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Hoch droben

In Berlin war an einem heißen Juninachmittag ein Dachdecker auf dem Dache eines vierstöckigen Hauses beschäftigt. Am Rand des Daches saß er und setzte neue Schieferplatten ein, wo die alten schadhaft geworden waren. Manchmal sah einer der Vorübergehenden von der Straße herauf nach dem jungen Mann in der schwindelnden Höhe. Der Dachdecker aber blickte nicht hinunter, er sah nur auf das Dach mit seinen vielen Plättchen, die glühend heiß wurden in der Sonne, und langsam ging ihm heute die Arbeit von der Hand. Die Hitze wurde immer drückender, die Sonne stach durch die Wolken; jetzt hielt er mit seiner Arbeit inne. Eine lange Reihe Plättchen hatte er eingesetzt, nun kam die nächste Reihe. Er legte sein Werkzeug aus der Hand, wischte sich den Schweiß von der Stirne und ruhte einen Augenblick. Da fiel sein Blick auf die Straße, wo die Wagen fuhren und die Menschen wandelten. Er war heute nicht schwindelfrei wie sonst, wo er ruhig in die Tiefe blicken konnte, er schloß die Augen und ruhte. Die Sonne verbarg sich hinter schweren Wolken, ein tiefer Schatten fiel aufs Dach und der junge Arbeiter schlief ein.

Dachdecker, hüte dich, deine Arbeit ist gefährlich, deine Ruhe ist's noch mehr!

Drunten in der Straße wogten die Menschen hin und her, bis ein Mann plötzlich stehen blieb. Er hatte nach der dunkeln Wolke geschaut, die sich am Himmel zusammenballte, und da hatte er die Gestalt auf dem Dache wahrgenommen. Andere Vorübergehende folgten unwillkürlich seinem Blick und blieben ebenso an den Platz gebannt stehen wie der erste. Was war dem Mann? Er lag da wie tot. Nein, jetzt rührte er sich ein wenig, der Arm, den er am Kopf gehalten hatte, sank langsam herunter über das Dach. Das Gesicht war halb verdeckt von der Mütze. Schlief er oder war er vom Hitzschlag getroffen? Von Mund zu Mund gingen diese Fragen in der immer mehr anwachsenden Menge, die mit Grauen in die Höhe blickte zu dem in Todesgefahr schwebenden Mann. Schutzleute kamen hinzu. »Der Mann muß gerettet werden, aber wie? Durch die Dachkammer kommt man schwer bei, von unten wird's besser gehen, mit der Leiter, mit der großen Feuerwehrleiter: man muß die Feuerwehr benachrichtigen, aber schnell, schnell: wenn der Mann eine Bewegung macht, stürzt er herunter in die Tiefe!«

Einige eilten davon, die Feuerwehr zu holen. Inzwischen füllt sich die ganze Straße, Kopf an Kopf steht die Menge, Wagen halten, sie können nicht durch das Gedränge kommen. Aber trotzdem ist alles still und von Mund zu Mund geht die Losung: »Nur leise, daß der Mann nicht unruhig wird, sonst ist er verloren.« Ergreifend ist die Stille und die Spannung.

Plötzlich entsteht eine Bewegung in der Menge: »Macht Platz, eine Frau ist ohnmächtig geworden.« – »Es ist seine Mutter,« sagen die Leute, »macht Platz für die Mutter.« Sie ist's ja nicht, sie ist ein ehrsames, altes Jüngferlein, aber die Leute meinen es und machen willig und teilnahmsvoll Platz. »Kommt denn die Feuerwehr immer noch nicht? Sie ist doch

sonst so schnell zur Stelle.« In Wahrheit sind erst ein paar Minuten verstrichen, seit man sie benachrichtigt hatte, aber sie erschienen wie eine Ewigkeit. Und jetzt saust sie daher mit Blitzesgeschwindigkeit, die Helme der Männer glänzen in der Sonne. Vor dem Haus wird die Leiter aufgestellt, das große Rad gedreht, bis die Leiter sich höher und immer höher aufrichtet und die obersten Sprossen endlich ganz nahe der Stelle am Dach kommen, wo der Mann liegt. Ein Feuerwehrmann steigt hinauf. Hunderte von Blicken folgen ihm, in atemloser Spannung sehen alle, wie der geübte Steiger in die schwindelnde Höhe kommt, wie er sich seinem Ziele nähert und nun, am Dach angelangt, von der Leiter aus sich rasch und fest gegen den Daliegenden stemmt.

Die Berührung weckte den Schläfer, er schlug die Augen auf und sah mit Staunen einen Feuerwehrmann auf der Leiter vor sich. Der aber rief in demselben Augenblick: »Vorsicht, oder Sie fallen!« und fest drückte er die Hände gegen den Arbeiter.

»Keine Angst,« sagte der Dachdecker, »lassen Sie mich nur aufstehen.«

»Schon recht, wenn Sie können! Wo fehlt's denn, warum liegen Sie da? Ich glaube wahrhaftig, Sie sind da oben eingeschlafen.«

Und ein wenig beschämt sagte der junge Mann: »Es muß schon so sein, es war so heiß, ich wollte nur ein wenig ruhen!«

»Das hätte Ihnen das Leben kosten können.«

Der Dachdecker richtete sich auf und staunend sah er drunten in der Straße die Volksmenge, die, als der Arbeiter sich erhob, in Bewegung geriet und laut ihrer Freude Ausdruck gab. Den jungen Mann überkam eine mächtige Bewegung, als er sah, wie um seiner armen Person willen ein solcher Auflauf war. Furchtlos trat er vor an den äußersten Rand, zog seine Mütze vom Kopf, schwang sie in die Luft und rief laut: »Hurra!« Und fröhlich klang es aus vielen Kehlen: »Hurra, Hurra!«

»Jetzt nur vorsichtig die Leiter herunter,« sagte der Feuerwehrmann, »daß nicht zuletzt doch noch ein Unglück geschieht,« aber der Dachdecker deutete auf die Schieferplättchen: »Ich kann noch nicht Feierabend machen,« sagte er, »ich muß an die Arbeit gehen, und mein Weg führt durch die Dachluke.«

»Also gut,« sagte der Feuerwehrmann, »schlafen Sie nicht noch einmal ein auf dem Dache.«

»Mein Lebtag nimmer,« sagte der Dachdecker, »ich mach' meinen Dank für die Lebensrettung.«

»Schon recht.« Der Feuerwehrmann stieg hinab. Die Menge drunten verlief sich, die große Leiter wurde weggefahren, bald hatte die Straße wieder ihr gewöhnliches Aussehen, und droben auf dem Dach arbeitete der junge Dachdecker. Jetzt ging ihm die Arbeit flink aus der Hand, er war nicht mehr müde, hatte er doch ein gutes Schläfchen gemacht; auch kamen ihm allerlei Gedanken über die Gefahr, in der er geschwebt hatte, über die hilfreichen Menschen und über Gott, den Herrn!


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