach dem Recht jener Tage der entsprechenden Sühne.

 

Verborgenheit

Kurze Zeit später, im August, ereignete sich das Folgende:

Beim Kurfürsten von Brandenburg wurde eine Klage eingereicht von einem Mann namens Amboß, Gastwirt zu Herford, der in jenen Tagen kurbrandenburgischen Stadt. Die Klage betraf einen Mann namens Jasminger, der sich den neuen und wahren Heiland nenne; der Klagegrund war der, daß er seine Verheißungen auf den Anbruch des Gottesreiches nach Untergang dieser Welt nicht erfüllt habe, was mit dem Beginn des Jahres hatte stattfinden sollen. Außerdem, jedoch mehr nebenher, enthielt der Schriftsatz die Klage des Amboß, daß der Heiland ihn um sein geringes Geld gebracht habe im Betrage von dreiundzwanzig Talern und etlichen Groschen, was aber den Kläger mit Recht nicht so sehr zu bekümmern schien. In aller Einfalt klagte der Wirt über die Undankbarkeit des Messias, dem er jahrelang treu gedient und seine drei Töchter dargebracht habe, und durch den er jetzt in Armut und Schande geraten sei. Denn das Geld hatte er ihm gegeben in der vollen Zuversicht, daß er es im Gottesreich nicht mehr brauche. Er wisse nun nicht mehr ein noch aus, darum solle der Kurfürst prüfen, ob die Lehre des Messias recht oder nicht recht sei, und ihn bestrafen, wenn er der wahre Heiland nicht wäre.

So einfältig das klang, wurde doch eine Untersuchung angeordnet, und es ergab sich, daß der Heiland Jasminger nicht wenige Anhänger hatte und Gemeinden sowohl in Herford wie in vielen Orten im Lippeschen und Westfalen. Sein Hauptsitz war Salzuflen; dort, aber auch anderwärts hatten sich schon mehrfach Tumulte zugetragen, Kämpfe zwischen der Jasminger-Sekte und ihren Gegnern. Er selbst zog beständig wandernd umher, seine geistige Saat auszustreuen, von der Unruhe in seinem Landstreicherblut getrieben oder von der Krankheit, die längst an ihm zehrte. Denn er hatte das Ende – wenn auch nicht auf das Datum genau – für sich selbst recht vorausgesehn und erlag der Auszehrung schon wenige Wochen nach seiner Inhaftnahme.

Nun, es ist bekannt, welche Abgründe des Ungeistes oder der Einfalt es gibt, und welche Abgründe des Elends, und welche Begier der Menschen, die eine geistige Wahrheit nicht zu fassen vermögen, das Unmögliche in der Gestalt des Absurdesten für wahr zu halten – wofern nur eine Spur von Methode sich durch die Tollheit zieht. Diese Menschen glaubten, weil sie hofften, und sie hofften, weil sie auf Erden nichts hatten als Hoffnung. Solche Menschen hängen auch gar nicht fest an den irdischen Dingen und Besitztümern; es verknüpft sie nur ein Faden, und wer ihnen den schimmern oder schillern macht, dem küssen sie Hände und Füße dafür. Sie glaubten, weil sie an die Erde nicht glauben konnten, an ein anderes Reich, ein Gottesreich, wie es in jenen Tagen nicht anders sein konnte; doch war auch dies nur der Name für ein Reich der Üppigkeit, der Herrschaft und unendlicher Wonnen; und der Bote, Führer, Messias war seine irdische Einkörperung und Gewährleistung. So glaubten sie auch an die sieben Siegel eines nichtexistenten Buches und an die zu ihrer Eröffnung nötigen sieben Jungfrauen. Und als es längst schon mehr waren als sieben, glaubten sie treulich weiter; denn der Messias sagte, einige der Siegel seien schon von früheren, falschen Messiassen gebrochen gewesen, was sich an den Jungfrauen gezeigt habe. Allerdings gibt es für eine gewisse Phantasie kein Reizmittel, das magischer wirkte als etwas grob fleischlich Wirkliches in Verbindung mit etwas Nichtexistentem – so wie hier die Jungfernschaftssiegel an dem nicht vorhandenen Buch.

Es wurden über ein Dutzend solcher Siegel entdeckt, die zu zweien und dreien zusammen wohnten, an verschiedenen Orten – weshalb den Anhängern die wirkliche Zahl geheim blieb –, und sie waren dort wohlbekannt als die Messiasmädchen, die übrigens sonst kein Ärgernis gaben, sondern das Gegenteil. Sie führten sich auf das sittsamste, trugen die gleiche Tracht, eine Art langer Hemden aus grober Leinwand und Kappen aus Leintüchern, die fest den ganzen Kopf und auch den Hals bis zum Kinn einschlossen, so daß von ihren Gesichtern wie bei Nonnen nur wenig sichtbar war. Und sie gingen beständig zu den Häusern der Ärmsten und boten ihre Dienste an – nach Weisung der Schrift –, pflegten Kinder und Kranke, nähten auch und flickten für geringes Entgelt, und ihre stille Sanftmut war ebenso groß wie ihre fast stumme Einfalt. Daß eine von ihnen geboren hätte, war nicht bekannt; und da nicht anzunehmen ist, daß die ungeistige Saat dieses Messias überall auf unfruchtbaren Boden gefallen wäre, so ist anzunehmen, daß keine vorhanden war. Taub war die andere ohnehin, wenn sie auch aufging.

In einer Kammer eines abgelegenen Hauses in der kleinen, an der Weser gelegenen Stadt Vlotho wurde nun Janna gefunden, die aber dort unter dem Namen »die Anna« bekannt war. Sie hatte da mit einem anderen Mädchen in der Obhut einer älteren Frauensperson gelebt und war in ihrer Kleidung von niemand erkannt worden; aber auch ohne das – wer wußte in Vlotho von Janna duCoeur oder Krosigk, oder hatte sie je gesehn? Als sie mit dem anderen Mädchen von einem Schreiber in der Jasminger-Sache vernommen werden sollte – so erfuhr man es in Lemgo –, wollte sie keine Auskunft über sich geben, und ihre Hausgenossen wußten von ihrem Herkommen nichts. Auf irgendeine Weise tauchte dann die Erinnerung an die Entschwundene auf. Der sterbende Jasminger konnte noch aussagen, daß er zwar nicht gewußt, aber vermutet habe, wer Anna – denn so hatte sie selbst sich genannt – sei. Er hatte sie aus christlicher Barmherzigkeit aufgenommen, sagte er, obgleich er über Jannas Schmuck – Ringe und Ohrringe, die sie getragen hatte – keine Auskunft geben konnte, aber nicht unter die Jungfrauen, die er sich selbst anzutrauen pflegte, und war frech genug zu behaupten, daß sie keine gewesen sei; die Mädchen sagten dagegen später, als er tot war, einmütig, daß kein Mensch sie habe anrühren können.

Der Freiherr fuhr nun nach Vlotho in der Begleitung Pea Deuterleins, die sich ihm aufgenötigt hatte; denn, sagte sie, wenn Janna sich all die Zeit verborgen gehalten hatte und sogar ihren Namen abgelegt, so hieß das, daß sie keinen der Ihren sehen wollte. Ihr Gemüt müsse eine tiefe Störung erlitten haben, und die Ärztin hielt für eine erste Wiederbegegnung sich selbst für geeigneter als den Freiherrn, was der bereitwillig zugab.

Durch einen halbdunklen kleinen Vorraum mit ein paar ärmlichen Möbelstücken näherte die Ärztin sich einer Tür, die, halb offenstehend, sie in einen schmalen Raum hineinsehen ließ, der sonnenhell war. Auf der kahlen, schlechtgetünchten weißblauen Mauer gegenüber lag das verzogene Lichtviereck eines kleinen Fensters mit dem Schatten einer Topfblume darin. Näher gehend sah sie Janna, die unter dem Fenster auf dem Fußboden saß, nach Frauenart mit angezogenen Füßen unter den Falten des grauweißen Hemdes, einen Arm hinter sich aufgestützt, die andre Hand mit der eingefädelten Nadel im Schoß, über dem ein Kleidstück lag. Die braunen Blüten einer Goldlackstaude im Fenster schimmerten goldgerändert im Schein der Nachmittagssonne, der schräg über die Sitzende hinweg auf die Wand fiel.

Daß es Janna war, ließ sich an ihrer Nase und einer Pockennarbe erkennen; sonst war ihr Kopf auf die beschriebene Weise eng um das Gesicht eingehüllt, und ihre Lider waren über die Augen gesenkt, das sonst strahlende Gold verdeckend, so daß die langen Wimpern fast auflagen. Aber alles, was sichtbar war, war bedeckt und gleichsam duftend von dem süß verschwiegenen Lächeln, zu dem ihre Mundwinkel fast unmerklich emporgebogen waren. Also saß sie wie eine Blinde da, in Versunkenheit inneren Sehens und in einer Stille von so blühender Lieblichkeit, daß Pea nicht näher zu gehen wagte und erschrocken den Atem verhielt.

Sie sagte später, sie habe ja gleich erkannt, daß es Janna war; doch sei es nur wie ein Bild von ihr gewesen, ihre Züge an einem andern Geschöpf, das nicht zur Erde gehörte; das aus einer fremden Sphäre gekommen war und dasaß und sich erinnerte.

Als sie dann Jannas Namen aussprach, in die Tür hereintretend, wandte diese zu ihr das Gesicht empor, ohne die Lider zu heben, und das Lächeln ging langsam aus wie ein Licht; sie saß wie im Schatten dann, ihr Gesicht war blaß und kühl und steif geworden. Während sie sich dann erhob, begann das Lächeln sich wieder zu bilden und die vorige Blume zu werden, aber ohne den ersten Duft, und sie sagte: »Du bist es«, und stellte sich an das Fenster. Doch wandte sie sich gleich wieder um und fragte, wie es ihr gehe, kam auf sie zu, rührte ihren Arm leise an und fragte nach den Kindern. Sie trug einen Stuhl für Pea aus dem hinteren Teil des Zimmers herbei, ging dann wieder zum Fenster und nahm eine Blüte, die herabgefallen war, von der Erde des Topfes. Später setzte sie sich auf einen Strohsack, der mit einem reinen Leinen bedeckt an der hinteren Wand lag; eine zusammengefaltete braune Wolldecke lag darauf. Ihr Gang war so leicht wie je, obgleich ihre Lider gesenkt blieben, und das zarte Lächeln flog immerfort wieder auf wie ein Flügelschlag, während sie sprach, von ihr ungewollt aus dem Innern.

Eine Zeitlang sprachen sie so von Peas Kindern, nicht anders, als ob sie von einer Reise zurückgekehrt wäre; die Ärztin fand es ganz unmöglich, Fragen nach ihr zu stellen; da war nichts, was sich fragen ließ. Auch ihre Stimme, die heller als früher zu sein schien, und was sie sagte, hatte etwas Flüchtiges oder körperlos Schwebendes, eine gleichsam durchsichtige Leichtheit. Allmählich fing die Ärztin an, beklommen zu werden, als ob sie nicht hergehörte. Dies war nicht Janna, nein, die Anna, die dasaß, lächelnd und plaudernd, und doch in einer Geheimheit … Nein, entweder mußte sie fortgehen und dieses Wesen sich selbst überlassen, oder sie mußte sogleich – doch es gab nur dies Oder. Denn mit ihr, Pea, war die Wirklichkeit hier hereingebrochen; sie war selbst die Spitze eines Schwertes, das schon auf das Mädchen zielte, sie mußte es näher führen, und das einzige, was sie tun konnte, war, die erste Berührung sanft zu machen.

Also wagte sie einen Anfang und sagte, daß Thomas ihr Grüße sende, mit dem Erfolg, daß wieder das Licht in Jannas Gesicht erlosch und es sich versteifte. Doch nach einer kleinen Weile kam es wieder hervor, sie beugte sich vorwärts und legte die kleine Blüte in Peas Schoß, die halblachend fragte, ob sie ihm die bringen solle, worauf Janna, mit ihrem Lächeln darauf niederblickend, versetzte: »Es reicht.«

»Er ist in so großer Sorge um dich, wir alle –« fuhr Pea eilig fort, »dein Vater!«

»Aber Pea«, sagte Janna verweisend, »der ist doch lange tot.«

»Dein Adoptivvater, Kind.«

»Oh, Reginald – ja der. Wie geht's seinem armen Auge? Und seinem armen Knie? Erzähle doch weiter, Pea, du bist so still geworden.«

Plötzlich überkam es diese, daß sie das Mädchen in die Arme schließen müßte und ihr sagen, was sie bedrohte; aber als sie die Hände ausstreckte, wich sie zurück und setzte sich an die Wand. Pea wurde siedend angst, sie verlor fast die Besinnung und sagte:

»Du mußt wissen, Kind – du bist in einer Gefahr.«

»Nennst du mich Kind?« sagte Janna und dann kopfschüttelnd: »Lieb von dir, wo dir so viele gestorben sind.«

»Janna, liebste Janna, du mußt etwas wissen.«

Da bewegte sie leise lächelnd den Kopf und sagte:

»Sie nennen mich Anna hier.«

So wich sie allem aus, war gänzlich unberührbar. Als Pea nach ihren Augen fragte, warum sie sie niemals ansehe, erwiderte sie: »Oh, ich sehe genug.«

»Aber nicht, was wir sehen.«

»O nein!« Als sie das sagte, stieg das Lächeln wieder mit solcher Kraft und Süße in ihr Gesicht, daß die Ärztin stumm blieb. In diesem Augenblick, sagte sie später zum Freiherrn, habe sie angefangen zu wissen, daß Janna in keiner Gefahr war; daß sie nicht dort war, wo einem Menschen etwas geschehen kann.

»Du bist glücklich, Kind«, sagte sie leise und erhielt jetzt die erste Antwort: »Ja, endlich.«

»Und was macht dich so glücklich?«

Sie lächelte still, legte den Kopf zurück, ihre Lippen bewegten sich, doch es kam keine Antwort.

Pea Deuterlein blieb nichts übrig, als sie in ihrer Einsamkeit zu lassen; sie wurde auch nicht zurückgehalten.

Den Freiherrn bat sie dringend, nicht zu ihr zu gehen. »Ihr werdet sie nicht sehen«, sagte sie, »sie ist für uns nicht mehr da. Gott wird's gnädig mit ihr machen. Sie ist uns nur sichtbar geworden, aber sie ist ganz verborgen.

Verborgen und in Geborgenheit.«

 

In Lemgo

Wenige Tage später wurde Janna nach Lemgo gebracht, was für die Menschen der Stadt zu einem Ereignis wurde, wie sie es nicht gekannt hatten. Sie wußten, welches Vergehens sie angeklagt war, aber es gab nur wenige, die dem Glauben schenkten oder, wenn sie es taten, es zu äußern wagten. Es wurde nun offenbar, was Janna ihnen bedeutete; und das war nicht nur ihre Nothilfe und ihr Beistand, als sie im Rachen der Seuche waren, sondern daß sie Janna duCoeur war, ein Wesen viel feinerer Art; doch vor allem, daß sie sie immer und unter allen Umständen heiter gesehn hatten und liebreizend und von ihr entzückt waren als von etwas, das über ihnen schwebte, mit unbeflügelten Füßen, doch gleichsam eine Stufe höher. Denn die Menschen in ihrer Schwere lieben nichts so sehr wie die Leichtheit; und wenn es Leichtfertigkeit ist, das Unbekümmerte freut sie. Ist es doch nur darum, daß Falter und Vogel unser Entzücken sind und Engel Flügel haben, nicht um zu fliegen, sondern um leicht zu sein und zu schweben. Darum war die Stadt von Niedergeschlagenheit getroffen, als sie dies von Janna hörten, so als wäre etwas von ihrem Himmel gefallen; und sie halfen sich damit, daß sie es nicht glaubten. Hätten sie es glauben müssen, so hätte Janna ein wirklicher Engel sein können, es hätte ihr nichts geholfen. Sie hätte dann etwas getan, was alle tun oder tun können; sie wäre wie alle gewesen und hätte kein Mitleid gefunden – es sei denn von einzelnen; denn mit sich selber hatten sie auch kein Mitleid.

Diese Lemgoer waren Deutsche, und der Deutsche ist hart. Er ist hart, mit flaumweichen Flecken. Mehr als andere Völker hat dieses deutsche den Glauben an die menschliche Verdorbenheit. Andere sehen das Böse mehr in dem Ganzen der Welt und sehen den Menschen hineingeraten, unschuldig, wie in Schlingen, und dann sehen sie es als ein Unglück an und verstehen es als solches. Aber der Deutsche will nicht verstehen; er will urteilen, und wer Böses tut, ist ein Böser. Davon waren die Menschen im Altertum wunderbar frei und sahen nur das Übel, sahen aber nicht den, der es tat, für grundverdorben an, auch nicht Klytämnestra, nicht Helena, nicht Paris und Ägisth. Aber der Deutsche ist so überzeugt von persönlicher Sündigkeit und urböser Natur – und allein gütiger Gottheit –, daß ihm jede Untat nur gleichsam das Überfließen eines davon vollen Gefäßes ist und der Beweis für seine Fülle der Bosheit.

Darum enthielten die Lemgoer sich des Glaubens an Jannas Vergehen. Freilich, ein Engel mit einem Fleck ist keiner – so machten sie Janna zu einem, die doch nie einer gewesen und auch jetzt keiner war, und sahen sie fleckenlos. Ihnen war ja nicht gegeben, was Janna und auch Pea Deuterlein gegeben war, in den Wochen der Todeskrankheit: zu bleiben, was sie waren, ja, es nun erst zu sein, unangefochten, furchtlos in Kraft, der Gefahr überlegen, der die andern hilflos anheimfielen wie die Fliegen dem Winterfrost, gelähmt von Ängsten dem Verderben ins Maul hineinfallend. Denn die meisten sind wie die Käfer, von denen es heißt, daß sie sich totstellen; aber das tun sie gar nicht, sondern sie verlieren die Kraft aus den Beinen und fallen um. Die Kraftanstrengung, die es solche Engel kostet, den Engel zu spielen, konnten sie nicht erkennen und glaubten lieber, sie hätten wirklich Flügel und flögen. Das ist auch weiter kein Schade, denn es ist keine Unwahrheit. Die Flügel waren da, aber nicht angeheftet, sondern von innen gewachsen.

Als sie dann Janna gesehn und sie in ihren Mauern hatten, waren sie – es läßt sich nicht anders ausdrücken – in einem Zustand schämigen Glücks. Die ganze Stadt war stiller geworden, die vorher nicht laut gewesen, wenn auch hier und da Schmied und Schlosser und Schwertfeger ein wenig lärmten; stiller als sonst. Die Menschen sprachen nicht mit ihrer gewöhnlichen Stimme, die Frauen hörten auf, mitten auf der Gasse oder von Fenster zu Fenster gegenüber lauthals zu schwatzen, und sogar der Kinderlärm wurde stiller.

Da zu dem angezeigten Charakter des Deutschen auch dies gehört, daß der eines Vergehens Angeklagte für schuldig angesehn wird und entsprechend behandelt – in jenen Tagen vielleicht auf noch rohere Weise als heute –, so wurde Janna unter dem Geleit von sechs Reitern des Grafen mit Sturmhauben, Brustpanzern und Karabinern, in einem Karren, der von einem Ochsen gezogen wurde, von Vlotho nach Lemgo transportiert. Es war einer der landesüblichen hochrädrigen Karren, ein stark gezimmerter Kasten mit hohen Wänden, ähnlich Peas Gefährt, nur daß er nicht zum Fahren von Menschen bestimmt war – der Lenker saß vorn auf der Deichsel, wenn er nicht nebenherging, mit Leitseil und Ziemer –, sondern zur Aufnahme von Kohl oder Rüben, Holz oder Kornsäcken. Janna saß in einer Ecke auf einem Bund Stroh so tief, daß sie nicht gesehn werden konnte, außer von oben; aber einer von der Begleitmannschaft ritt stets neben ihr her und unterhielt sich mit ihr in der langsamen Weise des Volkes. Bei dem schwerfälligen Wandel des gelben Zugtiers dauerte die Reise zwei Tage, und in der Abenddämmerung des zweiten rollte der Karren knatternd auf das Pflaster unter die spitze Wölbung des engen Tors, und die Eisen der Rosse klangen darauf. Einige Jungen und Mädchen, die da spielten, wußten sofort Bescheid und liefen zu den nächsten Türen in der engen Gasse davon; Frauenköpfe fuhren schon aus den Fenstern der übereinander vorragenden Stockwerke. Als der Zug nach Erledigung der Formalitäten sich in Bewegung setzte, kamen einige ihm entgegen, und überall traten Frauen und Männer aus den Türen in das Zwielicht hervor. Und dann geschah weiter nichts, als daß ein jeder so, wie er die ersten tun sah, an den Karren herantrat, einen Blick hineintat, und wieder zurück. Keiner sagte etwas, manche sahen sich an; sie standen noch eine Weile und gingen in ihre Häuser und Stuben, zündeten Licht an und waren den Abend still. Sie sangen ihr Abendlied und dachten an ihre eigenen Sünden. Wäre die Stadt katholisch gewesen, so wären die Gotteshäuser voll gewesen; da sie es nicht waren, so waren doch die Gasthäuser nahezu leer.

 

Denn die Menschen besaßen damals etwas, das heute verlorengegangen ist: Empfänglichkeit für das Außerordentliche – das Heilige oder das Edle – um es nicht nur mit einem Blick aufzunehmen, sondern in sich hinein, zu einer tieferen Einprägung, die ihr Verhalten für dauernd bestimmte. Denn sie hatten noch eine Unbedingtheit des Glaubens, die heute die wenigsten haben, an das, was wir unwirklich nennen und was das allein Wahre ist: Macht, nicht von dieser Welt. Was die Maler der älteren frommen Zeiten als Lichtring um die Häupter ihrer Heiligen malten, das konnten sie von einem Menschen ausstrahlen sehen, die Kraft seines innersten Wesens, und daran glauben und davon selber für eine Zeit innen so licht werden, daß dagegen das äußere Tageslicht ermattete und die Dinge darin schattenhaft und unwirklich wurden. In den Karren blickend, sahen sie etwas, das ihnen den Atem verschlug und an das nicht gerührt werden durfte. Dann merkten sie, daß es etwas Heiliges war – heilig in sich selbst – und vergaßen es nicht so bald.

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Mit Janna also war es nach dem, was eben gesagt wurde, so bestellt, daß sie entweder unschuldig war oder schuldig. War sie schuldig, so war sie dann nicht ein Mensch, der in äußerste Not geraten war und aus der Verzweiflung sich gerettet hatte – so wie ein Ertrinkender, der sich an einen Balken klammert, einen anderen wegstößt –, sondern eine Mörderin; sie war dann nicht Janna mehr, sondern nur das. Und deswegen konnten sie nur glauben, daß sie unschuldig war.

Aber die Untersuchung mit den Verhören und Vernehmungen, die an verschiedenen Orten gewissenhaft gemacht wurden, bestand in kaum etwas anderem, als den vorhandenen Tatbestand zu erhärten und Unstimmigkeiten, die bestanden oder durch Zeugenaussagen entstanden, zurechtzurücken oder zu beseitigen, um die Schuld zu erweisen. Zweifel daran gab es kaum, nachdem festgestellt war, daß Janna solche Hemden besaß wie das, von dem ein Teil gefunden worden war; und, was fast schlimmer war, daß sie in der ersten Hälfte des Monats Juni noch nicht in Vlotho gewesen, sondern in Schötmar, gar nicht weit von Salzuflen. Nun war von Janna selbst keine Aussage zu erlangen; sie gab entweder Aussagen, die keine waren, wie die Antworten, die sie Pea gegeben hatte, oder gar keine, und nach kurzer Zeit verfiel sie in Schweigen und sagte nichts mehr. Sie war dann auch bald wie erloschen; das Lächeln starb langsam ab, ihr Gesicht war eine leere Stille. Niemand wurde zu ihr gelassen. Der Richter war durchaus kein Unmensch, ein Detmolder, der Janna nicht kannte, außer von Hörensagen; von Graf Simon eingesetzt, waltete er schlecht und recht seines Amtes, war auch zu Anfang wie jedermann von Jannas Erscheinung bewegt, hielt sie später jedoch für störrisch und natürlich für schuldig, obgleich ein seltsamer Auftritt vorher auch ihn betroffen hatte. Das war, als James Hick in den Verhörsraum geführt wurde, in dem Janna schon saß. Der Richter hatte sich dem Eintretenden entgegengewandt; als er sich dann nach Janna umsah, lag sie am Boden. Als man sie aufhob, war sie so steif wie aus Holz; doch schien sie nicht ohnmächtig zu sein, denn nachdem der herbeigerufene Feldscher sich eine Stunde vergeblich bemüht hatte, sie zu beleben, und Pea Deuterlein gerufen wurde, kam sie auf deren Zureden hin bald zu sich, zitterte allerdings nun am ganzen Leibe und kam erst in ihrer Zelle nach Stunden zur vollen Besinnung.

Die besagten Unstimmigkeiten wurden bald beseitigt oder lösten sich von selber auf. Die Jasminger-Mädchen waren von solcher Einfalt, daß sie fast kein Gedächtnis hatten und alles, was sie gesagt hatten, zurücknahmen, wenn ihnen nahegelegt wurde, daß es vielleicht nicht so gewesen war. So war Jannas ganze Kleidung, die sie selbst abzulegen gewünscht hatte, gleich nach ihrem Erscheinen bei der Sekte verkauft worden, auch das Hemd. War es aber sicher, daß sie das Hemd nicht behalten hatte? Es war nicht sicher, sie konnte es auch behalten haben, niemand konnte das nach so langer Zeit wissen. Das einzige, das von allen Menschen, die Janna – als die Anna – gekannt hatten, zu ihren Gunsten ausgesagt wurde und wovon alle niemals abwichen, war, daß niemand sie schwanger gesehn hatte. War es unmöglich, daß sie es trotzdem gewesen war? Gewiß nicht; manchen Frauen ist wenig anzusehn, nicht selten sind Schwangerschaften unentdeckt geblieben, dazu das weite Gewand, das ihre Gestalt verbarg, und es konnte ja eine Frühgeburt gewesen sein, die Ärzte wußten, daß ein Kind nach dem fünften Monat fertig ausgebildet ist. War es möglich, daß sie im geheimen geboren hatte, war sie längere Zeit unbeobachtet? Gewiß, so genau gab man aufeinander nicht acht. Die Mädchen, die Kranke pflegten, blieben oft tagelang in deren Wohnungen, wenn sie Nachtwache brauchten; von Janna war es außerdem bekannt, daß sie bei Nacht oft das Haus verließ, und niemand hatte eine Ahnung, wo sie dann war.

Summa: da Janna Ursache hatte, ein Kind zur Welt zu bringen; da der tote Körper in ein Wäschestück von ihr eingehüllt war; da er kurze Zeit nach der richtigen Geburtsstunde gefunden war und in der Nähe von Jannas Aufenthaltsort, so gab es nichts, was für sie sprechen konnte, und an der Reihe war nun die Folter, um ihr eigenes Geständnis zu bewirken. Aber da griff die Stadt ein.

Es war ein Ereignis in der Geschichte der Stadt, selten genug, um in ihrer Chronik aufbewahrt zu werden: daß sie in ein schwebendes Verfahren und den gewohnten Brauch in der Weise eingriff, wie sie es nun tat.

Auf die Folter war sie längst vorbereitet, denn diese war selbstverständlich, wenn ein Angeklagter nicht gestand. Es gab zu ihrer Anwendung oder Nichtanwendung keine besondere Vorschrift, und es wäre keine Gesetzesverletzung gewesen, sie zu unterlassen; allein ohne Geständnis erfolgte in jenen Tagen kein Urteil, und es zu erhalten, war die Folter da. Daß auch Unschuldige in der Regel geständig wurden, war ein Fehler der Sache, der nicht zu ändern war.

 

Revolte

Wenn der Traubensaft arbeitet und gärt, so bleibt er lange Zeit eine ungenießbare Flüssigkeit haltlos durcheinander wirbelnder Moleküle; in einer Minute irgendeines Tages ist der Punkt erreicht, wo die Verwandlung eintritt, wo das Edle erscheint, wo der Traubensaft Wein ist. So war es auch in dieser unscheinbaren kleinen Gemeinschaft, die von dem Gebinde ihrer Mauern umschlossen wurde; für sie war der Augenblick da, wo sie aufhörte, ein Wirrwarr von Niedergedrücktheit und Hoffnung, Vermutungen, Zweifeln, Widersprüchen, Aufwallung und Abwallung zu sein, sondern plötzlich geläutert, nur Gutes. Die Stunde war für sie gekommen, wo sie Janna vergelten konnten, Janna – was war diese Janna für sie, oder »dat Frölen«, wie sie von Anfang an genannt worden war, nicht die Jungfer duCoeur? Ein Geschöpf, das aus der Fremde zu ihnen gekommen war, von anderer Art als sie. Sie selber waren, was auf dem Acker wächst, Nährpflanzen, gezüchtet, um Knollen, Wurzeln, Blätterköpfe und Schoten hervorzubringen, die auch Blüten haben, aber man sieht sie nicht, unansehnliche, kleine und farbenlos grüne; aber Janna war mitten darunter wie eine Akelei oder eine Nelke, die sie auch am Rand ihrer Krautgärten zogen, weil sie wußten, daß die Natur auch das Lichte, Nutzlose, Schöne will. Eines Tages aber, als die Hölle des Sterbens in der Stadt ausbrach, war dieses Geschöpf durchaus kein Blumenelf, sondern ein kleiner Mensch, der aber in dem Rachen des Grauens mit Unbefangenheit umherging und dadurch, so unauffällig und klein er erschien, eine Größe hatte wie der Ritter Georg auf ihren Bildern, der ebenso groß wie gleichmütig in einen sehr kleinen Drachen hineinsticht. Die Tapferkeit, die sie auf einmal hatte, benutzte sie nicht auf die männliche Art, sich in Eisen zu kleiden, Schädel zu spalten und Häuser in Brand zu stecken, sondern auf ihre unverwandelte weibliche Weise, hilfreich und gut zu sein, obgleich eigentlich ein Geschöpf aus Elfenbein und Perlmutter, zu dem es nur paßte, an einem Fenster zu stehen, während unten ein Schwarm zierlicher Knaben stand, in Seidenstrümpfen und Wämsern, mit Rosetten besetzt, Mandolinen in den Händen und singend: »Janna duCoeur! Mon désir, ma douleur!« und ähnliche Süßigkeiten, die sich reimten.

Wenn diese Bürgerschaft sich jetzt entschloß, sich vor diese Blume in ihren Mauern zu stellen, damit ihre Menschenglieder nicht verrenkt und zerbrochen würden, so war ihnen das um so höher anzurechnen, weil kein Gesetz es befahl, keine Stimme von oben oder die eines priesterlichen Wächters ihnen zurief: Hier ist die Grenze erreicht, die nicht überschritten werden darf. Sie hatten die Grenze selbst zu erkennen, und sie taten es auf die gerade und derbe Weise, die ihnen gegeben war.

An dem Morgen des Tages, der für die Anwendung des ersten, leichten Grades der Folter angesetzt war, fing der Rat der Stadt, der sich zu andern Belangen versammelt hatte, zu verhandeln an, auf welche Weise sich einschreiten lasse, und kam zunächst zu dem Beschluß, den Richter zu veranlassen, die Sache um einen Tag zu verschieben. Was die Sache selbst anging, so kam es auf den Grafen Simon an, und wie dieser sich dazu verhalten würde, war im voraus bekannt.

 

Graf Simon hatte keinen besonderen oder doch nur einen kleinen Haß auf Janna, weil sie einmal einen boshaften Witz über ihn gemacht hatte. Das war herausgekommen durch die Gräfin, die in einer bösen Stunde einmal zu ihm sagte, das sei wohlbekannt: er gehöre zu der Art Menschen, die von nichts gerührt werden könnten – ausgenommen vom Schlag. Er erkannte leicht, daß ein so treffendes Wort von der Gräfin nicht geprägt sein konnte, und sperrte sie so lange ein, bis sie Janna als die Urheberin bekannte. Allein dieses persönlichen Stachels bedurfte es bei seiner Natur nicht einmal. Als Janna unter diese Anklage kam, war es für ihn schon eine Beschämung, daß eine, die seinesgleichen war, sich mit solcher Schande bedeckte. Für seine Anschauungsart, die nur Tatsachen sah oder aber dürre Denkbarkeiten, aber nichts Menschliches, lag die Sache einfach und klar. Janna hatte mit dem Oberst Hick ein Liebesverhältnis unterhalten; sie hatten im letzten Augenblick sich zur Flucht entschlossen; der Zettel hatte Janna die Nachricht überbracht, daß der Wagen bereit in der Nähe sei; dann unterwegs waren sie in einen Streit geraten, sei es, daß Reue sie erfaßt hatte oder daß sie ihm gestanden hatte, das Verhältnis sei von Folgen gewesen. Dies war das Wahrscheinlichere, denn es erklärte, warum sie sich in die Verborgenheit begab. Er hatte sie erst töten wollen, dann hatte ihre Ohnmacht ihn erschreckt, er war kopflos davongestürzt.

Das Verzweifelte war, daß, was hier Einbildungen waren, sehr gut hätte Wahrheit sein können, wären es nur andere Menschen gewesen. Aber da es sich so vortrefflich denken ließ, so sah die ganze Hofgesellschaft es mit persönlichen kleinen Varianten so oder ähnlich, und mancher andere auch, Thomas Becker nicht ausgenommen, den wir hier passend einfügen. Für ihn hatte der Jammer seinen persönlichen Angelpunkt, seit er aus den Aussagen James Hicks bei dessen eignem Prozeß erfahren hatte, daß er und Janna sich von England her kannten. Daß Janna, als seine Braut, ihm das verschwiegen hatte; daß sie auf dies Schweigen, wie er herausbekam, gleichsam das Siegel drückte, indem sie den Oberst nicht zu ihrer Hochzeit einlud, das war in seinen Augen ein solcher Verrat, das entfächerte solche Verdachtsgründe, daß er der Auffassung von Jannas Standesgenossen schon recht nahekam und von ihrer Schuld überzeugt war. Jannas wohlbekannte Unabhängigkeit hatte sie endlich zu einer Tat gebracht, die in Thomas' Augen ein Verbrechen war. (Wehe, wenn er sie und ihr Leben wirklich gekannt hätte!) Nur sah er es immerhin geistlich an, um nicht zu sagen, christlich, das heißt, er sah Janna als Sünderin, die von quälender Reue erfaßt war. Gesehen hatte er sie nicht. Als er dem Freiherrn und auch Pea Deuterlein gegenüber seine Ansicht mit wiedergewonnener, mehr bitterer als schmerzlicher Fassung und geistlicher Milde aussprach, erhielt er von beiden nur geringe Zurechtweisung, wofür jeder seine besonderen Gründe hatte. Die des Freiherrn können wir uns denken; die Peas werden sich bei Gelegenheit zeigen.

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Was also war vom Grafen Simon unter diesen Umständen zu erreichen, der seine Ansicht laut und klar ausgesprochen hatte? Hier gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder eine Deputation der Bürgerschaft, um ihn bittweise anzugehen; deren Erfolg war vorauszusehen. Oder eine Bedrohung, also Rüstung zur Gewalt, vielleicht ihre Anwendung: nach Lopshorn zu ziehen und die Schonung Jannas zu fordern. Wenn er sich weigerte, was dann? Sich seiner Person oder seiner Frau und seiner Kinder zu bemächtigen und sie nach Lemgo zu führen. Das war offene Revolte, die Folgen davon waren unabsehbar. Leider war der älteste Sohn und Erbnachfolger des Grafen aus seiner ersten Ehe auf Reisen. Den zwei Kompanien und zwölf Geschützen, die der Graf in Detmold liegen hatte – zwanzig Mann und vier Feldschlangen standen in Lopshorn –, war die befestigte Stadt leicht gewachsen, und sie hatten Sukkurs in dem alten Rivalen des Grafen, dem Biesterfelder Lippe. Aber das war gewiß nicht der Weg, den er gehen würde, sondern das war der reguläre, das Kammergericht oder der Kaiser, Auslieferung ihrer Privilegien, Sühnezahlung, was immer.

Es war daher begreiflich, daß der Rat stundenlang disputierte, ohne einen Ausweg zu finden, und sich nur seine Hartnäckigkeit erhielt; und daß die Bürgerschaft unterdessen, die sich längst auf dem Markt zusammengerottet hatte – übrigens in guter Stille, ohne jeden Lärm –, die Geduld verlor und schließlich die Aufgabe auf ihre Weise löste, indem sie unter Anführung eines kordial-verwegenen Bäckermeisters – er war wie Janna kein Lemgoer, sondern aus dem Rheinland, von der dort nicht seltenen wallonischen Abkunft, ein dunkelhäutiger und schwarzlockiger, noch jugendlicher Bursche, der Janna verehrte, seit sie ihm sein Geschäft hatte begründen helfen, auch seine beste Abnehmerin geblieben war – auch jetzt ohne Lärm und Tumult sich der Schlüssel zu den Kellerverliesen im Rathaus bemächtigte, die Folterkammer aufschloß, ihre sämtlichen Geräte – jene Daumschrauben, Mundbirnen, spanischen Stiefel, Röstroste, Brenneisen, gespickten Hasen und dergleichen mehr – ins Freie trug, auf einen Wagen lud, zur Bega fuhr und hineinwarf. Sie waren befriedigt, diese Werkzeuge einmal los zu sein, wenn auch nur für eine Weile; denn die Bega war flach, und sie konnten, wenn sie später benötigt wurden, wieder herausgeholt werden.

Die Handlung gab indes dem Rat die Möglichkeit und den Mut zum eigenen Handeln; es wurde nun eine Deputation an den Grafen gesendet, die ihm das Vorgefallene mitteilte und ihn ersuchte, den Volkswillen anzuerkennen und mit seiner Stadt in Übereinstimmung zu treten. Das Weitere würde sich dann zeigen.

Es zeigte sich dergestalt, daß der Graf wutschnaubend zurücksagen ließ: falls die Geräte nicht binnen vierundzwanzig Stunden sich wieder an ihrem Ort befänden oder von neuen ersetzt wären, so würde er Militär anrücken lassen, die Stadt besetzen und zur Herbeischaffung der Geräte zwingen. Das war unklug, denn die Werkzeuge waren Eigentum der Stadt, und sie konnte darüber befinden – und unvorsichtig, denn es war eine Gewaltsdrohung, und die Bürgerschaft fand, daß dies ihr den Weg frei mache.

Also war es entschieden: es mußte wieder einen Krieg geben. Der große war kaum vorüber, so gab es wieder einen kleinen, aber auch in dem konnte gestorben werden. Die Ehre der Stadt erforderte es, nicht zurückzuweichen, der alte Haß auf den Grafen entfachte die nötige Flamme, kein anderer Weg war mehr zu sehen, Eisen mußte wieder die Zunge zeigen und Blut sprechen. Wenigstens mußte die Zunge gezeigt werden; man konnte dem Grafen zuvorkommen, indem die waffenfähige Mannschaft sich rüstete und nach Lopshorn zog, wo nur die zwanzig Mann standen. Waffen waren genug aus dem Krieg übriggeblieben und lagen im Johannisturm in den oberen Stockwerken. Da es mittlerweil Abend geworden war, wurde der Ausmarsch auf die Frühe des nächsten Morgens angesetzt. Von Lemgo nach Detmold waren es keine drei deutsche Meilen, ein Marschweg von vier Stunden, aber das Schloß lag eine Viertelstunde näher auf einer flachen Anhöhe.

 

Bei Morgengrauen versammelten sich dreihundert bis vierhundert Männer am Johannisturm, legten in Ruhe die Sturmhauben und Brustpanzer an, ergriffen Schwerter, Arkebusen und Spieße und ordneten sich zu Rotten und Zügen. Unter ihnen ging James Hick verzweifelt umher und flehte sie an, ihn mitzunehmen, anzusehn wie ein Sterbender. Von ihm war nichts übrig als seine große Gestalt; er hatte seit Wochen fast nicht geschlafen und gegessen; sein Schädel hatte alles Fleisch verloren, die Knochen traten aus der lose hängenden Haut, die Lippen schlossen nicht mehr über den Zähnen, die Augen lagen klein und stumpf in großen Höhlen. Aber seinem Wunsch konnte nicht entsprochen werden.

So marschierten sie denn entschlossen, weil es wieder einmal sein mußte; weil das Gute, das sie wollten, von dem Bösen, der es nicht wollte, auf gütige Weise nicht zu erreichen war, daher ihr Herz in die Fäuste gefahren. Sie zogen anfänglich still dahin, fingen dann an, die alten Trotzlieder zu singen, um sich in die nötige Laune zu bringen, und sangen das Lopshornlied, das einer von ihnen inzwischen gedichtet hatte und das später Berühmtheit erlangte, als es auf den Jahrmärkten zur bildlichen Darstellung gesungen wurde; wie die Lemgoer gegen die Feldschlangen des Grafen gingen. Der erste Vers des Liedes, das in einem tiefen Ton und schweren Takten gesungen wurde, um am Ende trommelartig zu wirbeln, lautete:

»Helm her – Helm her – Parti – san,
Lemgo will nah Lopshorn gahn.
Simon, Simon, seih deck vör,
wir gahn for Krosigk un Dükör.
Lopshorn! Lopshorn!
Un den Grafen sin Zorn.«

Die vier Feldschlangen standen im Schloßhof zwischen den beiden vorspringenden Flügeln. Das Schloß war unbefestigt, die Fahrstraße führte von der Landstraße her, an deren Seiten frischgepflanzte, noch junge Platanen standen, die Anhöhe hinauf zum Tor in dem langen Gitter, das den Hof vorne abschloß. Die Lemgoer, wissend, daß das Schloß so gut wie unverteidigt war – nur von den vier Geschützen und den zwanzig Musketen –, ordneten sich in Zugfronten auf der Landstraße und marschierten in breiter Masse herauf. Ihr Anmarsch war natürlich nicht unbemerkt geblieben, die Mannschaft stand mit geladenem Gewehr und brennenden Lunten am Gitter, der kommandierende Feldwebel mit der Lunte am ersten Geschütz, der Graf oben an einem Fenster, aus allen Fugen vor Grimm über die Frechheit der Bürger, und kommandierte in blauer Wut: »Feuer!« Der alte Feldwebel konnte in der ganzen Sache keinen Sinn finden; jetzt konnte in die Masse der Angreifer eine Anzahl Löcher gerissen werden, und ehe wieder geladen war, war sie heran und alle Gegenwehr sinnlos. Aber er konnte doch nichts Besseres hören als das Kommando zum Feuern; die Geschütze standen mit waagerecht liegenden Rohren, die Angreifer kamen von unten, so feuerte er in Ruhe eines nach dem anderen ab, und die Kugeln zischten schadlos hoch über die Köpfe der Lemgoer, die – nachdem die Musketiere dem Beispiel der Feldschlangen gefolgt waren – in wenigen Minuten die freie Strecke gestürmt hatten, das Tor eingedrückt und die Mannschaft entwaffnet. Dem Grafen Simon geschah darauf, was einem Menschen geschehen konnte, den nichts rühren kann außer der Schlag; er rührte ihn wirklich, wenn auch nur leicht, und setzte ihn außer Aktion, und die Lemgoer hatten gesiegt und freuten sich, daß kein Blut geflossen war. Einige waren zwar unsicher, ob der Graf sich nicht rasch erholen würde; aber seine Niederlage und Schwächung, die Tränen der Gräfin, die Erleichterung des Augenblicks sowie die Genugtuung über ihren Erfolg wirkten nun allein; sie hofften den Grafen aus dem Feld geschlagen und zogen zufriedengestellt ihren heimischen Türmen zu.

 

Das Urteil

Aber drei Tage später hatte der Graf sich erholt, und am Morgen des vierten fanden die Lemgoer beim Erwachen ihre Stadt militärisch besetzt, sechs Geschütze rollten bereits auf den Marktplatz und wurden auf das Rathaus gerichtet, in allen Gassen standen Soldaten, Pechfackeln in den Händen, und der kommandierende Offizier, Obristleutnant, erklärte dem in dürftiger Bekleidung herbeigeeilten Bürgermeister den Auftrag des Grafen Simon, das Rathaus in Trümmer zu schießen und, wenn das nicht helfe, die Stadt an vier Ecken anzuzünden, falls nicht binnen vierundzwanzig Stunden das Urteil gefällt worden sei, nach Evidenz. Hierin bezeige er den Bürgern seine Nachgiebigkeit, da er ihnen die Freiheit des Rechts gewähre und auf Anwendung der Folter zu ihrem Wohlgefallen nicht bestehe. So hatten die Lemgoer bei bestem Willen es falsch gemacht, indem sie sich der Folterung widersetzten, allein, was konnten sie anders, da sie dem Gesetz keinesfalls sich entgegenstellen konnten oder wollten. Der Graf hatte den Überfall sorgfältig ins Werk setzen lassen, die Truppen waren bei Nacht aufgebrochen und marschiert, hatten bei Morgengrauen kurz vor zwei Toren haltgemacht, waren beim Öffnen der Tore hereingestürmt und schon überall in den Gassen, ehe ein Schläfer erwacht war.

Schon wenige Stunden später war Janna von den drei Schöffen an dem Verbrechen des Kindsmordes schuldig befunden und vom Richter zur gesetzlichen Strafe, zum Tod durch das Schwert verurteilt.

 

Der Freiherr und Pea Deuterlein waren zugegen, als Janna ihr Urteil empfing. Sie war aufgestanden, wie ihr gesagt wurde, und stand da, nicht mehr lächelnd, ein wenig vorgeneigt, die Lider wie immer gesenkt, die Hände vor dem Schoß gefaltet. Als der Richter sie fragte, ob sie verstanden habe, beugte sie sich noch etwas weiter vor und wiederholte mit leiser Stimme die letzten Worte des Spruches: »Vom Leben – zum Tode gebracht – durch das Schwert.«

Danach sagte sie: »Ja«, und: »Also dann muß ich sterben.«

Sonst nichts. Sie wurde hinausgeführt, und wenige Minuten später wurde Pea Deuterlein zu ihr gelassen. Als die Tür sich ihr auftat, sah sie wieder die frühere Janna vor sich, aber auf furchtbar entstellte Weise. Am Boden sitzend hatte sie ihr Kopftuch in den Händen, mit aller Kraft daran reißend, das aufgelöste Haar flog ihr um das Gesicht, und Augen und Mund waren darin aufgerissen in einem Schrei ohne Laut, die Entsetzensangst in den Augen. Aber in dem Moment, wo sie die Eintretende erkannte, schloß sie die Augen mit einem gellenden Schrei, schlug die Hände vor das Gesicht und fiel auf die Seite. Es dauerte jedoch nur eine halbe Minute, bis ihr wild zuckender Körper still wurde; sie richtete sich auf, ließ ihr Gesicht an Peas Brust betten, erhob es jedoch nach einer kleinen Weile, lächelte schwach – ihre Augen waren wieder geschlossen – und sagte:

»Was war das eben mit mir? Warum habe ich so geschrien?«

»Oh«, sagte sie bald darauf, »es war das

Sie legte ihr Gesicht auf Peas Schulter, küßte sie und fragte:

»Wie hieß das Wort, das du mir gesagt hast, als ich einmal Angst bekam vor den Pocken?«

»Nec spe«, sagte Pea, »nec metu.«

»Ja«, wiederholte sie, »ohne Hoffnung, doch auch ohne Furcht.«

»Denn du hast jetzt eine bessere Hoffnung. Du weißt, wohin du gehst. Schmerz wirst du nicht fühlen. So brauchst du dich nicht zu fürchten.«

Janna seufzte erleichtert und nickte, und sie blieb von nun an so, wie sie jetzt war. Sie hatte Menschen auf schlimmere Weise sterben gesehn, und der Tod selbst hatte für sie keinen Schrecken. Die drei Tage, die zur Aufrichtung des Schafotts auf dem Felde vor der Stadt nötig waren – die Stadt wollte es innerhalb ihrer Mauern nicht haben –, verbrachte sie mit dem Pfarrer von Sankt Nikolai und Pea Deuterlein betend oder singend oder im Gespräch über die himmlischen Dinge.

Einmal wagte Pea die Frage, warum sie in der vergangenen Zeit beständig so glücklich gelächelt habe, aber davon wußte sie nichts. Ob sie denn nicht glücklich gewesen sei? Aber auch darauf fand sie zuerst keine Antwort und sagte dann, es sei anders gewesen als alles, was mit Worten sich nennen lasse; und wenn es doch Glück gewesen sei, über alle Beschreibung und allen Ausdruck. In der Erinnerung daran schien sie jetzt erst betrübt zu werden, daß sie es gehabt und verloren hatte; die Menschen mit ihrem unaufhörlichen Andrang hatten es ihr zerstört. Doch nun erinnerte sie sich wieder und sagte:

»Das war es: ich habe gewußt.« »Was gewußt?« »Daß etwas geschehn war. Ein großes Glück war geschehn, und daß ich das wußte, das füllte mich an mit einer solchen Erleuchtung … die Seligkeit muß wohl so sein … daß alles sich darin auflöste … und es war eine Leichtheit … Aber immer, wenn jemand mich ansprach, wurde alles dunkel und schwer.«

»Seltsam«, sagte Pea, »nur Wissen? Zu wissen ein Glück, sagst du?«

»Ja – das war himmlisch.«

 

Pea Deuterlein gestand am letzten Tage dem Freiherrn, was sie ihm bis dahin verschwiegen hatte: daß sie im Mai des Jahres eines Abends spät nach Schötmar gerufen war – von einem Bauernjungen – und in einem abseits gelegenen Hause ein Ehepaar – Korbflechter – mit zwei Töchtern gefunden habe, in der Tracht der Jasminger-Mädchen, und Janna, ebenso; und daß sie diese, die schon seit dem Mittag in Wehen lag, von einem Kinde entbunden hatte, das aber, wie in diesem ungünstigen achten Monat so häufig, nur zwei Stunden gelebt habe. Janna hatte kaum ein Wort geäußert, außer daß sie Pea bat, ihren Aufenthalt niemand zu verraten. Pea hatte indes angenommen, es würde durch die Geburt herauskommen, und war bestürzt, als dann nichts erfolgte. Es waren also diese Leute gewesen, die das Geborene beseitigt hatten; Pea hatte ein Attest über die Geburt und den Tod des Kindes zurückgelassen, als sie noch im Dunkel der Nacht wieder aufbrach. Und die Jasminger-Mädchen waren in ihrer Einfalt und ihrem Wissen-von-nichts doch die Schlaueren gewesen, indem sie, Jannas Unschuld beteuernd, sich selber retteten. Die Verwendung des Hemdenstücks war nicht so unklug, denn sie konnten nicht lesen und hatten in den blumig gestickten Lettern vermutlich nur einen Zierat gesehn. Dem Gericht die Geburt bekanntzugeben, hatte Pea sich wohl gehütet, denn niemand würde geglaubt haben, daß Janna an der Beseitigung unbeteiligt gewesen sei, und die Leute würden alle Schuld auf sie gewälzt haben, die selbst stumm blieb. Anscheinend hatte die Moral der Sekte die Verheimlichung der Geburt gefordert, die doch an ein Gottesreich glaubte, das von sieben Jungfernschaften abhing. Aber von dieser Art sind die Botschaften, die von den Menschen am liebsten gehört und geglaubt werden.

 

Vor der letzten Nacht legte Janna dem Pfarrer ihre Beichte ab, mit der Hauptsünde ihrer unbezähmbaren Eitelkeit, die sie auch gegen andere Menschen wie Thomas in Schuld verstrickt hatte. Danach nahm sie das Abendmahl, und danach sah sie noch einmal den Freiherrn. Da sie an Gott und den Heiland glaubte, so glaubte sie an keinen Tod und verbrachte die letzte Nacht, die sie vor sich hatte, zwar ohne Schlaf, doch in Zuversicht.

Als die Beschließerin bei Tagesanbruch dem Pfarrer ihre Zelle öffnete, waren sie doch verwundert, unter dem Fenster ein Mädchen in dem langen Armsünderhemd stehen zu sehn, das mit schrägem Kopf sein langes braunes Haar kämmte; es war im Laufe des Jahres so lang gewachsen, daß es mit seiner Fülle die Schultern und den halben Rücken bedeckte.

 

Das Schwert

Es war jetzt Anfang Dezember und hatte bereits geschneit. Kurz vor Sonnenaufgang ging der Freiherr in seinem Pelz, gekrümmt in den Schultern, doch aufrecht und kaum mehr hinkend, über den eingeschneiten Johannis-Friedhof auf den Turm zu. Es war noch dunkel; ein erster gelber Streif war am östlichen Himmel zu sehn. Vor dem Turm bewegte sich eine Anzahl dunkler Gestalten; im Näherkommen erkannte er, daß es Bewaffnete waren und James Hick unter ihnen, und er vernahm, daß sie gekommen waren, um ihn fortzuführen auf Befehl des Grafen Simon, daß er als der eigentlich Schuldige dem Strafvollzug beizuwohnen habe. Der Freiherr besann sich kurz und entschied, wenn das Befehlswort »beiwohnen« laute, daß der Gefangene sich vom Friedhof nicht zu entfernen brauche, da von hier aus alles zu sehen sei. Er ging, Hick am Arm nehmend, mit ihm über den hinteren Teil des Friedhofs, wo sie durch eine Lücke in der Steinumwallung ins Freie traten. Dort senkte nach zehn Schritten der Abhang des Hügels sich fast steil zwanzig Fuß tief hinab zu dem weiten, schneebedeckten Blachfeld. Hier auf der Höhe hatte der Wind den Schnee über Nacht fortgeblasen. Da es langsam heller wurde, ließen sich in der Ferne die kahlen Eschen- und Erlenbäume erkennen, die das Ufer der Bega bezeichneten. Fünf- bis sechshundert Schritte weit zur Linken war inmitten des weißen Feldes das mit schwarzem Tuch verhangene Viereck des Schafotts, und ringsumher wimmelte es schon von dunklen kleinen Gestalten, und eine lange Linie von ihnen führte auf der Straße zum Nikolaitor. Es war windstill und nicht sehr kalt; die Soldaten gingen mit rauchenden Mündern umher und stampften. Wenn der Freiherr sich umwandte, konnte er die schneebleiche Wand des schrägen Walles und darüber die hohe dunkle Mauer mit Zinnen sehen, die sich den Hügel hinab zu dem entfernten Nikolaitor hinzog, und vor dem dunkelgrauen Himmel die schwarzen Türme von Sankt Marien und Nikolai. Aus der Ebene herauf war kein Laut zu hören; langsam wurde es heller und heller, aber die Sonne blieb unsichtbar zwischen Wolkenbänken. Die Menschenmenge um die Estrade bedeckte nun dicht gedrängt einen weiten Raum mit ihrer Schwärze, und die Landstraße war mit zwei Reihen besetzt. Nun waren auf der Plattform des Schafotts zwei Gestalten erkennbar, eine männliche in blutroter Farbe und eine weibliche, der Henker und seine Frau als Gehilfin; und einmal blinkte der Stahl des aus Tüchern gehüllten Schwertes. Da ein langer Steinblock dalag, setzte der Freiherr sich und zog Hick zu sich nieder; und nach einer Weile holte er unbemerkt eine kleine Pistole hervor und gab sie ihm, der sie in seine Tasche schob, dankbar nickend.

So sollte es nun wirklich werden, worauf diese zwei Männer mit todkalten Augen hinabstarrten: in der öden Schneefläche des Winters, in dem großen schwarzen Fleck aus Menschen dieses gelbe, schwarzumrandete Brett, auf dem da und dort zwei stille Figuren stehen? Da sollte jetzt eine kleine weiße Gestalt erscheinen – niederknien, ihren Kopf neigen und hinhalten, sie, eine Blüte von Mensch, Herzenssüßigkeit – diesen Kopf hinhalten mit Gold im Haar, Gold in den Augen, Licht Gottes – hinhalten, daß ein riesiges Eisen von oben heruntersaust und ihn abtrennt, und er abfällt wie eine Frucht, dumpf aufschlagend – und das ganze süße Blut herausschießt aus einer Knienden ohne Kopf – Janna – Janna in Stücke gehauen – das konnte, das sollte getan werden, getan und gesehn werden von tausend Gesichtern, die es sahn und geschehen ließen, kein Fieber, kein Traum, keine Raserei – Unmenschlichkeit, Umkehrung Gottes …

Bald darauf waren über der Reihe der wartenden Menschen die Helme und langen Piken der Begleitmannschaft zu sehen, die aus dem dunklen Torturm marschierte. Es war nun heller Tag. Und dann rollte auch der Karren hervor, langsam, von einem humpelnden Schimmel gezogen, neben dem der schwarze Priester ging und aus dem eine kleine Menschengestalt kaum hervorragte.

 

Und nun spielte sich vor den Augen der Volksmenge das Folgende ab:

Janna stand in dem Karren, ein wenig vorgeneigt, in den Händen den Baststrick, der nach der Vorschrift um ihren Hals geschlungen ist, die Augenlider gesenkt, ein leises Lächeln um den Mund. Schon hält der Karren vor der kleinen Treppe, die auf das Schafott hinaufführt, in der dichten, lautlosen Menge der anstarrenden Gesichter. Nun werden an der Hinterwand des Karrens die Bolzen gelöst, die Wand wird niedergelassen, und sie geht darüber, das zu lange Hemd vorn mit den Händen hebend, und tritt, ohne die ausgestreckte Hand des todbleichen jungen Mannes im schwarzen Talar mit dem Kreuz in der Linken zu bemerken, auf den schneeschlammigen Boden, wendet sich zur Treppe und steigt leichtfüßig die hölzernen Stufen empor. Bei ihrem Erscheinen oben – wie sie den Kopf mit dem goldbraunen Mantel des Haars leicht zurückwirft – bricht ein schwerer dumpfer Schrei aus der Menschenmenge, der gleich wieder verstummt. Links von ihr steht nah am Rand der geländerlosen Plattform das Weib mit dem schwarzen Band quer durch das nasenlose Gesicht. In der Mitte ist der Bretterboden mit einer Schicht Sägemehl kreisförmig bedeckt. Rechts in der Ecke steht der Mann in blutroter Kleidung, die beiden Hände auf den niedergebogenen Griffen des riesigen Schwertes, das vor ihm stehend ebenso hoch ist wie er selbst.

Da geht Janna gradeswegs auf ihn zu, der mit glotzenden Augen dasteht, sinkt in die Knie und hält ihm mit tiefer Beugung den Kopf hin, so daß die dunklen, goldüberflimmerten Haarwellen nach vorn auseinanderfallen – eine Bewegung von solcher Lieblichkeit und Ergebenheit, daß die Menge, die es sieht, ein tief seufzendes Ach! hören läßt – und der Schwertmensch erschrocken zurücktritt. Einige Stimmen unten rufen: »Da nicht! O Gott, so doch nicht!« und sogleich kommt die Frau über die Plattform gelaufen, zerrt Janna am Arm empor und schleppt sie zu dem richtigen Platz, wo sie nun wieder hinkniet. Der Mann hat nun das Schwert mit beiden Händen an dem langen Handgriff gefaßt, so daß die breite Klinge sich schräge zu Boden senkt. Und nun beginnt die Frau, spreizbeinig hinter Janna, über ihren Füßen stehend, mit einer Schere, die ihr angekettet am Gürtel hängt, das lange Haar dicht am Hinterkopf abzuschneiden, wobei sie mit vorquellender Zungenspitze zugleich auf die Zuschauer unten schielt. Endlich fertig, läßt sie die Schere fallen und den dunklen Bund lockigen Haars; sie drückt Janna den Kopf nach unten und stellt sich ihr gegenüber, auf ihren Mann blickend, der noch immer abseits steht, geduckt, auf die Kniende glotzend mit Angstaugen. Endlich macht er eine Bewegung, das Schwert zu heben – da hebt Janna wieder den Kopf, da reißt ihn das Weib am Haar herunter mit solcher Kraft, daß im Nacken hinten die Knöpfe springen, breit das Hemd auseinanderfällt und mit weißem Leuchten der halbe Rücken hervorscheint. Und die Menge stöhnt auf, der Kerl starrt auf den nackten Rücken – plötzlich läßt er sein Schwert fallen, daß der Boden erdröhnt, und rennt davon, rennt zur Treppe hin, rennt gegen den Priester, der mit hocherhobenem Kreuz dasteht, und prallt vor ihm zurück. Das Weib, außer sich, läuft zu dem Schwert hin, während das Volk brüllt und zetert, hebt es am Griff, schleift's zu dem Mann hin, drückt ihm den Griff in die Hände und schlägt ihn zugleich mit der freien Hand, sinnlos vor Angst um Lohn und Berufsehre, ins Genick. Er duckt sich unter dem Schlag, dann tritt er Janna zur Seite, und – die Augen fest zugepreßt – schwingt er das ungeheure Instrument in beiden Armen empor. Dann öffnet er wieder die Augen, glotzt wild auf den bloßen Rücken, die Volksmenge rast, er tut einen Schritt, stolpert und fällt beinah mit der Klinge über Janna hin, aber sie fällt nur kraftlos verquer über den Rücken, er richtet sich mühsam auf, während Janna langsam vornübersinkt und erst ein langer roter Riß über ihrer Schulter erscheint, dann ein rotes Tuch breit herausfällt.

Die Menge ist totenstill. Im nächsten Augenblick aber brüllt, rast und zetert alles durcheinander – da springt das Weib zu der Liegenden hin, den Strick in den Händen, den sie vorher von Jannas Hals gelöst hat und hingeworfen; aber wie sie ihn ihr um den Hals schlingt und sie erdrosseln will, da ist in den Seelen unten der Siedepunkt überschritten. Die der Treppe am nächsten sind, stürmen herauf, andre erklettern die Plattform, ein Getümmel von Gestalten, das den Priester fast umwirft, aber schon sind Mann und Weib über die Plattform hin und herab gesprungen, brechen sich Bahn durch die Menge und flüchten davon. Doch im tiefen Schnee ist schwer laufen, und nun ist das Volk nur ein Aufheulen und jagt ihnen nach.

Das Folgende kann nicht beschrieben werden, das in den Wellen der Bega ein Ende nahm – eine furchtbare Sache, da die beiden unglücklichen Menschen, nur aus entfesselter Wut, dafür gerichtet wurden, daß sie durch schlechte Ausführung ihres Gewerbes das Leben des Opfers erhalten hatten. Über die Hingesunkene beugten sich zwanzig triumphierende, lachende, empörte, betränte Gesichter, und sie schrien, jubelten, stampften und hätten zu tanzen angefangen, hätten nicht die Konstabler sich eingedrängt, um sie mit quergehaltenen Spießen überall von der Estrade herabzustoßen, ein paar Frauen ausgenommen, die neben ihr knieten und das Bluten zu stillen suchten. Dann kam ein Wundarzt, sagte, es sei nicht gefährlich, legte einen Verband an und erklärte, sie könne fortgefahren werden. James Hick war da, um sie zu dem Karren hinabzutragen, aber Janna wußte es nicht, da sie ohnmächtig war.

Im Bett, in ihrem eigenen Hause wurde sie richtig verbunden und kam wieder zu sich – sie, Janna, die – wenn wir uns erinnern – vom Tode einmal etwas wegwerfend gesprochen hatte – »Wer das könnte«, hatte sie auf dem Schiff zu Thomas Becker gesagt, »über den Tod sich hinwegwerfen.« Jetzt war es eher so, daß sie über ihn hin weggeworfen wurde, doch sie hatte es ausgehalten und konnte auch mit dieser Leistung zufrieden sein.

Der Aufruhr des Stadtvolks kann nicht beschrieben werden. Sie hatten lange nichts zu jubeln gehabt und konnten es reinsten Herzens, wie kaum sonst bei Siegesfanfaren, denn dieses Mal war da kein leichenbesätes Schlachtfeld, sondern nur eine unschuldige Seele am Leben geblieben. Es war nicht geschehn, nicht geschehn! Sie war unschuldig, Gott selbst hatte geurteilt, die Unschuld offenbart und das Schwert noch im letzten Augenblick abgewendet; es war wert, alle Glocken zu läuten, und sie taten es ernstlich, eine volle Stunde lang, die Bürger selber hängten sich an die Stränge. Graf Simon vernahm es in Lopshorn auf seinem Siechbett, meinte, es sei Trauergeläut und fand die Lemgoer sehr übertrieben, bis er die Wahrheit hörte.

Später geriet er in neuen Zank mit der Stadt, da diese sich einbildete und behauptete, die Hinrichtung sei ausgeführt, und so müsse es sein Bewenden haben, er dagegen – und nicht mit Unrecht – sagte, daß ein abgeschlagener Kopf die Hinrichtung mache, diese also nicht im mindesten vollstreckt und noch minder ein totgetretenes Henkerpaar Ersatz dafür sei, wie die Lemgoer bescheiden anboten; sie müsse also ein zweites Mal ausgeführt werden. Seine Stimme verstummte indes nach einiger Zeit, als er den zweiten Schlaganfall hatte; er lebte zwar noch ein halbes Jahr, doch ohne einen Willen äußern zu können, und mußte seinen Sohn, Jobst Hermann – einen Mann schon in den dreißiger Jahren –, bevollmächtigen, an seiner Statt zu regieren. Der war, wie das gemeinhin zu sein pflegt, von anderer Art als sein Vater und fertigte einen Gnadenakt aus.

 

Unter dem Schnee

Janna konnte nach kurzer Zeit das Bett verlassen, dieses Mal mit einer Narbe, die unsichtbar war; aber es war nicht dort, wo sie die Wunde empfangen hatte, und sie war danach so still wie ein ausgegangenes Licht. In der äußeren Welt schien sie nur leiblich zugegen zu sein und war an ihrer Gestalt, das heißt in ihrer Kleidung, gleichgültig bis zur Nachlässigkeit, trug alle Tage die gleichen Stücke und das kurze Haar in ein Tuch eingebunden. Da die Menschen noch lange nicht aufhörten, ihr Haus zu belagern, brachte der Freiherr sie in das Schloß hinauf, und für ihn wurden es schwere Abende in seinem Zimmer, mit ihrer Erloschenheit. Der große niedrige Raum hatte einen breiten Kamin aus grauem Stein mit gemeißelten Wappen; schwere Truhen und Schränke standen an den Wänden, die verblichenen blaugrünen Gobelins fast verdeckend, und Armsessel um einen runden Tisch in der Mitte, von einem Teppich überhangen, auf dem Folianten lagen und ein Armleuchter mit brennenden Kerzen stand. Sie saßen dann vor dem Feuer, in dem die großen Kloben verkohlten und die eintönige Geschwätzigkeit der Flammen knisterte, Janna meist davorhockend, die Hände nach der Glut ausgestreckt, in ein Tuch eingebunden, da sie beständig fror. Tagelang war er allein, denn sie litt fast immer an Erkältung und lag oft im Bett. Sie hatte die Wirtschaft wieder in die Hände genommen, hatte aber die Köchin und die Mägde bis auf eine entlassen, besorgte die Küche selbst, auch wenn sie bettlägerig war, wischte auch Staub in den Stuben. Nachdem er darum gebeten hatte, las sie ihm eine Zeitlang dies und das vor, doch mit so leerer Stimme, daß er aufhörte, sie darum zu bitten. Auch das Schachspiel lehnte sie zu seinem Leidwesen ab; er wunderte sich darüber und sagte es Pea Deuterlein, die es jedoch ebensowenig verstand wie er. Ihre Lider waren beständig gesenkt, sie sah niemand und nichts, bewegte sich aber überall sicher umher, obgleich sie nur unten sehen konnte, was dicht über dem Boden war. Ihn quälte nach einiger Zeit die Abwesenheit ihrer Augen so, daß er gegen die Ärztin darüber klagte und sie fragte, was das eigentlich sei; ob sie die Augen mit Willen zuhalte oder die Lider nicht heben könne. Die Ärztin sagte, das sei es – ja, eine Lähmung der Lider, sie habe es festgestellt, während Janna in Untersuchung war, indem sie einmal ihren Kopf sanft in die Hände nahm und mit einer bereitgehaltenen Nadel ihr einen leichten Stich neben dem einen Auge versetzte. Da hätten die Lider emporzucken müssen, aber sie taten es nicht, sondern sie bewegte nur ihren Kopf zurück.

Ihr Gesicht war farblos, grau und härtlich, ohne jeden Reiz, mit braunen Halbkreisen unter den Augen. Aber wenn sie zur Seite des Kamins im Schatten kauerte, die Hände um die Füße geschlungen und die Wange auf den Knien, das verschlossene Gesicht dem Feuer zugewendet, so konnte er mitunter wahrnehmen, daß sie minutenlang an ihren Lippen einen Erinnerungshauch ihres einstigen Lächelns hatte.

Auf diese Weise ging der Winter hin in der tiefen Stille des Schnees, es wurde Februar, März; aber auch das beginnende Frühjahr brachte keine Veränderung; sie wurde nur von einem harten Husten gequält, und ihre Stimme, wenn sie je etwas sagte, war noch schwächer.

An einem Abend zu Anfang März, als sie schon gute Nacht gesagt hatte, früh wie immer, und zur Tür gegangen war, kam sie zwischen Tisch und Stühlen hindurch fast laufend zu ihm zurück, der in der Nähe des Feuers saß, fiel auf die Knie, hielt ihren Kopf hin und sagte:

»Drück ihn herunter! Bitte, drücke ihn fest herunter!«

Er tat es, doch sie wiederholte: »Noch einmal, nicht so sanft, tu es fester!« Und als er ihr willfahrt hatte, glitt sie zur Seite, legte die Stirn auf sein Knie, er hörte sie schwer atmen und dann ihre leise Stimme: »Ich glaube, das wird helfen. Nun, wo du es getan hast … ich konnte es nicht vergessen … manchmal die halbe Nacht, immerzu, bis zum Morgen …«

Danach ließ sie sich an seine Brust emporziehen und lag dort, von seinen Armen umschlossen; er glaubte, sie würde weinen, doch ihre Lider blieben trocken; er sah ihre Lippen sich bewegen, glaubte sie murmeln zu hören, aber wenn er sie fragte, gab sie keine Antwort, bettete ihr Gesicht nur tiefer.

Auf einmal setzte sie sich auf, saß grade und sagte fast laut:

»Meine Mutter – ja. Ich wollte nicht Trauer tragen. Da hat es angefangen – damit hat alles angefangen.«

»Was hat angefangen, mein Kind?«

»Alles – was sich nicht wiedergutmachen läßt.«

»Kind, mein geliebtes Kind«, sagte er, »wären alle so schuldlos wie du.«

Da lachte sie und sagte: »Du bist ein Narr.«

Sie stand auf, sagte: »Verzeih mir«, und küßte ihn auf die Stirn, worauf er nun in hemmungsloses Geschluchze ausbrach, so daß sie ihn lange liebkosen und trösten mußte, bis er wieder sprechen konnte und sagte: »Für dich wäre ich gern gestorben.«

»Ja, danke«, sagte sie leise, bewegte dann den Kopf hin und her, lächelte ein wenig und sagte: »Ein jeder muß für sich selbst sterben.«

»Dafür«, sagte sie vor sich hin, »dafür wäre ich auch gestorben.«

»Wofür wärst du gestorben, mein Engel?«

»Für …« Ein langes Zittern lief durch ihren Leib; sie schien furchtbar mit etwas zu ringen, bis sie dann sagte: »Für … für ein einziges Mal lächeln in dieser entsetzlichen Strenge.«

Er konnte nicht verstehn, daß sie James meinte, und wagte keine Frage. Für dies zarte Gespenst war der Spiegel seiner Seele zu unmagisch.

Aber als er es einige Tage später wagte, sie auf einen Schaden an ihrem Kleidsaum aufmerksam zu machen, schien sie beinah zu erschrecken, sagte nichts, sondern ging stillschweigend hinaus. Zu Mittag erschien sie in einem anderen, noch kaum getragenen Kleid und ohne Tuch um das Haar, das sie wie früher geordnet hatte, nachdem es wieder gewachsen war. Doch machte sie das eher blasser, und die Anstrengung schien so groß gewesen zu sein, daß sie nicht grade sitzen konnte und vor unablässigem Husten nichts essen, bis er sie bat, lieber zu Bett zu gehen, was sie auch tat.

 

Männliche Unterredung

An einem Nachmittag Ende März wurde der Freiherr dem Grafen Jobst Hermann auf seinem Schloß Brake bei Lemgo gemeldet, das er mit seines Vaters Lopshorn vertauscht hatte. Der junge Graf, von Leib und Angesicht mager und lang – auch sein Kinn war es, die dunkelbraunen Augen standen vor –, ging ihm zur Tür entgegen und führte ihn an der Hand durch den überheizten Raum, ein großes Eckzimmer, in den Erker, in dem Armsessel standen unter hohen Topfgewächsen. Er selbst nahm erst im Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz, der vor dem Erker stand; da aber der alte Herr kein Gespräch eröffnete, mit dem einen blauen Auge melancholisch zum Fenster hinausblickend, wo nichts zu sehen war als Himmel und Wolken, kam er in den Erker und öffnete einen zweiten Flügel mit einer gemurmelten Verwünschung des Ofens und »Avec permission«. Sein Gesicht war faltig rosig, mit dem Ausdruck eines guten Menschen, der seiner nicht ganz sicher ist; er war unter der langen Despotie seines Vaters schüchtern geblieben, hakte öfters im Sprechen an und pflegte an seine Äußerungen gern ein Satzglied zu hängen, das die persönliche Bestimmtheit hinwegnahm. Die Unterhaltung ging zu Dreivierteln auf französisch vor sich.

Er stand angelehnt, selbst hinausblickend, als er den alten Herrn hinter sich lachen hörte, fing seinen Blick auf, sah an sich selber hinab und sagte: »Weiß schon, was Ihr zu lachen habt. Ihr denkt, daß ich meine Hose verliere.« Diese, von dunkelblauem Atlas wie seine vorn offene Jacke, saß ihm kaum auf den Hüften, so daß sich das gefältelte Hemd rundherum darüber bauschte. »Alberne Mode«, fuhr er fort, »möchte man sagen. Könnt Ihr froh sein, daß Euch das nicht mehr belästigt.«

Der Freiherr versetzte, darüber wäre er gar nicht froh; er hätte auch nicht über die Hose gelacht, sondern wegen einer Begegnung, die er eben im Vorzimmer gehabt hatte. »Aber es war gar nicht zum Lachen«, sagte er, »so bin ich nun, ich lache jetzt, wo ich weinen müßte, ganz kindisch, rieche da den Frühling und bekomme Erinnerungen.«

Eine Person sei da auf ihn zugekommen, ein Hutzelweib, krumm von Gicht und Alter, und habe ihn gefragt, ob er der Krosigk wäre, der auf ihrer Hochzeit vorgetanzt hatte, vor fünfzig Jahren. Er war fast hingefallen, daß er das sein sollte. »Es war die Besinghaus Eurer Frau, sie lächelt süß wie ein Grabspruch und lädt mich ein, sie zu besuchen, damit wir Erinnerungen austauschen. Gott schütze mich, daß ich da hingehe. Ich habe keine Erinnerungen. Ich habe von der Welt fast so viel gesehn wie der liebe Gott, und alles wieder vergessen. Da habe ich mir vorgestellt, dieser alte Knochen wäre jetzt meine Frau, säße mir jeden Tag gegenüber und grinste mir zu, daß ich auch so alt bin.«

Er könnte wohl lachen, versetzte der Graf, selbst lachend, und machte ihm Komplimente über seine unzerstörbare Jugendlichkeit, die der Freiherr zunächst dankerfüllt aufnahm. Aber was hülfe ihm das, sagte er, sich verdüsternd, wenn seine Tochter das Licht nicht mehr sehn wolle. »Sie hat diese gelähmten Augen, ich kann es nicht mehr ansehn, meine eigenen fallen mir zu, ich muß nun die Deuterlein fragen. Sie hustet, daß mir die Brust weh tut, ich finde sie in der Küche, sie sitzt im Winkel und putzt das Silber, sie trägt ein Kleid alle Tage und steckt ihr Haar in ein Tuch. Ihr würdet sie nicht erkennen.«

Der Graf versicherte, daß er es nicht glauben könne; er war eine von Jannas treuen »Seelchen« gewesen, wie sie diese guten Anhängsel nannte, vielleicht weil sie geduldig eine Art wohltemperierten Fegefeuers ertrugen, bis zu seiner späten Verehelichung im vergangenen Jahr; und er fragte, fast errötend, nach ihrem Haar, ob es nicht wieder gewachsen sei.

Er könne das nicht wissen, versetzte der Freiherr, sie habe ja immer ein Tuch drüber. »Aber«, fuhr er plötzlich aufleuchtend fort, »soll ich Euch sagen, was sie am Hinrichtungsmorgen getan hat? Wie der Geistliche zu ihr hereinkommt – sie steht da und kämmt sich die Haare.«

Auch der Graf leuchtete, wortlos, und sprach nur seine Zufriedenheit aus, daß man ihr einen Kamm gelassen habe. Aber das hatte man gar nicht; sie hatte ihn sich aber ausgebeten, erst von der Beschließerin, dann von Pea, die hatte ihn eingeschmuggelt.

Eine Weile saßen sie beide in kirchlicher Andächtigkeit, bis der Graf hüstelte und bemerkte, sie müsse dem Allmächtigen auch lieblich gewesen sein, sonst hätte der nicht seine Hand über ihr gehalten.

»Der?« fragte der Freiherr. »Glaubt Ihr das auch?« und blinzelte zu dem Grafen hin, der sich an den Schreibtisch gesetzt hatte. Er erhöhte sich in seinem Sitz und sagte, es sei eine schöne Legende, mehr aber nicht, und er wisse es besser.

»Cette personne«, sagte er, »diese Person hat ihre Erhaltung niemand zu verdanken als ihrer eigenen Eitelkeit und ihrem Charme!

Oder nicht?« fuhr er mit einem Glänzen fort, das an Gottväterlichkeit grenzte. »Was habe ich Euch eben erzählt? Und womit hat sie diesen Stier von Kerl in Verwirrung gesetzt, womit anders als mit ihren langen Haaren und mit ihrer Lieblichkeit? Mit der Anmut, wie sie da vor ihn hingekniet ist, und mit ihrem weißen Hals?«

Der Graf hörte zu, das Gesicht auf die Faust gestützt, mit vorquellenden Augen.

»Ich«, fuhr der Freiherr fort, »ein alter Mann in Eurer Anschauung, ich habe in der ersten Stunde, in der ich sie sah, zu ihr gesagt, auf englisch, weil die alte Deuterlein in der Nähe war, aber Ihr könnt kein Englisch – ich habe zu ihr gesagt: sie habe etwas an sich, was einen Mann zittern mache.«

»Das möchte mancher gesagt haben, sollte man meinen.«

»Und hat sie nicht diesen Kerl zittern gemacht, daß er sein Schwert nicht festhalten konnte? In ihrer letzten Minute – daß ich das nicht gesehn habe …«

»Besser«, sagte der Graf, »besser – tiens – doch nicht.«

»Ja, Erlaucht, das sind die Dinge, die schöner sind zum Erzählen als zum Ansehn – so, wie wenn ich von meinem letzten Büffel erzähle. Aber außerdem, mein Lieber, außerdem ihre unhemmbare Eigenmächtigkeit! Statt wie jedermann zu dem vorgeschriebenen Platz hinzugehn, wohin geht sie? Sie geht zu dem Mann hin –«

»Aber der erste, vor dem sie gekniet ist«, sagte der Graf.

»Zweifellos.« Die beiden Unbeteiligten an dem Vorgang lachten, und der Freiherr sagte, er werde nun wohl nicht abstreiten, daß sie alles selber gemacht habe, Menschen verwirrend, aber sich selbst erhaltend, wie sie nun einmal war.

»Den Kopf oben behalten, möchte man sagen, ja.« Aber er fange nun an, diesen Hick zu begreifen.

»Um den Mann ist es ein großer Jammer.«

»Warum hat sie aber den Pfarrer genommen?«

»Das werden wir nie ergründen. Ja, Gott allein weiß, wozu er Pfarrer gebraucht, sie sind sonst zu nichts zu gebrauchen, wenn dieser auch seine Klinge mit dem Oberst gekreuzt hat.«

»Tiens – das wußte ich gar nicht. Seht einmal, wo war das?«

»Auf seinem Hof, wie wir hinkamen. Ich hätte es nicht sagen dürfen, aber da war er schön in Feuer, nun ist er Essig geworden. Von dem nähm ich kein Abendmahl an.«

Er seufzte, tiefer im Stuhl sinkend: »Sie hat es auch bereut.«

»Frauen«, sagte Jobst Hermann, »mitunter denkt man, sie haben gar kein Bewußtsein.«

»Ja«, sagte der Freiherr – und nach einem langen Schweigen: »Auf dem Schafott – da hat sie auch kein Bewußtsein gehabt.«

»Es sind wunderbare Naturen, möchte man sagen.«

Der Freiherr erwiderte nichts. Er schien an andere Dinge zu denken – solche wohl, die er hier nicht ausgesprochen hatte.

Er stand bald danach auf und ging an das offene Fenster, sog die frische Luft in die Nase. Der Graf sagte, er müsse Geduld haben, nun sei der Frühling im Kommen.

»Ja, der macht mich immer noch zittrig, und ich gehe bei allen Menschen herum und rede von meiner Tochter. Neulich habe ich den Hick besucht auf seinem Friedhof, ich weiß nicht, was ich an dem Mann habe, er ist ganz verändert, Ihr solltet das sehn, sein Gesicht – Ihr werdet bemerkt haben, daß er niemals eine Miene verzog, es war unnatürlich, aber nun ist es beweglich geworden, ein reines Wunder, wie eine Puppe, die menschlich geworden ist. Er hat alles angerichtet, aber so bin ich eben, ich habe für alles Verständnis. Der kann es nun auch nicht mehr aushalten, und wie denn nicht? Er ist ein tätiger Mann, rüstig und behend wie ein Roß. Aber ich muß nun gehen. Ich kann Euch nicht einmal bitten, daß Ihr den Oberst losgebt – sie will ihn gar nicht.«

»Ich kann wohl nicht immerzu begnadigen«, sagte Jobst Hermann. »Mein Vater ist kaum unter der Erde. Sie will ihn nicht, sagtet Ihr?«

»Einmal habe ich seinen Namen ausgesprochen; wie ich da nach ihr hinsehe, sitzt sie da, ist so rot wie ein Krebs, aber wie aus Holz. Dann konnte ich eben noch zuspringen, um sie aufzufangen.«

»Seht einmal – tiens – ich verstehe das auch. Seine Strafe ist auch allgemein als gerecht empfunden.«

»Alle Welt denkt gerecht in bezug auf andre, und den Henker und seine Frau haben sie totgetrampelt«, seufzte der Freiherr. Er nahm Abschied und ging, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Besinghaus nicht im Vorzimmer saß und ihn abfing.

 

Eine fehlende Katze

Der Freiherr fand die Ärztin in ihrer Ordination am Fenster – es dämmerte bereits –, wie sie mit ihrem ältesten Sohn Livius übersetzte. Nachdem sie ihn hinausgeschickt hatte, fragte er sie geradezu nach Jannas Augen, ob sie eine Erklärung dafür habe, er könne es nicht mehr aushalten, diese ewig geschlossenen Lider.

»Wenn ein Mensch etwas nicht sehn will«, sagte Pea Deuterlein, »macht er die Augen zu.«

»Doch dann macht er sie weder auf. Was ist das, was sie nicht sehen will? Sie hat allen Dingen ins Auge gesehn.«

Wenn es aber nicht fortgehe; wenn es sich in die Seele eingebrannt habe wie mit einem glühenden Eisen? erwiderte die Ärztin.

Glühendes Eisen, versetzte er, könnte die Seele nicht brennen, und vom Nichtsehenwollen könnten keine Augen gelähmt werden.

»Das meint Ihr«, sagte sie. »Ihr wißt auch nicht, was für Macht der Geist hat über die Seele und die Seele über den Körper.«

»Eine Macht, Augen zu lähmen?«

Die Ärztin schwieg eine Weile, ihn nachsichtig anblickend aus ihren kristallhellen Augen; dann sagte sie, sie wolle ihm eine Geschichte erzählen, vielleicht daß sie ihm zu einem Verständnis verhelfe.

»In Herford war ein Junge«, fing sie an, »ein Waisenkind. Er war bei seinem Vatersbruder in der Lehre, der Metzger war, und er litt schon viel dadurch, daß er das Töten und Bluten nicht ertragen konnte. Außerdem wurde er von der rohen Canaille beständig derart mißhandelt, daß oft die Nachbarn einschreiten mußten und ihm das zarte Kind halbtot aus den Klauen reißen. Ich habe sein Sterbensgeschrei zwei Gassen weit gehört und bin hingelaufen.

Eines Tages ging der Metzger über Land, um ein Kalb zu kaufen, und nahm den Jungen mit, der zwölf Jahre zählte. Zu dem Kauf scheint es nicht gekommen zu sein; der Junge kam abends allein nach Haus und war stumm.«

»Stumm, sagt Ihr? Absolument?«

»So stumm wie ein Türschloß, deutsch zu reden«, sagte die Ärztin grimmig. Er habe die Leute dann zu einer Brücke geführt und sie durch Zeichen verständigt, daß der Metzger von zwei Kerlen angefallen wurde, seiner Barschaft beraubt und von der Brücke ins Wasser geworfen. Den Jungen wollten sie nachwerfen, aber er konnte ihnen entlaufen, ein Wunder bei seinem Entsetzen, das noch wochenlang in seinen Augen zu sehn war. Der Leichnam sei später gefunden worden, das Räuberpaar auch und gehenkt worden.

»Vor Entsetzen ist er da stumm geworden?« fragte der Freiherr, da sie schwieg. Und ob er es geblieben sei?

Das, sagte die Ärztin, wäre der zweite Teil ihrer Geschichte, der die Aufklärung brächte. Der Junge war zu einem andern Verwandten gekommen, der ein Schreiber war und sanftmütiger. Drei Jahre später saß der Junge an einem Wintertag in der Stube am Ofen. Jemand hatte soeben eine große irdene Schüssel voll Wasser auf den Ofen gestellt zum Anwärmen. Zwei Katzen spielten im Zimmer, jagten sich umher, eine sprang auf den Ofen, stieß an die Schüssel, und der volle Wasserstrom, der noch eiskalt war, ergoß sich über den Kopf und den Leib des Jungen. Der schrie gellend auf und hatte seine Sprache von Stund an wieder.

»Wunderbar!« sagte der Freiherr, doch er vermißte die Aufklärung.

Die Aufklärung hatte die Ärztin selbst von dem Jungen bekommen. Er hatte ihr auf ihr Befragen erzählt – denn sie argwöhnte etwas dahinter –, wie er gesehn hatte, daß sein Oheim, als er in den Fluß gestürzt war, wieder hochkam. Er hatte sein Gesicht mit den entsetzten Augen und weit aufgerissenem Mund gesehn, aus dem aber kein Laut kam. Das Wasser schlug darüber zusammen, und der Junge brachte selbst keinen Laut mehr hervor.

»Der Schrei des Ertrinkenden war in seiner eigenen Kehle steckengeblieben«, sagte die Ärztin. »Und da könnt Ihr sehn, welche Macht einer Seele gegeben ist.

Aber es ist noch etwas dabei«, sagte sie, »wenn Ihr Euch befleißigen wollt, es zu verstehn.

Dieser Junge hat seinem Peiniger tausend Male den Tod gewünscht. Er hat sich daher selber schuldig gefühlt – wie eines Mordes.«

»Wenn er ihm den Tod gewünscht hat, sollte er wohl Ursache dazu gehabt haben, ich verstehe das nicht«, sagte der Freiherr.

»Den Tod wünschen und morden ist zweierlei«, sagte Pea.

»Aber er hat nicht gemordet.«

»Nein, er hat nicht, Ihr Starrkopf, aber wenn Ihr es nicht begreift, dann könnt Ihr nicht begreifen, daß in der Menschenseele sich Knoten bilden können, die unlösbar sind.«

Der Freiherr gab zu, daß er immerhin ein besseres Verständnis für Janna bekommen habe; und ob sie nicht vielleicht auch jemand den Tod gewünscht habe, sagte Pea behutsam.

Das nun keinesfalls, im Gegenteil, sie habe einmal gesagt, daß sie gern für etwas gestorben wäre; was, das wisse er nicht, aber Pea vermöchte vielleicht es zu wissen.

Nein, sie wisse es auch nicht. »Aber ich sehe wohl«, sagte sie, »was hier für ein Knoten geknüpft ist.

Denn wir wissen doch«, sagte sie, »daß sie ihn geliebt hat.«

Der Freiherr saß eine Minute lang, ohne sich zu bewegen. Dann erhob er sich und zog seinen Pelz an. Diese Dinge, sagte er, seien entweder zu hoch oder zu tief für ihn, worauf er halb lachend seufzte und wünschte, Gott sendete eine Schüssel mit Wasser.

»Und eine Katze«, sagte die Ärztin, ohne zu lachen.

»Könnt Ihr die nicht herbeischaffen?« fragte er verzweifelt, und sie versprach ihm, noch länger darüber nachzudenken, als sie bereits getan hatte.

Einige Wochen später, im April, verbreitete sich die Kunde in Lemgo, der Häftling Hick sei geflüchtet. Seine durchfeilten Handschellen wurden an ihren Ketten am Johannistor außen hängend gefunden, mit einem Zettel daran, auf dem er mitteilte, er habe sich entfernt, gedenke jedoch in kurzer Zeit wiederzukommen. Ein Freund mußte ihm geholfen haben, denn er wurde nicht aufgestöbert, obgleich er weder im Besitz von Geld sein konnte noch von Pässen.

 

Rückkehr

Am Tor des Schlosses Hampton Court in der Nähe von London erschien an einem Nachmittag zu Ende April ein großer, einfach gekleideter Mann, der sich dem wachthabenden Offizier Oberst Hick nannte und den Lord-Protektor zu sprechen verlangte. Der Offizier äußerte zwar Bedenken, da der Lord-Protektor am Krankenbett seiner Tochter weile und – selber leidend – selten jemand empfange, kehrte jedoch nach kurzer Zeit zurück, um den Oberst einzulassen, nachdem er ihn untersucht hatte, ob er Waffen bei sich trage. Er führte ihn eine Treppe empor in einen kurzen Gang mit drei Fenstern, der über einem Seitentor lag. An der gelb getünchten Innenwand dieses nicht eben gastlich anmutenden Raums war eine Bank von dunklem Holz angebracht, über der in der Höhe das altersdunkle Porträt einer Lady in verschollener Tracht hing, schwarz und gelb, mit riesigen Puffärmeln und hochstehendem Spitzenkragen – die Königin Elisabeth. Von den drei bleiverglasten Fenstern war das mittlere geöffnet; draußen war grünes englisches Gartenland zu sehn, über das hier und da Schleier von leichtem Regen wehten, Rasenflächen, Gruppen hoher Bäume, Buschhecken und grasende Rinder.

Nach einiger Zeit wurden durch die offen gebliebene Tür Schritte hörbar, und Cromwell erschien – einen baumlangen Offizier hinter sich – als ein grauhaarig alter, leidender Mann, ein rotes Tuch um den Hals, der sich auf einen Stock stützte und mühsam in weichen Schuhen ging. Er blieb stehen – während der Offizier zum Fenster ging und es schloß – und sagte, feindlich böse aus den kleinen geröteten Augen unter dichten Brauen hervorfunkelnd:

»Was wollt Ihr? Warum seid Ihr hier? Wißt Ihr nicht, daß Euch England verboten ist?«

Obwohl betroffen von der veränderten Gestalt und diesem Empfang, konnte Hick zwischen den Blicken des Zorns ein Aufzucken nicht verkennen, das ihm ein längst vergessenes Bild vor die Augen rief: der Lord-Protektor in seinem Wagen stehend, wie er den Arm über sich hielt, um sich gegen Hicks Klinge zu decken. Er hatte zu wenig Kenntnis von den Ereignissen in England und dem Leben dieses Mannes in den letzten Jahren, um zu wissen, daß ein Alleinherrscher, der ein Volk im Zaum hält durch dessen eine Hälfte, vermittels einer eisernen Despotie, in beständiger Furcht leben muß; und daß Furcht ihn jetzt ankommen mußte, als er den Mann vor sich sah, in dessen Hand einmal sein Leben war. Damals hatte er geglaubt, die Hand Gottes zu sehn, der die menschliche Hand entwaffnete; aber die Beschlüsse Gottes sind ungewiß, und nun war dieser Mensch wiedergekommen …

Ohne es zu bedenken, antwortete James Hick auf diesen geheimen Blick anstatt auf die offene Frage:

»Ich trage keine Waffe bei mir, Mylord.«

»Das weiß ich«, versetzte Cromwell und fragte: »Oberst Hick? Was für ein Oberst?«

»Durch Patent Seiner Majestät Karls II.«

»Das ist eine Frechheit.«

»Ihr befehlt, Mylord, und ich gehe.«

Oliver Cromwell stand noch eine Weile mit wechselnd bösen und ruhigeren Blicken; indes hatte der Leu sich leer gefaucht und erleichtert. Er fing an und hustete lange, während er sich zu der Bank begab und dort setzte, ein Bein und den Stock darauf legte; dann heftete er seinen Blick für eine Weile auf Hicks Züge und schloß die Augen. Sein Gesicht war grau und bestand fast nur aus Falten, die von der dick vorspringenden Nase herabhingen wie der eisgraue Schnurrbart. Keine freundliche Landschaft, die zum Verweilen einlud; aber als er die Augen wieder öffnete, schimmerten sie von unverhoffter Milde.

»Ich habe mir Euch ins Gedächtnis zurückgerufen«, sagte er freundlich und bedeutete den Oberst, auf der tiefen Fensterbank Platz zu nehmen, fragte sodann, warum er gekommen sei. Der erwiderte, er sei nur gekommen in der Hoffnung auf ein geduldiges Ohr, wie es ihm einmal bewilligt wäre.

»Geduld, Hick, Geduld? Ich muß viel Geduld haben, mit mir hat man keine, und ich will. Aber – Hick, Ihr kommt in einer schrecklichen Stunde. Meine Tochter Betty – mein Liebling –.« Seine Augen flossen über, er fuhr mit den Fingern hinein, trocknete sie dann mit dem roten Halstuch.

»Mylord«, sagte James erschrocken, »sie lebt doch?«

»Wie lange noch, wie lange? Wochen – und wie sie zu leiden hat! Der Wille des Herrn muß geschehen – warum muß sie vor mir sterben? Da oben – ja, da oben werden wir uns lieben, aber hier unten habe ich alles versäumt.« Immer, klagte er, war seine Hoffnung gewesen, still auf dem Lande zu leben, mit seinem Kind, und nun war es zu spät. Er fing an, sich zu verteidigen, sagte, er habe England groß gemacht und bezahle mit Tränen dafür, und nun schelte man ihn einen Heuchler. »Wahrhaftig«, sagte er, mit dem Stock aufklopfend, »wenn ich England erhöht habe über Holland und Frankreich, ist das nicht genug? Meine Kraft ist es nicht gewesen. Ich weiß selber, mit dem reinen Wort steht es nicht zum besten, sie fallen zu ihren Irrlehren zurück, ich muß das Gott überlassen. Aber einen Heuchler, einen Heuchler sollten sie mich deswegen nicht nennen.«

Ein Hustenanfall nahm ihm das Wort. Als er vorüber war, faßte er Hick mit freundlicherem Prüfen ins Auge und sagte:

»Ihr habt die Pocken gehabt, wie ich sehe, aber nur leicht. Ich besinne mich, in Eurem Gesicht war kein Leben, nicht Blut noch Muskeln, daher ist es glatt geblieben.«

Er lachte, hustete wieder, fand aber Hick auch sonst sehr verändert. »Ja, Leiden ist unser Los. Aber«, fuhr er fort, »was ist das mit Eurem Gesicht? Ich habe das gleich bemerkt bei Eurem Sprechen! Es ist ja nicht unbeweglich! Seht einmal, Ihr könnt lächeln? Das ist wunderbar! Das ist unglaublich! Sind das auch die Pocken gewesen? Euer Gesicht hat Leben bekommen, das wie von Stein war. Hick, wie ist das zugegangen?«

Doch der wußte keine Ursache zu nennen; auch was den Zeitpunkt anbetraf, wußte er nur, daß es im Frühling vor einem Jahr mit einem Brennen, Ziehen und Jucken begonnen hatte, so als ob überall Nähte platzen und reißen wollten.

»Der Frühling, Hick? Ja, er treibt oft geheime Blüten. Aber ich glaube das nicht, Hick. Bestimmte Dinge haben bestimmte Ursachen. Und damals, Hick, sagtet Ihr zu mir, woran ich mich wohl erinnere: Wenn die Uhrzeiger stehen, so steht innen das Werk. Also wie ist es mit dem? Ist es in Gang gekommen?«

»Mylord – es ist. Und das ist mit fünf Worten gesagt: Ich bin ein Mensch geworden.«

»Ihr wart vordem kein Mensch?«

»Ich war vordem kein Mensch. Ich war ein Ding, das sich bewegte. Und um mich her war andre Bewegung, die wirkte auf mich, ich erwiderte – ich kann das schwerlich beschreiben. Draußen – die Bäume, die Wiesen, der Himmel – ich habe das nicht gesehn. Ich habe keine Menschen gesehn. Ich war für alles so gleichgültig, als ob es gemalt wäre.

Ich hatte kein Herz, Mylord.«

»Schrecklich, Hick, das ist schrecklich! Hattet Ihr gar kein Gefühl?«

»Keines – wie aus Eisen. Nur – Mylord – es hat immer etwas an mir gezerrt … Der Mensch hat in sich ein Bewußtsein … wir wissen auf Erden auch, wie es bei Gott sein könnte. So habe ich auch gewußt, daß ich nicht recht war, Mylord – ich war eine einzige Bitterkeit.«

»Aber, Hick, Ihr hattet einen süßen Humor.«

James Hick lächelte trübe. »Ihr sagt es, Mylord, alle sagten es. Laßt Euch versichern, Mylord, daß ich niemals begriffen habe, warum die Menschen bei meinen Worten lachen. Ich habe es niemals zum Lachen gefunden.«

»Ein Rätsel Gottes seid Ihr, Mann, ein schieres Rätsel.«

»Er ließ mir nur den Verstand – ja, auch die Sinne, was man Begehren nennt. Heute weiß ich das alles.«

»Ihr sagtet es, ich erinnere mich wohl, wovon das gekommen ist. Ihr hattet zu viel gesehn.«

»Mylord, das ist es: ich habe niemand und nichts sehen können. Was ich ansah – es glitt alles vorbei. Und ich habe niemals in ein menschliches Auge gesehn –«

»Ihr macht mich schaudern, Hick! Da war keine Liebe –«

»Eben das, Mylord. Ich habe nur ein einziges Mal –« Er verstummte rasch und machte die Augen zu.

»Ich glaube«, sagte er, »ich sah wie ein Pferd und ging herum wie ein Pferd.«

»Die Pferde, Hick, Ihr wart ihnen zugetan. Schöne Tiere, schöne Tiere.«

»Aber, Mylord, wie ist einem Pferd zumut? Es geht unter dem Reiter, es trägt ihn und weiß nicht, warum. Es gehorcht und weiß es nicht, es geht Schritt, es geht Trab, geht Galopp, es geht links und geht rechts, wie der Zügel will, es weiß niemals die Ursache, es geht auch in die Schlacht, der Mensch sagt, es sei tapfer, was weiß ein Pferd davon? Ist es alt geworden, spannt man es vor den Wagen, es zieht ihn und weiß nicht warum. So bin ich gewesen, Mylord, ganz so.«

»Doch nun wißt Ihr es, nun seid Ihr verwandelt. Ich sehe, Ihr brennt wie in Feuer. Kommt her zu mir, setzt Euch auf die Bank, erzählt mir, wie das gekommen ist, haltet nicht hinter dem Berge. Ich will Geduld für Euch haben.«

James Hick setzte sich auf die Bank und fing an, sein Leben zu berichten vom Verlassen der Zelle damals bis zur jetzigen Stunde, in geraden, meist harten Worten. Er holte auch nach, was von Janna zu sagen war, die erste Begegnung, die zweite in England, und alles Geschehen in Deutschland zwischen ihr und ihm bis zum Ende.

Cromwell hörte ihm zu mit geschlossenen Augen; als er still war, brach für eine Weile der zurückgehaltene Husten aus, er winkte Hick mit der Hand, das Fenster zu öffnen, stand dann auf und ging zu ihm hin, sich langsam beruhigend. Die junge zarte Luft kam mit kindlicher Frische herein; es regnete nicht mehr, in den Wolken am Himmel waren große blaue Risse und Seen.

 

Cromwell wandte sich langsam um und sagte:

»Ich habe Ehrfurcht vor Euch, Hick, große Ehrfurcht.

Solche Dinge an einem Menschen muß man verehren, wenn ihn Finsternisse umhüllen, und endlich die Klarheit hervorbricht.

Euch hat auch ein Finger berührt wie ein Blitzstrahl; Ihr seid mitten durchgerissen.«

»Das bin ich, Mylord. Aber ich kann nicht verstehn, warum Ihr von Klarheit sprecht. Es ist nur noch finstrer als früher.«

»Ihr könnt die Klarheit nicht sehn? Wirklich nicht, Hick, wirklich? Oh, ich verstehe, es ist ein furchtbares Licht – für Euch, Ihr könnt nicht hineinsehn. Ich kann es leicht, denn ich sehe den Blitz nur beschrieben. Und eigentlich waren es zwei Blitze – oder begreift Ihr am Ende gar nichts?«

So sei es, versetzte Hick, er wisse nicht, was er begreifen solle.

Cromwell nahm wieder Platz auf der Bank, heftete seine Augen in die lichtlosen des Mannes, der ihm gegenübersaß, die Ellbogen auf den Knien, und mit heißem Gesicht und Augen verloren zum Fenster hin blickte.

»Nicht wahr, Hick?« sagte Cromwell, »ich habe Euch recht verstanden: Ihr hattet erst keine Liebe – und Ihr habt sie nun?«

James erwiderte nur mit einem verzweifelten Ausdruck; Cromwell sprach weiter:

»Vordem hattet Ihr keine Liebe. Denn Ihr hattet kein Leben. Ich sage aber: Liebe – die so wenig zu tun hat mit Lust wie –«

»Wie der Tod, Mylord«, ergänzte Hick.

»So ist es. Nun das Ereignis – das Euer Leben bewegt hat. Hick, habt Ihr mir damals nicht von Eurer Schwester erzählt, die Ihr liebhattet? Und wie sie zerstört worden ist?

Damals ist Euer Leben stehengeblieben. Und wie Ihr es, Hick – wie Ihr es noch einmal getan habt –«

»Ich habe es noch einmal getan?« sagte Hick stumpf.

»– da ist es lebendig geworden.«

»Noch einmal – noch einmal …«

Er hatte sich aufgerichtet, saß nun grade da und bewegte sich nicht. Langsam fing die Erkenntnis zu dämmern an. Während die Schauder des Lebens durch seine Augen liefen, daß die Blicke haltlos umherflogen, hatten seine Züge die Starrheit wieder, und dem alten Mann begann ängstlich zu werden, da auch keine Spur von Farbe mehr in dem grauen Gesicht war und die Erstarrung auch die Augen ergriff und kein Ende nahm.

»Hick, nun wacht auf!« mahnte er endlich und stieß ihn leicht mit dem Stock an. Endlich kam dann Bewegung in das hölzerne Bild, sein Mund lächelte auf eine zugleich edle und hilflose Weise, er bewegte den Kopf und sagte gleichsam nachsichtig:

»Das kann wohl nicht sein, wie es aussieht.«

Er stand auf und ging an das Fenster, legte seine Hände auf das Holz und beugte sich; es sah aus, als ob er es küssen wollte.

»Ich habe sie zerstört«, sagte er. »Ich habe sie auf das Schafott gebracht. Ich hätte sie beinah getötet.

Es kann nicht sein«, sagte er. »Dazu kann Gott einen Menschen nicht mißbrauchen.«

»Das Mädchen meinst du? Mißbrauchen? Damit du nun erlöst bist!«

Hick erwiderte nichts; er machte in seiner Hilflosigkeit wieder die Bewegung, als wollte er küssen; Cromwell hinter ihm sagte:

»Es kann wohl nicht anders geschehn. Wenn Gott einen Menschen erlösen will, dann muß ein Mensch ihn erlösen.

Übrigens, mein Lieber«, sagte er mit einer zarten Scham in den Augen, »er hat seinen eigenen Sohn auch mißbraucht, daß er ein Mensch wurde – und wer bist du?«

»Wer ist sie, wollt Ihr sagen. Und ich sage Euch, Sir –«

»Daß sie ein Engel ist – das braucht Ihr mir nicht zu sagen. Meine Tochter ist auch ein Engel – jedem der seine – ich will nun gehen und sehn, ob sie aufgewacht ist.«

Er bereitete sich zum Aufstehn, sagte aber dann, Hick habe ihn noch nicht wissen lassen, warum er zu ihm gekommen sei.

Der schien das letzte indes nicht gehört zu haben. Er wendete sich vom Fenster ab, ging zur Tür hin, faßte den Pfosten an und senkte den Kopf dagegen. »Hat sie sich darum so gewehrt?« sagte er. »Warum hat sie sich so gewehrt? Denn sonst hätte ich keine Gewalt gebraucht.«

Er verstummte, richtete sich dann wieder grade und bat um Entschuldigung für seine Unhöflichkeit.

»Was Eure letzte Frage angeht, Mylord«, sagte er mit wiedergewonnener Fassung, »so habt Ihr selbst sie schon vorher beantwortet. Ich kann nicht sagen, warum ich zu Euch kam. Es hat mich hergetrieben – und ich verdanke mein Leben Euch.

Ihr wart aber der einzige Mensch, zu dem ich von meiner Schwester gesprochen habe; und da ich es nicht vermochte, diese zwei Stücke meines Lebens zusammenzufügen, so mußte ich wohl zu Euch kommen, damit Ihr es tut.

Und jetzt ist es mir, Mylord – als hätte einer zwei Gefäße in Stücke geschlagen, und ein andrer hätte aus ihnen ein einziges zusammengesetzt.«

Cromwell nickte und stand auf und ging an das offene Fenster. Der Himmel war rein geworden, und es begann Abend zu werden. Ganz zur Rechten funkelte die rote Goldscheibe der Sonne durch Wolkenbänke und das noch leichte Laubwerk der Bäume. Die Baumgruppen vor dem Schloß warfen lange Schatten auf den geröteten Rasen, ebenso die grasenden Rinder; Luft und Himmel waren mit schwebendem Licht erfüllt.

Nachdem sie beide eine Zeitlang schweigend hinausgeblickt hatten, sah der Lord-Protektor von der Seite zu dem viel größeren Mann auf; sein einer Mundwinkel verzog sich zu einer leisen Verschlagenheit, und er sagte:

»Nun, Oberst Hick – vor fünf Jahren habe ich Euch selbst nach Deutschland geschickt; nun sage ich Euch, daß Ihr in England bleiben könnt –« Er hielt inne.

»Falls Ihr glauben solltet«, fuhr er fort, »daß Zerstörtes nicht wieder heil wird. Ich will dann Euren Rang bestätigen und Euch ein Regiment geben, oder ich ziehe es vor, Euch bei meiner Person zu behalten.

Ich erinnere mich Eures guten Gedächtnisses«, schloß er wie mit einer Verlockung.

James Hick erwiderte, nachdem er Atem geschöpft hatte, diese Ehre sei zu groß, als daß er sie abschlagen könnte; indes –

»Euer Eid? Habt Ihr auf Stuart geschworen?«

»Stuart nicht, nur Karl.«

»Dem ersten oder dem zweiten auch?«

»Nicht ausdrücklich, Mylord.«

»Also dann, Oberst?«

»Ich bin ein Gefangener in Deutschland«, sagte Hick.

Cromwell lachte und versetzte, er sehe ihn vor sich stehen! Als James darauf erwiderte, er habe sein Wort gegeben, daß er zurückkomme, wurde er ungeduldig, sagte, so solle er gehen, aber wenn er einen Protektor gefunden habe, der ihm mit Ehrenwort forthalf, so finde er wohl einen, der es ohne das tue; worauf Hick höflich lächelte und sagte, er habe die Feile noch.

Alsdann klopfte Cromwell ihm auf die Schulter und war zur Tür gegangen, ehe der Oberst noch in geziemender Haltung sich aufgestellt hatte. Er ließ sich dann wieder in das Fenster hin und blieb dort, bis ein Offizier in der Tür erschien und ihn fortschickte.

 

Unauflösliches, wer löst es?

Es wurde Juni, bis James Hick sich der Behörde in Lemgo als Zurückgekehrter meldete, da die Reise zu Pferd und zu Schiff wochenlang dauerte. Er wurde zur Strafe für sein Ausbrechen eine Woche lang oben in den Turm gesperrt, durfte aber dann seine Arbeit als Gehilfe des Totengräbers wieder aufnehmen.

Der Freiherr fand ihn in dem hinteren Teil des Friedhofs, wo Hingerichtete, Selbstmörder und ungetaufte Kinder begraben wurden, ein wüster Platz, auf dem zwischen hohem Unkraut und Buschwerk Grabstellen kaum sichtbar waren. Der Gräbergreis hatte den Freiherrn dorthin gewiesen, nachdem er geschwätzig erklärt hatte, der Platz solle jetzt für gute Gräber verwandt werden, da der Friedhof nicht mehr ausreiche, und die ferneren Leichen dieser unfrommen Art außerhalb der Mauer bestattet.

James Hick lag dort auf dem Rücken im hohen Gras, nur mit Hemd und Hose bekleidet – der Tag war glühend warm –, einen Spaten neben sich, die Augen geschlossen, und sah erst auf, als der Freiherr vor ihm stand und ihn mit seinem Schatten bedeckte, worauf er sich aufsetzte. Er kaute an einem Grashalm, in seinen Augen war stumpfe Gleichgültigkeit, und er blickte kaum hoch, als der Freiherr mit Bitterkeit sagte, er habe nicht erwartet, Hick wiederzusehn.

Der erwiderte erst nur mit einem fast verächtlichen Aufblicken, fragte aber dann, warum er ihm sein Wort abgenommen habe; ohne das wäre er vielleicht fortgeblieben.

Nun ja, der Mensch tue jetzt dies und jetzt das, wie er es eben für gut halte, versetzte der Freiherr, und darauf Hick, er verstehe auch, daß der andre ihn nicht mehr zu sehn liebe, worauf der Freiherr fast hitzig: er gäbe sein letztes Auge, wenn er ihn niemals gesehn hätte. Darauf erhob sich Hick, ging zu seiner Jacke, die im Grase lag, und nahm das Terzerol darunter hervor, das ihm der Freiherr am Morgen gegeben hatte, als er sich nach Jannas Hinrichtung hatte entleiben wollen, warf es ihm vor die Füße und sagte, er könne es tun, wenn es ihn zufriedenstelle.

Ja, das könne er gern – aber warum er es nicht selber tue?

Hick versetzte, er habe noch eben geschwankt zwischen diesem Wege und dem zu einem Regimentskommando in England, das Cromwell ihm angeboten.

»Hättet Ihr es nur gleich angenommen! Die Lemgoer würden nach Euch nicht gekräht haben, und sonst liebt Euch keiner zu sehen, das will ich Euch endlich sagen.«

Hick in verzweifelter Wut rief, nun habe er es gesagt, und nun könnte er gehen! und warf sich wieder ins Gras hin. Aber der Freiherr hatte noch immer Gift in sich, setzte sich auf einen halbversunkenen Stein in der Nähe, und da er längs der Mauer einen Streifen des Erdbodens ausgehoben sah, wo die gelbe Lehmerde glänzte, fragte er, ob Hick angefangen habe, sein Grab zu schaufeln, worauf er keine Antwort erhielt, außer daß Hick sich auf den Leib herumwarf und den Kopf unter sich zu ziehen versuchte.

Danach herrschte lange Zeit Stille, ausgenommen das Gezwitscher der Kohlmeisen und das endlose Tirilieren einer Feldlerche hoch oben in der brennenden Bläue des Sommerhimmels.

 

»Es ist nun wohl aus mit uns allen«, sagte der Freiherr endlich und machte eine Bewegung zum Aufstehn, blieb indes sitzen und fragte nach ein paar Sekunden, ob Hick ihm sonst nichts zu berichten habe als das Angebot Cromwells. Darauf verlangte dieser, zuerst von Janna zu hören, und nun brach es hervor aus dem alten Mann: ausgelöscht, abgestorben, kein Funke von Leben mehr! Ja, ihr körperliches Befinden habe sich gebessert, der Husten sei endlich fort, sie helfe ihm auch bei seiner Arbeit im Garten, habe sogar wieder zu plaudern angefangen. Doch er habe wohl Augen und sehe, innen in ihr sei's todstill. Die Deuterlein habe gut reden – eine Stille des Wartens, und: unzerstörbarer Kern – und: nun könne es nur besser werden. »Aber dies Lächeln – wenn ich dies Lächeln sehe! Die Augen wollen mir auslaufen. Wie eine Blüte an einem vertrockneten Baum, und die auch nur zum Abfallen. Ohne Augen – immerfort ohne Augen! Und aller Reiz hin, mager, alt und häßlich, Ihr würdet sie nicht erkennen.«

»Unter tausend«, sagte Hick, »unter tausend.«

»Ach, Prahlerei! Nun ist es zu spät für Liebe!«

»Gebt Ihr mir noch Gift zu trinken?« fragte Hick beinah lallend.

»Was soll ich tun, was soll ich tun? Einmal habe ich Euren Namen ausgesprochen, daß Ihr es wißt –«

»So alt«, brüllte Hick, »und toll wie ein Märzhase! Was ist geschehn?«

»Sie ist fast wieder vom Stuhl gefallen – saß da wie eine Leiche.«

»Und dann? Und dann?«

»Dann ist sie hinausgegangen.« In seiner Verzweiflung erklärte der Freiherr weiter, wie er es mit Vorsicht versucht habe, das Schachspiel aufgestellt und sich freundlich beklagt, daß er nun niemand mehr zum Spielen habe, weder James Hick noch sie.

Ob sie auch nicht mehr mit ihm spiele? fragte Hick, und der Freiherr versetzte, eben nein, sie habe sich geweigert, er verstehe das nicht.

Eine Weile verging, ehe James Hick sagte, er verstehe es wohl, und anfing zu berichten, wie seine Begegnung mit Janna in England damals verlaufen war.

»Dann freilich«, sagte der Freiherr, »dann ist das auch klar. Wenn sogar das Schachspiel sie entsetzt – dann macht Euch nur fort nach England.«

Dies erweckte indes in ihm wieder die Erinnerung an Cromwell, und da er nach ihm fragte, fing Hick an und berichtete alles, was ihm widerfahren war und was er erfahren hatte.

 

Als er zu Ende war, sprang der alte Mann auf, lief hin und her, seinen Stock neben sich aufstoßend, und rief in Verzweiflung, wie er auch das noch begreifen solle! Sie habe dann ihn erlöst und sei selber dafür zerstört worden.

»She?« schrie James, »she has done it? Sie hat nichts getan, begreift Ihr das nicht? Horrid!« sagte er, »horrid!« und sie sei nur das Mittel gewesen, nur ein Opferlamm, und das sei's, was ihn umbringe. »Sie hat nichts gewußt – ich habe nichts gewußt –«

»Ein Opferlamm?« sagte der Freiherr, »aber das paßt gar nicht zu Janna«, während James am Boden lag und sich Gras in den Mund stopfte. Er war nachdenklich geworden, und auf einmal überkam ihn Erinnerung und Erleuchtung. »Sie hat nichts gewußt?« wiederholte er leise. »Doch, sie hat etwas gewußt. Die Deuterlein hat mir gesagt – sie habe etwas gewußt – und davon war sie glückselig.« Seine Gedanken überschlugen sich innen, er stand auf und setzte sich wieder.

»Und«, fuhr er fort, »zu mir hat sie etwas gesagt – ich habe es nicht verstanden, doch ich habe es behalten. Dafür – sagte sie – dafür wäre ich auch gestorben.«

Hick sah auf, fragend: »Wofür?«

»Für ein einziges Lächeln – sagte sie – in dieser unmenschlichen Strenge.«

Hicks Blick fiel auf den Boden. Er stemmte sich langsam auf seinen Armen hoch, seine Brust dehnte sich vor, höher und höher, und blieb so.

Dann sah er den Spaten liegen und stand auf, ging zu ihm hin und nahm ihn, stand noch eine Weile und schritt dann nach dem Streifen der umgegrabenen Erde hin, bückte sich, stieß den Spaten ein und fing an zu graben.

Ob das bedeuten solle, daß er nicht nach England gehe? fragte der Freiherr nach einer Weile. Hick grub erst weiter, hörte dann auf, blieb aber gebückt, indem er sich seitwärts drehte und sagte:

»Es steht im Buch Ruth; Ihr könnt selbst lesen.«

Darauf fuhr er in seiner Arbeit fort.

Der Freiherr war indes in der Bibel bewandert genug, daß er die Verse auswendig wußte, wenn auch nicht lückenlos und korrekt, die süßen und strengen, die lächelnd ernsten Verse, die ihn dann nicht wieder verließen, während er seines Weges zu Pea Deuterlein ging, der er von James zu berichten gedachte:

»Rede mir nicht darein, daß ich dich verlassen sollte und von dir umkehren.

Wo du hingehst, da will ich auch hingehn; wo du bleibst, bleibe ich auch, dein Volk ist mein Volk.

Wo du stirbst, sterbe ich auch – da will ich auch begraben werden.«

 

Das letzte Kapitel

Am letzten Junitage, als der Freiherr und Janna in dem dreifenstrigen kleinen Eßsaal ihr Mittagsmahl einnahmen, sagte er in beiläufiger Weise, heut wäre sein Geburtstag. Janna, die eben eine Schüssel mit Erdbeeren zum Nachtisch vor ihn hingestellt hatte, legte ihre Hand auf die seine – die er sogleich an seine Lippen zog – und erwiderte, es sei gehässig von ihm, das erst jetzt zu sagen; sie hätte sonst etwas Besondres gekocht und ein fröhlicheres Kleid angezogen. Das sie anhatte, war schwarz, und er versetzte, sie wisse doch, daß Schwarz sie am besten kleide, so habe sie es grade getroffen – was durchaus nicht mehr der Wahrheit entsprach; denn ihr Gesicht war jetzt durch die tote Farbe nur grauer trotz der zwei runden roten Flecken unter den unsichtbaren Augen, mager und klein, wie es war. Ihr Haar hatte zwar die Länge wieder, in der sie es früher zu tragen pflegte, nicht ganz auf die Schultern reichend, aber sie hatte es von der Stirn glatt zurückgekämmt und hinten mit einem schwarzen Samtband zusammengebunden, was die Hagerkeit des Gesichts nur erhöhte, und es war ohne Schimmer.

»Fünfundsiebenzig«, sagte er nach einer Weile ausdrucksvoll, eine große Erdbeere in den Mund schiebend, worauf sie die Schüssel an sich zog, zu zählen begann und dann sagte, so viel wären es nicht, doch sie könnte noch mehr holen.

Sie könnte ihm aber, hörte sie ihn nach einer kleinen Weile sagen, auf andere Art eine Freude machen – nämlich –

»Nämlich? Sprich doch, Lieber, jede, die du willst.«

»Wieder einmal Schach mit mir spielen.«

Einige Sekunden lang herrschte Stille; er hob seine Hände und rückte an seiner Augenbinde; dann erwiderte sie, o ja, gern, wenn es ihm Freude mache. Und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Verzeih mir, ich sollte wissen, daß es dich freut – bitte, verzeih mir!«

Sie konnte seinen erst erschreckten, dann erleichterten Blick nicht sehn; bald darauf fragte sie, ob er genug habe, erhob sich, um die Teller zu nehmen, und sagte, sie würde dann gleich in sein Zimmer kommen, sobald sie mit dem Geschirrsäubern fertig sei. Die Magd pflegte das Spülen, sie selbst das Abtrocknen und Blankputzen zu besorgen.

 

»Wo bist du denn?« rief sie von der Tür her, als sie eine halbe Stunde später sein Zimmer betrat, und hörte ihn vom Fenster her antworten, blieb aber noch Augenblicke lang stehn, als ob sie etwas erwartete, das Gesicht leicht erhoben. Denn sie hatte inzwischen ihr Haar in der alten Weise geordnet, so daß es auf die Schultern fiel, mit Locken an den Schläfen und auch der tiefliegenden über der Stirn – freilich ohne zu ahnen, daß es sie keineswegs verschönte, sondern bei der hageren Altheit ihres Gesichts fast gespenstisch aussah. So ging sie denn um den Tisch in der Mitte zu dem breiten Fenster hin, dessen drei Flügel offen standen. Die Nachmittagssonne strömte herein, und ihr Haar schimmerte auf, als sie sich an den kleinen Tisch setzte, auf dem das Spielbrett stand und an dessen anderer Seite der Freiherr schon saß. Die Luft draußen war angefüllt von Vogelgesang und Gezwitscher, und eine Schwalbe kam hereingeschossen, hing flügelschlagend und laut schreiend unter der Deckenwölbung und schoß wieder ins Freie, über die Baumwipfel empor. Die Figuren waren schon aufgestellt, und der Freiherr sagte scherzend, da sie schwarz sei, habe er ihr Schwarz gegeben. Sie lächelte und nickte, die Augen auf die Figuren gesenkt, schob an dieser und jener, daß sie genauer standen, und wartete, daß er anfinge.

Danach vergingen einige Sekunden; dann kam eine große fremde Hand über den weißen Steinen zum Vorschein, ergriff einen Springer und setzte ihn auf das Brett.

Janna fuhr wild zusammen und schlug ihre Augen auf.

Was sie sah, war nicht der alte Mann gegenüber und sein geängstetes Auge, der im nächsten Augenblick aufstand und sich entfernte, sondern der, der sich aus seiner Höhe über die Rücklehne des Stuhls herüberbog – mit einem Gesicht, das von Angst verzerrt war – doch nur noch sekundenlang. Dann fing es an, sich zu glätten, sie sah, wie es sich bewegte, die Brauen sich bogen und zuckten, Angst und Hoffnung, Schmerz und Liebe noch eine Weile im Kampf lagen, bis eine tiefe, samtene Ruhe eintrat.

Danach war nur die Stille ihres Anschauens – mit dem Blick, der zurück in einen ersten Blick mündete und nun kein Ende nahm.

Ihre Lippen bewegten sich endlich und bildeten seinen Namen; erst unhörbar – dann wurde es hörbar: »James –

Ich habe es gewußt!« sagte sie, und ihr ganzes Gesicht war golden. Ihr ganzes Gesicht, überströmt von der Flut aus den Augen, war verwandelt vom Blick der Liebe, hatte all seine Süße wieder und blühte, duftete, glänzte, es lächelte und es lachte, weinte, leuchtete – es war so zauberhaft schön, wie es niemals gewesen war.

Die Sommerluft klang; Bäume rauschten; Wolkenschatten glitten herein und entschwebten, das goldene Licht kam wieder, und die Stunde verrann, wo die Geretteten saßen an ihrem Ufer, sich anschauend ohne Zeit, mit dem Blick, der nicht ihr Blick war, nicht Blick war, sondern Licht, das allein Unwandelbare, das von Anfang her war: das erste Lächeln Gottes, als der Schmerz der Schöpfung nachließ.

 

Später, als es Abend geworden war, der alte Mann seinen Anteil bekommen hatte und sie wieder allein waren; sie ihn vor sich knien hatte, seinen Kopf in den Armen, Mund oder Wange auf seinem Haar; und als sie seine Beteuerungen hörte, wie er morgens und abends, jahraus und jahrein ihr Bild vor sich gesehn hatte; und als er dann nach ihr fragte, begierig, das gleiche aus ihrem Munde zu hören: »Und du, Janna, du?« erhielt er erst keine Antwort.

»Ich?« sagte sie dann, »o James, ich war jeden Abend so traurig, wenn ich zu Bett ging –«

»Warst du? Warst du?« fragte er süß beglückt.

»Ja. – Daß du niemals«, schluchzte sie, von Erinnerung übermannt, »niemals sehen würdest, wie ich mir das Haar bürste.«

 


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