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VI.

Aber nicht für solche, die in sich selber unteilbar eins sind und daher auch hilflos in sich selber, – wenn sie sich nicht dadurch helfen können, daß sie handeln, aus sich heraus wirken – und sich selbst erkennen, widergespiegelt im Auge eines andern.

Aber Bel? Warum konnte sie entsagen? sie, die weder in Reflexionen noch in Gefühlen schwelgte, sie, die vielmehr naiv und nüchtern war und keineswegs ihr eignes Publikum? Aber so ging es auch: mit dem großen suggerierten Zuschauer, – mit dem da oben, der sah alles. Auch sie hatte ihren Spiegel, für den sie sich schön erhalten mußte, – das Gottesauge, den blauen Himmelspiegel!

Ein schwacher Laut, wie ein Stammeln oder Stöhnen, drang aus Klare-Bels kleinem Nebengemach. Es war, als wollte sie Erik in seinen bittern Gedanken unterbrechen – widerlegen.

Er trat zur offnen Tür.

Bel hatte den Brief von sich geworfen, weit fort, auf den untern Rand der Felldecke. Sie lag da, das Antlitz glutrot in den Händen vergraben.

»Lieber Gott!« betete sie, »großer, barmherziger Gott, der du im Himmel bist und in die Herzen der Menschen hinein siehst: nimm mir meine Liebe aus meinem Herzen!« –

*

Warwara war sehr überrascht, als sie am nächsten Tage Erik auf der Straße traf und von der unmittelbar bevorstehenden Abreise seiner Frau hörte. Sie redete auf das lebhafteste zu, noch eine einzige Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu lassen. Aber es fruchtete nichts. Schon den folgenden Morgen konnte sie der Fortfahrenden, der sie baldigen Besuch im Bade versprach, einen mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken. Warwara war außer Erik die einzige, die Mutter und Sohn das Geleit gab, und sie fand, daß sich die Gatten nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten.

Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete sich Erik nur kurz und hastig von ihr. Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause.

Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen. Sie glaubte ihn eigentlich als Mann in seinem eignen Heim befriedigt, aber als Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt. Und wenn sie, scherzend oder ernst, von »Versuchungen« für ihn sprach, so meinte sie damit gelegentliche Versuche, die hungernde Tatkraft durch Näschereien und Tändeleien zu betäuben. War jetzt so etwas im Spiel? Jetzt, wo Erik so völlig zurückgezogen lebte – schon seit einem Jahr? Wo er ganz aus der glänzenden, leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war, die ihn einst fesselte und die er gefesselt hatte? War eine Frau im Spiel? –

Einige Tage später, an einem Sonntagvormittag, wollte Warwara eine notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen, um bei Erik vorzusprechen und zu erfahren, ob Jonas mit guten Nachrichten von der Grenze heimgekommen sei.

Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte sie darüber, sich nicht allein zu finden. In der Ecke ihr gegenüber saß eine ganz junge Dame und blickte mit großen erwartungsvollen Augen zum Fenster hinaus.

Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse. Wie immer, fielen ihr zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Äußerlichkeiten auf.

Ein zarter, schmächtiger Wuchs; das eng anliegende dunkelblaue Tuchkleid mit offnem Jackenteil, auf tiefrotem englischem Flanell abgefüttert, zeigte nur hoch am Halse einen kleinen weißen Linnenstreifen. Ein schmaler Fuß guckte in ungeduldiger Bewegung unter dem Rock hervor. Aschblondes Haar, von einer starken Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten, drängte sich um Stirn und Schläfen etwas kraus aus einem weichen Barett von dunkelblauem Samt hervor.

In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf, sie wußte nicht, an wen. Eine junge Engländerin? So eindringlich blickte sie auf ihr Gegenüber, daß sich dieses ein wenig befremdet nach ihr umwandte.

Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend ihren Blick. Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln.

Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur.

»Ruth!« entfuhr es ihr. Sie verbesserte sich sofort, lachend. »Verzeihen Sie nur. Die Zudringlichkeit erst und jetzt. Aber ich suchte und suchte, und was ich fand, war, was mir im Gedächtnis geblieben ist. Ihr Vorname.«

»Er genügt ja vollkommen,« sagte Ruth. »Ich nehme an, wir haben einen Weg?«

»Nein!« versetzte Warwara mit raschem Takt, denn sie wollte nicht stören, »ich fahre nur zu einer Besichtigung meines reparaturbedürftigen Landhauses hinaus. Aber unsre Freunde erwarten Sie?«

Ruth errötete und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin sehr – ganz unerwartet von Heidelberg abgereist,« entgegnete sie mit auffallender Befangenheit.

Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht. »Das ist sie, – die ›Versuchung‹,« dachte sie, »sehr jung, aber ich argwöhnte schon damals hinter ihren geübten Formen: sehr durchtrieben.«

»Da wird es Ihnen leid tun, eine Lücke zu finden,« bemerkte sie laut, »denn Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie Klare-Bel nicht treffen? Sie ist schon abgereist.«

»Nein!« rief Ruth betroffen, »das konnt' ich ja noch nicht wissen! Es hat doch keinen schlimmen Grund? Ja, das tut mir leid!«

Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen, daß sich Warwara schämte. »Sie wußte wirklich nichts davon, es war nicht verabredet, was bin ich für ein häßlicher Mensch!« sagte sie zu sich und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth. »Nein, kein schlimmer Grund. Klare-Bel ist so gesund, wie man's nie hätte erwarten dürfen, und nun geht es stetig bergauf.

Im Anfang des Winters hat sie freilich noch viel aushalten müssen. Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz: ›Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen, gesund werden zu wollen.‹ Der Mann hat Eisen im Blut. Aber es hat ihn gehörig geschüttelt. Ich hab' ihn ein paar mal gesehen: blaß wie ein Tuch.«

Ruth lauschte stumm, ihre Hände verschlangen sich in ihrem Schoß, die Lippen öffneten sich halb, die Augen sagten immer nur: »Mehr!« Als Warwara schwieg, atmete sie tief auf.

»Er kann alles, was er will! Und das wollt' er so aus voller Seele, daß sie wieder gesund und glücklich sein sollte. Er hat dafür gelebt. Wie grenzenlos froh müssen sie jetzt sein! Nun, wo er alles zum Guten geleitet hat! Nun, wo es ist, wie er will: wo sie glücklich ist.«

Sie sprach hingerissen, ihre Augen blitzten.

Warwara betrachtete sie nachdenklich. Sie kam ihr gar nicht mehr, wie damals, so formell abgeschliffen und gewandt vor, sondern im Gegenteil wie ein Wesen, an dem alles Innenleben, und nichts mehr Form ist. Eine Seele, bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit, – – und Liebe? Dann könnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und Freude sprechen. Keine Liebe? Dann könnte sie nicht mit diesem Blick und diesem Ton sprechen.

Der Zug hielt. Sie stiegen aus.

Warwara bequemte sich dazu, eins der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu benutzen, die am Stationsgebäude bereit standen und deren Kutscher sie sofort umschrien. Ruth hatte einen andern Weg. So trennten sie sich.

Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um.

»Es ist da etwas, was nicht ins Leben gehört, – Poesie. Poesie im Konflikt mit dem Leben, – was ergibt das wohl?« dachte sie; – »es ist, wie wenn man die erste Seite eines Romans aufgeschlagen hätte, – o pfui, nein! – oder: die letzte eines Märchens.«

Ruth ging langsam hin zwischen den kahlen Birken am Wegrande, nicht in Hast, ein paar Minuten früher anzukommen. Mit einem lauschenden Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich herein, als ob er in tausend Blüten um sie stünde. Noch war er nicht da, man sah ihn nicht, – und doch war er da, in der Luft, in alles erfüllender unsichtbarer Gegenwart. Man hörte ihn: in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang er von den blattlosen Zweigen.

Der Himmel hatte sich schwach bedeckt, die Sonne schien nur in verhaltenem Glanze nieder, – Ton, Licht, Farbe wirkten gedämpft, verhüllt und wie eine Verheißung.

Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte. Sie öffnete, durchschritt den Garten und stieg zaudernd, leise ein paar Stufen zur Terrasse hinauf.

Vorsichtig nach vorn gebeugt spähte sie von der Seite her in das breite Fenster des Wohnzimmers, ob jemand darin anwesend sei.

Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt, hinter den Tellern mit kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar.

Jonas saß allein am Kamin. Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand, an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte, und ließ es an der roten Holzglut rösten. Wie er so dasaß, einen Arm nachlässig um die Stuhllehne geschlungen, in wartender Haltung, den Kopf mit den etwas zu fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt, erinnerte er stark an Erik.

Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen, es glitt plötzlich von der Gabel und fiel hinein.

Jonas sah verdutzt aus. Er wandte sich um und spießte ein neues auf; diesmal gelang es besser.

Dann spülte er ein Teetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und machte einen Aufguß. Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter den geöffneten Hahn des Samowars, und ein siedender Strahl verbrühte ihm die Hand.

Jonas machte den Mund weit auf und fing an, auf einem Bein im Zimmer zu tanzen.

Vom Fenster erklang helles Gelächter.

Er blieb stehn, wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm niedergefahren wäre. Mit einem ungläubigen Ausdruck richteten sich seine Augen, als trauten sie sich selbst nicht, nach dem Fenster.

Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschloßnen Scheibe, das ihn auslachte und das wie Ruth aussah; er wußte nicht, ob er Ruth träumte oder Ruth sah.

Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen, so daß es dabei fast in Splitter zersprungen wäre, und heraus streckten sich die Hände nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest.

»Aber Jonas ! laß mich nur erst zur Tür hineinkommen!«

»Nein, – nicht!« murmelte er, als könnte sie ihm doch noch wieder wie ein Traumbild plötzlich entschwinden, »nicht abwenden, ich lass' dich nicht! Zum Fenster herein! Es muß gehn. Setz' den Fuß auf die Rampe, – ganz fest, – hörst du? Ich hebe dich.«

Sie sah ihn an: das da sagte er nun ganz so wie Erik.

Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt. Mit einem Satz stand sie im Zimmer.

Er ließ sie los. Er trat zurück. Nun, wo sie vor ihm stand, nicht mehr hinter einer geschlossenen Scheibe, sanken ihm die Arme. Eine grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich.

»Wie ist es nur möglich, daß du da bist, – von wo bist du nur gekommen?« Er starrte sie an, als wäre er überzeugt, daß sie vom Himmel gefallen sei.

»Mit dem Blitzzug. Gestern abend. – Und – dein Papa?«

»Er müßte hier sein. Aber jetzt vergißt er die Zeit. Stundenlange Gänge macht er, allein, – seit Mamas Abreise.«

»O Jonas, – daß Mama gesund geworden ist, – nicht wahr? Ist es nicht wie ein Wunder, – immer noch?«

»Ja. Und jetzt werd ich auch Arzt. Weißt du's? Für den Fall, daß du später einmal krank wirst.«

Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen, übermütigen Augen.

»Hoffentlich werd ich später einmal krank. – – Wie ist dir's nur ergangen, Jonas? Du schriebst nie.«

Er sah rot und verwirrt aus.

»Nie? Mir? Ja, ich mußte doch, – ich dachte ja, – – Du! willst du nicht eine Tasse Tee haben?«

»Nein, danke,« sagte sie lachend, »aber die Hauptsache ist: bald kommst du nach Heidelberg, nicht wahr? Wie herrlich, Jonas! Da studieren wir zusammen.«

»Ja,« versetzte er tief aufatmend, »– endlich! – bald! endlich! endlich zusammen! Ja, – siehst du: lang wär's so nicht mehr gegangen. – – hab' gelebt wie im Grabe,« fuhr er mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit fort, »– muß in deiner Nähe sein, Ruth. – Bei dir. Ja, – du! – ich liebe ja nur dich. Nur dich lieb' ich, – – nimm mir's nicht übel, – aber ich lieb' dich wirklich. Kann ja nichts, hab' nichts, bin nichts, – muß mich eben erst durchbeißen, – aber bei dir sein will ich wenigstens, – jedem die Faust zeigen, der's auch will, – der dir nahe kommen will! Jedem! Hüten soll er sich! Niederschlagen jeden – –«

»Jonas! Du rasest!«

Sie war auf gesprungen, blaß vor Schreck.

Er kam zu sich, versuchte zu lächeln, einzulenken, – und plötzlich stürzte er vor ihr in die Knie, das Gesicht in den Falten ihres Kleides.

»Ach Ruth! sei nicht böse! Du weißt nicht, – es war ja so schrecklich für mich – all die Zeit, – so stumm in mich hineingewürgt alles. Sieh mich an, sei nicht böse! Nie wieder, – es kommt nie wieder, bis –. Ich weiß, – ich darf noch nicht. Aber einmal, – einmal mußt' ich, – ich wär' erstickt sonst. Ach, liebe Ruth! Ich bin ja so grenzenlos unglücklich, bis – bis du mein – mein – geworden bist!«

»Jonas!« flüsterte sie, »– Jonas, ich bitte dich, – steh auf, – laß mich los, – du bist wahnsinnig, Jonas! Das kann ja nicht –«

Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest, den sie aus seinen Fingern lösen wollte, – er umklammerte ihre Hand, ihre Hüfte.

»Es kann nicht?!« schrie er fast drohend, und als sie sich mit einer unerwarteten Bewegung freiwand, vergrub er wie besinnungslos seine Zähne in ihren Handrücken.

Dunkel drang das Blut her vor.

Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg.

Er stand langsam auf, zur Besinnung gekommen. Er küßte ihre Hand.

»Verzeih mir!« sagte er leise und brach hilflos in Tränen aus. »Ruth! – hast du mich denn gar nicht lieb? Nicht ein kleines bißchen? Was – was sind wir uns denn? was – in Zukunft?«

Sie faßte ihn an bei den Schultern – angst voll und liebevoll sah sie ihm ins verstörte Gesicht.

»Jonas ! Jetzt – und in Zukunft – und immer – Geschwister!«

Er nahm ihre Hände von seinen Schultern, ging langsam die wenigen Schritte bis zur Tür, öffnete sie – und stürzte hinaus, über die Terrasse, die Stufen hinab, und verschwand im Garten.

Totenstill wurd' es plötzlich im Hause. Nur die Funken knisterten und lohten hell auf im Kamin.

Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer Hand. Langsam errötete sie, immer tiefer, bis ihr das ganze Gesicht in Flammen stand.

Was tat sie hier – allein – im Hause, – ein Eindringling, – der Jonas hinausgetrieben hatte?

Die Tür war weit offen geblieben. Als sagte sie: »Geh wieder!«

Ruth sah sich um. Nein, niemand sagte es. Auch Klare-Bel nicht. Nur ihr großer Stuhl stand da, mit einem hohen Schemel davor, – leer.– – –

*

Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete, saß in der Tiefe des Gartens, den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen, Ruth auf der Bank unter den überhängenden Birken.

Erik blieb stehn, blickte schärfer hin und kam langsam näher. Sie bewegte sich nicht. Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht in den grauen Frühling hinein, so saß sie da, – in unsichern Umrissen, – dann immer lebenswärmer, – immer beseelter vor seinen Augen, kein blasses Gedankenbild mehr. Wirklichkeit. Weich hob sich der blonde Kopf ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter, das die Sonne matt durchdrang in einem Schattenspiel von rosigvioletten Farben.

Ruth überfiel es lähmend wie eine Schwäche, je näher ihr Erik kam, je näher die Wirklichkeit sie umfing, die unsäglich ersehnte. »Zu Hause! jetzt erst: zu Hause!« dachte sie wie im Traum, und ihre Hände hoben sich ihm entgegen.

Dies seltsam Stille, dies Unfähige zu jedem Ausbruch, jeder lauten Bewegung, hielt auch Erik davon zurück, – als fürchte er zu verscheuchen, was er endlich wieder so beredt, so wortlos beredt und überzeugend vor sich sah: Blick, Ausdruck, Gebärde.

Über Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen, schaukelte sich auf schwankendem Zweig und sang hell.

Als Erik vor der Bank stand, flatterte es erschrocken auf und flog davon.

Er hatte Ruths Hände ergriffen, er hielt sie fest in den seinen, er zog ihre Hände fest an sich.

»Lieb – Liebling!« murmelte er, den Blick auf ihrem Gesicht.

»Ich – – der Brief, – er machte mir angst,« sagte sie matt, »etwas Fremdes, – Zweifel war darin. Ich mußte fort.«

Er hörte nur ihre Stimme, er mußte sie wieder hören.

»Mit dem Rotkehlchen – hergeflogen?« fragte er.

Sie sah ihn an – etwas zaghaft, etwas übermütig. »Durchgebrannt,« sagte sie.

Er setzte sich neben sie, ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen.

»Von Römers?!«

»Ich mußte. Sie ließen mich nicht. Römer half mir. Aber sie – sie blieb unerbittlich. Wie entsetzt war sie. ›Nur jetzt nicht!‹ sagte sie immer. Da brannte ich durch. Noch bei Nacht, – heimlich. Telegraphierte unterwegs. Ich mußte kommen. – Durft' ich?«

Sie fragte er schüchtern, um seine nachträgliche Erlaubnis bange, wie ein Kind. Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knien gelegen, – aber das sagte sie nicht.

Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem Gesicht zurück. Ganz wiedersehen mußte er sie.

»Ob du durftest? – Heimkommen, – ja! Bei Tag und bei Nacht, heimlich und offen. Es war Zeit. Zwei Wochen später wär' ich gekommen – zu dir. Vergiß den Brief, – alle Briefe, – das Fremde, den Zweifel, – vergiß alles – alles. Sei nur bei mir.«

Ja, da war es: das Gefühl der Geborgenheit, süß, zwingend, Heimatsgefühl, – nein, mehr als nur das, noch etwas andres, – dies Unbedingte und Ausschließliche, was ihr keine Macht im Himmel und auf Erden gab: nur er ganz allein.

»Was hast du an der Hand? verletzt? laß es mich sehen,« bemerkte er und wollte das Taschentuch lösen. Sie zuckte zurück. »Tut es so weh?«

»Nein. Nichts. Bitte nicht,« sagte sie hastig, und ein Schatten glitt über ihr Glück.

Erik stand auf.

»Komm hinein. Komm, Liebling. Zu Hause bist du erst in meinem Zimmer, – im alten Ledersessel, – nicht wahr? Und hier ist es noch zu kalt für dich, zu windig.«

Während sie auf das Haus zugingen, sagte Ruth: »Unterwegs erfuhr ich durch einen Zufall von der beschleunigten Badereise. Ist es nicht schlimm, daß sie noch in die Schulzeit fiel? nicht in die Ferien? Mir tut es so leid, daß ich nicht mehr rechtzeitig –«

»Laß das,« unterbrach er sie halb laut, »– ich werde dir später alles erzählen, – später.«

Ruth wandte auf horchend den Kopf nach ihm. Etwas, was sie fremd berührte, klang aus seinem Ton. Es war nur ein einzelner durchklingender Ton, aber er gehörte nicht zu Erik. Er selbst kam ihr in diesem Augenblick fremd vor. Er sah unverändert aus, – ganz so wie vorher, – bis auf den Blick. Der Blick war verändert, unsicher.

Erik ließ sie unvermerkt einen Schritt vorausgehn.

Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, folgten seine Augen aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt. Sie war ziemlich stark gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper schon weiblicher entwickelt. Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen, schmächtigen Formen ab.

Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug, störte ihn.

»Der Knoten nimmt dich mir fort, – den duld' ich nicht,« sagte er beim Eintreten in den Flur, und ehe sie es gewahr wurde, hatte er mit geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen. In dichten lockigen Wellen fiel es über die Schultern, wie einst.«

»Ach nein, – nicht, – wo haben Sie die Nadel?« fragte sie verdutzt und griff nach dem Rücken.

»In meiner Joppentasche. – Aber wiederhole das noch einmal. Nun? ›Sie?‹ oder ›Du?‹ Im Brief stand ein mal ›Du‹. Nur einmal? Oder eigentlich – immer?« fragte er leise.

Sie errötete verwirrt.

»Sie – – du – – ich –«

Die Hand noch in ihrem Haar, bog er sanft, unwiderstehlich, ihren Kopf zurück, so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm aufheben mußte. Sie schloß unwillkürlich, erschauernd, die Augen und gab seiner Hand nach.

Leidenschaftlich, tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen.

»Mein – – –« flüsterte er.

Und er beugte sich, und seine Lippen küßten ihren bebenden Mund.

Ruth zuckte unmerklich. Er gab sie sofort frei und öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer.

»Hier wartet dein alter Platz auf dich,« sagte er und ging nach dem Fenster zu.

Aber sie war nicht gefolgt. Dem Fenster gegenüber, am Ofen, blieb sie stehn, den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ganz versonnen sah sie hinauf zur Zimmerdecke, mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht.

»Was ist dir?« fragte er unruhig, »– Ruth! – was ist dir?«

Es drängte ihn, sie in die Arme zu schließen, – sie wachzuküssen. »Du liebst mich, – du liebst mich ja! Du weißt es noch nicht, aber ich weiß es für dich! Weiß es gewiß, – fühle es, sehe es, daß sie da ist, – daß deine Liebe, die Liebe des Weibes, da ist!«

Aber er schwieg.

Ja, sie war da, – und doch konnte er nicht so handeln, nicht so sprechen, ohne sie zu verscheuchen. Sie war da, – wie das Rotkehlchen auf dem schaukelnden Zweig, das aufflog bei seinem Nahen. Sie war da, – aber greifen konnt' er sie nicht.

Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus, dann setzte er sich in den alten Ledersessel am Fenster.

»Du bist also doch nicht heimgekommen, Ruth,« sagte er, »nicht ganz zurückgekommen zu mir. Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir, – will mich nicht einlassen. Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner Seele. Nicht in alles. Ich bin dir fremd geworden.«

Da löste sie sich vom Ofen und kam zu ihm, sie glitt nieder zu seinen Knien – ganz blaß.

»Ja,« sagte sie außer sich, »– fremd, – etwas, Fremdes, – ich kann's nicht verstehn, und es quält mich.«

»Was ist es? Sage mir's.«

»Ich kann nicht,« murmelte sie.

»Doch doch! Du kannst. Mußt' es wieder lernen, – zu sprechen, oder auch nur zu stammeln, aus dem Innersten her aus, – noch aus dem Unklarsten, Unverstandensten –. Es ist nur Scheu. Über winde sie.«

»Es ist, – im Kuß war es,« sagte sie leise.

»Hat es dich verletzt, – daß ich dich geküßt habe?«

»Mich?! verletzt? mich?! nein! – was liegt an mir?«

»– Für mich – alles, Ruth. – Aber warum quält dich's dann?«

Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.

»– Weil – es ist dasselbe, was im Brief war, nur in diesem einen, – als ob er gar nicht von Ihnen käme, – und dann: wie ich von Ihrer Frau sprach im Garten, – und dann: im Kuß, – da fühlte ich's ganz deutlich, das Fremde darin, und daß es – –«

»Daß es –?«

»Daß es nicht sein soll,« flüsterte Ruth, »weil es ist, als ob nicht Sie es sind. Ein Fremder. Ein Schlechterer.«

Er antwortete nicht.

Als sie aufblickte, schüchtern, fragend, da hatte er die Augen geschlossen.

Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme: »Du täuschest dich. Es ist nichts Fremdes, – nichts Schlechtes. Ich bin es selbst, – und in dir selbst ist es, – du erkennst es nur nicht – mit deinen Kinderaugen.«

Er strich ihr über das Haar hin und sah hinweg über sie, die den Kopf unter seiner Hand gebeugt hielt.

»Weißt du noch, – als du das erste Mal hier warst, – was wir da an dieser Stelle miteinander sprachen und was ich dir versprach? Ich wollte dich aus der Welt der Phantasie, wo du träumtest, in die Welt des wirklichen Lebens führen. Das ist damals geschehen, Ruth, und du bist das Kind nicht mehr, das träumt, sondern ein voll erwachender Mensch, der lebt, – lebt mit allen seinen jungen Kräften. Aber weißt du, wodurch das gelang? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe bestimmen und entwickeln können? Nur weil es einen einzigen Punkt gab, wohin sich alle vertriebenen Traumgeister, alle verstummten Märchen, alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten. Dieser Punkt war dein Verhältnis zu mir. Da ging dein Blick noch nicht auf die Wirklichkeit, sondern über jede Wirklichkeit weit hinaus auf alles, was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist. Da lebtest und gehorchtest du nicht einem Menschen, sondern einem in deinem Innern über alle Menschen emporgehobenen Bilde. Aber diese ganze Traumschönheit, Ruth, worin dein Verhältnis zu mir noch steht, – sie ist doch nur eine glänzende, strahlende Form, eine kindliche Umhüllung, – nicht das Wesentliche daran. In ihr schläft, wie in einem Märchen, die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und wartet drauf, daß sie erwachen darf. Erwachen aus dem Traum zum Leben, wie dein ganzes übriges Wesen.«

Er brach ab.

Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf, bemüht, seinen Worten genau zu folgen.

»Deine schönen Märchengeschichten,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »hab' ich dir zerschlagen müssen, weil sie dein volles Leben aufhielten. Das schmerzte nicht sehr, denn die saßen ja nur in deinem Kopf. Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß, die mit deinem ganzen Herzen verwachsen ist, – und dir damit Schmerz zufüge, – wirst du dein Vertrauen behalten, Ruth, – deine Liebe – zu mir?«

Sie versuchte aufzustehn, ein Gefühl der Angst über kam sie plötzlich. Er hielt sie zurück.

»Höre mich, Ruth. Wenn ich dir nun sagen würde: der Brief, daß der dir fremd klang, war, weil ich selbst in Zweifel und Zwiespalt und Angst war; – daß ich dich küßte, war, weil ich nach Glück durstig war und mein Glück nicht länger entbehren kann; – daß ich es nicht ertrug, dich von meiner Frau sprechen zu hören, war, weil – ich keine Frau mehr habe, – weil sie sich von mir trennen wird.«

»Nein!« sagte Ruth atemlos, »das würd' ich nicht glauben. Nicht glauben, auch wenn Sie es mir – –. Nie und nimmer kann das sein. Kann nicht. Denn sie – sie war ja so glücklich – bei Ihnen.«

»Sie!?« antwortete er schwer, »– ja, Ruth, – sie war es wohl – früher. Nicht ihretwegen muß es sein. Meinetwegen. Deinetwegen.«

Ruth hatte sich langsam erhoben. Auf ihrem Gesicht prägte sich ein grenzenloses Befremden aus, – Zweifel, Unglaube, ja Entsetzen prägten sich darauf aus. Ihr war, als müsse sie nach einem Entfernten, – nach Erik rufen, – ihn zu ihrer Hilfe rufen gegen einen Unverstandenen, Unbekannten. Aber er – er war es ja gerade, der da vor ihr stand–. Erik sah den Wechsel in ihren Zügen, die Selbstbeherrschung verließ ihn. Er fühlte nur noch Angst, – die Angst, sie zu verlieren.

»Ruth!« rief er, »verzeih, daß du vor mir gekniet hast. Ich will es tun vor dir. Nur sei mein! Nicht nur mein Kind mehr, – du bist kein Kind mehr, – ein Weib, – mein Weib!«

In diesem Augen blick wurde die Tür vom Flur aus aufgerissen. Jonas erschien auf der Schwelle. Er trat nicht ein. Er warf die Tür wieder ins Schloß. Man hörte ihn sich entfernen.

»Jonas !« murmelte Ruth halb bewußtlos, »– wir müssen, – er hat gehört, – wir müssen nach Jonas sehen.«

Während sie es sagte, ertönte ein dumpfer Fall. Erik sprang auf. Ruth war schon bei der Tür. Sie öffnete sie.

Im Flur lag Jonas am Boden, – lang hin gestreckt. Mit dem Kopf war er im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen. Über seine linke Schläfe träufelte Blut.

Ruth stieß die Mitteltür auf. Sie half Erik, ihn in das anstoßende Zimmer auf sein Bett zu bringen. In den nächsten Minuten sprachen sie kein Wort. Sie waren stumm um ihn beschäftigt.

»Die Wunde ist gering,« sagte Erik nach einer kurzen Weile halblaut, – und dann, über ihn gebeugt. »Er kommt zu sich.«

Ruth fuhr zusammen. Sie trat vom Bett zurück, ihre Augen richteten sich auf Jonas mit einem Ausdruck von Grauen, daß er sie erkennen, – daß er sie sehen könnte.

Sie machte Erik ein stummes Zeichen und ging leise in sein Arbeitszimmer zurück.

Dort blieb sie verwirrt stehn.

Hier? Hier konnte sie noch weniger bleiben. Wo denn? Nirgends konnte sie bleiben, nirgends. Im ganzen Hause nicht. Sie mußte also fort. Fort, eh' Erik kam. Fort, ehe Jonas kam.

Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Tür zu, durch die sie soeben aus den Schlafzimmern eingetreten war.

Nein, – wohin? Dorthin durfte sie nicht! Abschied nehmen? von wem? Ohne Abschied mußte sie fort. Heimlich. Unbemerkt. – Für immer?

Sie trat in den Flur hinaus, – wie hinausgetrieben von ihren eignen verwirrten Gedanken. Dort blieb sie von neuem zaudernd stehn.

Auf dem Boden, wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war, sah man ein paar kleine hell rote Flecke. Darüber, am Ständer, hing Eriks Mantel.

Der weite dunkle Reisemantel, den er damals trug, – als sie fort sollte – und er heim kehrte – und sie ihm an die Brust fiel – –

Ruth stand und starrte den Mantel an. Mit klopfendem Herzen und verhaltenem Atem.

Und plötzlich, da wachte es auf in ihr und riß alle ihre Gedanken mit sich fort – wild, glühend, unerträglich, – das Trennungsweh.

Mit den Händen faßte sie in den Mantel, sie vergrub ihr Gesicht in seinen losen weichen Falten, mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen Duft in sich ein, der sie an Erik erinnerte, mit bebenden Lippen küßte sie den Saum.

Damals – wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin es sei, wozu es sei, – bis in den Tod, bis in das Verbrechen hin ein, – hätte sie es nicht blind getan?

Sie drückte die Zähne zusammen; sie stöhnte, und ihr war, als müßte sie gleich laut schreien.

O Gott, auch jetzt, – wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin es sei, wozu es sei, – sie hätte es blind getan! Blind gehorchend, – gegen allen Augenschein, gegen alles eigne Wissen und Verstehn! Mit ihr durfte er tun, was er wollte. Was ihr auch durch ihn geschehen mochte, – was lag an ihr? Er aber mußte für sie da oben bleiben, wo sie ihn gesehen hatte, – sein Leben und sein Haus mußten bleiben, was sie gewesen waren, – an ihm lag alles!

War es sonst noch Erik?

Sie sah ihn vor sich wie in weiter Ferne, wie er im vergangenen Mai im Mittagssonnenschein dastand, lichtüberstrahlt, die kranke Frau in seinen starken Armen. So hatte ihn Ruth zuerst mit ihr gesehen, – so ihn geliebt und angebetet, daß selbst das Mitleid darüber verflog. »Du allzu leichte Last!« scherzte er, und Klare-Bel lachte dazu und schlang vertrauend die Hände um seinen Nacken.

Aber nun – nun riß er ihr die Hände vom Nacken, und das glückliche vertrauende Lachen verstummte, – und sie, die sich an ihm festgehalten hatte, ließ er fallen, – er öffnete die Arme und ließ sie, die Hilflose, zu Boden fallen, – denn eine Last war sie, eine allzu schwere Last für seine Kraft. Frei haben mußte er die Arme, die sich ausbreiteten nach Ruth.

*

Ruth richtete sich auf, sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube. Auf dem Schreibtisch lag ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter. Sie beugte sich darüber und fing an zu schreiben. »Ich muß fortgehn!« schrie es in ihr. Aber Eriks Bleistift formte die Buchstaben ganz anders. So kam heraus: »Ich gehe nicht fort. Ich gehe und bleibe Ihr Kind.«

Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine fremde Schrift. Das wollte sie also tun? Ja, das wollte sie. Er hatte ja heute gesagt, das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen, in ihrer Einbildung, daß sie sich als sein Kind gefühlt habe, – so ganz als sein Kind. Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit wer den. Wenn sie selbst es verwirklichte. Es in ihrem ganzen künftigen Leben verwirklichte. Wenn sie ganz das wurde, was er sie gelehrt, was er mit ihr gewollt hatte, als er sie zu sich nahm. Ein Stück von ihm, ein Werk von ihm. Sie hatte ja alles von ihm, – nur von ihm allein. Sie kannte alle seine Gedanken, alle seine besten. Die sollten lebendig werden, nicht nur geträumt: gelebt. Von ihr für ihn.

Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl.

Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht kühn zumute, sondern elend und hilflos. Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen: sich auf den Boden zu werfen und zu weinen. Erik herbeizuweinen.

Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme, – seinen eindringlichen, kurz überredenden Ton: »Den eignen Willen festhalten! Haltung! Sich selbst gehorchen, – hörst du?«

Das war doch sonderbar. Klarer, sicherer, wesenhafter denn je stand er bei ihr: Erik gegen Erik.

Leise schlich sie sich aus dem Hause.

Unten erst, an der Gartenpforte, blieb sie stehn und blickte zurück.

Nein, dafür konnte er nichts, Erik konnte nichts dafür, daß er anders war, und das Leben anders war, als sie es sich ausgedacht hatte. Im wirklichen Leben gab es nun einmal gar nicht ihre Phantasiegeschichten. Die mußte man erst hinzutun.

Und hatte sie alles das nicht nur geträumt, das ganze verflossene Jahr? Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelgesang, da mochte es ihr wohl scheinen, als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai, wo sie bange und allein, arm und einsam, hier an der Pforte lehnte und in den Garten sah. Damals meinte sie: von hier ginge der Frühling aus, der ganze wunderschöne, der draußen blühte. Und da träumte sie sich ein Märchen, das »allerschönste von allen«.

Ja, das allerschönste von allen.

So schön, daß sie es nie wieder vergessen konnte. Nein, niemals.

So schön, daß sie es nie hergeben konnte für etwas andres, was ihr das Leben bot. Niemals.

So schön, daß es nichts mehr geben konnte, – im ganzen Leben nichts, was sie nicht immer daran messen, immer damit vergleichen,und zu gering befinden würde.

*

Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus. Ohne es selbst zu wissen, hob sie ihre Hand und strich leise, liebkosend über die kahlen harten Fliederzweige hin, die den Zaun in dichtem Buschwerk umwuchsen.

Dann ging sie, ohne sich noch einmal umzuwenden, mit gesenktem Kopf den Landweg zwischen den Birken zur Station zurück, und ihr langes loses Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde.

Erik stand noch bei Jonas am Bett. Jonas hatte die Augen aufgeschlagen, den Vater neben sich erblickt, war zusammengezuckt und hatte von neuem die Augen geschlossen. Kein Wort fiel zwischen ihnen.

Erik begriff nun den ganzen Zusammenhang, begriff vieles, wofür ihm wohl eher das Verständnis hätte aufgehn müssen, wenn er dafür Gedanken übrig gehabt hätte. Der atemlose Fleiß von Jonas, seine Begierde nach Selbständigkeit, sei es auch im engsten Leben, dieser Anstrich von Philistrosität, diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und Torheit wurden Erik jetzt verständlich. Nicht Mangel an Temperament, an Jugendfeuer, war das gewesen, sondern eiserne Ausdauer, Selbstbeherrschung.

Kinderei oder nicht, – es lag Kraft darin. Er achtete seinen Jungen.

Aber der – – achtete ihn nicht.

Jetzt, in dieser Stunde, nicht. Ein ganz neues Verhältnis zu seinem Sohn, ein ganz neuer Kampf erwartete jetzt Erik, und er mußte von nun an seine volle Kraft zusammennehmen, um darin zu siegen.

Ein leises Knarren der Gartenpforte weckt e ihn aus diesen Gedanken. Bei dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck.

Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Ruth war nicht darin. Er ging über den Flur ins Wohnzimmer. Ruth war nicht da.

Erik stieg in den Garten hinunter. Eine furchtbare Beklemmung drückte ihn die Brust zusammen.

»Ruth!« rief er laut und erkannte seine eigne Stimme nicht.

Alles blieb still. Es blieb still, wie weit er auch hineinging, bis an die Bank vor dem Gehölz.

Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang.

Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken: ganz regungslos saß es da, mit erhobenem Köpfchen, ganz selbstvergessen, – und sang und sang in den grauen Frühling hinein.


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