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Der Akazienbaum

Draußen vor dem Stadttor steht ein großes Haus, das ist das Kinderspital. Viele kranke Kinder liegen darin.

Mitten im kalten Winter wurde das kleine Lenchen krank. Man brachte es in das Kinderspital. Dort wurde es in ein Bett gelegt und von der Schwester gepflegt, lange Zeit.

»Ach, Schwester Berta,« seufzte Lenchen, »ich bin schon so lange krank, wann werde ich wohl wieder gesund?«

Da wies Schwester Berta auf den Akazienbaum, der vor dem Fenster so kahl dastand und seine dürren Äste über die Gartenmauer streckte, und sagte: »Wenn die Akazie wieder grüne Blätter bekommt, dann wirst du wieder gesund.«

Von nun an sah Lenchen von ihrem Bett aus alle Tage durchs Fenster, ob die Akazie noch keine grünen Blätter zeigte, und sehnte sich danach.

Der Winter verging, die gute Schwester Berta kam fort, eine andere Schwester kam und pflegte die Kinder. Es wurde Frühling, alle Hecken und Büsche trieben Blätter, viele Bäume blühten schon, nur allein die Akazie stand noch kahl, wie im vergangenen Winter.

»Ach, Schwester Marie,« seufzte Lenchen, »wann wird denn endlich die Akazie grün?«

Da sah Schwester Marie hinaus auf den blätterlosen Baum; sie wußte nicht, daß die Akazien alle Jahre später grün werden als die andern Bäume, und da sie den kahlen Baum sah, antwortete sie: »Der wird wohl nie mehr grün, der ist abgestorben.«

Da erschrak Lenchen und dachte bei sich: »Dann werde ich auch nimmer gesund, dann bin ich auch abgestorben,« und das arme Kind weinte still in seinem Bettchen, wandte sich ab vom Fenster und wollte gar nicht mehr hinaussehen. Die Schwester wußte aber nicht warum und sagte eines Tages zum Arzt: »Ich glaube, dem Kind tun die Augen weh, es wendet sich immer ab vom Fenster.«

»Dann muß man einen Wandschirm vor sein Bett stellen,« sagte der Arzt, »damit es nicht ins Helle sieht.« So kam eine Wand vor Lenchens Bett, und es konnte das Fenster nicht mehr sehen.

Viele Wochen vergingen, alle Kinder, die man im Winter ins Spital gebracht hatte, waren längst wieder fort, nur mit Lenchen wurde es nicht besser.

»Willst du nicht versuchen, aufzustehen?« fragte manchmal Schwester Marie das stille Kind.

»Ich kann nicht, ich bin ja abgestorben,« sagte die Kleine, und man ließ sie liegen.

Eines Tages sprach der Arzt: »Ich begreife gar nicht, warum es mit diesem Kinde nicht vorwärts geht. Schwester, tragen Sie einmal die Kleine vor ans Fenster, damit ich sie besser sehen kann.« Lenchen wollte nicht ans Fenster, denn sie mochte den abgestorbenen Baum nicht sehen, aber Schwester Marie nahm sie auf den Arm und tat, wie der Arzt verlangt hatte. Lenchen drückte die Augen fest zu. Am Fenster stand der Arzt. »Augen auf!« befahl er. Da folgte sie und öffnete die Augen. Ihr erster Blick fiel auf die Akazie, und siehe, der Baum war über und über voll grüner Blättchen, die wiegten sich im Sonnenschein und der blaue Himmel glänzte zwischen den Zweigen hindurch, die freundlich über die Mauer herübergrüßten. Da jubelte Lenchen laut auf und rief: »Die Akazie ist grün, jetzt bin ich gesund, Schwester Berta hat es gesagt!«

Der Arzt und die Schwester sahen sich sehr verwundert an, denn sie verstanden gar nicht, was das Kind meinte, aber sie freuten sich, daß Lenchen so glücklich war. Lange, lange blieb sie am Fenster und konnte sich nicht satt sehen an dem grünen Baum, und als noch einige Tage vorüber waren, da spielte sie drunten im Garten mit andern Kindern unter dem schönen Akazienbaum und war bald wieder frisch und gesund.


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