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Erster Teil

 

1649

Sechzehnhundertneunundvierzig – das ist das Jahr; und ein Wintertag ist es, in London, der Nebelstadt, fast der Nacht gleich, düster von Rauch und Nebel.

Nun – wenn die Nacht der Jahrhundertferne und des Wintertages sich vor unseren Augen zu erhellen beginnt, sind es die Lichter von Kerzen, oder von Wachsfackeln, die da und dort, entfernt voneinander in ihren rötlichen Dunsthöfen brennen. Nun erkennen wir einen Raum von ungeheurer Länge, dessen gotische Wölbung hoch oben kaum sichtbar ist. Unten ist ein stilles Gewühl von dunklen Menschen zu sehen, Köpfe an Köpfe gedrängt, blinkende Helme und breitkrempige Hüte, die sich bewegen. Das ist die Armee – Offiziere und Mannschaften der puritanischen Revolutionsarmee –, die nach sieben Jahren siegreicher Schlachten hierher gelangt ist, Zuschauer zu sein bei einer Tragödie, wie das Volk von England sie bis dahin niemals gesehen hatte, dem Gericht des Volkes über seinen König. Aber auch Bürger sind zahlreich darunter gemengt, auch ihre Frauen und Töchter. Diese Gesichter – es sind nicht unsre Gesichter, besonders die männlichen nicht, mit ihren spitzen Kinnbärten oder aufgebürsteten Schnurrbärten und Bartfliegen am Kinn. Und anders sind ihre Züge, so wie ihre Hüte, ihre Waffenröcke und Schärpen und die Hellebarden der Konstabler.

Am Ende der langen Halle – es ist die Halle von Westminster – steht in riesiger Größe das einzige Fenster mit gotischem Spitzbogen, nur schwach in seinen düsteren braunen, violetten und blutroten Farben glühend. Auf der Estrade darunter sitzen hinter einem langen Tisch die Richter, zwanzig und mehr, schwarzgekleidete Puritaner, ein jeder angeleuchtet vom Schein einer vor ihm stehenden Kerze. Ihre streng und traurig blickenden Gesichter über den gleichen, weißleinenen Schulterkragen sind nach unten gerichtet, wo im freien Raum zwischen der Estrade und den Schranken der Zuschauermenge und den Hellebardieren davor Einer steht, völlig allein. Dieser allein ist farbig als Kavalier gekleidet, in blauen Samt, mit gelben Stiefeln und einem Straußfederhut auf dem Kopf. Mit diesem Hut auf seinem Kopfe bezeugt er, was er heute noch ist, König von England, Karl I. von Stuart.

Hier steht er vor seinen Richtern. Es ist der sechste und letzte Tag. Eintönig in dem ausgebreiteten Schweigen der großen Masse schallt die einsame Stimme des Vorsitzenden, Sir John Bradshaws, der dem Beklagten die Unzahl seiner Vergehen gegen das englische Volk von einem Blatt nach dem andern vorliest. Mitunter eine Pause – und die leichte, heiser gewordene Stimme des verfallenen Stuart, der ein paar Worte der Ablehnung einflicht – und wieder das furchtbare Schweigen der Vielen, die Stille des immer näher kommenden Todes.

 

Karl I. stand vor seinen Richtern, die ihn des Todes schuldig erkannten. Wie war er hierher gelangt? Es hat seit der Bill of Rights im Jahr 29 zwei Jahrzehnte gedauert, aber mitgeteilt ist es in wenigen Sätzen.

Karl war ein schöner Mann, und er liebte, was schön ist, die Musik, Frauen, die Malerei. Infolgedessen war er sehr fehlerhaft und verfiel in den tiefen Irrtum, das Volk von England ganz allein regieren zu können. Und das Volk war geduldig wie alle Völker, elf Jahre lang ohne Parlament, bis es dann in die große Empörung ausbrach. Die Flamme der puritanischen Freiheit flog über das Land, mit dem Schrei nach Reinigung – der Herzen, des Staats, der Seelen, der evangelischen Lehre. Und das Feuer des Bürgerkriegs gebar einen eisernen Mann, den Pächterssohn Oliver Cromwell; er kam von unten herauf, ein gerader, ländlicher, gerechter und ruhmloser Mann bis dahin, ein friedfertiger Bürger, doch zu starken Entwickelungen fähig. Er hatte das klare Auge, zu sehen, was da war und was nicht da war; und das erste, was nicht da war, war Reiterei. Karl und seine Kavaliere hatten sie, aber nicht das Volk. Cromwell gründete eine neue Art Kavallerie, die er »Eisenseiten« taufte. Sie bestand aus »gottseligen Männern«, Bürgern, die keine unwissenden, tollkühnen Jünglinge waren, sondern eine Landwehr, ein Landsturm, reife, beweibte Männer, aus den Pachthöfen, Amtsstuben, Werkstätten, Kontoren. Er beseelte sie mit seinem Geist, der wie Gideons war, mit dem er glaubte und sagte: »Wer angreift, der siegt.« Also griff er an, unter allen Umständen griff er an; und dann siegte er – einmal und noch einmal, und Karl floh nach Schottland. Denn er hatte das nicht. Er hatte Ruprecht von der Pfalz, einen deutschen Herrn, tapfer genug; aber er focht nur für Karl, nicht für England. Die kalvinischen Schotten lieferten Karl an das englische Parlament, und er konnte noch hoffen, auf die Spaltung zwischen den Gemäßigten und den Radikalen, Presbyterianern und Independenten. Allein diese siegten, von Cromwell geführt, abermals; er trieb die Presbyterianer aus dem Parlament, ließ nur einen Rumpf übrig, dessen Kopf er selber war – und der Karls mußte fallen. Cromwell selber setzte das Gericht gegen ihn ein, und – daß er in den späteren Jahren England zur europäischen Großmacht erhob, hat England ihm vergessen; dies hat es ihm nicht vergessen.

 

Nun also stand er dort, klein in seiner Vereinsamung, eine Hand auf der hohen Lehne des Sessels, der ihm gegönnt worden war, im Schein des Armleuchters auf einem kleinen Tisch voller Papiere, von Dunkel umringt und unter der dunklen Wolke, die fast sichtbar sich über ihn senkte, der Wolke des Zeitgeists, die aus den tausend Mündern der Masse nach oben dampfte und unter dem Deckengewölbe ihren Leib immer gewittriger dehnte, schütternd von Schlachten, Marston Mor, Naseby, Preston, von niederprasselnden Festungen, Feuersbrünsten, Reiterattacken und blutigen Schreien.

Während aber dieses Geschehen den mächtigen Raum erfüllte, war Zeit genug, daß etwas ganz anderes vor sich ging; während der Tod langsam nahte, ging unbekümmert und unbewußt eine zarte Blüte des Lebens auf. Und während die Entscheidung über einen König und ein ganzes Volk sich die Zeit nahm, sich stundenlang in die Länge zu dehnen, fiel eine andre Entscheidung beinahe in einem Augenblick. Aus der kompakten Schicksalsmasse der Volksmenge lösten sich zwei heraus, um eben da, wo ein Leben zu Ende ging, ihr eigenes anzufangen.

Ein junges Mädchen – siebzehn Jahre alt nach ihrem Aussehn, also vermutlich jünger – stand an der Wand der Halle in der Nähe der Schranken und über die Menge erhöht auf einer niedrigen Holzbank, die unter der Wand einherlief, die aber außer ihr niemand zu benutzen wagte, um sich selbst in unangemessener Weise zu erhöhen. Dabei war sie nicht eben klein, aber schmal von Gestalt, fast schmächtig, im puritanischen Kleid von grauem Wollstoff, dessen Rock faltig fiel; Schultern und Brust bedeckte der allgemein übliche weiße Kragen, doch aus feinem Batist und mit schmaler Spitze gesäumt. Sie stand hell genug im Schein einer nahen Wandfackel, hielt ihren Hut in einer herabhängenden Hand und zeigte daher ihr schönes, kräftig gelocktes Haar von kastanienbrauner Farbe, das in vollen Wellen überall auf die Schultern herabfiel; eine einzelne große Locke war unpuritanisch und wirkungsvoll in die Stirn bis fast auf die schwarze Braue gelegt. Das Mädchen war keine Schönheit; aber sie hatte Ersatz dafür. Ihre Nase war nicht nur stark gekrümmt, sondern außerdem etwas schief gebogen. Aber ihre hellbraunen, goldhaltigen Augen strahlten; und die blühende Farbe der sehr zartweichen Wangen, das schöne Gelock, ein lieblicher feuchter Mund – und dazu diese Art, wie die Augen unter dem gesenkten Vorhang der schweren Locke hervorblickten: das alles hauchte für solche, die Augen dafür hatten, einen solchen Zauber von Weiblichkeit aus, wie die Lebensessenz einer Blume ihren Duft. Ein junger Londoner Kaufmannssohn, der dicht unter ihr stand, hatte die Augen dafür sichtlich in solchem Maß, daß er sie nicht davon abwenden konnte. Er hielt seinen Hut an die flache Brust gedrückt, als wäre er in der Kirche, den sehr blonden Kopf erhoben, und sandte wieder und wieder einen Blick von solcher inbrunstvollen Ergebenheit zu ihr empor – wonach er die Augen schloß –, als ob er sein Inneres aus der quellenden Fülle bis zum Rand angefüllt hätte und sie nun in sich gekehrt schlürfte. Jedoch dieser Jüngling mit seinem rührenden Seelchen wurde von dem Mädchen nicht wahrgenommen und daher weder für sie noch für ihn noch für uns von Bedeutung.

Ihr Gesicht war zur Seite gewandt, auf den König blickend. Der spitzbärtige Stuart – mit schweren Liddeckeln über den dunklen Augen – hatte lederne Stulphandschuh in der einen Hand, fahlgelb wie die sonderbaren Stiefel an seinen Beinen, die bereits in der Mitte der Unterschenkel sich zu unförmigen Trichtern öffneten. Die langen Klöppelspitzen seiner Hosen hingen in sie hinein, Hosen von hellblauem Samt wie das zierliche Jäckchen, das kaum Schultern und Arme über dem blusigen Hemd bedeckte. Und das Taschentuch, das er zuweilen brauchte, wechselte öfters seinen Platz zwischen einer Stulpe im Handschuh und einer der Stiefel; und einmal fiel es zu Boden.

Der König merkte es nicht, und auch sonst hatte wohl niemand des kleinen weißen Falles acht, ausgenommen das Mädchen und einen Mann von beträchtlicher Größe vorn an der Schranke, auf die er seinen großen befiederten Offiziershut gelegt hatte. Nach wenigen Augenblicken nämlich wendeten beide zugleich ihr Gesicht, sich umschauend, so wie manche Menschen es unwillkürlich tun, wenn sie etwas Auffälliges bemerken und sich vergewissern wollen, ob sonst jemand es wahrnahm. Die Folge war, daß beider Augen einander begegneten; und die weitere Folge, daß ihre Blicke ineinander festhingen, nur sekundenlang; dann flogen sie zur Seite; beider Gesichter wandten sich wieder.

Was der Mann gesehen hatte, das wissen wir. Das Mädchen indes hatte in zwei männliche Augen von dunkler und ernster Stille gesehen; und sie hatte darin etwas gesehen – etwas – das für keinen Menschen sichtbar war außer für sie; und doch war es nichts als der Blick aus dem Gesicht eines Mannes, das groß, braun und eine unbewegliche Fläche war. Danach dauerte es keine halbe Minute, bis beide zugleich sich nacheinander umwandten und sich ansahen, wobei ihr Gesicht sich ein wenig emporhob und ihre Oberlippe kaum merklich bebte. Dann sahen sie rasch wieder fort.

Nichts war geschehen als dieses Anblicken, und alles war entschieden. Keiner der beiden wußte es. Doch eine Minute später hatte die Hand einer unsichtbaren Macht den eben gesponnenen Faden ergriffen und durchgerissen.

Denn jetzt bemerkte der König das Fehlen seines Tuches, blickte zu Boden, sah es liegen – und bewegte seinen Kopf zur Achsel, zu seiner höfischen Umgebung: ob da keiner zuspringe, ihm sein Tuch aufzuheben.

Allein da war niemand.

Da lag es, ein Taschentuch – schwer wie ein Kopf. Es war gefallen – und niemand hob es auf; ein sehr leichtes Zeichen für einen schweren Fall.

Diesmal jedoch hatte der Blick des Königs, als er ihn zurücknahm, in den des großen Mannes getroffen. Der legte sogleich ein Bein über die Schranke, schwang sich hinüber, durchmaß die geringe Entfernung mit drei ruhigen Schritten, hob, ein Knie beugend, das Tuch auf und reichte es kniend dem König, indem er sagte: »Sire, Euer Taschentuch.« Der König nahm es und nickte. Der Offizier ging zur Schranke zurück, und der Vorfall hatte sich so selbstverständlich abgespielt, daß weder vom Richtertisch noch von den Konstablern jemand hatte eingreifen können, die vor den Schranken standen. Sir John Bradshaw hörte mit Lesen nicht auf. Von den Richtern bewegte sich keiner. In eine geschehene Sache nachträglich einzugreifen, wäre nicht englisch gewesen; und dieser augenscheinlich königstreue Mann war vermutlich nicht der einzige seiner Art in der Halle.

Er indes mußte es für besser halten, sich still zu entfernen, und die Menge nahm ihn in sich auf. Er hatte noch einen Blick dorthin geworfen, wo das Mädchen stand; aber sie war nicht mehr dort. Sie war in dem Augenblick, wo er zu den Schranken zurückkehrte, in die Tiefe geglitten und saß, von den vor ihr Stehenden verborgen, auf der Bank, die sie neben sich mit den Händen faßte, und hielt ihren Kopf gesenkt.

Sir John Bradshaws Stimme tönte gleichmäßig weiter. Karl betupfte seine Lippen mit dem Tuch, runzelte die Stirn und schlug einen Fuß über den andern. Noch konnte er Hände und Füße, Stirnfalten und Lippen bewegen; und doch lag schon vor diesen Füßen sein armer, blutloser Kopf, und ein fremder, schrecklicher Mensch hob ihn auf.

Die beiden aber, die erst das kleine Tuch und dann sich selber gesehn hatten, gingen ein jeder in sein Leben hinein – ein Mann und ein Mädchen wie unzählige, jedoch – das Geschick von England hatte sich in das ihre hineingezwängt; und wer ist's, der das Unauflösliche auflöst? Unsere Geschichte wird auf die Frage die Antwort erteilen.

 

Heranziehendes Gewitter

Sind uns nun diese beiden im Dunkel der Menschenmenge verschwunden, so kann nun auch diese Menge und der ganze Raum mit den Richtern und dem König wieder in die Nacht sich auflösen, aus der wir ihn emporhoben. Nun fliegt der Vorhang der Finsternis wieder auf, es wird heller, es wird ganz hell. Der Glanz eines Sommertages – fast blendet er jetzt unsre Augen gegen das Düster vorher. Und nun, da sie das Licht ertragen, erkennen wir: das grelle Licht ist verhangen. Irgendwo scheint der Himmel zu blauen – was hindert uns, ihn zu sehen?

Das ist ein hoher Kutschbock, und oben darüber die beiden grau bekleideten Rücken von Lenker und Lakai, die da abgewandt thronen. Wir fahren – wir befinden uns in einer offenen, langsam rollenden Reisekarosse, aus der heraus wir zur Linken und Rechten Wiesen vorbeiziehen sehen, weiße Birkenstämme, dahinter nur weites Grün, abendlich glühend, mit Kopfweiden an Bachufern, mit niedrigen Hecken, allerseits flaches, grünendes, englisches Land.

Dazu das Knirschen von Huftritten, das lange Ächzen der Räder im Straßensand. Der Kutschbau, in gewaltigen Riemen schwebend, schaukelt uns leise, es riecht stark nach Leder und Pferden. Wir fahren – und nun sehn wir, mit wem.

Im Vordersitz gegenüber sitzen zwei junge Mädchen, fast noch Kinder, mit blonden Rosengesichtern, von der Sommerglut heiß, beide gleich blond, gleich rund und mit genau den gleichen runden und hellblauen Augen, Zwillinge ohne Zweifel. Ihre Leiblein sind vom Hals zu den Füßen in die puritanische Strenge eines immerhin glänzenden blauen Stoffes eingehüllt, mit Puffärmeln und Spitzenmanschetten, weißen Kragen bis zur Mitte der Brust und faltigen Röcken; und der einzige Schmuck ist ein dünnes Goldkreuz an schwarzer Schnur auf dem Batist des Kragens. Gegenüber im Rücksitz – aus dem wir die Anwesenheit unseres Geisterleibes jetzt sacht verziehen – sitzen zwei einander zugewandt, die auf dem Polster zwischen sich ein Schachbrett stehen haben, für die Reise geeignet, mit eingezapften Figuren. Auf dem Ehrenplatz zur Rechten blickt ein alter Mann streng auf das Spiel herab unter starken, buschigen Brauen, die weißgrau sind, wie das beiderseits auf die Schultern herabfallende, unten sich einrollende Haar und sein Bartzapfen am Kinn.

Ihm gegenüber sitzt ein Mädchen, das keiner Beschreibung bedarf, denn es ist das aus der Westminsterhalle. Daß sie inzwischen fast drei Jahre älter geworden ist, ist nicht zu erkennen, aber sie trägt jetzt ein dunkelgrünes Taftkleid, und auf dem weißen Batistkragen ein goldenes Medaillon in einem Kranz von kleinen Achatsteinen. Den Kopf zurückgelehnt, blickt sie unter den gesenkten langen und schwarzen Wimpern hinweg seitwärts auf das Brett.

Diese beiden sind still, die Zwillinge reden. Ihre guten, weichen Kindermünder sind unaufhaltsam im Gange, beide mit den ganz gleichen, hellen, ein wenig gebrochenen Stimmen, und was die eine sagt, könnte ebensogut auch die andere sagen. Weil aber die eine das eine sagt, sagt die andre das andre. Und was sie sagen, ist so:

»O Gott, nun kommt's immer näher. Hast du den Blitz gesehn, Maggie? Janna, hast du den Blitz gesehn? Eben hat es geblitzt.«

»Ich hab ihn auch gesehn«, sagt die andre, »ich habe auch Augen im Kopf, ich bin nicht blind geboren, ich sitze genau so wie du, wie gräßlich, so sitzen zu müssen und zu sehn, wie es immer näher kommt. Du, Janna, gehörst natürlich in den Rücksitz –« »Sonst könnte sie nicht schachspielen –« »Aber ich kann nicht begreifen, wie du jetzt spielen kannst. Sieh doch die Blitze!« »Da, wieder einer, o Heiland, warum fährt John nicht rascher?« »Wie soll er denn rascher fahren, Minnie, merkst du nicht, daß es bergauf geht?« »Die armen Pferde, sie tun mir schrecklich leid, sie sind schon so müde.« »Lieber Himmel, wenn wir bloß noch einen Gasthof erreichen – ob es hier Gasthäuser gibt?« »John, gibt es hier Gasthäuser?« »Wie soll John wissen, ob es hier Gasthäuser gibt, John war doch nie hier, er kennt doch nicht alle Gasthäuser in England.«

Ihr Mund hat es gesagt, ohne daß ihr Kopf es gedacht hätte; nun wird ihnen klar, daß es witzig ist, und beide Zwillingsgesichter prusten in Lachen. Janna lächelt nach unten, ohne aufzusehn. Die Räder mahlen lauter ächzend im Sand, vier Pferde sind schnaubend zu hören, es geht stärker bergan, hinter dem Wagen versinkt das Land, und dort erhebt sich der schwarze Kopf eines Reitpferdes, das angebunden hinter dem Wagen geht. Die Zwillinge starren verstummt auf die schwarzgraue Gewitterwand, die den ganzen Himmel bedeckt, an ihrem westlichen Rand noch vergoldet von der dort verschwundenen Sonne.

Auf einmal dann kam Schattenkühle umfangend von allen Seiten. Ein grün gefiederter Eschenzweig streifte herein, Waldwipfel rauschten, Waldesdunkel wölbte sich links und rechts, mächtige Fichtensäulen, die einzeln standen, braun und stumm; endlich war es so dunkel, daß die Spielenden aufsahen – Janna mit großen, fast schwarzen Augen.

Es war fast still. Waldduftende Kühle atmete süß mit Brombeerarom. Der Wagen hatte die Hügelhöhe schon erklommen, kaum hörbar auf grasigem Boden rollten die Räder, das hohe Wagengestell, schwer mit Menschen und Koffern beladen, quietschte leise, ein Vogel zirpte im Dickicht. Und alle viere blickten minutenlang stumm, von der Fremde des feierlichen Waldes ergriffen, in die Wölbungen empor, in denen hoch oben der Himmel noch blaute, während die sich senkenden Zweige der stillen Laubbäume wie leblose Hände hereinkamen und, ohne zu greifen, lautlos wieder hinwegzogen.

Zwei von diesen vieren – so saßen sie still da, ahnungslos, in den verrinnenden letzten Minuten vor ihrem Schicksal.

Denn jetzt neigte der hohe Wagenbau mit einem Ruck sich wieder vornüber. Die großen Bremsen begannen zu schrammen und laut zu kreischen, während der Wagen bergabwärts rollte mit schleifenden Hinterrädern. Lenker und Lakai auf dem Bock sahen, was die im Wagen Eingeengten nicht sehen konnten: über die nassen Rücken der vier eisengrauen Rosse hinweg – den dunklen Tunnel des Waldwegs, der sich schräg bergunter wand, und unfern darin die grüne Helle des Tors.

Und dann außerhalb – die dunkle Gestalt eines unbeweglich haltenden Reiters.

 

Männliche Erscheinung

Der Wagen – eben wieder im Freien, aber nun dunkelte es tief vom Gewitter und naher Nacht – hielt plötzlich an. Die Wiesen senkten sich noch, Grillen schrien, die Luft atmete sich wieder dick und schwer. Noch im Banne des feierlichen Waldes sagte keiner der vier ein Wort.

Nun in der Stille der Schritt eines Pferdes. Und dann kam rechts vom Wagen die Erscheinung des Reiters hervor, das Roßhaupt erst, mit schwarzer Mähne und Stirnhaar, gelbfellig an Hals und Brust; nun das ganze Tier, stämmig gebaut und mit großem, äugendem Haupt. Der Reiter saß in Bequemheit, ein Kavalier zweifellos, nicht stutzerhaft, doch köstlich gekleidet in einen langschößigen Waffenrock von braunrotem Samt, an den Säumen und vorn herunter mit zwei Finger breitem Goldband eingefaßt. Ein langer Hiebdegen hing links am hochlehnigen Sattel. Und langsam vernehmlich breitete sich ein Duft von Gewürznelken aus.

Und wie er nun auf einmal ganz da war, und wie zugleich mit dem Dunst des Rosses und dem Anhauch des Parfüms alles an ihm zu wirken begann: von lang auf die Schultern fallenden schwarzen Kräusellocken eingefaßt, ein unbeweglicher Ernst des langen und breiten Gesichts, das fahlbraun war, und blickender grauer Augen … wie die linke Hand im gelben Stulphandschuh die Zügelriemen zugleich mit dem andern Handschuh ein wenig hob: da war die Wirklichkeit dieses Mannes so alles überfüllend im Raum, daß von den drei weiblichen Augenpaaren jedes auf seine Weise erschrak.

Jedes auf seine Weise – das heißt, die Zwillinge auf ein und dieselbe, aber Janna duCoeur auf eine besondere Weise. Ihre Augenbrauen zuckten zusammen und bogen sich wieder auseinander; sonst regte sich erst nichts in ihrem Gesicht – außer daß ihre Nüstern unmerklich bebten.

Aber auch der Reiter hatte Schreck in den Augen, und sie starrten sekundenlang auf das Mädchen; sein Gesicht blieb vollkommen ohne Bewegung. Dann sah er den alten Mann an, die Zwillinge dann – und dann verneigte er sich tief, indem er die unbekleidete Rechte erhob. Danach lüftete er sich etwas vom Sitz, das Pferd machte einen Schritt, so daß – da er es zugleich wendete – sein graues Maul mit schnaubendem Atem über den Schlag in den Wagen hereinkam. Und nun saß der Reiter dicht neben dem Wagen in gleicher Höhe mit den Insassen. Er legte die Hand mit dem Handschuh darin auf den Schlag und begann zu sprechen – mit einer leichten Stimme im Plauderton.

»Gottes Segen«, sagte er, »über so viel Holdseligkeit, die ich mit Überraschung in dieser Öde erschaue.«

Er neigte noch einmal den Kopf gegen den alten Herrn hin, der eben anfangen wollte, mißmutig zu werden; indessen redeten die Zwillinge bereits abwechselnd und gleichzeitig durcheinander: »Wer seid Ihr? Wo kommt Ihr auf einmal her? Gleich wird das Gewitter aufbrechen. Warum haltet Ihr uns auf?«

Darauf erwiderte er, fast zart aus den Augen lächelnd, im gleichen Ton wie bisher:

»Myladies – o Ihr holden Myladies! Ich bin ein fahrender Ritter. Ich wünsche Euch nicht zu erschrecken – vielmehr bin ich selber erschrocken, daß Ihr in engelhafter Schutzlosigkeit durch die Öde des Abends fahret. Darum nur eine einzige Frage, sie gehört zu meinem Beruf, dieweil ich im Begriffe bin, mit Wehr und Waffen zu reiten für die Verteidigung des tausendschönen Geschlechts. Ich strecke daher meine Hand aus mit der Bitte um mildherzige Gabe. Denn Ritterdienst kostet viel Geld.«

Die Zwillinge waren nun glücklich – während Janna mit verschlossenem Blick auf sie blickte. »Edler Ritter«, antwortete sie in seinem Ton, »Ihr seid sehr freundlich. Wir sind ja froh, einem solchen Paladin zu begegnen. Aber geben können wir nichts.«

»Wie traurig«, versetzte er, »wie traurig.«

»Nämlich – wir haben nichts bei uns, und was wir bei uns haben, gehört nicht uns, sondern Janna, die da sitzt – das ist Janna duCoeur – und es ist ein Heiligtum, Herr Ritter, und darf nach dem Gesetz der Ritterschaft nicht von Euch angerührt werden.«

»Ach, Myladies, was ist denn das für ein Heiligtum, laßt es mich wissen. Denn dafür bin ich ja da, daß ich Heiligtümer in meinen Schutz nehme.«

»Oh, es ist eine Erbschaft – ihre Mitgift –« Die Kinder verwirrten sich etwas und äugten auf Janna, die aber jetzt zu dem Reiter aufsah, die Brauen genähert, mit einem leise forschenden Blick. »Janna, du könntest auch etwas sagen.« Und: »Dreitausend Pfund Sterling«, murmelte die eine ergriffen.

»Mitgift?« fragte der Reiter mit unveränderter Miene. »Oh, wer ist dieser Selige?«

»Herr Ritter, Ihr seid aber neugierig. Er wohnt weit weg, im Lande Kermannia, und wir fahren jetzt erst zu den Feierlichkeiten in London, wo doch unser himmlischer Generalleutnant zum Lord-Protektor erhoben wird. Vielen Dank also für den Schutz, aber wie Ihr seht, brauchen wir gar keinen, nicht wahr, Onkel? Und außerdem gibt es hier so nahe bei London gewiß keine Räuber und Wegelagerer –«

»Wie diesen entsetzlichen Kapitän Hick.«

»O Heiland, Minnie, sprich den Namen nicht aus!«

»Was für einen Namen, Ihr Huldreichen, und warum erschreckt Ihr?«

»Habt Ihr den Namen nicht gehört? Wißt Ihr nicht, wie er alle Richter des Königs verfolgt? Wie er Sir John alle Pferde vor dem Wagen erschossen hat? Und Herrn Peters hat er fast ausgezogen! Und allen nimmt er ihr Geld weg, alles, was sie haben.«

»Entsetzlich«, sagte der Reiter, wurde aber im Fortfahren unterbrochen durch die heisere Stimme des alten Herrn, der am Zerspringen vor Wut nun hineinfuhr: »Herr, seid Ihr endlich fertig?«

»Im Augenblick, Mylord, Oberst Knox, wenn ich nicht irre – sobald die Huld dieser schweigsamen Lady meine letzte Frage beantwortet haben wird: ob sie die Tochter von Richter duCoeur ist?«

Allein Janna gab keine Antwort, und die Zwillinge riefen: »Nein, nein, sie ist nur seine Nichte. Sie ist halb eine Deutsche, ihre Mutter ist vom Pfarrer Becker in Hamburg die Tochter, ihr Vater –«

»Er muß wohl nicht alles wissen«, sagte Janna.

»Aber wenn er uns gegen diesen abscheulichen Hick beschützen will –«

»Ahnungsloser, holder Rosenmund«, versetzte der Reiter. »Unglücklicherweise bin ich selbst dieser Hick.«

Im Wagen saß vierfach Verstummen.

 

Klingen und Blitze

Das Erstarren der beiden Kinder können wir nicht beschreiben; aber auf sie kommt es weniger ein. Jannas Gesicht war wie mit einem Schlag hager und hart und beinah häßlich geworden, die Augen, die etwas eng standen, übergroß und schwarz, die Lippen hängend, alle Süße war vergällt zu einer ältlichen Bitterkeit. Der Reiter blickte indes auf den Oberst, der zusammengefahren war. Die Zwillinge starrten mit Entsetzensaugen und spitzen weißen Nasen jetzt auf ihn, jetzt auf Janna; die hob ihre Hände zum Kopf, schob die tiefe Locke und das ganze Haar nach hinten zurück und hielt es so, hart blickend; aber aus dem Gesicht eines zarten Mädchens war das eines jungen Mannes geworden, schmal und hager und knochig.

Dann aber hatte der Oberst sich so weit erholt, daß er mit Wutblicken auf den Reiter sprechen konnte. Er mußte indes zweimal ansetzen, sein Gesicht lief rot an und ergraute wieder; endlich kamen die knarrenden Laute:

»Kapitän Hick – von Palmer Dragonern?«

»Von der Leibgarde, Mylord.«

Der Oberst schöpfte Atem. Sein Blick wurde ungläubig, er fragte:

»Und die Räuberei – beabsichtigt Ihr – bei Gott – wie an zwanzig andern –«

»Die Zahl ist zu hoch gegriffen, Mylord. Was aber die Absicht angeht – jawohl, ich bin dazu hier. Jeder, Herr Oberst, dient nach seinem Vermögen, und ich befleißige mich, wie Euch zweifellos bekannt sein wird, Pfunde zu sammeln für Karls Sohn, Karl II. Hättet Ihr Karl geschont, Mylord – ich säße nicht hier, wie jetzt.«

Nun kam für die Zwillinge der Augenblick aufzuschreien. Denn auf einmal waren hinter der Sattellehne hervor zwei Pistolen von solcher Größe in seinen Händen, daß die eisernen Mündungen dicht vor ihnen riesenhaft wie die von Kanonen erschienen. Sie warfen sich in die Polster zurück, eine riß einen Schal herunter und über ihr Gesicht, die andre starrte nur mit offenem Munde auf die furchtbaren Löcher, die sich übrigens nicht auf ihre, sondern auf die Brust des Obersten senkten.

Der keuchte sekundenlang, bis er herauswürgte: »Sir – Pistolen – ich – Sir – ich sage noch so, weil ich Euch bei Preston – Kapitän Hick, ich – vergesse, was – zwischen damals und heute – was Ihr begangen haben mögt –«

»Keinen Mord, Mylord, so wie Ihr.«

»Will noch annehmen – zu meiner und – Eurer Ehre, daß Ihr –«

Er kam nicht weiter. Plötzlich warf er sich vor, ergriff das Gefäß eines Degens, das ihm gegenüber unter den Gepäckstücken im heruntergeschlagenen Wagenverdeck hervorsah, riß die lange Waffe heraus und tat aufstehend einen Hieb nach oben mit solcher jugendlichen Wucht, daß die lederne Scheide im Bogen davonflog. Und – mit dem langen nackten Eisen fuchtelnd – »Los!« schrie der alte Streitbare, kirschrot im Gesicht – stehend war er schwerleibig und klein von Wuchs – »los, Sir, ich will Euch die Ehre antun –«

Der Reiter zögerte noch mit dem Blick auf Janna im Wagen, bis er dann sagte: »Oberst – die Damen …«

Der rüttelte bereits, den Rücken drehend, seinen langen Mordstahl in der Linken, mit der Rechten am Türgriff, schnob: »Irrsinniger Teufel!«, trat die Tür auf und sprang seinen Jahren zum Trotz drei Schuh hoch auf den Boden hinab; darauf schritt er hinter den Wagen zu dem angehängten Rappen.

Janna saß noch wie vorher, mit den Händen ihr Haar straff zurückspannend, nur daß sie, an dem Reiter vorbeisehend, vor sich hin sagte: »Bloß ein Buschklepper.«

Der erwiderte nichts, schon im Begriff, sein Pferd zu wenden. Statt seiner redete von der Höhe herab vernehmlich ein Donnergrollen, erst nur murrend, dann lauter und lauter polternd. Gleich darauf begannen Tropfen zu fallen. Die kaum vom Schreck der Pistolen erholten Mädchen schauten auf. Da war der Waldrand in tiefer Dämmerung, stumme Laubmassen, die unbeweglich in tiefen Zweigen sich senkten; da war die Wiese, ein wenig tiefer, in dem dunklen Gewitterlicht grünspangrün, und der Himmel darüber, eine nahe Wand, blauschwarz. Blitze rieselten unaufhörlich daran nieder.

Ein Reiter, der Oberst, trieb sein knochiges Pferd, vornübersitzend und die Zügel über der Mähne hebend, daß es mit langen Füßen ausgriff, in die Wiese hinein. Hinter dem Wagen kam galoppierend das gelbe Pferd mit dem Buschklepper hervor. Nun hielten sie beide still, auf zehn Schritt einander gegenüber, und für die drei Zuschauerinnen fing ein nie gesehenes Theater an. Die langen blanken Eisen standen aus ihren hoch erhobenen Fäusten Augenblicke lang senkrecht über ihren Köpfen himmelan, ehe sie sich schräg vor den Stirnen einlegten. Minnie und Maggie sanken schluchzend im Sitz zusammen und hielten sich gegenseitig die Augen zu, wimmernd: »Sieh nicht hin, sieh nicht hin! Sie schlagen sich jetzt in Stücke.« Janna war allerdings aufgestanden und stand, jetzt die Hände im Nacken, und sie blies in die lange Stirnlocke, die ihr in die Augen fiel, um sehen zu können. Da ritten die zwei gegeneinander, bis sie Sattel an Sattel hielten; ein fliegender Wirbel von Klingen fing an, ein unbegreiflich geschwindes, taktmäßiges Aufeinanderhauen der langen Eisen, das minutenlang dauerte. Plötzlich drehten die unruhig stehenden Rosse sich auseinander, beschrieben einen Kreisbogen nach außen, lenkten sich wieder zusammen, und wieder wirbelten die Hiebe, wieder drehten sich nach einer Minute die Rosse. Allein diesmal lenkten die Reiter voneinander fort, auf zehn Schritt; und wie sie dann pausierend hielten, das Schwertgefäß auf dem Schenkel, war das blaurote Gesicht des Obersten im grauen Haar deutlich zu sehn. Der Kapitän wies leider den Rücken.

»Wundervoll!« sagte Janna. »Sie findet es wundervoll!« ächzten die Zwillinge. Doch aus dem Wort erhellt, daß Janna duCoeur von Männern eine sehr weibliche und vom Leben eine männliche Anschauung hatte, was zusammen eine romantisch-heroische Anschauung ergab.

Es regnete nun sacht. Donner und Blitze wiederholten sich unaufhörlich; es wurde dunkler. Allein, als die Streiter wieder vorritten, setzte der Wagen sich in Bewegung und die beiden Gestalten begannen hinter dem Regenschleier bald zu verschwinden. John und Toby auf dem Bock, die bis dahin stumm gelähmte Zuschauer gewesen waren, hatten sich ermannt und Einsicht in die Situation gewonnen. Alsbald fiel der Regen in so dichter Masse, daß die drei Mädchen über sich warfen, was sie an Mänteln und Decken erraffen konnten, und darunter zusammenkrochen. Die Welt umher verfinsterte sich unter langhin krachenden Donnerschlägen, immer wieder auflodernd zu gespenstischer Tageshelle. Und so lassen wir diese drei hinfahren.

 

Eingriff der Natur

Oben am Waldrand war es fast Nacht geworden. Zwar fiel der Regen jetzt wieder leicht, wie es zeitweilig ist bei Gewittern, aber die Blitze leuchteten unaufhörlich, und über den Waldhügel war ein pechschwarzes Ungetüm, eine Wolkenwoge mit fliegenden weißen Schäumen gebogen. Die Reiter hielten einander gegenüber.

Aber der Oberst erhob seine Waffe nicht mehr. Vielmehr senkte sie sich langsam gegen den Boden, seine linke Hand fuhr zum Halse, und er drehte den Kopf mit dunklem Gesicht nach oben wie ein Erstickender; seinem Mund entquoll ein gurgelnder Laut. Als der Kapitän heranritt und vom Pferde sprang, kam er eben recht, um den Stürzenden aufzufangen. Er blieb auf den Beinen, und er kam, da er sich sogleich vorwärtsbewegte, einen Arm über dem Nacken des Kapitäns, rechts auf sein Schwert gestützt, schwer keuchend den Hang hinan zur Mündung der Waldstraße, wo der Wipfel einer großen Buche Schutz und ihre mächtigen nackten Wurzeln, mit bemooster Erde gefüllt, einen Sitz boten. Da sank er hin, jetzt fahlgrau im Gesicht, und da sein Schwert sich schräg vor ihm in den Rasen bohrte, faßte er es mit beiden Händen unter dem Gefäß, die Brust dagegen lehnend, so daß er, von dem Eisen gehalten, steif dasaß.

»Mylord«, erkundigte sich leise der Kapitän, »ist nicht wohl? Ich werde den Wagen holen.« Er hatte dessen Entfernung augenscheinlich nicht wahrgenommen.

Aber nur eine Stille der Natur breitete sich aus zwischen den Donnern, mit dem flüsternden Geheimnislaut des Regens im Laubdach. Der Kapitän schaute ins Freie und sah sein gelbes Pferd kopfschüttelnd im Regen stehn; dann setzte es sich in Bewegung und kam her zu ihm. Weiter links stand das schwarze des Obersten im Dunkel der Wiese, wo es einsam verblieben war und ratlos den großen Kopf hob.

Aus dem Dunkel der Waldbäume schien die feierliche Stimme hervorzukommen, die jetzt sagte:

»Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des Herrn und im Sieg des Namens seines Herrn, meines Gottes. Und sie werden wohnen, denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, soweit die Welt ist.

Und er wird unser Friede sein.«

Blendend hell fiel ein Blitz. Der Kapitän beugte unter dem wütenden Geknatter des Donners sich über den Sitzenden und sah, daß er die Augen geschlossen hielt. Der Wald über ihm krachte und dröhnte, das Wetter war jetzt oben darüber. Er stand noch eine Zeit unschlüssig, hinter sich nach dem Kopf seines Pferdes tastend; dann drehte er sich um, legte die Zügel zurecht, hob den Fuß in den Steigbügel und saß auf. Er wollte eben die Zügel teilen – doch er verschwand sich selbst in einem ungeheuerlichen, weiß zischenden Strom von Feuer, der senkrecht herabschoß, und die Welt war inmitten geborsten. Blind, taub und gefühllos saß er da in Nacht und Nichts.

Als er wieder zu sich kam, schien er sich über einer rollenden Meeresfläche dahin zu fliegen. Ihr Donner wurde ein Getrommel – nun riß er die Augen auf und erkannte, daß er auf seinem durchgehenden Gaul, die Hände um den Sattelknopf geklammert, über das regenfinstre Wiesenland hinraste. Die Zügelriemen flogen unerreichbar im Sturm des Ritts, der Regen peitschte, grasige Klumpen flogen um seinen Kopf. Nun erschien vor seinem Dahinjagen in der Dunkelheit ein schwarzer Schatten, ein großes Gebäude. Er raste rettungslos darauf zu, er brüllte, griff in die Mähne des Pferdes, aber das war umsonst; er fuhr auf die schwarze Wand zu, jedoch in dem Augenblick, wo Roß und Reiter daran zerschmetterten, war sie nicht mehr da. Es war die Offenheit eines Heuschobers, und das Pferd brach auf einem hohen Berg zusammen, der locker und weich genug war, um es aufzufangen – wenn auch nicht so sanft, daß der Reiter nicht herabflog, mit dem Hinterkopf aufschlug und liegenblieb. Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich aufsetzte, seine Glieder betastete und sich erhob. Das Pferd lag still da; er half ihm aufstehn, es kam rasch auf die Füße, stampfte und zitterte zwar an allen Gliedern, bewies aber dadurch, daß es unverletzt war.

Er trat nun in die Öffnung. Es war völlig Nacht jetzt, der Regen fiel in laut rauschendem Strom. Die Donner murrten entfernt, und die Blitzscheine zuckten schwächer. Da erkannte er bald nicht sehr fern den Waldhügel, von dem er herabgebraust war, vorne von einem rötlichen Quellen erleuchtet. Und als wieder ein stärkerer Blitz die Nachtwelt in blauem Geisterlicht zeigte, da erkannte er nicht nur den mittwärts aufgerissenen und weiß zersplitterten Stamm einer riesigen Fichte vor dem Wald, sondern auch ihr gegenüber den breiten grauen Stamm der Buche und die dunkle Gestalt, die still dasaß, das eingestemmte Schwert in den Händen, grade und unbeweglich.

Es ward wieder Nacht. Auch die kleinen rötlichen Flammen im Föhrenbaum, die der Blitz entzündet hatte, erloschen im Regen bald. Der Mann unter seinem Obdach stand noch lange und sah noch oft die regungslose Erscheinung des toten Puritaners unter dem Baum, undeutlicher jedesmal im schwächeren Licht der Blitze. Und endlich sah er sie nicht mehr.

 

Die Schenke

Nun, und wo blieb Janna duCoeur mittlerweile? Um sie zu finden, haben wir nicht allzuweit durch den Regen zu tappen, zweieinhalb tausend Schritte von dem vorigen Ort, die Landstraße hinunter. Der Regensturm braust, ein trübes Fensterviereck glüht in der Nacht auf, da sind die Umrisse eines langen, flachen Gebäudes, und hier ist eine Tür, die sich öffnen läßt. Ein warmes, dumpfes, niedriges Inneres nimmt uns auf.

Irgendwo brennt ein Licht, sehr trübe, eine Funzel in einer Laterne mit bleigefaßten Scheiben. Und da steht auch Janna, zu ihr aufblickend, in ihrem grünen Kleid und mit ringsum gesträubten Haaren, die vom Regen noch feucht sind. Die niedrige Wand, an der ihr großer schwarzer Schatten sich hinter ihr aufrichtet, ist gelber Lehm mit den rissigen Balkenquadraten des Fachwerks. Diese lange Wand bildet eine Seite eines nur schmalen Ganges. Die Wand gegenüber ist nur halbhoch, dunkle hölzerne Planken und Pfosten. Einer geht bis zur Decke, und an ihm hängt die Laterne. Dahinter aber gähnt düster ein großer Raum, den ganz hinten Berge von Heu und Schilfstreu anfüllen, aber von Gestalt und Geräuschen belebt.

Die Leiber zweier rotbrauner Kühe stehen der Holzwand zunächst, die gehörnten Häupter in die Futterkrippe gesenkt, Wärme ausströmend und starkriechenden Dunst ihrer Felle. Stärker ist freilich der ihres Mistes, der hinter ihnen liegt und ihre elenden Flanken bekrustet. Auf dem Boden inmitten hocken drei grauweiße Gänse. Puten stehen, als ob sie horchten, und tun einen behutsamen Schritt. Und ganz hinten aus dem Dunkel schimmert das graue Weiß von Schafen, ein Blöken tönt dann und wann, auch das Grunzen und Scheuern unsichtbarer Schweine aus einem Verschlag. Kaum sichtbar hockt dort auch eine Reihe von Hennen auf ihrer Stange, und die nächtlichen Laute und die Gerüche all dieses Getiers vermengen sich in der warmen, schweren Luft und der Stille, während draußen der Regen rauscht und plätschert.

Auf einer hohen Futtertruhe unter der Holzwand im Gang saßen die Zwillinge, hielten sich umschlungen und blinzelten aus ihren vom Weinen geschwollenen und rotfleckigen Gesichtern auf Janna und ihren Schatten, der neben ihr – da sie nicht nur steht, sondern immer wieder mit heftigen Schritten den Gang durchmißt – an der Wand entlanggleitet, zu riesiger Größe anwachsend mit einem zottigen Haupt, wenn sie sich vorn der kleinen, dick mit Eisen beschlagenen Eingangstür nähert.

Dabei kam sie an einer anderen Tür vorüber, die inmitten der Fachwerkwand halb offen stand, und jedesmal nahm ihr Blick im Dämmerschein einer andern, dort unsichtbar hängenden Lampe das gleiche wahr: einen Tisch, Bänke und die feiste graue Gestalt des Kutschers John, von der Seite zu sehn – sein halbes rotes Gesicht mit vorquellendem Auge, dazu der Bierkrug, den er in der Hand hielt. Schattenhafte Gestalten standen und saßen umher.

Dort also, in der elendesten aller ländlichen Schenken im Umkreis von London, waren die drei Verwaisten untergeschlüpft, ihres Beschützers wartend, unwissend, daß er einen anderen Weg als sie aus Donnern und Blitzen gegangen war.

Auch Janna hatte inzwischen von ihren Reizen verloren; das braune Haar hatte seine Locken eingebüßt und stand und hing wirr um den Kopf; ihr Gesicht war blaß, doch mit hochroten Flecken unter den Augen, die beim Gehen auf den Boden starrten. Sie hielt beide Hände vor der Brust übereinander gepreßt, mit der einen das Medaillon umklammernd, und so lief sie hin und zurück, hin und zurück – um endlich vor den Zwillingen stehenzubleiben, den Kopf zur Haustür gewandt und horchend.

»Wieder nichts«, sagte sie dann. »Ich glaubte, es wäre Hufschlag. Aber«, fuhr sie fort, »ich halte es nun nicht mehr aus. Ist er bis jetzt nicht gekommen, ist ihm etwas geschehn. Und ich gehe – ihr braucht keine Angst zu haben, niemand tut euch hier etwas – ich gehe, oder ich laß mir ein Pferd satteln –«

Um die Entsetzensrufe der beiden Kinder weiter nicht bekümmert, wandte sie sich zu der Tür des Schankzimmers, schritt zu und stieß sie im Eintreten mit der Fußspitze auf; sie hatte keinen Griff und starrte von schmutzigen Händespuren. Im Lampenschein des niedrigen Raums wurden nun die Gestalten deutlich, die da saßen und standen: zwei Fuhrleute in blauen Kitteln hinten an einem Tisch, über den Toby, der junge Lakai, seine beiden Ellbogen geschoben hatte, um sein aufgestütztes, rundes und käsiges Gesicht – Mund, Augen und Nasenlöcher weit offen – wie einen Topf unter die epische Traufe zu halten, die aus Kutscher Johns flüsterndem Munde quoll. Eine Magd von winziger Größe stand in Holzpantinen mit schwarzen Beinen, die Hände unter der Schürze, das Gesicht von schwarzem Haargewirr fast verhangen. Schließlich stand an der kahlen Kalkwand – vielmehr hing zwischen zwei starken Krücken – der breitschultrige Leib des Wirts, eines rothaarigen und rotbärtigen Mannes. An seinen nackten Beinen, die aus den Pluderhosen hingen, war ein Fuß verstümmelt, das andre endete in einem fleischroten Stumpen.

Janna indes sagte, nur auf John und Toby blickend, mit ruhiger Stimme:

»John und Toby, holt die Wagenlaternen. Steckt neue Lichte auf, wir müssen den Oberst suchen.«

Danach drehte sie um und ging wieder auf den Gang hinaus. Die Zwillinge jammerten: »Janna, es schüttet ja! Es ist stockdunkel!« Janna indes öffnete schon die Haustür, und es schüttete weder, noch war es dunkel draußen, sondern ein heller bläulicher Schein. Drei schwarze Riesen standen da nebeneinander, haushoch, armlos, kopflos – Pappeln, drei in der langen Reihe, die am Rande der Straße hin aufgestellt waren. Ihre Wipfelspitzen waren versilbert vom Licht des abnehmenden Mondes, der über ihnen aus dem Gewölk hervorschwebte. Das flache Wiesenland dunkelte in die Nachtferne hin; die Wagengeleise im tiefen Lehm der Straße glänzten, und in einem ausgedehnten See vor dem Hause war der Widerschein des Mondes weiß in dunkler Bläue. Es war ein friedseliger Anblick, und Janna genoß ihn Augenblicke lang, tief atmend. Die Leinwand eines Planwagens, der zur Linken inmitten der Straße stand, schimmerte schneeweiß. Rechts stand das dunkle Gebäude des Reisewagens, jetzt geschlossen, mit einem Dach von Silber; und vor der Mauer des langen Hauses standen die vier Rosse zusammen, still mit gesenkten Köpfen, angehalftert und mit Decken verhangen.

Gleich darauf kam der Wirt unter dumpfem Aufstoßen seiner Krücken herangehumpelt, und Janna trat zur Seite. Er krückte sich an ihr vorüber zur Tür, um sie wortlos zuzuschlagen und zu verriegeln. Danach drehte er sich um und sagte, trüb aus hängenden, blutigen Lidern blickend, mit heiserer Stimme:

»Miß, wer Ihr seid, da frag ich weiter nich nach. Für'n Wirt seid Ihr'n Gast, un er kommt für Euch auf. Ne englische Lady bei'n englischen Wirt, die is sicher.

Aber«, fuhr er mit keuchendem Atem fort, »nich alle, die bei Dunbar nich wechlaufen konnten, weil sie keine Füße mehr hatten – die sind nich alle auf einer Seite gewesen. Zwei Seiten hat auch ne Schlacht, un der ganze Krieg – un die ganze Welt. Mehr sag ich nich, Miß, als daß welche auch immer von der annern Partei sind.

Un Hick – wenn das wahr is, daß der sich hier rumtreibt – ich hole ja den nich her. Aber Ihr sollt' en auch nich herlocken miter Laterne, wo ich höre, daß Ihr 'n Koffer mit Gold auf em Wagen habt. Das auch nich, Miß. Denn für Hick kann ich nich aufkommen. Das ginge zu weit.«

Eine Weile war Stille und nur das Atmen des Mannes hörbar. »Ja«, flüsterte Janna, »nun sind wir schutzlos.«

Die Kinder weinten hellauf. »Schutzlos nich«, sagte der Wirt, »hab ich das nichesagt? Aber wenn ich en Rat geben soll – innen Wagen würd ich das Geld nich lassen. Schlafraum hab ich keinen für Ladies – aber in Garten is hinten en Ding – wir nennen's en Saal, es ist aber mehr ne Laube, man kann drin tanzen. Kalt is die Nacht ja nich, da könntet Ihr's Euch bequem machen mit Koffers und allem. Aber die Leute bleiben im Haus. Hinten raus gern, Miß – vorne raus nich, außer zum Reinschleppen. Vorne raus – da bin ich von Eisen.«

Janna versetzte nach einer Weile: »Also zeigt mir den Weg«, und drehte sich um und legte das Gesicht in die Hände.

Und so verlassen wir sie wieder für eine Weile.

 

Patrioten

Der Mond ist noch im Steigen; die Wolken sind im Versinken. Die Nacht wird heller, ihr Schweigen tiefer. Aus der Ferne tönt friedfertig das Quaken von Fröschen; sonst ist vor der Schenke kein Laut als einmal vom Huf eines Rosses, das schlafdämmernd den Fuß hebt und wieder aufsetzt.

Oder doch – der Huf eines fernen Pferdes, das im Schreiten an einen Stein stößt? Leiser Hufschlag eines langsam schreitenden Pferdes? Es dauert nicht lange, dann taucht in der dämmrigen Helle der blauen Nacht ein Reiterschatten auf und wird langsam Gestalt, einsam in der dunstigen Öde des Flachlandes. Die gelbe Farbe, die schwarze Mähne des Pferdes werden erkennbar – der da still herannaht, ist der Buschklepper, der wegebelagernde Hick. Sein Pferd geht sehr langsam, denn er hat die Zügel um den Sattelknauf gehängt und sitzt in einer merkwürdigen Haltung, die Hände hinter sich aufgestützt, den Kopf im Nacken, und schaut so in den Zenit des silberdunstigen Firmaments empor – während sein Pferd mit hängendem Kopf tastend Fuß vor Fuß setzt.

Ein Ziel scheint er nicht zu haben – doch nun stellt es sich ihm selbst in den Weg. Sein Pferd war es, das ihn veranlaßte, seine Haltung zu ändern, indem es – seine Genossen vor der Schenke witternd – den Kopf hob, dann still stand und leise schnoberte. Nun sah der Reiter unfern die Pappelreihe am Weg, den lichtlosen langen Bau, in dem ein paar Fenstervierecke rötlich glühten und dessen Dach eine mondsilberne Platte war, und mitten in der Straße den stillen dunklen Reisewagen. Auch die angebundenen Rosse standen da, still und dunkel, mit den Köpfen zusammen, und eins von ihnen erhob den seinen, den es über den Hals eines andern gelegt hatte, und äugte her. Den Planwagen sah der Reiter nicht, denn er war nicht mehr da.

Eine halbe Minute lang hielt der Reiter ohne Bewegung; dann stieg er aus dem Sattel. Ein Weidenstumpf am Rande der Wiese hielt einen Ast empor, passend, den Gaul anzuhängen; und nun ging er, nachdem er eine Pistole aus der Satteltasche genommen hatte und in den linken Arm gelegt, auch den Federhut aufgesetzt, der ihm an einer Schnur auf dem Rücken hing – ging er, nicht auf der schlammigen Straße, sondern im nassen Wiesengras lautlos, bis zu dem Wagen, wo er anhielt und horchte. Alsbald wurde noch ein Laut in dem Schweigen vernehmbar – langgezogen, dumpfrollend, unschön und menschenhaft – Schnarchen, das aus dem Innern des Wagens tönte. Es konnte nur John sein, der Lenker, oder Toby, der Lakai, denn es war ein männliches Schnarchen.

Alsbald ging der Kapitän hin, behutsam über die Pfützen steigend. Es war ein Wagen jener Zeit, das Verdeck aus Leder war niedrig und hatte keine Fenster, sondern Vorhänge aus ölgetränkter Leinwand, und Hick lüftete den, den er vor sich hatte. Im Dunkel drinnen waren zwei Körper zu erkennen, die auf Vorder- und Rücksitz lagen, Körper zweier kampfungewohnter Männer, der eine – Toby auf dem Rücken liegend mit herabhängenden Beinen, und er war es, der schnarchte; der andre, John, abgewandt, sein mächtiges Hinterkastell weisend, seine einzige starke Seite. Der Kapitän ließ den Vorhang fallen, blickte zum Hause hin und schien zu überlegen. Sodann raffte er den in Ringen laufenden Vorhang zur Seite, öffnete die Tür und weckte die beiden Schläfer mit leichten Püffen seines Pistolenkolbens. Trunken hoben sie ihre Köpfe, John sich auf den Rücken werfend, und siehe da, jeder der beiden hielt in seiner Hand auch eine große Pistole. Aber damit taten sie nichts.

Sie blinzelten und waren tödlich erschrocken. »Oh«, sagte Hick, »schlaft ihr hier wie die Weihnachtskinder mit der neuen Puppe? Gebt sie wieder her.« Sie reichten sie willig mit Zittern. »Nun braucht ihr euch nicht mehr zu fürchten«, redete der Kapitän freundlich weiter. »Steht auf und kommt hervor.« Sie gehorchten und kletterten aus dem Wagen. »Gut«, sprach Hick, »euer Ohrwerk ist trefflich gebildet. Zeigt mir nun, ob euer Mundwerk ebenso gut beschaffen ist, und sprecht den einfachen Satz: Lange lebe Karl II. und das ganze erlauchte Haus Stuart.«

Sie sprachen es folgsam nach.

Der Kapitän lobte sie und sagte: »Ihr seid getreue Diener, und ich sehe wohl, im Jahre 60 oder 70 werdet ihr wieder überzeugte Monarchisten sein. Auf aber nun und sagt mir an: Wo befindet sich eure Herrschaft?«

Toby, der junge, der immer noch angstvoll schlotterte und schon seinen Mund öffnen wollte, erhielt einen Rippenstoß Johns, der zu Hick sagte:

»Sir, ist dies nicht ein unbilliges Verlangen?«

»Spottbillig«, erwiderte Hick, »es kostet euch keinen Farthing.«

»Aber meine Lady muß es bezahlen.«

»Woher weißt du das? Naseweis! Aber ich will dich nicht quälen. Dieser junge Mann wird mir die Frage gerne beantworten. Nun, mein goldlockiger Freund?«

Toby gestand, daß die Damen sich in einer Laube hinten im Garten befänden. Darauf fragte der Kapitän nach Stricken, und nach der Auskunft, solche zum Anbinden der Koffer hingen hinten am Wagen, ließ er Toby hingehen und welche holen. Mit ihnen band er den beiden die Hände auf dem Rücken, ließ sie sodann in den Wagen steigen, sich niedersetzen und band ihnen auch die Füße zusammen. »Bedenket«, sagte er noch, rückwärts gebückt aus der Kutsche steigend, »wenn ihr um Hilfe rufet, werde nur ich es sein, der euch schreien hört.

Denn ich gehe nicht weit«, schloß er, die Tür schließend.

Mit langen Schritten über die mondblanken Lachen steigend, neben sich seinen kürzeren Schatten, kam der – wenn wir so sagen dürfen – königliche Buschklepper zur Ecke des Hauses, wo er zwei von den Mordwaffen – denn er hatte die der Bediensteten an sich genommen – ins hohe Gras niederlegte und seine eigene in den linken Arm hängte. Von der hinteren Hausecke, die er dann erreichte, streckte sich ein halbmannshoher Steinwall, aus regellosen Brocken geschichtet und mit Gras, Kraut und Gesträuch dicht überwachsen. Als er an einer lichteren Stelle das Dickicht teilte, konnte er einen Garten sehen, auf drei Seiten von Steinwällen und Gebüsch eingeschlossen – insofern eine Wüstenei von hohem Unkraut mit einigen Kohlköpfen und rankenumflochtenen Bohnenstangen ein Garten zu nennen ist. An der Rückseite stand ein Gebäude – ein Schindeldach über hölzernen Pfosten, zwischen denen ein Flechtwerk von Ästen dicht mit Geißblatt und Hopfen berankt war; auch Buschwerk umschloß es zum Teil. Der haarfeine Strahl eines Kerzenlichts stach heraus, und als ein Lufthauch die Blätter der Büsche teilte, wurde für einen Nu die goldene Flamme und der Schein eines Gesichts erkennbar.

Er stieg auf den Wall und sprang drinnen in die Brennnesseln herab, was einen kleinen dumpfen Laut gab. Über die Unkrautbeete kam er zur Seitenwand der Laube, konnte aber hineinspähend nichts als ein schattenhaftes Gewirr aufgestapelter Tische und Bänke erkennen. Nun bewegte er sich lautlos um die Sträucher gegen die Türöffnung hin und blickte hinein.

Janna war erst vor kurzem zur Ruhe gekommen. Nachdem alle Koffer und Kisten aus dem Wagen in die Laube geschafft waren, hatte sie in einer Ecke hinter den aufgestapelten Tischen und Bänken aus den vorhandenen Decken und Mänteln eine Lagerstätte für die Nacht bereitet – mit geringer Hilfe der Zwillinge, die vom Schreck gliederschwach geworden waren und sich anstellten wie kleine Kinder. Janna ließ sie dann gleich sich hinlegen, und sie waren – nachdem sie zweimal kläglich gerufen hatten: »Janna, kommst du nicht?« – also nach wenigen Minuten fest eingeschlafen. Danach hatte sie lange und mit der gewohnten Sorgfalt ihr Haar gebürstet, bis es wieder die befriedigende volle Lockung hatte – vor dem Tisch stehend, auf dem die einzige Kerze, in einer Flasche steckend, ihr geringes Licht verbreitete; ihren kleinen elfenbeinernen Handspiegel hatte sie daran gelehnt. Auf dem Tisch lag eine große Bibel mit Silberbeschlägen und stand das Schachspiel mit den Figuren der unvollendeten Partie, so wie Toby es im Wagen gefunden und hereingetragen hatte; und Jannas Augen starrten darauf, während sie mit der Bürste arbeitete, zuletzt die dichte braune Wolke nach hinten zurückstrich und mit einem schwarzen Samtstreifen zusammenband. Als sie aber dann den Spiegel hob, um ihr Gesicht zu prüfen, zog sie die Brauen zusammen. Sie legte den Spiegel zögernd hin – drehte ihr Gesicht zur Eingangstür – und dann stellte sie ihn wieder auf, löste wieder das Band, ließ das Haar wieder lang und lockig umherfallen und legte auch die Stirnlocke, sie zurechtbiegend, mit aller Kunst, die nötig war, um sie in die genaue Tiefe über der Braue zu bringen.

Endlich fertig, setzte sie sich hinter den Tisch, dem Eingang schräg gegenüber, rückte das Licht heran, legte die Bibel davor, schlug sie auf und fing an, in den Psalmen zu lesen.

Wenn wir noch nachtragen, daß sie sich auch gepudert hatte und die roten Flecke unter den Augen dadurch in rosige verwandelt, so ist das Bild fertig, das dem draußen stehenden Betrachter zuteil wurde. Sie hatte aber die Geräusche seines Aufspringens und seiner Schritte, so leise sie waren, vernommen und horchend den Kopf erhoben und gedreht, die im Kerzenlicht glänzenden, ein wenig eng stehenden Augen auf den Eingang gerichtet.

»Guten Abend, Miß«, sagte der Kapitän mit gedämpfter Stimme, indem er die zwei Stufen emporkam, »ich bin es.« Janna legte einen Finger vor den Mund und blickte zu der Möbelwand hin, hinter der die Zwillinge schliefen; sie erwiderte nichts. Er war ihrem Blick gefolgt und konnte erraten, was er bedeuten sollte. Nun trat er zwei Schritte näher und sagte mit halblauter Stimme:

»Darf ich fragen, Miß, ob die Person des Oberst Knox Euch nahegestanden hat?«

Er fuhr fort, da sie den Kopf verneinend bewegte:

»Es tut mir sehr leid, Euch melden zu müssen, daß er nicht mehr am Leben ist. Es war nicht meine Hand, Miß; es waren seine Jahre und seine Konstitution. Er ist, möchte ich sagen, mit einem Psalm auf den Lippen verschieden.«

Janna versetzte: »Wer glaubt das?«

Sein Gesicht lief dunkel an, und beide blickten sich hart in die Augen, Janna mit zwei blinkenden Schneidezähnen auf der eingezogenen Unterlippe. Nach einer Weile des Schweigens atmete er auf, trat näher an den Tisch, prüfte die Aufstellung der wenigen Figuren auf dem Felderbrett – die Könige, eine Dame, zwei Türme, zwei Läufer, drei Bauern und ein Springer – und fragte nach einer Weile, ohne die Augen zu heben:

»Wart Ihr Weiß, Miß?«

»Schwarz«, sagte Janna.

»Schwarz wird dann leider matt sein nach – zwei, drei, vier – nach fünf Zügen.«

Janna nahm jetzt das Buch von ihren Knien und legte es auf den Tisch. Er bemerkte es und fragte mit gedämpfter Stimme wie bisher, ob sie den Heiland gelesen habe.

»Nein«, sagte sie, »ich las Richter.«

»Schade. Sehr schade. Denn das weckt trübe Erinnerungen.«

Sie erwiderte nichts. Nun blickten die Augen in seinem stets unbewegten Gesicht dunkel und still in die ihren, und er fragte:

»Ihr wart es doch, Miß, in Westminster – an dem Tag?«

Janna blieb stumm, ihn anblickend, aber nach einer Weile glitten ihre Augen zur Seite, und sie stand plötzlich auf.

Er fragte: »Warum glaubt Ihr mir nicht?«

»Hat es Euch gekränkt?« fragte sie, fast mit Besorgnis ironisch.

Danach muckte er freilich auf, und nun wiederholte sie, sogar lächelnd: »Gekränkt?« Sie trat an den Tisch, stützte die Hände auf die Platte und blickte in völliger Vergeßlichkeit ihres Liebreizes böse in seine Augen empor. »Gekränkt – ich Euch. Und was habt Ihr am Wagen geredet? Wehrlose Frauen mit Pistolen überfallen – aber nennt man's beim Namen, ist es Kränkung.«

Er senkte die Augen auf die Waffe in seinem Arm, nahm sie, legte sie auf den Tisch und sprach, aus den Augen lächelnd:

»Tut mir sehr leid, Miß, daß Ihr die Pistolen auf Euch bezogt. Ihr vergeßt, daß jemand im Wagen neben Euch saß, die zwei auf dem Bock ungerechnet.«

Janna mußte lachen und sagte: »Das waren Männer!«

»Nein, keine wie Ihr.«

»Wär ich einer gewesen –«

»Da sei Gott vor!«

Sie konnte nicht anders als lächeln, und als sie sich zusammennahm und sagte: »Ach, ich wollte es wirklich!«, klang es nicht überzeugend. Der Kapitän sagte:

»Ihr, Miß, wart vielleicht auch unter denen, die Karls armen Kopf fallen sahen vor Whitehall. Habt Ihr den Aufschrei gehört, der aus der ganzen Menge kam? Die Welt, Miß, hat zwei Seiten, und –«

Er verstummte, denn sie lächelte wieder; die Worte des Wirts waren aus seinem Munde gekommen. Aber nun raffte sie sich zusammen und sagte mit Kraft ausholend:

»Ja – zwei Seiten. Eine des Rechts, und des Lichts, und der Wahrheit. Und eine der Lüge, und der Nacht, und der Tyrannei. Sein Kopf – in dem kein Gewissen, keine Treue und kein Glaube war. Und wenn er drei Köpfe gehabt hätte statt einen –« Sie flammte, und er versetzte:

»Bei Gott, Miß, mit Eurem Blutdurst kann ein Königsgardist nicht wetteifern.«

Aber sie fuhr nur fort, ihn mit Heftigkeit anzusehn; er sprach weiter:

»Da stehen wir zwei Patrioten. Denn wie ist die andere Seite? Als – vor vier Jahren – der König aus Schottland ritt, war ich hinter ihm mit der Fahne. Unaufhörlich strömte das Volk von allen Seiten zur Straße, und ich mußte sie am Schaftende hoch über mich halten, sonst hätten sie mir sie entrissen – um sie in Fetzen zu küssen – so wie sie Karl fast vom Sattel rissen, um nur seine Stiefel zu berühren. Kranke kamen und schrien bei seinem Anblick, sie wären geheilt. Das ist die andere Seite. Karl war ein Tyrann? Und Euer Blutsäufer Cromwell? Soll ich aufzählen: Dunkalk – zweitausend wehrlos gemetzelt; Tredah – dreitausend –«

»Irland!« fuhr sie dazwischen, »Irland wagt Ihr zu nennen, wo zehntausend fielen – zehntausend Evangelische beinah an einem Tag?«

»Zählt die andern zusammen –«

»Das war das Strafgericht Gottes.«

»Ja, wo Erfolg ist, ist Gott – spricht Cromwell.«

»Uns genügt der Erfolg.«

»Heute – unsrer kommt morgen. Die Mächte wechseln, Miß – Eins bleibt: Englands Liebe, Englands Glaube an einen König, den es verehrt. Der Mord wird nicht vergessen.«

»Und Ihr seid dabei, ihn mit Geld zu strafen – an Sir John – und Waller – und Taylor – und all den Kleinen, denen Ihr das Geld aus der Tasche zieht.«

»Ja, dann, Miß – wo ist das Geld?«

Seine Stimme, wieder gedämpft, war ruhig, obgleich sein Gesicht dunkel glühte. Janna gab keine Antwort. Er sagte:

»Noch eine Frage, Miß. Ich bin hierhergekommen, um Euch den Tod des Obersten anzuzeigen. Jetzt frage ich: das Geld, von dem das Mädchen sprach – und das ich beiläufig auch ohne sie gefunden hätte – ist es Euer Eigentum?«

Allein Janna blieb bei ihrer Art, direkte Fragen unbeantwortet zu lassen, und er ließ eine andere folgen:

»Und wenn, wie ist es dazu geworden?«

»Durch Erbschaft von Sir Francis duCoeur«, sagte sie, »meines Vaters Bruder.«

»Und des Richters duCoeur?«

Sie nickte.

»Dann, Miß, beschlagnahme ich dieses Geld im Namen Karl Stuarts des Zweiten!«

Janna ließ keinen Laut hören. Einen Augenblick stand sie noch hochrot in ihrer Flamme, dann wurde sie blaß, senkte die Augen und warf nach einer Weile einen Blick zu ihm empor, der Unausdrückbares sagte. Deutlicher indes, obwohl unbewußt, war die Bewegung, mit der sie die herabgesunkene Locke aus der Stirn hob und – obgleich ihre Finger zitterten – anders legte. Er verstand es und sagte:

»Ihr müßt mir nicht erst zeigen – daß Ihr wirklich kein Mann seid. Wenn in den Festungen die Väter und Söhne zusammengehauen, die Kinder nicht geschont wurden von Euren Eisenseiten, sahen die Frauen es an. Nun seid froh, dankt Gott, daß Ihr nur Gold bluten müßt.«

Sie setzte sich an den Tisch und faltete ihre Hände darauf. Zweimal hob sie den Kopf, bis sie dann sagte:

»Das Geld liegt dort im Kasten. Und hier ist der Schlüssel«, sagte sie triumphierend, einen kleinen Schlüssel, der hinter dem Medaillon an der goldenen Kette hing, erfassend und ihm vorhaltend. Es war vermutlich in ihrem Leben der erste Augenblick, wo sie alle verführende Süße ihres Gesichts zur Wirkung brachte, um sie als Waffe zu gebrauchen, und sie bekam es zu sehen in seinen Augen, die in seinem dunkel gewordenen Gesicht zu glühen anfingen. Er atmete schwer; ihr Siegeslächeln fing an zu zittern und erstarrte zu einer Maske; dann lief ein Schauder darüber, und sie ließ den Kopf sinken.

Seine Augen starrten auf ihr Haar, das von leisem Gold überschimmert war – Nichts als Verlockung. Wie er aber sich jetzt etwas vorwärtsbewegte, sah er ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt, und er drehte sich zur Seite, machte einen Schritt und hob die Hand an die Augen, faßte in die inneren Winkel und stand so eine Weile.

Indes erhob sie wieder ihr bleich gewordenes Gesicht und ließ ihre Augen scheu zu ihm hingleiten – erleichtert, daß sie ihn abgewandt stehen sah. Als er sich wieder zu ihr drehte, blickte sie unbestimmt auf den Tisch vor sich, streckte dann eine Hand aus, nahm eine und zwei Figuren aus dem Schachbrett, hielt sie zwischen den Fingern und drehte sie.

Und mit plötzlicher Erleuchtung setzte sie das Licht ihres verlockendsten Lächelns auf und sagte, die beiden Figuren zu ihm hinstreckend:

»Weiß oder Schwarz?«

Hick sah sie an, verstand und sagte fast stöhnend: »Das ist die Lösung!«

»Um eintausend Pfund«, sagte Janna.

Er blinzelte erst, hob dann hilflos die Arme, suchte nach einer galanten Antwort, sagte aber dann nur trocken: »Handeln könnt Ihr auch?« und trug ein alleinstehendes Bänklein herbei, setzte sich darauf, rückte den Leuchter heran, stellte ihn dann auf die Bibel, während Janna die Figuren aufsetzte. Dabei ließ ein Geräusch sie aufblicken und zu dem Stapel der Möbel hin; die rosig angeschlafenen Gesichter der beiden Kinder lugten dahinter hervor, die den Zweikampf der Stimmen fest überschlafen hatten und von der Stille erwacht waren. Janna winkte ihnen abwehrend mit der Hand, und die Gesichter verschwanden; aber nach einiger Zeit kamen sie beide hervor und näherten sich, standen unschlüssig eine Weile und wagten sich endlich ganz heran.

 

Schach um tausend Pfund

»Es ist das erste Mal«, sagte Hick, »daß ich mit einer Dame spiele.« Und er setzte zur Eröffnung seinen Königsspringer auf das Brett, denn er hatte Weiß. Der ungewöhnliche Zug ließ Janna erstaunt aufblicken, und sie brauchte einige Zeit, bis sie sich in die fremde Position gefunden hatte. Dann saßen die Spielenden in sich geschlossen und gesammelt da, der Mann grade aufrecht, seine Ellbogen in den Händen, das Mädchen ein wenig vorgebeugt, eine Hand im Schoß; die andre umfaßte entweder das Medaillon und den kleinen Schlüssel, oder sie faßte die dünne Goldkette, an der sie hingen, zusammen, glitt langsam daran herunter und ließ sie zwischen den Fingerspitzen leise hin und her pendeln. Aber während sie jeden Zug weidlich überlegte, pflegte er nur sogleich seine Hand auszustrecken und seinen Zug zu tun. Auch fing er alsbald an, mit dem Zwilling zu liebäugeln, der sich neben Janna gestellt hatte, so daß er ihm die Zunge löste, um zu sagen:

»Sie hat alle Männer besiegt – sogar den Bürgermeister von Hamburg.«

»Oh«, sagte er, »spielen Bürgermeister besser?«

Darauf kicherten die Mädchen, setzten sich links und rechts neben Janna auf die Bank, drückten sich an ihre Schultern und hefteten ihre runden, heißblanken Augen aus den schlafroten Gesichtern auf das Gesicht des Kapitäns. Da sie weder vom Schicksal des Onkels wußten, aber die beiden hier ruhig Schach spielen sahen, noch von dem Spielgewinn, waren sie ohne Furcht. Sie blieben auch nicht lange still, sondern die eine fing an:

»Herr Kapitän?«

»Miß?«

»Herr Kapitän«, fragte sie, wieder in der Roman-Tonart der ersten Begegnung, »warum ist Euer edles Gesicht so unbeweglich?«

Janna machte eine unwillige Handbewegung; Minnie zwitscherte, er habe einen Eid geschworen, niemals eine Miene zu verziehen. Er selber heftete für einige Sekunden seine Augen mit dunklem Ausdruck auf Jannas gesenkte Lider, die sich aber nicht erhoben, ehe er dann sagte: es sei ihm eines Tages stehengeblieben, und er habe den Aufziehschlüssel verloren.

»Oh – ist es vielleicht dieser?« fragte das bewußtlose Kind, nach Jannas Schlüssel fassend, der zum Vorschein gekommen war. Die hielt indes ihre Hand fest, langte auf das Brett und nahm einen Bauern Hicks mit einem ihrer Läufer, behutsam und noch überlegend. Danach war wieder Stille, bis es wieder aus Zwillingsmund tönte:

»Herr Kapitän? Herr Kapitän – wie war das eigentlich mit Hugh Peters?«

»Ja, ist es wahr, daß Ihr ihm nicht einmal das Hemd am Leibe gel–«

»Pfui, Minnie, wie du redest.«

Hick erwiderte nach einer Weile, den Blick auf das Brett gerichtet:

»Hugh Peters – der Königsmörder – scheiterte nur an seiner Unwissenheit der Heiligen Schrift.«

Er fuhr fort, nachdem er einen Springer Jannas vom Brett entfernt hatte:

»Als ich ihm in Enfield-Chase mit seinem Wagen begegnete und seine Börse zu sehen begehrte, antwortete er mit Salomo: ›Beraubet nicht den Dürftigen, denn er ist dürftig.‹ Darauf sagte ich zu Hugh Peters: ›Gedenke du selber der Verkündigung des Propheten, der da sagt: Sie haben ihre Könige gefesselt und in Eisen geschmiedet.‹

Und als er darauf nicht verstummte, sondern sich erdreistete, Königsmord aus der Bibel zu verteidigen, schlug ich seine Zunge mit Salomos Worten: ›So ihr auf Reisen seid, führt nicht mit euch Gold und Silber, ja selbst nicht Kupfergeld im Sack.‹ Da blieb ihm der Atem aus, und er zog seine Börse. Ich war aber empört über die Unkenntnis des Mannes und sagte –«

»Bitte, Herr Kapitän«, unterbrach ihn Janna, »redet Ihr oder spielt Ihr?« Und sie zeigte ihm seine Dame, die frei in der Bahn ihres Läufers stand.

»Ihr müßt wohl«, erwiderte Hick, »meine Züge nehmen, wie ich sie mache.«

»Nehmt den Zug zurück«, sagte sie unwirsch. »Ich will gern gewinnen, weil ich besser spiele, aber nicht weil Ihr schlecht spielt.«

Darauf nahm er den Zug zurück und die unterbrochene Erzählung auf.

»Ich sprach also zu Hugh Peters: ›Schrieb nicht Paulus an die Korinther und also auch an dich: Wir freuen uns auch der Trübsale, weil Trübsal Geduld bringt? Freue dich also und hülle dich in Geduld, mir aber laß deinen Pelzmantel.‹ Er seufzte und erfüllte die Schrift. Aber nur unvollständig – ich mußte ihn abermals belehren und sagte zu ihm: ›Wer den Mantel begehrt, spricht dein Herr, dem sollst du den Rock nicht wehren.‹ Auf diese Weise büßte Hugh Peters auch den Rock ein, und weiter als bis auf die Hemdärmel ist er nicht gekommen.«

Langsam und wie vor sich hin sagte Janna – während die Mädchen kicherten – ohne vom Brett aufzusehn: »Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel.«

»Matthäus fünf Vers vierzig«, ergänzte Hick, von ihrer Korrektur ungerührt.

Janna lächelte, aber nur schwach: denn das Feld war inzwischen zusammengeschmolzen, aber die weißen Figuren waren in der Mehrzahl. Sie ließ es daher geschehen, daß auf Hicks respektvolle Frage nach dem glückseligen jungen Mann, dessen Bildnis ohne Zweifel das Medaillon enthalte, die Zwillinge sich mit allen vier Händen darauf stürzten, um die Kapsel zu öffnen. Zartfarbig erschien das kleine, nicht besonders geschickt gemalte Bildnis eines hübschen jungen Mannes mit sehr blauen Augen unter einem breitkrempigen Hut mit blauer Feder und über rotbekleideten Schultern; und Hick bemerkte nach einem prüfenden Blick, er sehe aus wie ein Bräutigam.

Die Zwillinge waren von dieser Antwort befriedigt, Janna indes hob nach einer Weile, die Kapsel schließend, ihr Gesicht und fragte: »Wie sehen Bräutigams aus?«

»Nicht«, sagte Hick, »als ob sie etwas dafür könnten.«

»Nein, aber mit Sir John«, rief Maggie vergnügt, »mit Sir John habt Ihr es zu arg getrieben! Pfui, alle seine Pferde vor dem Wagen totzuschießen! Die armen Pferde!«

»Auch das«, murmelte Janna vor sich hin, »belegte er aus dem Evangelium.«

»Diesmal nicht«, versetzte Hick, »denn es war nur ein einziges Pferd. Er saß selber darauf, und es war so alt und spatlahm, daß ich ihm eine Wohltat erwies. Und was Sir John angeht, so nahm ich von ihm nur seinen Geiz, denn in seiner Tasche waren nur acht Schillinge, aber er mußte ein neues Pferd kaufen.

Solche und ähnliche Geschichten«, sagte er nach einer Weile mit leicht gekräuselten Lippen, »erzählt man sich von der Leutseligkeit und Schriftbelesenheit Kapitän Hicks von der Leibgarde.«

Wenn – im Erzählen und besonders jetzt – seine Lippen sich bewegten, erschien die Maskenstarre seiner Züge erschreckender, und Jannas Augen hafteten eine Weile daran, während er die seinen auf das Spiel gesenkt hielt. Überdem streckte er seine Hand aus und tat einen Zug. Janna, die ihren letzten Turm entschwinden sah, setzte sich vor und schöpfte Atem. Bald streckte auch sie die Hand aus – streckte die Finger nach dieser – nach jener – nach einer dritten ihrer Figuren – und legte die Hand in den Schoß zurück. Ihre schwarzen Augenbrauen krümmten sich heftig; sie setzte die Zähne auf die Lippe. Der Kapitän sagte:

»Zwei Züge und matt.«

Eine Minute saß sie noch still, doch es war nicht zu ändern. »O Gott, sie hat verloren!« klagten die Zwillinge. Janna bog sich zurück, sah ihren Sieger an, lächelte, lachte dann und stand auf. Den Zwilling neben ihr beiseite drängend, ging sie in den Hintergrund zu einem schwer mit eisernen Bändern und Schlössern beschlagenen Kasten und kniete vor ihm nieder. Der Deckel hob sich, nachdem sie den Schlüssel erst im einen, dann im andern der kunstreichen Schlösser mehrmals und nicht gleich auf die richtige Weise gedreht hatte, und sie fragte, sich aufrichtend:

»Gemünzt oder in Barren?«

Hick erwiderte aufstehend, so wie es ihr das Angenehmste sei, und sie holte nach einigem Kramen aus der Tiefe einen ledernen Beutel hervor, trug ihn in beiden Händen zum Tisch und setzte ihn vor das Licht, um das große rote Siegel der Königlichen Münze zu zeigen.

»Tausend Sovereigns«, sagte sie. Die Kinder begriffen und waren stumm vor Entsetzen. Hick verneigte sich stumm, und Janna sagte vom Tisch zurücktretend, sie wünsche ihm und Karl Stuart, daß das Gold wohlbehalten in seine Hände komme; worauf Hick sich wieder verneigte und im Namen des Feindes für goldene Brücken dankte. Er nahm den Beutel auf, wandte sich, versuchte noch einmal mit einem Blick Jannas Augenpaar zu erreichen, aber sie nickte ihm nur zu und ging in das Dunkel fort. Also verbeugte er sich gegen die anderen Mädchen und ging zum Eingang und die Stufen hinunter.

Nun stürzten die Zwillinge mit lautem Gejammer und Fragen Janna entgegen; die hatte indes, als sie wieder in das Licht kam, strahlende Augen; ihr Gesicht glühte über und über, sie streckte die Arme nach beiden Seiten, dehnte ihren Leib, den Kopf auf der Seite und rief:

»Kinder, war er nicht himmlisch?«

 

Nachtstück

Dies überstieg indes die Begriffe der Kinder; staunend sahen sie Janna an, die ihre Arme rasch wieder sinken ließ, sich umdrehte und in das Dunkel zurückging, um hinter der Möbelwand zu verschwinden. Als sie ihr dorthin nachkamen, lag sie da auf der Seite, ihr Taschentuch vor den Augen; doch richtete sie sich sogleich auf, trocknete ihre Augen, putzte ihre Nase und sprang auf die Füße, zog die beiden Mädchen an sich und sagte:

»Minnie und Maggie, ihr müßt jetzt vernünftig sein und tun, was ich euch sage. Ihr legt euch hin und schlaft wieder ein. Ich habe noch einen Gang zu tun. Nein, widersprecht nicht. Morgen früh werdet ihr alles verstehn. Geschehn kann euch hier nichts, und jetzt seid ihr lieb und geht schlafen.«

Sie strich ihnen über das Haar, küßte sie und half ihnen sich einhüllen, nahm ein schottisches Plaid auf und aus einem kleinen Koffer, der ihre persönlichsten Dinge enthielt, ein seidenes Tuch, das sie über den Kopf band. Während sie es noch unter dem Kinn verknüpfte, näherte sie sich dem Tisch und entdeckte darauf etwas Fremdes, das im Kerzenschein silbern schimmerte – ein Andenken ihres Besiegers, das er ihr hinterlassen hatte, seine große Pistole. Sie war sehr schön, der Kolben aus Elfenbein, mit Silber beschlagen, und auf einem ovalen Plättchen stand eingraviert: »Cptn James Hick, 1st Squad. Body-Guard.« Janna las es, und ihre Lippen bildeten unhörbar den ersten Namen. Dann faßte sie vorsichtig zu, näherte ihre Augen und sah, daß kein Pulver auf der Pfanne war. Ihre Züge verrieten nichts; indes durfte sie sich sagen, daß Pulver darauf gewesen war, als die Waffe sich auf die Brust des Obersten Knox richtete.

Sie nahm das schwere Ding mit beiden Händen auf und trug es zu dem Koffer, aus dem sie das Kopftuch genommen hatte, den Deckel darüber schließend. Dann ging sie zur Hinterwand der Laube. Da ihr Fußboden erhöht lag, war der Steinwall innen so niedrig, daß sie leicht hinaufsteigen und draußen sich herablassen konnte. Sie schlug ihr Plaid um den Leib, lief über die Wiese zur Straße und sah sich um. Unferne zu ihrer Rechten stand der Wagen; sie horchte, es war jedoch kein anderer Laut vernehmbar als das ferne Quaken der Frösche. Der Mond oben hatte den Zenit überschritten, der Himmel war rein und im weiten Umkreis um die goldene Dreiviertelscheibe gestirnt. Also ging sie davon, nicht auf der Straße, die nur aus Schlamm mit tiefen Furchen bestand, sondern auf dem grasigen Wegrand; ihre feinen, durchbrochenen Schuhe von sämischem Leder und auch ihre Strümpfe waren freilich bald durchnäßt. Doch die Nacht war nicht so kühl, daß sie nicht nach einiger Zeit ihr Tuch abnahm und über den Arm hängte. Die flache Landschaft lag weithin dämmerhell, in der Ferne verdunkelnd; auf den Wiesen bildeten sich Nebelschleier, von der nassen Straße stiegen weiße Dampfsäulen auf; und als sie nach einer halben Stunde flinken Gehens den dunklen Waldhügel vor sich sah, waren die Wiesen davor mit langen Nebelschwaden bedeckt. Eine große schwarze Tiergestalt erschien darin – das verlassene Pferd des toten Mannes.

Hier war eine kleine, gewölbte Brücke, die einen Bach überquerte, und die erhöhte Straße fast trocken. Janna ging hinüber, das Pferd kam alsbald auf sie zu, und sie ging ihm entgegen. Lange Grashalme ragten aus seinem Maul hervor, und Janna sagte mitleidig: »Ja, mit der Kandare kannst du nicht fressen, mein Armer.« Es gelang ihr, die vom Regen hart gewordenen Schnallen aufzulösen und das schwere Gebiß aus dem Maul zu nehmen; das erleichterte Tier ging sogleich ein paar Schritte fort, senkte den Kopf, und sein leises Rupfen ward hörbar. Janna ging langsam zum Waldrand hinauf.

Dort saß niemand jetzt, sondern eine dunkle Gestalt lag ausgestreckt unter der Buche. Janna wußte nicht, daß der Oberst nicht im Liegen verschieden war; aber sie konnte sehn – oder sich sagen –, daß nicht er selber den Degen an seine rechte Seite gelegt hatte und die Hand darauf, noch einen Weidenzweig in die Linke, an einen Palmwedel erinnernd, noch das Tuch über sein Gesicht. Nirgends waren dunkle Flecke am Boden, der schwarze Anzug, der weiße Kragen war rein, alles war in Ordnung. In die Knie sinkend, legte sie ihre Hände zusammen, senkte den Kopf und blieb so für viele Minuten.

Wieder sich aufrichtend und schon im Aufstehn begriffen, fiel ihr Blick auf das Tuch; es war nicht weiß, sondern dunkel. Sie faßte es an, es war weiche Seide – ein fremdes, unpuritanisches Tuch. Und zwei Sekunden später hatte sie ihr Kopftuch gelöst und mit dem fremden vertauscht (dem ein Hauch von Gewürznelken nicht fehlte); nicht ohne einen Blick auf das stille graue Gesicht, das zum Vorschein kam. Aufstehend legte sie es über ihr Haar, verknotete es am Hals, stand noch eine Weile und ging in die Wiese hinunter.

Dort wanderte sie umher, die Hände auf dem Rücken, mitunter vor sich hin murmelnd – Worte, die rhythmisch waren und in fremder Sprache – mitunter stehend, um in den Mond aufzublicken, mit glänzenden, stillen Augen. Allmählich kam sie so zu dem Bach hinunter, der zwischen moosigen Ufern murmelte. Kopfweiden hielten ihre Ruten in die Nacht empor, die hier nebelfrei war; eine lag so schräg über das Wasser hin, daß sie sich darauf setzte, dann mit dem Leib darüber legte, die Hand zum Wasser hinabstreckend, doch ohne es zu berühren, wieder halblaut murmelnd. Alsdann begann sie ihre Schuh auszuziehen, die sie neben sich stellte, auch die Strümpfe; sie trocknete ihre Füße am Unterrock, rieb sie aneinander und zog sie unter das Kleid. Die Arme hinter sich aufgestützt, fing sie zu summen an, dann leise zu singen; und dies waren die deutschen Worte:

»Janna duCoeur! Janna duCoeur!
Schenk meinem Flehen
liebreich Gehör!«

Janna lächelte, schüttelte den Kopf, lachte und sprang auf. Ihre Schuh in der einen, die Strümpfe in der andern Hand, ging sie über die Wiese zur Brücke und ihren Weg zurück.

Hat sie sich nicht erkältet? Nein. Wieso nicht? Das werden wir hören.

 

Bild eines Kindes

An dem Tag in der Westminsterhalle hatte Janna duCoeur eben ihr sechzehntes Jahr vollendet; aber ihren schönen, wenn auch schmächtigen Wuchs und den Reiz ihrer Züge besaß sie erst seit wenigen Jahren; im Verlauf eines einzigen, ihres vierzehnten Jahres hatten sich beide zu aller und ihrer eigenen Überraschung entfaltet.

Das Kind Janna hatte bei seiner Geburt, die ihre Mutter fast das Leben kostete, einen so geringen Funken von Leben, daß niemand glaubte, daß es sich zur Flamme entfachen würde. Diese blieb auch für viele Jahre sehr schwach; Janna wuchs zu einem langen Stock mit dünneren Stöcken von Gliedmaßen daran, einem ältlichen, kleinen und magern Gesicht und glanzlosem braunem Haar, das hineinhing; mit den engstehenden und übergroßen Augen und der gekrümmten Nase schien es fast das eines Kauzes, sie wurde daher »Käuzlein« genannt. Doch war immer ein holder, oft süßlicher Hauch darum her, von der staunenden Verträumtheit, mit der sie halb abwesend in der Welt umherging – wenn sie dies überhaupt tat – und besonders von dem lieblichen Schein des Lächelns über sich selbst, wenn sie daraus geweckt wurde. »Wenn sie dies überhaupt tat«, das heißt, daß sie immerfort kränkelte; ein Luftzug genügte, und der Katarrh war da, Nase und Augen röteten sich und trieften, und jeden Wetterwechsel meldete Kopfreißen vorher. Sie verbrachte daher von ihren ersten vierzehn Lebensjahren die Hälfte im Bett oder in Decken gehüllt, ein Tuch um den Hals, im Lehnstuhl – immer ein Buch im Schoß, wenn auch nicht immer darin lesend, sondern darüber träumend. Denn die kleine Seele im Innern dieses gebrechlichen Schilfrohrs von Körperlein blieb von dessen Beschwerden durch Gewohnheit unangefochten.

Jannas Vater war Reginald duCoeur, der zweite von drei Söhnen des Baronets Sir Gilbert duCoeur – aus normannischem Geschlecht, wie der Name sagt – und seiner Ehefrau Lady Edmonda Fitzurse, dem in der Gegend der Stadt Wells in Somerset Mosley-Haus mit ausgedehnten Liegenschaften gehörte. Reginald duCoeur wurde im Jahre 1610 geboren; da sein älterer Bruder Edward die Baronie erben würde, verließ er England im Jahre 1632, um sich in der Armee Gustav Adolfs eine Kompanie zu kaufen. Dies tat er auch später; zunächst erlitt er einen Unfall, indem er beim Verlassen des Schiffes im Hamburger Hafen durch die Laufplanke trat und sich den Fuß und das linke Schlüsselbein brach. Es war kein schlechtes Omen, sondern wurde die Ursache zu Jannas Geburt – insofern er wochenlang in Hamburg bleiben mußte und so Jannas spätere Mutter kennenlernte. Beim Gottesdienst in der Michaeliskirche, den ihr Vater, der lutheranische Pfarrer Dr. Julius Becker, versah, entzündete der Anblick des kleinen und zarten, sanftäugigen Geschöpfs seine Sinne in solchem Grade, daß er ihr, noch hinkend, zu ihrem Haus folgte und keine Ruhe gab, bis er ihrem Vater ihre Hand abgerungen hatte, dem weder ein Soldat noch ein Ausländer zusagte. Konnten sie sich doch kaum miteinander verständigen. Bei seinem leicht entflammten und stürmischen Charakter – den von ihm seine Tochter erbte – war es vielleicht gut, daß er Jannas Mutter – Beata Maria – in den dreizehn Jahren ihrer Ehe nur selten sah, zumal Jannas Geburt ihre Gesundheit für immer untergrub und aus der zart blühenden und duftigen eine bleiche und leidende Pflanze machte. Auch von ihrer zur Schwere neigenden und scheuen Natur bekam Janna ihr Teil; nur war sie so geartet, daß niemand es erfuhr. Über die Maßen verschwiegen und so schüchtern, daß sie sich kaum aus dem Hause wagte, vor jedem fremden Besucher floh und in Gegenwart von Erwachsenen kaum den Mund öffnete, lebte sie nicht in der engen äußeren Welt, sondern in der unbegrenzten ihrer Phantasie; die war von schöneren, lichteren und größeren, von Sagengestalten, Göttern, Halbgöttern und Helden bevölkert, und sie verkehrten da mühelos zwischen Himmel und Erde.

Körperlich war das Kind so träge oder indolent, daß sie im Heranwachsen auf keine Weise zu irgendeiner weiblichen Tätigkeit je zu bringen war; sie lernte niemals weder kochen noch nähen oder nur stopfen und lief ungehemmt mit tellergroßen Löchern an den Strumpfbeinen herum. Sie überhaupt zu einer Dienstleistung zu bringen, gab es ein einziges Mittel: Bezahlung. Dergleichen war keineswegs üblich; allein einmal, an einem Wintertag, als sie den Auftrag ihres Großvaters, seinen häuslichen Filzschuh am Ofen zu wärmen, wieder einmal nicht ausgeführt hatte und erst auf vielfaches Rufen zum Ausziehen seiner hohen Schneestiefel erschien – er schrie aus der Tür, doch sie kroch hinter dem Ofen hervor –, versprach er ihr lachend und ärgerlich einen Stüber für jedesmal Folgsamkeit. Von da an waren die Schuhe warm, und Janna kam im Hemd aus dem Bett, wenn sie darin lag. Ein paar Wochen vergingen so; da erschien sie eines Tages wieder nicht, trotz alles Rufens; die Schuhe standen im Ofenrohr, aber als der Pfarrer in den ersten hineintrat, stießen die Zehen auf einen festen weichen Widerstand, und der alte Herr betrachtete staunend ein Päckchen Tabak, das er hervorgeholt hatte. Varinas nannte es sich, war aber eine so billige Sorte, daß nur ein Wiking sie rauchen konnte. Aber das konnte das Kind nicht wissen. Danach hatte der alte Herr ein langes Gespräch über Janna mit ihrer Mutter. Denn es kam hinzu, daß sie die Gabe selbst gekauft hatte; doch Janna betrat nie einen Laden. Sie hatte davor eine unüberwindliche Scheu – wie auch sonst vor fremden Häusern und Räumen, wenn auch nicht in dem Maße; sie hat sie zwar als erwachsener Mensch zu bekämpfen gelernt, aber innerlich nie überwunden. Wenn sie als Kind zu einem Einkauf geschickt wurde, kehrte sie niemals wieder, und die nachgesandte Magd fand sie neben der Ladentür an der Hauswand kauernd, ihr Körbchen im Schoß, jedem Vorbeigehenden mit großen Augen nachfolgend. Es unterblieb dann, denn keine Bestrafung half; für Bestrafungen hatte Janna kein Organ.

Doch sie erhielt von nun an für jeden Dienst einen Stüber versprochen – neue Schreibfedern schneiden, die Tinte und den Streusand eine Woche lang rechtzeitig erneuern und dergleichen mehr; und jeder Stüber wurde gespart – aber auch größeres Geld, das sie von ihren Verwandten zum Geburtstag oder zu Weihnachten erhielt – und zu Geschenken für Mutter oder Großvater oder ihre Vettern und Basen ausgegeben, ohne daß ihr von diesen jemals vergolten wurde. Denn sie bekamen kein Geld in die Hand – oder wenn doch, so brauchten sie es für sich selber. Als in späteren Jahren die geschenkten Beträge größer wurden, kaufte sie einmal für ihre Mutter drei Ellen Brabanter Spitze für fünf Schillinge die Elle.

Übrigens war die Schüchternheit Jannas mit ihrer größten Untugend, einem ganz ursachlosen, rein in sich selbst beruhenden Hochmut, auf seltsame Weise verbunden, so daß gemeinhin weder sie selbst noch jemand anders erkannte, ob es die eine oder der andere war; und nur sie selber kam hinter den Unterschied in späteren Jahren. Sie war nicht imstande, eine Bitte, eine noch so berechtigte Forderung, ja nur eine Frage zu äußern, vermochte aber selbst Fragen, die ihr nicht zusagten, hartnäckiges Schweigen entgegenzusetzen. Bekam sie nichts, erbat sie auch nichts. Wenn also zum Beispiel in einer Gesellschaft von vielen Kindern gegessen und sie beim Austeilen der Speise übersehen wurde, oder der Löffel oder das Messer fehlte, so äußerte sie keinen Laut, saß still und gebückt und verschwand am Ende unter dem Tafeltuch. Alle Kinder kannten das, doch wenn kein Erwachsener es bemerkte, so bemerkte höchstens am Ende der Mahlzeit eines: »Janna hat wieder nichts gegessen.« Oder wenn in einem Menschengedränge, in der Kirche oder bei einem Schaugepränge oder im Theater oder im vollen Wagen jemand seinen Fuß auf den ihren setzte, ohne es zu gewahren, so zog sie den ihren nicht fort und genoß ihre Pein stumm und stolz – und dies bis in hohes Alter.

Ihr Geist indes war beweglich, empfänglich und willensvoll von klein auf. Wie aus dem Vorhergegangenen erhellt, wuchs sie im Hamburger Pfarrhaus heran; die Großeltern wollten ihre Mutter nicht von sich lassen, als ihr Vater zu den Schweden ging, und das Pfarrhaus war, noch aus katholischen Zeiten stammend, ein weitläufiges Gebäude, das Raum genug bot. Später, im Jahr 1640, als die Umwälzung in England sich ins Werk setzte, folgte Jannas Vater, jetzt Generaloberst, den Mahnungen seiner Brüder – der dritte und jüngste war Francis duCoeur, der Richter – in die Heimat, um bei der Organisation der revolutionären Armee zu helfen. So übersiedelte die kleine Familie nach Mosley-Haus, aber nicht für lange. In dem unglücklichen Reitertreffen von Oxford im Jahr 43 verlor Jannas Vater sein Leben.

Ihr Großvater Becker lebte damals nicht mehr. Der Brief ihrer Mutter, in dem sie ihrem älteren Bruder Georg – Pfarrer an der Johanniskirche in Hamburg – von ihrer Witwenschaft Mitteilung machte, kreuzte sich mit einem andern von seiner Hand, der die gleiche Nachricht enthielt: seine Frau war, sozusagen auf ihrem Felde der Ehre, im achten Kindbett, geblieben. Jannas Mutter, die an England wenig Gefallen gefunden hatte, kehrte darauf nach Hamburg zurück, um, so gut sie konnte, ihren vielen Neffen und Nichten die Mutter zu ersetzen. Janna wuchs also, mit kaum drei Jahren Unterbrechung, in Deutschland auf; und wenn sie auch, wie wir wissen, später noch einmal fast drei Jahre in England verlebte, verlor ihre Sprache niemals ganz den deutschen Akzent.

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Janna zählte fünf Jahre, als ihr Großvater – er war mehr ein Gelehrter, Verfasser vieler theologischer Streitschriften, als Seelsorger – seinem Enkel Thomas – zwei Jahre älter als Janna – und einigen anderen Knaben Unterricht im Latein zu geben begann. Er hatte da nicht weiter acht, daß Janna stets kaum sichtbar hinter der Seitenlehne des alten schwarzen Roßhaarkanapees hockte; sie hockte immer am liebsten halb verborgen hinter einem Möbelstück mit einer Anzahl kaum noch erkennbarer Spielzeuge, mit denen sie Gespräche führte und die nachts mit ihr schliefen. Indes ergab es sich nach einem halben Jahr, daß sie ebensoviel wußte wie die Knaben, ja noch mehr; denn sie hatte, des Lesens unkund, alle Textsätze auswendig behalten. Dies trat zutage, als sie sich zur Weihnacht eine lateinische Grammatik wünschte. Da sie nun alle Wörter schon kannte, fiel das Lesen ihr fast mühelos zu; der Großvater nahm sie – zum Ansporn des männlichen Ehrgeizes, indes ohne Erfolg – als Schülerin an; und bald tauchte sie unter in die versunkene Welt des Ovid, des Vergil und der großen Geschichtsschreiber, die für sie lebend strahlte. Denn während die Texte für die Jungen nur Lernstoff waren, wurden sie Janna unerschöpflicher Lesestoff. Und als späterhin noch Homer und des Apollonios Rhodos Sagensammlung hinzukamen, lebte sie nur noch unter Göttern und Heroen.

Doch das Griechische kam erst, nachdem sie in England gewesen, wo ihr Onkel Edward an die Stelle des Großvaters trat. Von ihm lernte sie auch sonst viel des Guten, denn er war ein gelehrter Geograph und Mineralog, auch Botaniker, Antiquar, und war im Besitz schöner Sammlungen, ein kleiner, blitzäugiger, trotz seiner Beleibtheit äußerst behender und vitaler, silberhaariger Greis von Sechzig, Witwer und kinderlos, der Janna tief in sein Herz schloß und, da er herzschwach war und an nicht mehr viel Jahre glaubte, sie drei Jahre später kaum von sich lassen wollte. Aber sie sah ihn sechs Jahre später doch wieder, seine ungealterten Augen entzückend, und sie war, wie er sagte: Alles in Allem – die letzte Blume, Falter und Edelstein, die sein brechendes Auge schimmern sah.

 

Janna duCoeur

In der Zwischenzeit war sie ja durch die Verwandlung gegangen, während eines einzigen Jahrs. Die nach innen geschlagene Seele drehte sich leise um und blühte auf gegen außen; sie bemächtigte sich ihres Körpers und half der Natur, das dünne Knochengestellchen mit zartem Fleisch und schimmernder Haut zu bekleiden, was freilich unsichtbar blieb, außer in ihrem Gesicht. Sie wurde so, wie wir sie gesehen haben, mit vierzehn Jahren bereits eine vollständige Jungfrau und aussehend wie sechzehn. Das bisher stumpfe und struppige Haar war geschmeidig in lockeren Wellen, schönfarbig und goldüberschimmert, und lenkte aller Augen auf sich und das zarte, großäugige Antlitz darin. Nur wer anderen wohlgefällt, kann sich selber gefallen; Janna fing an, sich in ihrer Existenz zu behagen – jeden Tag, jede Woche mehr, da sie die Wirkung zu spüren begann, die sie ausstrahlte. Wenn jetzt überall, wo sie auftauchte, überraschtes Lächeln erschien, was konnte sie tun als auch lächeln? Die Folge war, daß sie zuerst lächelte; so wurde sie liebenswürdig. Übrigens wurde es ihr alsbald klar, daß die Macht ihrer Reize von eigentümlicher Art war. An den einen versagte sie vollständig; die fanden sie unansehnlich und gingen an ihr vorüber. Eine andre Art Mann dagegen wurde auf den ersten Blick hin hilflos mit Bann geschlagen und verfiel ihr hoffnungslos. Sie kamen nicht wieder los von ihr, wie ein Eisenspan nicht vom Magneten, wie der Falter nicht von der Flamme, und brannten sie noch so loh. Janna bekam es indes fertig, sie an sich gefesselt zu halten, so daß sie, wohin sie kam, einen ergebenen Diener vorfand, der ihr nicht von der Schleppe wich. Aber jene waren die rohen, diese die feinen; denn sie zog ebenso Frauen an, junge wie alte.

Damals, als sie anfing mit dem Spiegel zu leben, hatte bei der ersten Erkältung ein Blick genügt, um ihr zu sagen, daß es damit ein für allemal vorbei sein mußte, und es kostete sie fast keinen Entschluß. Sie war von nun an gefeit gegen Wetter und Wind, ausgenommen, wenn sie ihre Willenskraft an andres zu setzen hatte. Aber gerade so etwas wie jener Nachtgang durch die Regennässe des Grases und der Wiese forderte ihren Willen heraus und blieb wirkungslos.

Hamburg war eine der wenigen deutschen Städte, die vom Krieg unberührt blieben, und blühte entsprechend. Und der Hamburger Bürger war dazumal von anderem Schlag, trug seinen Reichtum üppig zur Schau, hielt Schaugepränge und feierte Landpartien, Kränzchen im Sommer, Tanznächte im Winter, dazu Jahrmärkte, Schützenfeste, Umzüge, Fastnachtspiele und Ballspiel. Janna nahm ein Jahr daran teil, und noch mehr als sie selber wurde ihr Name zu einer Berühmtheit. Denn wenn Jugend in Feuer gerät, ist es wie bei den biblischen Männern im Feuerofen, die nicht schrien, sondern sangen. So auch Jugend, die liebt – mitunter sogar das Alter – und es konnte nicht ausbleiben, daß einer den beinah einzigen, aber ungemein geeigneten Reim auf ihren Namen entdeckte und sang:

»Janna duCoeur! Janna duCoeur!
Schenk meinem Flehen
liebreich Gehör!«

Das Couplet, das so anfing, wurde bei Nacht im Hinterhof unter Jannas Fenstern als Serenade gesungen, breitete sich aber bald durch die Wirkung des Namensklanges über die ganze Stadt hin aus. Janna hörte es in den Werkstätten singen oder pfeifen, und Kinder auf der Straße sangen es ihr ins Gesicht, ohne zu wissen, daß sie es war – wie auch sie nicht wußte, daß es in die Dörfer hinaus und nach Bremen und Lübeck wanderte. Andere Sänger, der französischen Sprache mächtig, hatten die Vielheit der Reime für sich, die mit douleur, valeur, honneur, je pleure und je meurs für mehr als ein Sonett reichte, und Janna flog in jeder Woche mindestens ein zierlich beschriebenes Blatt in die Hände.

Als ihr Onkel Becker den ersten, allzu frühzeitigen Antrag auf Jannas Hand auf Grund ihres noch kindlichen Alters zurückwies, ließ er zugleich die Erklärung ausgehen, daß er vor Ablauf eines Jahres keinen weiteren zu hören wünsche; trotzdem war Janna noch kurz vor dem Ende der Frist mit einem jungen Mann verlobt, der aber kein Hamburger, sondern ein Ausländer war, der Sohn eines Markgrafen von Schötmar, was folgendermaßen zustande kam.

Ihr Onkel Julius war in seiner Jugend einige Jahre lang Hofmeister der Söhne eines Freiherrn gewesen, dessen Besitz im Lüneburgischen an das Gebiet der Republik grenzte. Sie, die Söhne, besonders der älteste Erbe, hatten ihrem Lehrer verehrungsvolle Anhänglichkeit, er aber sich eine Leidenschaft bewahrt, die in jenen Zeiten auch dem geistlichen Stand nicht verübelt wurde, nämlich für die Jagd, besonders die Hetzjagd hinter Fuchs oder Hirsch. Er folgte daher noch jahrelang Einladungen dazu, nahm auch mitunter seinen ältesten Sohn Thomas und einmal auf ihren dringenden Wunsch hin auch Janna mit. Sie hatte Grund dazu, da sie bemerken mußte, daß ein schon betagter Senator, ein Witwer von großem Vermögen, es auf sie abgesehn und schon mit Mutter und Onkel zu verhandeln begonnen hatte, und das war ihr noch widerwärtiger als er selbst. Auf diese Weise also kam es, daß sie dem Hans Edlev vor Augen kam und ihn sogleich so entflammte, daß er ihr bei ihrer Rückkehr nach Hamburg folgte und um sie anhielt. Obgleich ein Markgraf in der freien Stadt nicht so viel galt wie anderwärts, ließ er sich doch auch nicht von der Hand weisen, zumal nun der Senator drängte, Mutter und Onkel jedoch so verständig waren, den jüngeren vorzuziehen. Für ein Mädchen, wie Janna es damals war, bedeutete es einen Triumph, und es fiel ihr nicht ein, nein zu sagen, obgleich sein etwas hektisches Ungestüm, fast wie ein Fieber, das aus seiner schmächtigen Blondheit wie aus einem Hinterhalt hervorbrach, sie zum erstenmal in Verwirrung setzte. Doch tat ihr auch das wieder wohl, denn es war auch das erste Mal, daß sie überhaupt eine Wirkung spürte. Sie war noch halb ein Kind, ohne Ahnung, was Liebe war oder sein konnte – und doch so ahnungsvoll, daß sie auch ohne Bewußtsein und Willen sich fest zusammenschloß, um so lange nichts zu empfinden, bis sie alles empfand. Über die Liebschaften und Paarungen ihrer Götter und Helden hatte sie hingelesen oder hingesehn wie über die Naturvorgänge, die ihr bekannt waren. Das hatte mit ihr nichts zu tun – aber Heiraten war eine Sitte, doch Brautstand noch keine Ehe; und ein Jahr, wie es bis zur Hochzeit ausbedingt wurde, war für ihr Auge noch fast ohne Grenze.

Darum erhob sie auch nicht den geringsten Einspruch, sondern eher das Gegenteil, als ein Brief aus England kam und sie nach Mosley-Haus einlud. Ihr Onkel Edward schrieb, sein Zustand habe sich so verschlimmert, daß er sein Ende herannahen fühle, und er bat, ihm Janna noch einmal zu senden, die er beständig vermisse, um ihre süße Stimme zu hören, wie er schrieb: »damit die Stimme der seligen Engel mich nicht zu sehr befremde«. Er war aber auch listig genug, eine Andeutung auf den Lohn einer Erbschaft einzuflechten. Janna fand indes bei ihrem Kommen, daß der ganze Brief eine List gewesen war, um sie herzulocken; sein Zustand war unverändert und besserte sich sogar infolge ihrer erquicklichen Anwesenheit. Die zog sich durch ein Jahr hin – dann traf ihn ein Schlaganfall, weitere folgten in Abständen, ein jeder ließ ihn hilfloser und liebebedürftiger zurück, Janna konnte nicht an ein Fortgehen denken; und wenn nicht das Bild ihres Verlobten im Medaillon und seine zwar seltenen, aber immer gleich leidenschaftlichen Briefe gewesen wären, so hätte sie ihn längst vergessen.

Das waren nun einsame Jahre; aber wenn das Mädchen auch oft genug unter der Einsamkeit litt; wenn sie spürte, daß ihre Natur nach einer Erfüllung verlangte, die Jahr um Jahr notwendiger wurde: so sah sie auch das bunte und lärmende Geselligkeitsleben von sich abgefallen wie ein leeres Maskenkleid; man konnte es einmal tragen, aber was dann? Gut, sie war nun verlobt – das hatte auch nur dazu gehört. Aber was konnte jetzt kommen? Sie wußte, was kommen sollte, und je mehr an Zeit verging, um so brennender wurde ihr Verlangen, daß es komme, daß es nun nicht mehr ausbleibe: das Leben selbst, das göttliche Leben selbst. Denn das war das nicht, was sie hatte.

Im übrigen verstrichen auch diese Jahre nicht umsonst. Als Janna nach Lüneburg kam, hatte sie zum erstenmal die freie Natur gesehn, die Erde und den Himmel bei Tag und Nacht, Abend und Morgen aufgehen und untergehen sehn, die Heide, den Wald, die Wiesen, Gewässer, Wolken und Blumen. Die Landschaft von Somerset war leider nur von einer recht leeren Anmut, nichts als grünes, grasiges, kahles Gewelle von Hügeln, Hecken und Bächen, aber mit weiten Ausblicken von jeder Höhe und einem ständigen straffen Wind darüberhin, der vom nahen Meere her salzig schmeckte und gegen den anzugehn eine Lust war. Janna streifte, nachdem sie reiten gelernt hatte, meilenweit im Lande umher, aber auch zu Fuß, bei Tag und bei Nacht, fast immer allein, nur begleitet von ihrem Terrier. Es bestand wenig Gefahr, das Land war von gesunden Männern fast leer, der Krieg hatte alle davongeführt, und die aus ihm zurückkehrten, waren unvollständig geworden und dadurch gebrochen. Sie wurde ein einziges Mal in den drei Jahren von einem einarmigen Veteran angefallen, den sie dann freilich selber vor dem scharfen Gebiß ihres Hundes retten mußte, der sich schon in seine Kehle verbissen hatte. Auf diese Weise lernte sie ihre Furcht besiegen, auch das Grauen vor dem Dunkel der Nacht – schließlich auch das vor dem Tode im Anblick des langsam elenden Hinsiechens des alten Leibes, aus dem doch bis zum letzten Atemzuge das Auge auf sie mit unveränderter Heiterkeit und Liebe blickte.

Sie mußte ihm versprechen, kurz ehe das Ende kam, keine Trauer zu tragen. »Nicht als ob Schwarz dich nicht kleidete – aber ich will es nicht.« Er war trotz seines hohen Alters für Jannas Reize empfänglich geblieben und hatte ihr geholfen, die strengen puritanischen Kleidervorschriften – die keinen Stoff außer Wolle und Leinen und keinen Schmuck außer etwa einem goldenen Kreuz am Hals duldeten – glänzend zu übertreten, indem er insgeheim Stoffe aus Paris und Brüssel und eine Schneiderin aus London kommen ließ und zu dem Familienschmuck, den er ihr nachließ, neue Stücke hinzufügte. »Du sollst keine Trauer tragen; wenn ich in die Freude fahre, sollst du auch in Freude fahren.« Janna hatte trotzdem für die Reise ein schlichtes graues Kleid angelegt. Als aber der Oberst Knox – ein Nachbar von Mosley-Haus, der sich zur Begleitung anbot, da er ohnehin seine Nichten zu den Festlichkeiten in London, woher sie gekommen, zu bringen hatte – überzelotisch sogar gegen ihr Medaillon protestierte und einen Tag lang nicht aufhören wollte zu murren, erschien Janna am Morgen nach der ersten Gasthofnacht in dem grünen Kleid. Doch brachte sie es bis zum Mittag fertig, ihn mit ihrer farbigen Anwesenheit auszusöhnen, zuletzt vermittels des Schachspiels, das der Onkel ihr auch vererbt hatte; er hatte es auf seinen vielen Reisen und Forschungsfahrten, bei denen ihn Janna oft begleitet hatte, mit sich geführt. Wenn er, sagte Janna zu dem Oberst, auf seine Königin achten mußte, verlöre er sie aus den Augen, wofür sie schon einen Blick bekam, der etwas Galantes erwiderte, aber er konnte es nicht aussprechen.

Nun, so fuhr sie mit seinen irdischen Resten in einem Planwagen hinter sich den letzten Tag bis London, im langsamsten Schritt der Rosse, eine trübselige Fahrt. Die Fanfarenstöße, die wie bei Thronbesteigungen sonst im königlichen England das Protektorat Oliver Cromwells über die britische Republik in allen Stadtvierteln ausbliesen, schmetterten bei ihrem Einzug, aber vom Glanz der Prunktage bekam Janna nichts zu sehn. Das Haus des Richters duCoeur, dessen Töchter die Zwillinge waren, lag in einer Gasse hinter Sankt Pauls verlassener Kathedrale, dunkel, krumm und stumm; und drinnen im Haus war alles streng schwarz von Trauer und Puritanismus.

Mehrere Wochen vergingen bis zur Abfahrt der Brigg, die einen Passagierverkehr zwischen London und Hamburg vermittelte. Janna blieb daher auf den Tag gerade so lange in England, um zu erfahren, daß James Hicks Laufbahn ein plötzliches Ende genommen hatte – durch seine eigene Schuld. Er hatte ein Äußerstes gewagt und den Lord-Protektor selbst überfallen, als er zu seiner Tochter Betty, die er sehr liebte, und zu seiner Erholung auf das Land fuhr; und nicht in räuberischer, sondern in mörderischer Absicht. Aber er war ergriffen, gefangen und eingekerkert worden.

 

James Hick

Den Überfall hatte der Kapitän nicht allein ausgeführt, sondern sich mit einem Regimentskameraden, einem Leutnant und Irländer namens Allan a Dale verbunden, der tollkühn genug war, eine Sache zu wagen, die nahezu aussichtslos war, die nur das Glück gelingen lassen konnte. Cromwell hatte indes noch große Aufgaben zu erfüllen, das Glück war daher bei ihm. Sie mußten gewiß sein, daß der Wagen eskortiert wurde, und er wurde es auch, von sechs »Eisenseiten«, schwer bewaffneten Harnischreitern, zwei vor dem Wagen, zwei hinter dem Wagen und zwei an den Seiten.

Der Lord-Protektor saß mit seinem Schreiber allein im offenen Wagen, lesend in Briefschaften oder auch, da es ein schöner Septembertag war, in die Landschaft schauend. Der Wagen rollte soeben aus einem der in England häufigen Hohlwege hervor, als die Attentäter von beiden Seiten heranjagten. Zwei Schüsse fielen; das Roß des rechts neben dem Wagen trabenden Geleitsreiters stieg und stürmte mit ihm davon; der zur Linken schrie auf, taumelte im Sattel und stürzte zu Boden. Da war der heransprengende Hick dem Wagen schon nahe, und hätte er sein Pferd nicht erst zügeln müssen, um zum Hiebe zurechtzukommen, hätte er wie eine Fregatte den Wagen rammen können, so war es um Cromwell geschehen. Der war aufgesprungen und erhob den rechten Arm und in seiner Hand das Aktenbündel schützend über seinen Kopf, allein es war schon für Hicks Klinge zu spät. Die Reiter hinter dem Wagen rissen sich aus ihrem – wie sie später zu Protokoll gaben – erbaulichen Disput über eine Stelle der Offenbarung und gaben Feuer und – gute Schützen, die sie waren – trafen beide: einer Hicks Pferd in den Kopf, der andere seinen erhobenen Arm; und das hochgeschwungene Schwert und der Mann, das Roß und das ganze Unternehmen fielen auf einmal zusammen.

Allan a Dale, der mit den vorderen Reitern in Kampf geraten war, wollte sich nicht ergeben und hieb um sich, bis er erschossen wurde.

 

Der Prozeß gegen Hick und diese seine letzte wie seine früheren Untaten oder Heldentaten, je nachdem wie sie angesehn wurden, wurde mit Genauigkeit über ein Vierteljahr hin durchgeführt und wurde zum Anlaß vieler Fröhlichkeit, nicht nur im Gerichtssaal, sondern weit und breit im englischen Volk, das seine Lachmuskeln auch unter der ledernen Maske des Puritanismus noch zu gebrauchen wußte. Seine Abenteuer waren durch den Mund der Bänkelsänger mit bunter Ausmalung seines humorvollen und bibelfesten Verfahrens bis über den Tweed hinauf längst verbreitet (und blieben es noch über ein Jahrhundert lang, als der fromme Königsmann längst nicht mehr auf Erden weilte); und die Kunde von seinem standhaften Verhalten an den Prozeßtagen bis zu seinem letzten Wort besiegelte diesen Ruhm. Denn in der Gewißheit seines Todes verlor er nicht eine Spur von seiner geprägten chevaleresken Haltung, und seine heitere, mit dem unbeweglich ernsten Ausdruck seiner Züge gegebene Darlegung jedes seiner Stücke stimmte mit der der Zeugen gut überein. Ohne Reue und ohne Prahlerei, und ohne Zuflucht bei höheren Auftraggebern zu suchen, stand er allein und bestand auf seinem Recht, Richter der Richter zu sein, die sich das ihre über den König auch nur genommen hatten wie er – nicht aus Gerechtigkeit, sondern aus Macht, worin ihm die Folgezeit recht gab.

Im Besitz seines Kapitäns-Patents, das von Karl II. erneuert worden war, erreichte er mit Hilfe eines geschickten Anwalts so viel, daß sein Überfall auf den Lord-Protektor nicht als eine private, sondern eine kriegerische Handlung angesehen wurde, wobei Allan a Dale für ein Detachement gerechnet wurde. Aber auch das ersparte ihm nur das entehrende Ende am Galgen, und nur deshalb, weil dies Unternehmen das letzte war. Auf jedem der früheren Vergehen stand der Strick, wo nicht das Rad; und so wurde er wegen Straßenraubs in elf Fällen, wegen hochverräterischen Treibens zugunsten des vertriebenen Königshauses und wegen des Überfalls auf den Lord-Protektor zwölfmal zum Tode verurteilt, auszuführen jedoch nur einmal mit der Schärfe des Schwerts.

Auf die Frage des Richters vor Verlesung des Urteils, ob der Angeklagte James Hick an den Verhandlungen oder Verhören, an dem ganzen Verfahren gegen ihn irgend etwas zu beanstanden oder dagegen einzuwenden habe; und daß er, wenn er noch etwas für sich zur Geltung zu bringen wisse, es jetzt tun solle, erwiderte Hick: »Danke, nein, Euer Gnaden. Wenn mir das Urteil wird, das ich erwarte, geschieht es zu Recht; ebenso geschahen aber auch die Taten, die ich hier zu verantworten habe, zu Recht.«

Der Richter beschwichtigte Murren und Beifall, die sich im Saal erhoben, mit einer Handbewegung und fragte, zu Hick sich neigend, gentlemännisch und freundlich:

»So wünscht Ihr nichts rückgängig zu machen in Eurem Leben?«

»Nichts«, erwiderte Hick nach kurzem Besinnen, »meinetwegen. Nur Englands wegen – den Tod meines Königs.«

»Gott walt es!« schloß der Richter bedauernd. »Es ist nun zu spät, Euch zu bessern.«

 

Die Zelle Hicks befand sich in einem Gefängnis in London, das den merkwürdigen Namen: »The King's Head and the Swan« trug, als ob es ein Gasthaus wäre. Sie war so, wie Zellen zu sein pflegen, sieben Schritte lang und drei breit; ein kleines Gitterquadrat befand sich hoch in der Mauer, eben mit der Hand erreichbar, aber dahinter ging ein schräger Schacht nach oben, so tief wie die Mauer dick war. Da saß Hick am Abend des Urteils, das am Mittag gefällt war, auf einem Strohsack am Boden; die Ketten, die als Vergünstigung seiner letzten Stunden von seinen Händen und Füßen abgenommen waren, hingen hinter ihm an der steinernen Wand. Von Hicks Gestalt und Aussehen war, wie er an die Mauer gelehnt flach dasaß, nicht viel übriggeblieben. An seinem Leib hing ein kurzärmeliges Hemd aus gröbstem Sacktuch mit schwarzen Teerstreifen, aus dem seine behaarten und unsauberen Beine nackt hervorsahen; sein schön gekräuseltes, glänzend schwarzbraunes Haar war verschwunden, der Schädel kahl geschoren, die lange grade Nase in dem sonst flachen Gesicht trat daher vor, und von Wangen und Kinn hingen faserige dunkle Strähnen. Sein Bartwuchs war mangelhaft, und das war vermutlich die Ursache, daß er sich bartlos getragen hatte.

So saß er da, das magerer, aber nicht beweglich gewordene Gesicht nach oben gerichtet, wo durch das vergitterte Viereck das letzte Licht des Himmels als schräger Balken hereinfiel, quer vor dem Sitzenden nieder, so daß sein Kopf darüber im Schatten schwebte, der graue geschorene Kopf auf dem nackten Halse. Überdem wurden außerhalb Schritte vernehmbar, eilfertig laufend, dazu ein klingelndes Klirren. Ein eiserner Schlüssel fuhr ins Schloß, die Tür sprang mit Krachen auf, ein graubärtiger alter Mann erschien und flüsterte: »Aufstehen, Hick, aufstehen!« Er verschwand wieder, während der Schritt mehrerer Füße sich näherte. Hick, der nur langsam den Kopf gewendet hatte, sah zwei Bewaffnete in Helm und Harnisch, Karabiner in einer Hand, einen Armstuhl zwischen sich zur Tür hereintragen und niedersetzen. Dann gingen sie wieder hinaus, blieben aber draußen an der gegenüberliegenden Wand des schmalen Ganges stehen, die Gewehre quer vor sich und die Augen nach rechts gerichtet.

Nach geraumer Zeit wurde wieder das Nahen von Schritten hörbar, die langsam herankamen. Dann stand ein Mann in der Tür, schwarz gekleidet, in einem langschößigen Waffenrock und in hohen Reiterstiefeln, aber waffenlos und barhaupt. Sein Gesicht, das eines Mannes von fünfzig Jahren, ist wetterhart und braun; fast von gleicher Farbe ist das Haar, das über der hohen Stirn gescheitelt lang auf die Schultern fällt, und der dünne, über der Oberlippe nach unten gebogene Bart. Die Augen ziehen sich erst leicht zusammen, von der Helle des Fensters geblendet; dann werden sie klare Augen, die mit bewußter Strenge zu Hick emporblicken. Denn der war inzwischen aufgestanden, hatte sich aufrecht grade in soldatischer Haltung gestellt und sagte:

»James Hick, weiland Kapitän der Königlichen Garde zu Pferd, bittet Mylord um Entschuldigung, daß er sich nicht früher erhoben hat.«

Oliver Cromwell erhob seine Hand und winkte, so daß Hick seine Haltung nachließ. Er ging um den Armstuhl, setzte sich und blieb geraume Zeit, einen Arm auf der Lehne, den Kopf erhoben, mit durchdringendem Blick zu dem großen stehenden Mann empor.

Endlich schüttelte er den Kopf und sagte:

»Kannst du mir helfen, Hick? Wo habe ich dein Antlitz schon früher einmal gesehn?«

Hick versetzte, er könne es nicht sagen. Aber Seine Lordschaft würde aus den Protokollen wissen, daß er, Hick, in siebzehn Gefechten dabeigewesen sei, von Oxford anno 43 bis Preston; da könne er ja öfters die Ehre einer Begegnung gehabt haben.

Der Lord-Protektor hatte sich, während Hick sprach, vorgebeugt, um dringlicher und fast ängstlich bemüht in das graue Gesicht emporzuschauen, in dem außer dem Mund sich nichts bewegte.

»Du regungsloses Gesicht«, trat es dann über seine Lippen, »wo bist du schon einmal über mir gewesen?«

Das Antlitz erwiderte nichts. Cromwell setzte sich langsam zurück, strich über seine Stirn, lächelte, schüttelte wieder den Kopf und sagte:

»Als hinge mein Leben daran … Als ich in dem Wagen stand und deine Klinge über mir war und die Drohung deiner Augen – das war –« Er sprach den Satz nicht zu Ende, schwieg und senkte die Lider.

Nach einer Weile tat er die Frage:

»Zu Basing-Haus bist du geboren?«

Hick zögerte, ehe er versetzte:

»Nein, Mylord, die Wahrheit zu sagen. Ich gab es zu Protokoll, weil – es so einfacher war.«

»Warum war es einfacher?«

»Ich bin dort aufgewachsen«, erwiderte Hick; Cromwells Gesicht verdunkelte sich; er sagte:

»Hick, deine Stunden sind gezählt; morgen früh stehst du vor dem letzten Richter.«

»Dem ich nichts werde verbergen können, Mylord, denn er weiß es.«

»Nun, Hick, du kennst ihn ja gut, du bist in der Bibel zu Hause.«

»In der Bibel, ja«, erwiderte Hick; und er erklärte, es sei kein Verdienst, denn ihm bleibe fast alles, was er lese, im Kopf.

»Dann ist es schade um dich und mich – ich könnte dich gut gebrauchen.« Cromwell lachte und fragte: »Was heißt das aber, Hick: In der Bibel, ja? In der Bibel ist Gott.«

»Nein«, sagte Hick, »in dem bin ich nicht so zu Hause …« Er setzte hinzu: »Noch nicht.«

»Was willst du damit sagen?«

»Das, was ich sage, Mylord.«

»Das Leben, willst du sagen, hat dich den Herrn nicht gelehrt?«

»Nein, Mylord. Was ich sagen kann, wäre: daß ich auf ihn warte. Vielleicht schon lange, Mylord. Vielleicht erst seit heute mittag.«

Nun war es lange Zeit still. Cromwell sah vor sich hin und fragte endlich mit einem nachsichtigen Lächeln:

»Und wie kamst du nach Basing-Haus, Hick?«

»Mylady Pawlet, Marquise von Winchester, hatte ein großes Herz für die Armut. Wenn sie in London war, fütterte sie zwanzig Bettelkinder mit ihren eigenen Händen am Sonntag. Einmal war ich darunter; sie schenkte mir einen Apfel. Ich hatte aber mehr Augen für das Schimmelgespann vor ihrem Wagen als auf den Apfel und sie selbst, und da fragte sie mich, wie ich heiße. Ich aber schlang bereits an dem Apfel und bekam den Schluckauf und sagte statt einer Antwort: Hick. Alle Ladies, die da standen, lachten.«

Auch Cromwell lachte herzlich, während der Erzähler keine Miene verzog, als er fortfuhr:

»Etwas an mir scheint ihr gefallen zu haben, denn sie fragte mich, ob ich Pferde gern hätte und ob ich etwas werden wolle, und ich antwortete jedesmal Hick, denn ich merkte, das wollte sie hören. So kam ich nach Basing-Haus ins Gestüt, und sie gab mir den Namen Hick, denn ich hatte keinen außer James. Später wurde ich Bereiter. Ich darf sagen, daß ich eine doch wohl gute Hand habe für Pferde.«

»Ja, es sind herrliche Tiere, eigens für den Menschen geschaffen. So – du bist von unten gekommen? Ich bin auch von unten gekommen«, sagte Cromwell befriedigt. »Was hoch werden will, muß aus der Tiefe kommen – mit der Gnade des Herrn. Aber du, Hick –.« Es war nicht zu erkennen, ob er scherze oder ernste – »du wärest fast in eine andre Höhe gekommen.«

»In eine Erniedrigung«, versetzte Hick, »und es steht geschrieben, daß die sich selbst erniedrigen, erhöht werden sollen.«

»Du triffst immer das Rechte. Sprich jetzt weiter: Hattest du keinen Namen, so hattest du wohl keine Eltern?«

»Nein, Mylord.«

»Warst du immer unter den Bettlern?«

»Nein, Mylord. Erst seit ich dem Kapitän entlief, der mich in Lübeck dem Mann abkaufte.«

»Was für einem Mann, Hick? Mann, ich ziehe leichter Rettiche aus meinem Garten als deine Antworten.«

»Der mit mir betteln ging in Deutschland, der Mann.«

Das graue Gesicht starrte zu Boden, unbeweglich. Wie aber dann seine Augen sich langsam zu dem begierig aufblickenden Frager erhoben, und wie dessen Augen von einer fast drohenden und hoffnungslosen Schwere getroffen wurden, zuckten sie zusammen, er schlug sich vor die Stirn und rief aufgeregt:

»Ich sehe, ich sehe! Nun sehe ich dein Gesicht! Basing-Haus – warum sah ich es nicht eher? Du warst in Basing-Haus, als wir es stürmten? Erinnerst du selbst dich nicht? Wie wir in die Bresche strömten, sprang einer von der Mauer und hieb sich durch bis zu mir. Da stürzte mein Pferd durch eine Kugel, und ich lag halb kniend, als du über mich kamst, und mein Schwert war fort, ich hatte nichts, mich zu schirmen als meinen fleischernen Arm. Aber du schlugst nicht zu.«

»Ja, Mylord, so war es. Ich wußte ja nicht, daß Ihr es wart. Mich selbst traf ein Hieb mit dem Kolben.«

Cromwell hörte indes nicht mehr. Er lag zurückgesunken im Stuhl, die Hände um die Lehnen gekrampft, heftig atmend, die Augen geschlossen, und seine Stirn beperlte sich mit Schweiß. Mit der Zeit wurde seine Brust ruhiger. Seine Augen öffneten sich mit dem Blick nach oben, zum Fenster hin, dessen Helle jetzt mit dem sinkenden Tageslicht die schmale Zelle der Länge nach und ihn selbst überströmte. Seine hellen Augen gingen immer klarer und glänzender auf, inbrünstiger und zugleich reiner. Es war am Ende kein Schauen mehr, sondern nur Leuchten. Dann stand er auf, kniete auf den Boden nieder und fing, den Kopf beugend, an:

»Nicht uns, Jehova, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre!

Um deiner Gnade, um deiner Wahrheit willen.

Warum sollen die Heiden sagen: wo ist doch ihr Gott?

Ist doch unser Gott im Himmel; alles tut er, was ihm wohlgefällt.

Ihre Götzen aber sind Silber und Gold, Werke von Menschenhänden.

Die haben Münder und reden nicht; Augen haben sie und sehen nicht.

Die sie verfertigen, werden ihnen gleich, jeder, der an sie glaubt.«

 

Cromwell sagte, als er wieder in seinem Stuhl saß:

»Das sind die Worte des einhundertundfünfzehnten Psalms. Sie brannten in meiner Brust – in der Nacht, bevor wir Basing-Haus mit Sturm nahmen, das sechsmal belagerte Bollwerk der Ketzer und Götzendiener.

Gott der Herr gab es in meine Hand. Er lenkte, wo ich zu lenken glaubte.

Denn ich wagte es nie ohne ihn, und wenn ich Ruhm gewann, ist es seiner.

Ich sage dir – mein Herz quillt über, denn eben ist es sehr erschrocken. Denn der Herr zeigte mir an, daß er es war, der zweimal das Schwert ein und desselben Mannes über mir hob – und mich schonte, um mich zu warnen, daß er immer über mir ist.

Er hat auch meine Tage voraus gezählt. Er spricht: Ich weiß, wieviel es noch sein werden, du aber nicht. Sieh du zu, wie du sie anfüllst.«

Er schwieg und stand langsam und schwerfällig auf. Eine Weile ging er hin und her in der Zelle, die Hände auf dem Rücken, blieb dann vor Hick stehen und sagte, die Hand zu seiner Stirn emporstreckend, mit einer leisen Berührung und leiser Stimme:

»Also das Schwert über dir muß ich abwenden.«

 

Das Tageslicht in der Zelle erlosch so plötzlich, als wäre es ausgeblasen. Der zum Leben begnadigte Mann hatte die Hand des Protektors ergriffen und auf seinen Kopf gelegt. Nun kniete er nieder und reichte etwas Weißes, das er vom Boden hob, Cromwell hin, indem er sagte: »Sire, Euer Taschentuch.«

Cromwell hatte es gebraucht, um seine Stirn zu trocknen, aber so wenig wie Karl Stuart bemerkt, daß es ihm entfiel. »Wie nennst du mich?« rief er, als er die den Königen gehörende Anrede hörte, verwirrt. Aber Hick erwiderte nichts; er weinte.

Auch Cromwell fing an zu weinen. »Ach, mein Gott«, sagte er, »wann hörst du auf mit den Schlachten! Laß mich lieber nach Huntingdon gehen! Laß mich meine Kinder liebhaben! Ich bin ja so müde.«

Er erholte sich indes bald. Die verschiedenen Erregungen flossen zu einer einfachen Milde zusammen, die in ihrer gestillten Klarheit von einer schöneren Majestät war als der Glanz äußerer Taten. Er winkte Hick, sich zu setzen, und der ließ sich auf dem Strohsack hin. Durch die Guckluke in der Tür kam der rötliche Schein einer Fackel, eine Stimme fragte von draußen, ob Licht gebracht werden solle, Cromwell bejahte, und bald erhellte eine Wachsfackel, an der Wand steckend, den Raum.

»Der Mann, der dich in Lübeck verkaufte, James Hick«, fragte Cromwell, »wie geht es nun weiter?«

»Mylord«, erwiderte Hick, »mit dem Mann hat es weiter nichts auf sich. Er ist nur gleichsam – die Tür – zu dem Raum, den ich verschlossen halte. Nicht weil das, was darin ist, das Licht scheuen müßte. Sondern eher weil das Licht sich schämen muß, es zu sehn.«

Cromwell sagte: »Es ist der Herr, der das Licht gibt«, und Hick sagte, er wolle nun auch anfangen, es sei nicht sehr viel.

»Geboren bin ich in Deutschland. Der Ort ist mir nicht bekannt. Meine Erinnerung sieht Haufen von Weidenruten und Reisig. Ich schließe daraus, daß mein Vater Körbe und Besen band, und daß wir davon lebten, fünf Menschen, zwei Erwachsene und drei Kinder. Auch an eine Ziege kann ich mich erinnern, an ein Stück Gartenland und an Wald, an seine Himbeersträucher und die Pilze, die wir suchten, und an eine Hand, die mich in den Wald führte, es war die meiner Schwester, die wohl doppelt so alt war wie ich, und ich hatte sie sehr lieb, denn eine Mutter hatten wir nicht. Die Hütte war nur ein Raum, da lebten wir mit der Ziege. An windigen Tagen wirbelte sie ganz voll Rauch, denn es gab keinen Kamin, und die Balken über dem Herd glitzerten kohlschwarz von Ruß, wenn die Sonne zur Tür hereinschien.

Mylord – der Krieg in Deutschland muß einige Jahre vor meiner Geburt begonnen haben. Er wurde, wie man sagt, um des Evangeliums willen geführt; aber die Weise, wie er geführt wurde, war die Weise der Hölle.«

»Ach, Hick, ich weiß, sie haben schlechte Mannszucht gehalten, auf beiden Seiten, die Schweden auch, nach des Königs Tod. Einen Krieg in Gewalt zu behalten, ist schwerer, als ihn zu führen. Ich weiß, du denkst jetzt an Basing-Haus – wenn es nicht sieben Belagerungen getrotzt hätte – und was für Schaden tatet ihr uns, jahrelang, alle Transporte finget ihr ab – dafür ist es dem Boden gleich gemacht – furchtbar haben wir da gehaust – der Herr mußte es strafen – aber wir mußten es ausführen. Nun, rede weiter.«

»Ich meine nicht das, Mylord. Ich meine das, was mir widerfahren ist. Ich vermute, daß ich damals zehn Jahre alt gewesen bin. Und ich hatte bis zu dem Tage noch nichts vom Kriege gesehn, und wie ich nicht angeben könnte, in welchem Glauben ich aufwuchs, so kann ich auch nicht angeben, ob sie kaiserlich waren oder ligistisch an dem Tag – an dem Tag, von dem mein Gedächtnis mir nichts aufbewahrt hat als eins.

Daß plötzlich geschossen wurde; daß gelaufen wurde und geschrien und getrommelt, daß buntgekleidete Männer kämpften und sich erschlugen, und daß es läutete, daß es brannte – das ist alles ein leibloser Wirrwarr von Schatten. Auch daß in unserer Stube Getümmel war, Schüsse und Dampf und kämpfende Schatten. Und dann weiß ich noch eine lange Stille.

Und dann kamen sie – Menschen, die keine Gesichter mehr hatten. Mein Vater – ich denke, er war das, der sich dazwischen warf, als sie sich auf meine Schwester stürzten; er bekam einen Hieb, daß er zusammenbrach. Einen Blutstrom sehe ich aus seinem Munde, sein ganzes Gesicht klaffte, ich schrie unaufhörlich. Dann habe ich das an meiner Schwester geschehen sehn.

Es ist keiner lebendig geblieben als ich.«

 

Es war still in der Zelle; der Erzähler saß steif grade, Cromwell hielt seine Augen geschlossen.

»In der Stunde«, sagte Hick, »ist mein Gesicht stehengeblieben. Ich merkte es freilich erst später, als ich zu lachen versuchte und nicht konnte.

Ich bin doch ein Mensch geworden wie alle, mit den Fähigkeiten, die ich bekam. Denn das Einfache ist das Stärkste – die Menschlichkeit setzt sich durch. Aber – Mylord, was ist ein Gesicht? Es ist nur das Zifferblatt an der Uhr; bleiben die Zeiger stehn, so steht drinnen das Werk.

Darum habe ich wohl das gesagt, daß ich warte. Es war nur eine Rede des Augenblicks, denn Euer Gefühl hatte mich ergriffen. Gewartet habe ich früher nicht. Mylord glaubt – ein jeder tut es. Ihr habt das Organ, ihn zu fassen.«

Cromwell sagte: »Ein jeder hat es, Hick. Denn er hat es von ihm.«

Hick lächelte trüb aus den Augen, indem er versetzte: »Dann hat er es bei mir außer Funktion gestellt.«

»So wird es sein, Hick. Fahre nun fort, beende deine Geschichte.«

»Sie ist schon zu Ende, Mylord. Ich bin auf die besagte Weise nach England gekommen. Von dem Leben, das ich geführt habe bis Basing-Haus, war nichts zu behalten.«

Cromwell saß eine Weile nachsinnend, bis er dann sagte:

»Ich werde ausfindig machen, was mit dir geschehen soll. Denn ich kann dich nur vom Tode begnadigen, und du kämst lebenslang in den Kerker. Aber wärst du frei –« Er stieß ein kurzes Lachen hervor und sagte trocken: »Ich und England – wir können dich nicht gebrauchen.«

»Mylord – des Königs Majestät ist in Holland –«

»Mache mich nicht unwillig, Hick. Du mußt aufhören, gegen England zu kämpfen.«

»Ich will es auch nicht, Mylord. Aber ich muß vom König die Gnade erbitten, daß er mir meinen Eid zurückgibt.«

»Und dann geh in dein Land zurück, ja, das solltest du tun. Siehst du, Hick, du bist mir ein Beispiel. Du bist Deutscher; und der Pfälzer Ruprecht ist Deutscher. Henriette, Karls Frau, ist Französin, und er selber ist Schotte. Summa summarum: Was heißt das? Es heißt, daß ich, Oliver Cromwell, ich, das Volk von England, mit Richelieu, mit Ludwig, mit dem Kaiser, mit Rom und mit Holland – daß wir mit dem ganzen Ausland zu kämpfen haben.

Aber so spricht Salomo in der Weisheit: ›Mein Sohn, merke auf meine Weisheit, neige meiner Einsicht dein Ohr:

Von Honigseim triefen die Lippen der Fremden, und glatter als Öl ist ihr Gaumen.

Aber zuletzt sind sie bitter wie Wermut, scharf wie ein zweischneidiges Schwert.‹

Der Geist der Fremde ist in Karl Stuart gefahren – das ist Satans Geist unter den Völkern. Aber bei uns ist der Herr, und bei uns ist der Sieg. Denn wir sind der Sinn und die ernste Mannheit von England.

Also geh in dein Land zurück.«

»Ich habe die Sprache vergessen, Mylord.«

»Lerne sie wieder. Kehre auch zu deinem guten Gewerbe zurück, Karl wird dir Empfehlungen geben. Ja, sage mir eins, Hick – was hat dich so unsinnig gemacht, auf eigene Faust Krieg zu führen?«

»Ein Taschentuch«, erwiderte Hick. »Karls Taschentuch – habt Ihr es nicht gesehn, Mylord, wie es hinfiel am 22. Januar 49 – und niemand war da, es ihm aufzuheben –«

»Du tatest es, Hick, du warst das – ich habe es wohl gesehn.«

»Da leistete ich einen Eid, es an allen zu strafen –«

»Ach, Hick«, rief Cromwell erheitert, »dann hast du es heute vergessen! Was hast du gesagt, als du mir mein Taschentuch gabst?«

»Es war ein lapsus linguae, Mylord.«

»Ja, Hick«, sagte der Lord-Protektor, sich aufrichtend, »du weißt, daß ich diese Würde von mir gewiesen habe.« Sein Gesicht lief rot an, er stand auf und trat vor Hick, blickte zu ihm empor und sagte mit trübem Lächeln:

»Wenn ich einen Sohn hätte wie dich … Ich habe einen Sohn – aber Richard – er wäre nicht besser als Karl. Gott hat es so gewollt, damit ich sehe, daß Herrschaft nicht geerbt werden soll.

Nun, Hick, ich sage dir Lebewohl. Mir scheint, es gibt ein altes Gesetz in England – danach wird der Henker deinen Nacken mit seinem Schwert berühren und eine Narbe daran zurücklassen, damit es sei wie Mose im vierten Kapitel: ›Er machte ein Zeichen an Kain.‹ Danach kannst du sein, wo du willst – außer in England, und seinem Gesetz bleibst du verfallen.

Fahr wohl – ich weiß, du wirst meiner gedenken; ich werde es auch tun. Geh in dein Land zurück! Geh nach Deutschland.«

 

Unter sanften Segeln

Das Licht der Fackel verdunkelt sich. Da steht noch die Gestalt des begnadigten Mannes in dem groben Hemd; und wie er noch die seines Beschützers in der Tür umfaßt, der seine Hand zum Gruß erhebt und verschwindet, so schwindet auch er und der Raum und das Fackellicht in der Nacht.

Im Dunkel beginnt es zu rauschen. Das ist Wasserrauschen. Steigend und sinkend im Wechsel rauschen die langen Wasser der Deutschen Bucht unter der nächtlichen Finsternis, und etwas heller dazwischen ist das Aufrauschen der Bugwelle zu hören, wenn das gleitende Schiff sich ins Tal der Woge hinabsenkt. Einsam – ein einsamer Vogel mit ausgebreiteten Fittichen – kommt es aus dem Dunkel über das Meer, still schwebend, sichtbar, wie der kalte, weiße Schein der Frühe im Osten über der Küste von Schleswig aufsteigt. Weiter nordwärts über dem dunklen Rücken der See wird der Himmel hellblau. Dort steht einsam ein weißer, funkelnder Stern; über ihm ist der Himmel braun von Gewölk. Und nun ganz nah schwebt das vogelgleiche Schiff in der Morgenstille heran, schimmernd von zwei Türmen der vielen Segel übereinander, gebaucht, mit hohem Kajütenaufbau über dem Heck. Alle seine Segel bis oben entfaltet, um den letzten Hauch des Windes zu fangen, zieht es in der meeresweiten Mündung der Elbe Cuxhaven zu; kaum merklich senkt sich und steigt mit dem breiten Bug voll Schnitzerei und Vergoldung die Galionsfigur der fischschwänzigen Nixe, die in erhobenen Armen das Wappen von Hamburg über sich hochhält.

Regungslose Gestalten stehen hier und da an Deck; und jene dort an der Bordschanze, die mit einem schottischen Plaid über Kopf und Schultern vermummt ist – denn ein feiner Sprühregen fällt – das ist Janna duCoeur. Die dumpfe, von vielen Schläfern verbrauchte Luft in der Kajüte hat ihr den Schlaf genommen, auch das Nahen der deutschen Küste, die von Erwartungen dämmert. So steht sie innerlich fröstelnd und sieht die Mole von Cuxhaven dunkel wie einen langen Arm liegen und den zackigen Schattenriß der Speichergiebel in langer Reihe erscheinen, da es mit jeder Minute heller wird. Dann erschallen Kommandos, schrille Pfeifen, das Laufen von nackten Sohlen, und unter dem Ächzen des Gangspills rasselt die Kette des leichten Bugankers in die Tiefe. Das Schiff dreht leise bei und liegt still mit erschlaffenden Segeln. Es wird immer heller.

 

Ein Boot fuhr mit Rudern aus dem Hafen auf die wartende Brigg zu. Wie es näher kam, wurde vorn ein stehender Mann erkennbar, in Regenumhang und Südwester. Und wie nun das Boot, das den Lotsen brachte, in dem unruhigen Gewässer eine Zeitlang brauchte, um mit wechselndem Eintauchen der Riemen an die hohe Bordwand der Brigg zu kommen, endlich die Fangleine flog und gefaßt wurde und das Boot unter das Fallreep gezogen, blickte Janna auf den stehenden Mann hinunter, der emporsah. Unter der Krempe des Südwesters war ein langes Gesicht mit kräftig gebogener Nase, unter der ein nasser roter Schnurrbart herabhing, und Janna rief sogleich: »Thomas!«

Indem aber schob sich vor dieses ein anderes Gesicht, das braungrau war, flach und breit, ohne Regung, mit dunkel blickenden Augen. Danach fiel über Jannas Augen ein Schleier, und es wurde Nacht.

Sie hatte dies schon zu öfteren Malen gehabt, diese Verdunkelung ihres Blicks, die minutenlang dauerte. Es hatte in London begonnen, bald nach ihrer Ankunft, mit einem Zwinkern der Augen, einer Trübung dann, einer Verschleierung, einer Verdunkelung endlich – wenn sie sich in Gedanken verlor. Sie selber kannte die Ursache nicht, denn es kam keineswegs immer wie jetzt das Auftauchen des imaginären Gesichts vorher. Aber auch die Bilder in uns, die wir nicht sehen, üben ihre Wirkung. Etwas wollte sichtbar werden – dann zwinkerte sie es weg mit den Augen; dann mußte sie die Lider zudrücken. Am Ende – nun, am Ende strafte sie die Augen, die immer noch sahen, was sie nicht sehen sollten, mit Blindheit.

Sie dauerte diesmal lange. An der Bordschanze die Hände, hörte Janna die Kommandos, Schritte, Geräusche; dann drehte sie sich um und hielt die starr offenen Augen in der Richtung, aus der alsbald eine hohe und helle Männerstimme fragte: »Janna – bist du es?«

»Thomas«, erwiderte sie lebhaft. »Wie kommst du hierher? Und wie hast du dich verändert! Du siehst wie ein Seefahrer aus.«

Es war wieder hell geworden, sie sah ihn dicht vor sich stehen, er schlug den Umhang auseinander, so daß die schwarze geistliche Kleidung mit weißen Beffchen unter dem Kinn sichtbar wurde, und holte einen breitkrempigen hohen Hut hervor, den er mit dem Südwester vertauschte. Sein Gesicht hatte einen schweren Ausdruck, er ergriff ihre Hand und sagte, er bringe nichts Gutes und sie würde erschrecken.

Janna fuhr zusammen und sagte: »Mutter –«

»Ja«, sagte er leise; und nach einer Weile: »Du hast sie nicht mehr.«

Die Tränen stürzten aus ihren Augen, und sie legte sich über die Reling; ihre Knie versagten, sie gab nach und legte kniend den Kopf auf das Holz und weinte, solange sie konnte.

Thomas – ihr Vetter Thomas Becker – erklärte ihr dann, daß es schon vor Wochen geschehen sei, aber keine Nachricht nach England zu bringen war. Nun sei er nach Cuxhaven geritten, damit sie nicht erst beim Betreten des Hauses überrascht würde. »Ich fürchte«, sagte er, »sie hat dir die Verschlimmerung geheimgehalten, da dir gerade der Onkel gestorben war; sie schrieb nur unter großen Schmerzen. Sie hat sich nach dir gesehnt, aber – sie war auch wieder froh, daß du nicht dabei warst.«

Janna blieb stumm; sie konnte jetzt wieder nichts mehr sehen und mußte ihn bitten, sie in die Kajüte zu führen. Dort lag sie dann auf dem Bett und ließ dem Schmerz seinen Willen – während nach einigen Stunden völliger Windlosigkeit der Wind sich aus Westen erhob, die Brigg den Anker lichtete und durch den stärker fallenden Regen mit der Flut das gelbe Gewässer der Elbe hinabfuhr.

Am Nachmittag kam Janna, da der Regen nachließ, wieder an Deck, sehr blaß, mit geröteten Augen, ein schwarzes Spitzentuch um den Kopf, aber wieder sehend und ruhig. Sie und Thomas saßen auf Stühlen unter dem Großmast, und er berichtete, bis er nichts mehr wußte.

Nun müsse er aber, fing er nach einem Schweigen an, etwas anderes berichten, das leider auch von trauriger, aber auch von einer peinlichen Art sei. Er sprach gewunden und gestört durch eine Nötigung zur Diplomatie, die seiner einfachen Natur fremd war; um was es sich handelte, war dies.

Von Jannas Verlobtem war ein Brief gekommen des Inhalts: daß ein großer Brand von unbekannter Ursache gewütet habe und einen Teil des Schötmarer Schlosses mit allen Wirtschaftsgebäuden in Asche gelegt. Das Feuer, in den Stallungen ausgebrochen, habe, schnell um sich greifend, von allem Vieh und den Pferden nur wenige Stück retten lassen, auch alles Gerät, Wagen und Karossen vernichtet. Doch war nicht einmal dies das Ärgste, obgleich Neuanschaffungen bei der harten Zeit kaum erschwinglich waren; sondern daß den alten Vater Hans Edlevs die Aufregung fast das Leben gekostet hätte. Ein Schlagfluß hatte ihn getroffen und seine unteren Gliedmaßen gelähmt.

»Oh«, sagte Janna, »ich verstehe, ich werde sogleich hinfahren.«

»Sogleich hinfahren?« wiederholte er. »Das hatten wir nicht gedacht.«

»Warum solltet ihr es auch denken?« Sie lächelte flüchtig und fragte ihn, ob er den Brief bei sich habe; aber sein Vater hatte ihn in Verwahrung genommen. Er drückte sich darüber so wenig geschickt aus, daß sie ihn gradezu fragte: »Warum soll ich den Brief nicht lesen?«

Nun kehrte er zu seiner natürlichen Offenheit zurück und erklärte, für seinen Vater und ihn und auch die andern Verwandten sei ein Ton der Unwahrheit, oder der Unwahrscheinlichkeit in dem Schreiben gewesen, was freilich auch an dem gezierten, halb französischen Stil liegen könne, den die deutschen Kavaliere für vornehm hielten. Denn die quinta essentia des Schreibers sei doch –

»Quinta essentia«, sagte Janna, »ist das deutsch?«

Er errötete, denn seine Reden waren mit lateinischen Worten gefleckt gewesen. Der Hauptpunkt des Schreibens war also, daß Wagen und Pferde fehlten, um Janna in Hamburg abzuholen, daß auch ihr Verlobter seine Eltern jetzt nicht allein lassen könne und er sie deshalb bitte, allein zu fahren – mit einer Reisegesellschaft, die sich wohl fände.

Inzwischen war aber Jannas Mutter gestorben, was ihr Verlobter noch nicht wußte, doch war es ihm jetzt mitgeteilt worden. Janna scheine das, setzte Thomas nicht ohne Strenge hinzu, vergessen zu haben, und daß die Sitte ein Trauerjahr vorschreibe. Sie konnte darauf nichts antworten, ihre Augen flossen sogleich über, und nun ergriff er ihre Hand und bat sie um Verzeihung, wenn er sie verletzt habe. Sie habe wohl gewußt, versetzte Janna, daß alle gegen ihre Verlobung wären, doch das könne sie wohl nicht ändern, und ihr scheine jetzt nur, daß ihr Verlobter sie nötig habe, und wenn es einen Zeitpunkt gäbe, wo ein Weib zu seinem Mann zu stehen habe –

»Du bist erst verlobt«, flocht er beinah ärgerlich ein, »und du hast selbst einmal recht leichthin gesagt, daß verlobt nicht verheiratet ist.«

»Hast du das behalten?« fragte sie zurückgelehnt, durch zusammengezogene Lider auf ihn blickend, was ihn in Verwirrung brachte. Sich ermannend erklärte er, daß sie eine Vollwaise sei und ihre Verwandten über sie zu wachen hätten, was aber Janna plötzlich auflachen ließ. Den Grund dazu wollte sie nicht angeben – Schwerter und Pistolen, durch die sich die Vollwaise hierher gekämpft hatte. Sie sah ihn nur triumphierender an, und er sprach eifrig weiter: ob es ihr denn so eile, wieder fortzukommen, da sie kaum erst da sei, »und nachdem du uns so lange gefehlt hast«.

»Es ist lieb von dir, daß du das sagst. Natürlich eilt es mir nicht.«

»Er hat nun drei Jahre gewartet, er könnte wohl noch etwas länger warten. Er kann dann auch hierherkommen, und die Hochzeit kann in Hamburg stattfinden, wenn es sein muß.«

Da er sie nicht ansah, konnte er auch nicht den Keim eines Lächelns bei seinen letzten Worten auf ihrem Gesicht sehn. »Nein, es eilt mir gar nicht«, wiederholte sie, und sie dachte es auch, obwohl ihre Seele, ohne daß sie es wußte, längst die rätselhafte Drehung um sich selbst vollendet hatte, die ein Mädchen, das einen Liebhaber verloren hat, fast mit Ungestüm in eine Ehe hineinbewegt.

»Lieber Thomas«, fing sie nach einer Weile an, »in Hamburg möchte ich nicht lange bleiben. Ihr werdet mich undankbar finden, aber nach den drei Jahren in Somerset kann ich in keiner Stadt mehr recht atmen. In London habe ich das erst begriffen – daß eine Stadt für mich wie ein Kerker ist. Sei mir nicht böse – denke selbst an Lüneburg – da habe ich Hans Edlev kennengelernt – ja, ich weiß, ihr mögt ihn nicht, aber ich – und werft ihm vor, was ihr wollt, weil er ein Adliger ist, ein Kavalier – und wenn er weiter nichts wäre – und zügellos wäre und roh, was er alles nicht ist – ein Lügner ist er gewiß nicht! Gewiß nicht!«

Sie war rot geworden vor Eifer – nun auf einmal dunkelte es wieder vor ihren Augen. Mein Gott, dachte sie, was ist das mit mir? Was ist das? Ich muß mich zusammennehmen. Sie machte ihren Oberleib straff. Jetzt oder nie, dachte sie, und es gelang ihr mit einer äußersten Kraftanspannung, Klarheit vor ihre Augen zu bringen und zu sehn.

 

Es war Abend geworden. In seinem starken roten Schein war das Gesicht des Mannes, der neben ihr saß, ganz leuchtend; es hatte trotz der geistlichen Kleidung mit der fast verwegenen Krümmung der Nase und dem hängenden roten Bart weniger von Gebet und Kanzel als von Fahrten und Meeren an sich. Zerfließend im Glanz waren Gestalten von Passagieren an der Bordschanze, und weiter über die rot glühenden Planken des Decks hin sah sie die buntbemalte Schnitzerei an der Tür der Kapitänskajüte und das Säulengeländer der emporführenden Treppe daneben, das weiß, aber gerötet von der Abendglut war – so wie oben die zierlichen Säulen der Brüstung, hinter der der Kapitän und andre Gestalten standen und gingen, alle in die Röte der Abendflamme getaucht. Nun, über sich emporschauend, sah sie den riesigen Mast über die langen queren Rahbäume, Taue und Strickleitern hinaufschießen in das Licht, in eine sanfte Bläue, in der kleine, scharlachrote, vergoldete Wolken wimmelten. Und nun die herrlich straff gespannten, geschwellten Wölbungen der Segel, die durchsichtig golden schimmerten; unter ihnen hinweg überflutete die Sonne das ganze Schiff. So zog es, wieder nach Westen hinüberkreuzend, über die Breite des Stroms, der golden in Feuer rollte, lautlos unter sanften Segeln.

Janna stand auf und legte eine Hand an den gewaltigen, mannhaften Baum, der in einer stillen Ruhe über ihr hochschoß, legte den Kopf zurück und sah ihm nach in die Höhe. Als sie sich wieder zurückwandte, saß Thomas wie vorher, ein Bein über dem andern, seinen Hut auf dem Knie. Ihr Blick streifte über ihn weiter, aber sie hatte, ebenso wie Nase, Bart und die hohe Stirn unter dem langfallenden schwärzlichen Haar, auch gesehn, daß den Augen die Brauen fehlten und der Hinterkopf zu grade hochstieg; und das Gesicht hatte einen unglücklichen Ausdruck. Sie sagte, auf den Strom hinausblickend, nach einer Weile:

»Gefällt denn dir diese Enge, Thomas? Du siehst aus wie ein Seefahrer. Es war schön, dich als ersten zu sehn daheim …«

Er blickte erfrischt zu ihr auf und versetzte: »Du sagst ›daheim‹?«

Janna gab keine Antwort. Was sie gesagt hatte, das hatte sie gesagt, aber nicht gedacht. Somerset, erklärte sie dann, sei sehr hübsch, aber langweilig, nur Wiesen und Hügel, kein Wald; und dann fragte sie: »Sage du, hieß nicht Störtebeker einer von euren Leuten?«

»Klaus Störtebeker?« fragte er verwundert. »Das war ein Seeräuber von der übelsten Sorte – Gott verhüte, daß ich dem ähnlich wäre – ein Buschklepper zu Schiff, weiter nichts. Warum siehst du mich so an?«

Sie machte ihren Blick fest auf seinem Gesicht, während sie erwiderte: »Wie sehe ich dich an?«

»So durchdringend.«

»Ich will wissen – gibt es nicht eine besondre Geschichte von diesem Störtebeker?«

»Oh, eine Menge. Du meinst vielleicht die: wie er hingerichtet werden sollte mit einem Dutzend seiner Gesellen und als letzte Gunst erbat, daß sie in zwei Reihen vor ihm aufgestellt würden. Meinst du die?«

»Vielleicht – wie geht es weiter?«

»Er wollte dann stehend den Schwerthieb empfangen, und diejenigen, an denen er noch kopflos vorüberginge, sollten das Leben behalten.«

Jannas Blick glitt langsam zu Boden; dann raffte sie ihr Schultertuch um sich und ging fort zur Bordschanze, an die sie sich lehnte. Später sah sie Thomas an ihrer Seite mit einem besorgten Ausdruck, und sie sagte:

»Meinst du nicht – wer das könnte – über den Tod hinweg – so –« Sie machte eine Handbewegung – »über den Tod sich hinwegwerfen?«

»Das wäre wohl überheblich. Bis an den Tod ist es schwer genug.«

»Eben weil es schwer ist.«

»Sei getreu bis an den Tod; dann wird dir die Krone des Lebens. Aber du –« er lachte etwas bitter, »du willst schon hier eine.«

»Markgrafen«, sagte Janna, »haben nur einen Hut.«

»Und wenn einer dir eine richtige böte?«

»Ich würde sie gradezu nehmen.«

»Ohne zu fragen, wer sie auf dem Kopf hätte?«

Sie lächelte voller Bosheit, indem sie versetzte: »Nein, Thomas, ich glaube nicht.«

Seine Züge verdunkelten sich; aber dann sagte er mit unverhoffter männlicher Güte:

»Ich hoffe doch.«

 

Reise

Über Janna, über dem Schiff, über dem ruhig ziehenden Elbstrom sinkt die Nacht. Aber aus Nacht wird wieder Tag, Nächte wechseln mit Tagen, und Posten wechseln zwischen Hamburg und Schötmar. Janna schrieb, sie sei angekommen, und da der Brief sonst nur die Beteuerung enthielt, daß sie nichts so sehr wünsche, als im Unglück ihrem Verlobten Trost und Beistand zu sein, so enthielt sein Antwortbrief nur die Beteuerungen seiner Verzweiflung über die Zumutung, die er an sie stellen müsse, sowie der Dankbarkeit und Ergebenheit; dazu Anweisungen für die Reiseroute. Janna zeigte den Brief, der sich durch ungezierte, natürliche Wendungen auszeichnete, ihren Verwandten, und sie wußten nichts einzuwenden als den wiederholten Vorhalt des frischen Todes ihrer Mutter; Janna blieb indes störrisch und sagte, hinreisen bedeute nicht sogleich heiraten, sie könne auch wohl zurückkommen, wenn es da ihren Hoffnungen nicht entspreche, sie sei das Reisen bereits gewohnt, ihr sei schon mancher Wind um die Nase geweht – worüber sie sich übrigens ausschwieg. Der Name James Hicks kam nicht über die Schwelle ihrer Lippen, da er nicht mehr bis zu der ihres innersten Herzens gelangte.

Schötmar grenzte an die Grafschaft Lippe-Detmold; Janna hatte nach der Stadt Herford im Lippeschen zu reisen, sollte dort im Gasthof »Zum neuen Schwan von Lippe« absteigen und gewärtig sein, daß dort täglich nach ihr gefragt würde. Da sie die Fahrt nicht unbegleitet machen konnte, fand sie zu ihrem Glück die Witwe eines verarmten Kaufmanns, die eben in diesen Tagen dem Pfarrer, Jannas Onkel, ihr Leid klagte, nicht zu ihrer Familie in Minden an der Weser, woher sie stammte, reisen zu können. Dort hoffte Janna jemand anders zu finden, es sollten nur mehr zwei Tage von da bis Herford sein. Sie kaufte sogleich einen Wagen und Pferde sowie einen Karren mit einem Plandach für ihr Gepäck, ohne nach den Kosten zu fragen; nachdem sie in ihrem Leben allezeit das gehabt hatte, was sie brauchte, und noch mehr, so hatte sie für Geld kein Organ entwickelt. Übrigens besaß sie außer dem Ererbten vom Onkel Edward ein kleines Vermögen vom Vater her, das sie aber in Hamburg zurückließ. Die Gesamtkosten der Reise waren nicht gering, denn auch Lohn, Nachtquartier und Verpflegung für eine Anzahl bewaffneter Reiter hatte sie zu tragen; sie waren zur Sicherheit, besonders in dem öden Lüneburger Heideland unerläßlich, wo oft die Reste von Dorfgemeinden zu Räuberbanden geworden waren; und verwahrloste Soldateska trieb sich noch immer im ganzen Reich herum.

An diese Fahrt von Hamburg nach Herford hat Janna späterhin als eine ihrer besten Leistungen zurückgedacht, konnte sich indes niemals erinnern, wie lange sie gedauert hatte – ihr schien sie ohne Anfang und Ende –, doch waren es mehr als drei Wochen. Die Gesellschaft bestand außer Janna aus ihrer Magd oder Zofe, der Witwe und ihren drei Kindern, von denen das älteste fünf, das zweite drei und das jüngste eben von der Brust entwöhnt war; infolge der verschiedenen Milch, die es unterwegs bekam – nicht selten von einer Ziege –, litt es beständig an Durchfall, behielt bald fast nichts mehr bei sich und kam so von Kräften, daß es am Ende der Reise auch am Ende seines Lebens zu sein schien; ob es lebendig davongekommen ist, hat Janna nie erfahren. Allein das war längst nicht alles. Es war nun Oktober; die Zurückbleibenden erfreuten sich mit Janna des goldenen Herbstwetters am Tage der Abfahrt; aber am nächsten Morgen war die Welt im Nebel unsichtbar, dann begann Regen zu strömen und hörte mit geringen Unterbrechungen bis gegen Minden zu nicht wieder auf. Den Reisewagen fanden die Hamburger komfortabel genug, doch war es keine Karosse wie die uns bekannte im reisegewohnteren England: ein Mittelding zwischen Kutsche und Bankwagen, auf derben Rädern, ohne Federung, mit einem lederbezogenen Holzdach, nur mit Lederpolstern auf Bretterbänken und ölgetränkter Leinwand an den Seiten, die dem gegenpeitschenden Regen nicht gewachsen war. Dadrin hockten die sechs Tag um Tag zusammengedrängt, mit den Fußsohlen bald immer in Nässe, frierend unter Mänteln und Decken, mit dem unablässig schreienden Kind – bis ihm die Kräfte dazu vergingen und es nur noch schwach wimmerte – von der hilflosen, nun verzweifelnden Mutter ganz zu schweigen – Janna fast unausgesetzt und bis zur Heiserkeit den beiden anderen vorsingend oder erzählend oder Gebete und Sprüche in sie hineinquälend. Halbe und ganze Tage schüttete der Regen so, daß die Straße im Dampf verschwand, der Wagen wieder und wieder im Morast steckenblieb und sie in so gemeinen Schenken liegenbleiben mußten, daß Janna die von Schmutz starrenden und von Ungeziefer wimmelnden Betten nicht zu berühren wagte und manche Nacht in einem Lehnstuhl verbrachte oder auf ein paar Decken in der Küche neben dem Herd. Holte sie auch den ausgebliebenen Schlaf in anderen Nächten nach, so war ihre zarte Körperlichkeit all dem Ungemach trotz aller Willensanspannung auf die Dauer nicht gewachsen; ihr Kopfreißen quälte sie unablässig, sonst hielt sie sich gesund, aber nur bis Minden; kaum daß sie allein und die Bürde los war, brachen Schnupfen und Husten zugleich aus.

Und zu alledem kamen noch die Trostlosigkeit und das Grauen: halbverbrannte Dörfer, Dörfer nur aus verkohlten Resten, leere Dörfer, Menschen am Verhungern, mitunter ganze Haufen, die schreiend den Wagen umdrängten, die von den Spießen der Eskorte kaum zurückgehalten werden konnten, denen Janna Geldstücke zuwarf – unter dem grau und schwarz hinjagenden Regenhimmel die Öde der Heide, unkrautbewachsene Äcker, selten einmal ein gepflügter, selten ein Schäfer mit kleiner Herde; die endlosen Krümmen der Weser von Verden hinunter, immer fast nur Öde und Leere, im fünften Jahr nach dem Frieden von Osnabrück, aber nach Jahrzehnten des Mordens, des Feuers, der Verwüstung, der Seuchen, des Hungers – ein entvölkertes Land, das zum Himmel schrie in Entkräftung.

Jannas Zustand stimmte damit überein, als sie von Minden im Wagen allein auf Herford sich zubewegte, das niemals kommen zu wollen schien. Auch ihre Magd hatte sie in Minden verlassen; sie war sich genug gereist und ging von Janna zu einer Gräfin über, der ihre Zofe aus andern Gründen entlaufen war. Diese letzten drei Tage der Fahrt über das Wesergebirge waren arg und von Janna nur unternommen, so wie ein Mensch bei einer Feuersbrunst aus dem Fenster springt; nur aus dem verzweifelten Drang, an das Ende der Reise zu kommen – nach zwei Tagen vergeblichen Suchens nach einer neuen Begleitung. Denn jetzt allein fühlte sie sich unter ihrer Eskorte nicht mehr sicher; es waren Köpfe darunter, die sich aus dem Galgenstrick noch einmal zurückgezogen hatten, und ohne den alten ehemaligen Wachtmeister, der sie in Zucht hielt, hätte Janna die Fahrt nicht gewagt. Trotzdem ließ sie ihre Hand nicht von Kapitän Hicks wenn auch ungeladener Pistole in ihrer Manteltasche, in die sie ein Loch geschnitten hatte, nachdem sie das Instrument deutlich hatte sehen lassen. Doch kam sie vor Angst fast um, konnte fast nichts mehr essen und ernährte nur ihre Seele mit Beten.

 

Im Tor

Herford war damals für einige Jahre kurbrandenburgisch geworden; als Jannas Wagen eben vor Torschluß mit Einbruch der Dunkelheit unter das Gewölbe der breiten Torfahrt rollte, rekelten sich eine Menge Soldaten in dunkelblauen Monturen auf Bänken an der Wand. Janna, die, schon fiebernd, nichts mehr vor Augen sah als weiße Bettkissen und eine Tasse brühheißen Fliedertee, wurde für derartige Köstlichkeiten indes keineswegs freigegeben. Die heisere, aus einer ungeheuren schwarzen Bärtigkeit kommende Stimme eines behelmten Wachtmeisters kommandierte sie aus dem Wagen und ein paar Stufen hinauf in die Torstube, die überheizt und deren Luft, stinkend von Tabaksqualm, Leder, Stiefelschmiere und Schweiß, zum Atmen ganz unverwendbar war. Der rote Schein einer Wandfackel flackerte schwach in dem Dunst und ließ im Dunkel der Wölbung hinten auf Pritschen liegende Kerle sehen mit offenen Monturen und Mündern, in langschäftigen Stiefeln. Während Jannas Koffer hereingetragen, geöffnet und das Unterste darin zuoberst gekehrt wurde, drückte sie sich an den gelben Würfel des Ofens, an dem jede dritte Kachel in vertieftem Relief den schwarzen Doppeladler von Brandenburg zeigte, und die Augen wären ihr zugefallen, hätte ihr Brennen sie nicht offen gehalten. Sie sah an einem klobigen Tisch unter der Fackel den Wachtmeister und den Torwart, einen kleinen, triefäugigen Greis, kahlköpfig, aber mit einem langhängenden grauen Schnauzbart, über ihre Pässe gebeugt miteinander flüstern, in einem fragenden und antwortenden Hin und Her, das kein Ende nahm. Sie rückte vom Ofen ab, weil ihr Pelz an zu dampfen fing, und einmal in Bewegung, erhob sie sich und ging zu dem Tisch hin.

Der Wachtmeister sah zu ihr auf und sagte in seinem berlinischen Hochdeutsch:

»Jungfer, hier is wat nich klar. Denn geschrieben steht hier: reist zu dem Markgrafen von Schötmar. Stimmt et?«

Janna bejahte, worauf er erst die Achseln erhob, dann den Torwart lange und tief anblickte, um endlich zu sagen: das klänge so, als ob es ein wirklicher sein sollte.

»Wirklicher was?« fragte Janna.

»Markgraf. Aber mein Genosse hier, der hier besser bekannt is, der sagt, daß Schötmar bloß en Dorf is, und daß da auch ne Familie sich wohnhaft gemacht hat – namens Markgraf. Aber richtig in dem Sinn sind die nich.«

Janna konnte nichts als ihn anstarren. Schwarze Bartgesichter, Fackeln, ein nackter Kahlkopf schwirrten in rotem Dunst. Sie dachte noch: Da ist es – da ist es nun. Dann hatte sie sich zusammengerafft und sagte mit hoher, heller Stimme: »Das wird wohl auf eins herauskommen.« Sie nahm die auf dem Tisch liegenden Schriftstücke, faltete sie zusammen und verwahrte sie in ihrer Reisetasche, alles so ruhig sie konnte; verlangte dann, daß ihr Gepäck wieder aufgeladen würde, grüßte mit ihrem letzten Lächeln und ging hinaus. Hinter ihr scholl ein verspätetes Gelächter, aber ihre Sicherheit hatte gewirkt. Einige Minuten später ruckte der Wagen an und rollte bei Fackelschein mit ihr in die nachtfinstere, regennasse Stadt hinein.


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