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V.

Unflüggem Vöglein gleich, dem bangt,
Wo's flatternd eine Zuflucht fände,
So bin ich, flüchtend nur, gelangt,
Ein armes Kind, in deine Hände.

Kam scheinbar wohl in trotz'gem Sinn, –
Doch nur von Einsamkeit getrieben,
Und kniete schweigend bei dir hin
Und wollte nichts, als Etwas lieben.

Und wollte nichts, als kurze Zeit
Gleich einem Kind mich wieder wissen,
Nichts, als ein wenig Zärtlichkeit
Ganz scheu, von ferne, mitgenießen.

Nichts, als von kindlich tiefer Qual
Auf einen Augenblick nur rasten,
Nichts, als die Kindesbrust einmal
In heißer Hingebung entlasten.

Wie ward mir wohl, da ich dich fand,
Als müßte jeder Wunsch sich stillen,
Seit dem du mich mit sanfter Hand
Geborgen ganz in deinen Willen.

Als würde plötzlich alles klar,
Als müßten alle Wirren weichen,
Seit über das verwehte Haar
Mir deine lieben Hände streichen.

Bis daß ein jeder Schmerz hinfort
Versank vor zaubermächt'gem Troste,
Seit mit dem ersten Liebeswort
Dein Blick mich zwang und mich liebkoste;

Bis ganz die Welt um uns versank –
Und nichts von allem mehr geblieben,
Als nur ein grenzenloser Dank –
Und nur ein grenzenloses Lieben.

 

Ruth hatte das nicht gedichtet. Erik hatte es gedichtet. Aber Ruth hatte es gestammelt. Ungezähltemal. Vielleicht auch in ungezählten Versen.

Er wußt' es nicht. Aber oben in der Giebelstube, unter fortgeworfenen Papieren und verwelkten Blumen, hatte das durchgerissne Blatt mit den gestammelten Versen gelegen.

Und seit dem dichtete er diese Verse, er sah vor sich hin und dichtete an ihnen.

Ruth hatte sie nicht gedichtet. Erik hatte es getan.

Aber so, – so würde sie sie in jedem Worte gedichtet haben – ein wenig später – im Rückblick.

*

Sie saßen alle zusammen.

Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube in einem großen, bequemen Lehnstuhl. Jonas am Eßtisch; er hatte die Lampe dicht herangerückt, um besser sehen zu können was er in sein Schulheft schrieb. Erik am Kamin, worin mächtige Holzkloben brannten; von Zeit zu Zeit bückte er sich und warf aus einem blank geputzten Kohlenbehälter, der mit Tannenzapfen erfüllt war, ein paar von den braunen harzigen Zapfen in die Glut.

Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen. An Stelle der leichten Sommergardinen schwere schützende Fenstervorhänge, am Kamin zwei Sessel aus der Stadtwohnung, unter denen ein mächtiger Bär seine Tatzen vorstreckte.

Schon im Anfang des russischen März, noch ehe der Winter zu Ende ging, war dieses Jahr die Übersiedlung vor sich gegangen. Klare-Bels wegen. Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres, der sie langsam zur Genesung führte.

In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen. An diesen Stöcken mußte sie täglich einige Schritte tun. »Laufen lernen,« wie Jonas lachend sagte, der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte. Und diese Schritte sollte sie in frischer Luft tun.

Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen. Klare-Bel saß in halb liegender Stellung und sann vor sich hin; die Handarbeit, die sie vorgehabt hatte, entglitt ihren Händen. Sie fühlte sich müde von ihren wenigen Schritten.

Jonas, der war wie verrannt in seine Arbeit. Mit den schmalen Schultern, lang aufgeschossen, ein wenig weichen blonden Flaum an Kinn und Lippe, beugte er sich über die Bücher. Der Sicherheit halber hatte er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt. Das war unnötig.

Und Erik blickte in die Glut – –

»Bis ganz die Welt um uns versank –«

Es war Gonne, die endlich die Stille unterbrach. Sie brachte den Abendtee herein. Klare-Bel ließ sich hinter den Samowar rücken: ihre täglich neu genoßne Freude, wenigstens in solchen kleinen Dingen wieder Hausfrau zu sein.

»Heute warst du gewiß froh, Erik, ein so langer Brief von Ruth,« bemerkte sie dabei, »man muß sagen: sie schreibt treulich, – regelmäßig. Aber manchmal einen Zettel, manch mal ein Buch!«

»Ich möchte wissen, warum du ihr noch nie geschrieben hast, Jonas?« fragte der Vater. »Sie will oft von dir wissen.«

Jonas wurde sehr rot.

»Wovon soll man sich denn schreiben? Ich habe genug zu tun,« murmelte er über seinem Teeglas.

»Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts,« meinte Klare-Bel, »Ruth ist doch nicht unbegabt, nicht wahr? Und sind ihre Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern, Erik?«

»Nun ja. Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat.«

»Beschreiben? was denn? wie ein Berg aussieht, oder was für Wetter es ist, – ein Schneetreiben im Winter, kann sie das nicht seitenlang erzählen? Aber ich finde, dabei erfährt man recht wenig von ihr selbst.«

Erik schwieg. Er fand es auch. Dies Entzücken an der Schilderung selbst des Geringsten, die Hingebung in der Wiedergabe dessen, was sie umgab und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde, – das alles lag neben einer spröden Wortkargheit, wo es ihre Gefühle betraf. Es war nicht Verschlossenheit, – es war Haß gegen das Wort, das ungenügende. Schlechte Verse kritzeln, singen, stammeln, die Augen aufheben, – eh er das nicht wieder gesehen, nicht wieder gehört hatte, war Ruth für ihn wie begraben.

Und wieder schwiegen sie.

Der Teetisch wurde abgeräumt. Nur eine Schale mit Äpfeln blieb darauf stehn. Jonas machte Miene, seine Bücher und Hefte wieder auszubreiten.

Erik hinderte ihn dran.

»Genug!« sagte er, »es ist ganz unmöglich, daß du mit deinen Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest.«

»Ich bin's ja auch, Papa. Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch treiben. Einer von den Jungens hilft mir dabei in der Freistunde.«

»Ich sehe nicht ein, zu welchem Zweck? Schon im Herbst gehst du ins Ausland. Du wirst ja nicht hier studieren. Wozu also?«

»Es ist sehr nützlich, Papa. In Deutschland kann man jetzt mit russischen Stunden Geld verdienen.«

Erik war unangenehm berührt. »Geld? Mit Stundengeben? Überlaß mir das doch.«

»Erlaube mir's, bitte. Tu ich nicht genug für die Schule?«

»Ja, aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden, Jonas! Bleibst mir zu schmalbrüstig, mein Junge. Flaum am Kinn, aber keine Kraft in den Knochen. Nicht genug.«

»Gesundheit ist der Güter höchstes nicht,« behauptete Jonas mit einem Ernst, der ihm drollig genug stand.

»Aber der Übel größtes ist die Schuld, sie verscherzt zu haben,« ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf; »wenn du öfters mit solchen Zitaten kommst, dann werd' ich dich noch ganz von den leidigen Büchern fortnehmen. Zu einem Bauern in die Lehre geben.«

Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer.

Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit. Auch allerlei andres, was drängte.

Ihn drängte es nicht. Er schob es zurück.

Darunter lagen Ruths alte Hefte, auch neue Arbeiten, sie schickte sie ihm alle. Ihren Studiengang leitete er vollkommen. Aber alles das war immer noch nicht »Ruth«.

Er nahm eine Mappe von Schreibtisch, in der sämtliche Briefe aus Heidelberg lagen vom vorigen August bis zum heutigen April.

Anfangs lauter Briefe von Frau Römer. Ruth konnte nicht schreiben, sie lag im Fieber. Ein schleichendes Fieber, fürchteten sie. Erik war zur Abreise vollständig fertig gewesen, er depeschierte bereits seine Ankunft.

Da traf ein Telegramm ein, das ihn zurückhielt. Drei Tage später ein kurzer Brief von Frau Römer:

 

»Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht. Die Trennung würde dasselbe noch einmal ergeben. Ruth muß es lernen, ohne Sie zu leben. Daher dürfen Sie unter keinen Umständen herkommen. Mein Mann meint es als Arzt, ich meine es aber auch – als Frau. Ich habe Ruth lieb wie mein Kind; wollen Sie mir helfen, wie eine Mutter über ihr zu wachen, so halten Sie auf immer aus Ihren Briefen alles fern, – auch das Geringste, – was Sehnsucht wecken könnte.«

 

Nach einer Woche schrieb Frau Römer:

 

»Mit unsrer Ruth geht es besser. Aber gestern hat sie uns sehr erschreckt. In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel, mit braunem Leder bezogen; sie wollte ihn durchaus haben, als sie ihn bei mir sah, und sagte dabei bedauernd: ›Wie schade, daß er nicht grün ist!‹

Diesen Sessel hatte sie gestern nacht mitten ins Zimmer ihrem Bett gegenüber gerückt. Als mein Mann noch einmal leise hinein trat, um nach ihr zu sehen, sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht im Bett, – den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen starr auf den Sessel geheftet, das Gesicht verzückt.

Als sie meinen Mann sah, fiel sie in die Kissen zurück. ›Ach, – nun ist er fort!‹ sagte sie traurig.

Sie war in einer halben Ohnmacht, am ganzen Körper kalt.

Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen. Mit den andern Stühlen ›geht es nicht‹, versichert sie.

In aufrichtiger Freundschaft

Irene Römer.«

 

Bald darauf kam der erste, noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte Zettel von Ruth selbst. Wenige Zeilen nur, darunter ein Postskriptum:

 

»Ich glaube, daß die Menschen zaubern könnten, wenn sie wollten.«

 

In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von Eriks Hand, – ein vollständiges Briefkonzept, das anfing:

 

»Mein Herzenskind!

Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes, speziell für Dich: ›Du sollst nicht zaubern.‹

In uralten Zeiten nahmen die Menschen, wenn ihre Götter die Wünsche einzelner nicht erfüllten, mitunter ihre Zuflucht zu allerhand bösen Geistern, die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln noch beschwören ließen. Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen getan haben: aus Kleinmut oder aus Hochmut, aus dem mangeln den Glauben, daß im Willen ihrer Götter auch wirklich eine weise, gute Macht über ihnen walte, – oder aus dem Trotz, der es müde geworden ist, zu gehorchen und zu vertrauen.

Du machst es doch nicht ebenso, – gleich viel aus welchem dieser beiden Gründe? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus eigner Machtvollkommenheit, was Dir vorenthalten bleiben soll? Rufst doch nicht, wie damals, in der letzten Nacht, einen fremden, bösen Geist, das Fieber, um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu entführen, die keine ist?

Du sollst nicht zaubern. Sollst Dich der Wirklichkeit hingeben, die um Dich ist, – ganz, voll Glauben und voll Vertrauen, daß Du in ihr zu Hause bist –«

 

Hier brach das Briefkonzept ab, die nächsten Zeilen waren ausgestrichen, – wiederholt, und wieder ausgestrichen. Sie waren ihm sichtlich schwer von der Hand gegangen.

Aber die Konzepte mehrten sich, hinter jedem Briefe Ruths folgte eines; Erik blätterte sie ungeduldig beiseite: daß sie da lagen, das besagte genug.

Sein Blick verweilte nur länger, wenn er wieder auf die feine, charakteristische Handschrift Frau Römers traf. Er konnte nie das Gefühl ganz los werden, als ob er mit ihr – oder sie mit ihm? – in einem geheimen, unbewußten Kampf stünde, und doch erquickten ihn diese Briefe. Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war, so war's ein herrlicher. Einer, wie man ihn sich wünschen soll, um sich mit ihm zu messen.

Um diese Frau wehte es wie helle, reine Luft, – man mußte sich wohl darin fühlen. Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen, was sie warm empfand. Während man las, glaubte man ihre Stimme zu vernehmen, eine heitere, entschlossne Stimme.

Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren frühern Platz legen, als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel. Vor vielen Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigern Inhaltes als die übrigen, – auch, gleich den übrigen, ohne Anrede und ohne andern Abschluß als »Ruth«. Aber auf der letzten Seite, da hatte sie sich verschrieben: da stand auf einmal »Du«, anstatt »Sie«.

Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm beigefügte Zeitwort umkonjugiert. Aber am Rande der Seite war's treuherzig bekannt: »Ich habe ›Du‹ gesagt, ich wollte aber ›Sie‹ sagen.«

Erik schaute nie in die Mappe hinein, ohne an dieser Stelle hängen zu bleiben, – und er schaute oft hinein.

Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn. Mündlich würde sie sich schwerlich je versprochen haben. Sie bedurfte dessen nicht. Sie hatte »Du« zu ihm gesagt an jedem Tage, in jeder Stunde fast mit Blick und Ton und Miene. Jetzt erst ward es zum verständlichen Wortlaut, unwiderstehlich: ein Ersatz für alle wortlose Nähe.

Erik schob die Briefe von sich, er wollte arbeiten. Arbeiten, – nur nicht dieses unnatürliche, vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen und Gedanken, – dieses unsichere Tasten ins Blaue, in die Ferne, mit dem Verzicht darauf, zu handeln. Wie leicht war dagegen selbst die Zeit von der Trennung für ihn gewesen: innerste, angespannteste Aktivität bis zur letzten Sekunde, aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft: für Ruth.

Nun der Rückschlag. Nachlassen, – gehn lassen. Es macht ihn fast krank.

Und er arbeitete Stunde um Stunde, bis eines der blauen Schulhefte nach dem andern mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt war.

Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück. Und wieder las er, mit immer neuen Kommentierungen, an der einzigen Silbe »Du«.

*

Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung. Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen.

Noch zog sich am Rande der Kieswege, schmal und vergraut, eine durchlöcherte Schneekruste hin, aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die saftgrünen Hälmchen, und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen, geduldig wartend, längliche braune Knospenzipfel. Der Wiesengrund hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel und Sonne wider, vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin umher.

Erik hatte, wie jetzt fast immer, den ganzen Tag in der Stadt zu tun, neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten, den er, mit sich daran anschließen den Vorträgen, in diesem Winter durchführte, teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsner, teils in einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule.

Wer sich hier einfand, gehörte ebenfalls nicht mehr der Schule an, oder doch fast nicht mehr. Man konnte es den Gesprächen entnehmen, womit ihn seine Zuhörer meistens erwarteten. Es wurde nicht mehr von Phantasieereignissen gesprochen, sondern von Bällen und Gesellschaften und von Anbetern, die wohl nicht mehr in der bloßen Einbildung vorhanden waren. Von Schulangelegenheiten niemals, wenn nicht etwas ganz Sensationelles vorfiel, wie heute morgen, wo ein kleines Mädchen während des Frühgebets im großen Schulsaal umgefallen und liegen geblieben war, – ein Fall von Epilepsie. Es hieß, das bloße Ansehen wirke ansteckend, nichtsdestoweniger hatten die meisten, wie gebannt, auf die Zuckende hingestarrt, die, Schaum auf den Lippen, vor ihnen lag.

Mitten in das Gespräch darüber kam, als die Späteste, und mit einem unterdrückten Gähnen, die hübsche Wjera mit den kecken dunkeln Augen. Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden.

»Bist du auch wieder da?« rief Eriks fleißigste Schülerin sie an. »Ich möchte wissen, wozu? Ob dir's wohl angenehm ist, daß er immer nur Spott für dich hat?«

»Und Lob für dich; da zieh' ich mein Teil vor,« erwiderte sie mit Überzeugung. »Laß ihn nur spotten, das tut ihm gut, er ist bei schlechter Laune. Glaubst du, daß ihn dein Fleiß beglückt, mein geliebtes Gänschen?«

»Mehr als fleißig sein kann niemand,« bemerkte eine, die in Erwartung des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte.

Wjera lachte boshaft: »Nun, er könnte noch allerlei andres schmerzlich vermissen, – zum Beispiel Verstand. – – Lieber Gott, was kann es nützen, sich so anzustrengen?«

»Warum bleibst du denn nicht weg? Du wolltest ja haben, was Ruth hatte, – du am meisten.«

Wjera saß nachlässig hingegossen, die Arme längs der Banklehne ausgestreckt, und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel, den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte, und der immer umstanden war.

»Ich glaube nicht dran, daß er mit uns so ist wie mit Ruth,« murmelte sie, »es wäre der reine Betrug. Entweder hat uns Ruth gefoppt, – oder wir sind – dumm. Glaubt ihr etwa, Ruth meinte das, als sie so außer sich vor Entzücken sagte: ›O – – dahinter gibt es das ganze Leben?‹ Wir stehn noch vor der Mauer, – wie eine Hammelherde.«

»Na, so geh doch hinüber.«

»Ich werd' auch,« versetzte Wjera kurz, – »noch heute. Wollt ihr? Mit einem Satz! Aber daß ihr nicht schreit! Ihr könnt ja nachspringen.«

Im Nu drängten sie sich um sie, brennend vor Neugier.

»Was wirst du tun?!«

Sie erwiderte nichts. Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und spitzte den Mund ein wenig.

»Ein Kuß?!«

Sie schrien jetzt schon.

Da trat Erik herein. Er bemerkte, daß sie zerstreut waren, beachtete es aber nicht. Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen: »Wie eine Hammelherde.« Er vermißte Ruth unter ihnen, nicht weil er sie liebte, er vermißte sie, weil sie ihn fortwährend angeeifert, fortwährend seine Geistesgegenwart verlangt hatte. Für sie mußte er auf der Höhe seiner selbst stehn, um niemals fehlzugreifen.

Das war hier unnütz.

Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging, ein Blatt Papier in der Hand, auf Erik zu. »Sollt' es möglich sein?« fragte er sarkastisch, indem er annahm, sie wolle ihm eine Arbeit vorlegen. »Es wäre das erste Mal.«

Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und beugte sich über ihn – so tief, daß er aufsah. Bei dieser Bewegung seines Kopfes berührten sich fast die beiden Gesichter.

Da durchgellte ein Schrei die Klasse, einstimmig. Sie hatten's nicht aushalten können.

Aber gleich darauf folgte ein zweiter, ganz anders im Ton: Wjera war, kaum daß der Schrei erscholl, hintenübergestürzt.

Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander, ob der erste Schrei vorhergegangen, ob er gefolgt war, – ob sie sich niedergebeugt hatte, weil sie im Stürzen war. – Er hatte auch von dem Fall im Schulsaal gehört, und jetzt ergriff die Mädchen die Erinnerung daran mit kopflosem Entsetzen.

Die meisten sprangen auf, einige sprangen im plötzlichen Schreck auf die Bänke, – auf das Fensterbrett.

Erik brach sich Bahn. Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme gehoben und trug sie hin aus.

Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer zuging, kam Leben in sie. Der ganze weiche, geschmeidige Körper bewegte sich, als strebe er, erzitternd, sich an ihn zu schmiegen; ihr Atem flog, wie um sich zu halten, schlang sie den Arm um seinen Nacken, und jetzt – jetzt fühlte sie deutlich, wie es ihn heiß überlief.

Blitz schnell, eh' er's nur gewahr wurde, hatte sie ihren Mund auf seine Lippen gedrückt.

Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt – hart, so plötzlich, daß sie fast zusammengestürzt wäre. Eine sinnlose Wut überfiel ihn. Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick, wo er Ruth, wie ein lebloses Kind, in seinen Armen auf ihr Bett getragen hatte.

Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügeltür, die den Hallengang nach dem Treppenhaus zu abschloß. Er stieß die Tür auf.

»Hin aus! Ohne Wiederkehr!« sagte er kurz.

Sie errötete und erblaßte. Sie ging nur langsam hinunter, Stufe für Stufe, und hielt sich am Geländer. Was würden die andern in der Klasse wohl denken, wenn sie gar nicht wiederkam? Daß er ihr über die Mauer geholfen habe? Ja, gründlich. Mit einem Satz.

Und das Schlimmste; sie hatte eine gehörige Beule weg, grade vorn an der Stirn. –

Erik gab sich bei der Rückkehr in seine Klasse Mühe, der Stimmung Herr zu werden, die ihn peinigte und niederschlug. Er hatte sich jedesmal gewundert, den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen und dennoch fest entschlossen, nichts zu lernen. Er hatte sich auch ein wenig gefreut. Weil sie ein kluges Ding war, voll Mutterwitz und Phantasie. Er wußte jetzt, von was für einer Art von Phantasie.

Aber lag es nicht an ihm? War es nicht an ihm, allen diesen jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben? Auswüchse auszuschneiden, Fehlendes zu ergänzen, Schlummerndes zu wecken? Er hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben, aber nicht mit seinem Herzen. Und kein noch so guter Wille vermochte sein mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen: das war die Frische und Fülle der Stimmung, deren immer bereites Interesse sich auch noch in das Geringste eingrub, suchend, lockend, verständnistief. Und er bedurfte dessen ganz besonders. Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen als Lehrer bestanden darin, daß er seine Persönlichkeit und seinen Unterricht nicht zu trennen wußte; gelang es ihm nicht, sich selbst zu geben, so mißlang ihm alles.

*

Am Torweg des Schulgebäudes wartete Jonas auf den Vater. Sie fuhren zusammen nach Hause aufs Land.

Im Eisenbahnwagen sagte Jonas: »Mama spricht jetzt immer davon, daß sie bald verreisen muß. Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad reisen?«

»Ich weiß noch nicht. Vielleicht wird es wünschenswert sein. In Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr. Dagegen spricht nur, daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann. Das müßtest du dann tun, Jonas. Und sie würde Gonne mitnehmen.«

»Wenn ich erst Medizin studiere,« bemerkte Jonas nach einer Pause, »dann wird mir's immer vor Augen stehn, das Wunderbare, daß es mit Mama besser geworden ist. Ich denke mir: Arzt sein, und ein einziger solcher Fall, – das muß für alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen machen.«

»Du bist ein guter Kerl, Jonas. – Ich hätte übrigens nicht gedacht, daß du speziell ›Medizin‹ wählen würdest. Ich dachte Naturwissenschaften.«

»Ja, ich selbst auch, – früher. Am liebsten Zoologie. Aber es ist eine so ungewisse Zukunft damit. Ein Arzt findet über all sein Brot.«

»Das ist richtig. Aber das allein Ausschlaggebende dürft' es nicht sein. Es käm' immer noch auf die Stärke der besondern Neigung und Befähigung an. Wenigstens für dich. Das andre wär' dann meine Sache.«

»Ich möchte aber so früh, als es geht, unabhängig werden, Papa. Selbständig.«

»Ist es dir so unangenehm, dich von mir abhängig zu wissen, mein Junge? Es ist nur dein gutes Recht. Noch lange. Ich will nicht, daß dir deine Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden.«

Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jeder blickte, in seine eigenen Gedanken vertieft, zu einem andern Fenster hinaus.

Zu Hause, über dem Garten, dunkelte es schon. Aus dem Wohnzimmer blinkte Licht. Der späte Mittag, der jetzt in den Abend fiel, wartete auf sie.

Erik legte beim Eintreten eine Hand voll blaßblauer Fliederzweige auf den Tisch. Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht.

»Aber Erik!« sagte Klare-Bel vorwurfsvoll, während sie doch vor Freude errötete, »etwas so Kostbares und Überflüssiges! Im russischen April!«

»Überflüssig?« Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem geschliffnen Kelchglas. »Der Frühling ist doch nicht überflüssig. Und ich meinte: in einem Landhause müßt' er wenigstens drinnen sein, wenn er schon nicht draußen ist.«

Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen, sie schlug sie nieder, damit er's nicht sähe. Der Frühling war ja drinnen eingekehrt, ihr Frühling, worauf sie gewartet hatte, wie auf eine Lebensneuerung grade für Erik. Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig geblieben.

Nein, das war ungerecht. Ungerecht gegen ihn, dem sie ihre Genesung dankte: abbittend blickte sie Erik verstohlen an. Aber das mußte sie ja sehen: er ertrug kaum die Trennung, – die Trennung von Ruth. Solange ihn Bel glücklich gesehen hatte, war sie arglos und sorglos geblieben. Jetzt aber lag es auf ihr bei Tag und bei Nacht.

»Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet?« fragte sie nach einer Pause.

»Ja. Aber noch nicht ganz,« erwiderte er.

Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den duftenden Dolden.

»Da war doch, – ist der junge Russe noch immer da, den sie so gern haben?«

»Jurii? Ja. In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar, glaub ich, eine kurze Zeit bei ihnen wohnen – draußen am Schloßberg. Sie wollten allerlei zusammen unternehmen. Römer hält viel von ihm.«

Eine kleine Pause entstand.

»Wie alt ist er eigentlich, Erik?«

»Ungefähr zweiundzwanzig, glaub ich.« »Und gänzlich unabhängig, nicht wahr? Es handelt sich für ihn nicht um ein Brotstudium?«

»Nein.«

Erik blickte auf, ein flüchtiges Lächeln um den Mund. Auf den jungen Russen eifersüchtig, – nein, das war er unter keinen Umständen.

»Eine echt weibliche Kombination, Bel. Du dachtest schon an Brautkranz und Schleier, nicht wahr? Aber dafür, daß Ruth rasch mit ihm vertraut geworden ist, liegt ein andrer Grund vor: er ist ihr nicht fremd. Er kennt ihren Onkel hier. Hat früher einmal mit seinen Eltern dort verkehrt, – mit ihr gespielt, als sie acht und er dreizehn Jahr alt war.«

Sie lehnte den Kopf zurück.

»Es ist nichts,« dachte sie, »es kann nicht sein. Sonst müßte – müßte er eifersüchtig sein. Trotz seines starken Selbstvertrauens. Jugend sucht Jugend.«

Nach einiger Zeit sagte sie bittend: »Erik! Du mußt nicht böse sein. Ich habe einen so großen Wunsch.«

»Einen so schlimmen, Bel? Nun, her aus damit.«

»Ich wünsche so sehnlich, – ich möchte so sehr gern, nur ein einziges Mal – lesen, was du an Ruth schreibst.«

Er antwortete nicht. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich darauf kehrte er zurück, den fast beendeten Brief in der Hand.

»Du kannst es jedesmal lesen, Bel, wenn du willst.«

Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an, daß er den Blick nicht aushielt. Er sah hinweg.

Es war ihm eine Pein, sie dasitzen zu sehen, – sie lesen zu sehen. Am liebsten wär' er hinaus gegangen.

Er trat aus Fenster und schaute in die Dunkelheit.

Aber das Fensterglas höhnte ihn. Was er wiedergab, war noch einmal das Zimmer mit der Lampe und den zarten Fliederzweigen auf dem Tisch und der lesenden Frau im Lehnstuhl.

Klare-Bel ließ den Brief sinken. Sie sah betroffen aus.

»Wie seltsam, Erik,« sagte sie, »– ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du so an Ruth schreibst.«

»Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben, als ich zu ihr gesprochen habe,« entgegnete er.

»Es mag ja sein. Aber dann kam wohl noch allerlei hinzu, was nur im Mündlichen liegt. Dein ganzes Wesen kam hinzu. Du bist ja so jung und frisch im Wesen, Erik.«

»Nun – und?«

Er wandte sich um. Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso »entsetzlich nüchtern«, wie er die ihren. Nur aus einem andern Grunde: sie konnte nicht ihr Inneres aussprechen, – und er durfte nicht.

»Ja, – nun, – ich weiß nicht, wie ich's beschreiben soll, Erik. Aber in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann mit langem weißem Bart und Haar, – ungefähr so, wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen.«

Es durch zuckte ihn. Er mußte an Ruths Wort denken: »Wie Gott.«

Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf. Was für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte, – im lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm, – das mochten wohl zwei ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein.

Für ihn war's ein Abzug am Vollen, Menschlichen ihrer Persönlichkeit, ihres innersten Wesens, das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen vermochte. Für sie war's vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen Persönlichkeit, eine Verklärung dieser: er hatte ihr ja auch mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen, und grade das idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten, – »ungefähr so, wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen.«

Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen, sie könne an seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben, wie er an den ihren. Denn er hatte gefühlt: in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging daran vertrauensvoll ihren Weg. Gehorsam, – froh. Denn sie litt doch nicht? Nein, das tat sie gewiß nicht.

Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben, das sie unausgesetzt anregen, bereichern, entwickeln mußte, – sie beglücken und sie erfüllen. Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten in diesem Leben, – wie mit weit ausgebreiteten Armen.

Nein, sie – sie litt nicht.

Auch Klare-Bel war verstummt. Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken nach, und wieder wurde es ein schweigsames Abendessen. Wie sie da zu dreien beieinander saßen, eng zusammen, in herzlicher Neigung verbunden, blieben sie doch einander so weltenfern entrückt, daß keiner von ihnen teilhatte an der stummen Welt des andern.

Als Erik nach dem Essen sein Zimmer nicht wieder verließ, setzte sich Jonas, ohne Schularbeiten, zur Mutter.

»Wenn Papa nicht da ist, muß ich ihn ersetzen,« versicherte er, »kann ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa? Einen guten Kopf größer als du bin ich doch schon, meine kleine Mama.«

Sie sah ihn mit einem tiefen, stillen Blick an, den er nicht verstand.

Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin.

»Mein lieber Junge. Ja, mir kannst du bald – viel sein. Wirst du's auch nicht vergessen, später, über all dem Studieren? Du mußt mir viel, viel Freude machen, Jonas.«

»Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen, Mama,« erklärte er treuherzig, »das werd ich ganz bestimmt. Denn ich werde etwas ganz Ausgezeichnetes werden. Das muß ich.«

»Freust du dich sehr auf das ungebundene neue Leben draußen?«

»Auf draußen – ja. Aber das mit dem ungebundenen Leben find ich gar nicht so schön. Ich find es viel schöner so, wie es Papa gehabt hat.«

»Wie denn, mein Kind?«

»Nun, doch so ganz gebunden, Mama. Mit dir zusammen. Das kann ich mir nämlich so wunderschön ausmalen. Fast als ob –. Eine Studentenstube, – ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein, und an den Wänden Bücher, und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen. In der Ecke ein schönes Skelett, und am Fenster viele Blumen. Da sitzt die Frau mit dem Nähzeug. Und bei den Büchern, da sitz' ich, – ich meine: sitzt Papa.«

»Ganz so war es wohl nicht. Nicht so eng. Für Blumen und Kochmaschinen und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr. Und wenn er bei den Büchern war, dann mußt' er in seinem Zimmer allein sein. Da warst nur du bei mir. In einer kleinen Wiege.«

»Eine kleine Wiege?«

Jonas wurde ziemlich rot. An dies Stück der Zimmereinrichtung hatte er noch gar nicht gedacht. Er sagte etwas befangen: »Nun ja. Aber wenn du auch nur nebenan gesessen hast, so war es doch das, was ihn fleißig machte. Und eben das denk ich mir so herrlich beim Studieren, wenn man's für jemand tut, den man so über alles lieb hat.«

»Das sage du Papa lieber nicht. Das würd' ihm vielleicht mißfallen. So hat er's mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint. Er war so ganz anders, als du bist, Jonas. Aber unendlich gut und klug war er. Und als er anfangen mußte, sich ums Brot zu plagen, und es mich grämte, da lachte er mich so herzlich aus und sagte: ›Laß gut sein, Bel, ich hab' ein Mittel, ein Zaubermittel, um frisch zu bleiben, – mag es noch so viel Plage geben, – frisch für meine Ziele: das Mittel bist du, Bel.‹ Ja, so sagte er.«

Jonas schwieg. Er wollte den Vater nicht vor der Mutter herabsetzen, aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen.

»Man kann noch tausendmal mehr lieben!« dachte er im stillen.

Klare-Bels Gedanken aber träumten sich, schmerzlich und beglückt, in die Zeit ihrer Studentenehe zurück. Sie sah alles vor sich, als habe sie es eben erst verlassen, und durchwanderte jeden Winkel, der ihr Glück beherbergt hatte. Sie sah auch die Stube, wo er über seinen Arbeiten saß und sie ihn leise – ganz leise mußt' es sein – umsorgte. Aber grade dieses Bild verwischte sich ihr, wurde undeutlich wie vor Tränen. An Eriks Stelle saß ein andrer, – saß Jonas; – und immer wieder, mit einem dumpfen Zukunftsgrauen, erblickte sie sich allein, – allein mit dem Sohn.

Die Nacht lag Klare-Bel wach, und als sie gegen Morgen einschlummern wollte, schreckte sie der Gedanke auf, sie müsse über irgend etwas angestrengt und mit Schmerzen nach grübeln.

*

Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus, irgendeiner der zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert. Erik setzte sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer, wo in der Nähe des Kaminfeuers ein Schreibtisch für ihn improvisiert worden war. Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar finstern Wolken, hinter deren blau-schwarzem Rande die Aprilsonne neckend bereits wie der hervorlachte. Hell und dunkel glitt es über das Zimmer hin.

Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden. Heute morgen wollte sie ihn fragen. Sie hielt es nicht länger aus. Wie hatte sie nur denken können, seine Briefe würden ihn verraten? Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen. Zu ihr konnte er nicht offen sprechen. Daher grade der auffallend zurückhaltende Ton. Vor ihr verbarg er sich – befangen und mühsam.

»Wo steckt eigentlich Jonas?« fragte Erik, über seine Ausarbeitungen gebeugt.

»Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren. Er wollte so gern seinen Freund besuchen.«

»Hoffentlich doch nicht, um wieder zu arbeiten – mit dem Freunde?«

»Vielleicht. Laß ihn, Erik. Ist er nicht ausgezeichnet geworden?«

»Ja, höchstens zu ausgezeichnet. Er hat viel vor sich gebracht, das muß man dem Jungen lassen. Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine Ausdauer betrifft, hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit übertroffen.«

»Nicht nur das. Er ist dabei so verständig geworden. Ihm steckt kein Unsinn im Kopf. Keine Kindereien.«

»Ja. Grade das mißfällt mir. Dafür ist er zu jung. Wenn er nur nicht eng wird. Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein.«

»Ach Erik, wenn er nur brav wird.«

»Das kann er immer noch. Zunächst soll sein Temperament heraus! Heidelberg wird ihm gut tun, denk ich, und Römers Einfluß. Man muß dafür sorgen, daß er sich frei bewegen kann. Weder Zeit noch Geld darf ihm zu knapp zugemessen werden.«

»Wie gut er ist!« dachte Klare-Bel. »Ja, in solchen Dingen ist er immer unendlich gut gewesen. Würde sich plagen für den Jungen, damit der lernen kann, zu genießen.«

Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Eriks Gedanken liefen voraus, dem Herbst entgegen, wo Jonas nach Heidelberg abgehn würde. Aller spätestens dann mußte er Ruth wiedersehen, sie sprechen. Vielleicht aber schon früher. Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste, daß er sie am Beginn der Sommerferien aus Deutschland abholen konnte.

»Erik!« sagte eine Stimme neben ihm.

Er sah zerstreut auf. Seine Frau stand am Schreibtisch – ohne ihre stützenden bei den Stöcke. Sie hatte sich ohne Hilfe erhoben und war durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen – allein.

Sie hatte es heimlich geübt, mehrere Tage.

Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen. Er blickte sie nur fragend an, ohne zu beachten, was ihn überraschen sollte.

Er bemerkte es nicht.

Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln.

»Ich wollte dir nur zeigen, was ich kann,« sagte sie, mit einer gewaltsamen Anstrengung, es unbefangen zu sagen.

Aber es mißlang. Sie erblaßte. Und plötzlich schwankte sie und glitt dem erschrocken Aufspringenden in den Arm.

Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl, besorgt, über sie gebeugt. Jetzt war er ganz bei ihr.

»Ist dir besser?« fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen Polstersessel vom Kamin heran, »die Selbständigkeit bekommt dir schlecht, meine arme Bel.«

Sie sah den Scherzenden mit einem langen, stillen Blick an.

»Ich muß sie doch lernen, Erik!« entgegnete sie doppelsinnig.

Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen. Und so, mit geschloßnen Augen, während er ihre Hand festhielt und leise streichelte, sagte sie: »Siehst du, – ach Erik, es war ja gewiß recht kindisch. Aber siehst du, – hierauf hab' ich mich ja schon so lange gefreut. Auf deine Freude, – wenn ich einmal so zu dir käme – ohne Stütze, auf eignen Füßen. Es war so kindisch. Aber nun ist mir aller Mut abhanden gekommen, dich zu fragen, Erik.«

»Wonach wolltest du mich fragen, Bel?« Er sprach mit gepreßter Stimme, gedämpft, wie immer, wenn er eine Erregung niederhielt.

»Ja, Erik, ich dachte: wenn du dich nun so freutest und mich in deine Arme schlössest, – nicht wie jetzt, weil ich fiel, sondern weil ich stand, aufrecht neben dir stand, – dann wollt ich dich fragen, – ganz leise wollt ich dich fragen, – ach Erik! ich kann's nicht mehr!«

Er faßte ihre bei den Hände in die seinen und blickte durchdringend, mit gespanntester Aufmerksamkeit in das erblaßte Gesicht mit den fest geschloßnen Augen. Sein Herz schlug hart gegen die Brust.

»Ich will dir's sagen, Bel!« erwiderte er fest, ohne den Blick von ihr zu lassen. »Wenn es dich gequält hat, dann muß es sein. Hast du den Mut, es zu hören? Willst du's?«

Sie schlug die Augen auf, – hilflos, tränengeblendet, – hilflos wie ein gestelltes Wild vor dem Schuß.

»Erik! stieß sie flüsternd her aus, und das Entsetzen vor seiner Antwort vergrößerte ihre Augen, »–Erik, liebst du sie?«

Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände.

»Ja, Bel,« sagte er laut.

In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom das ganze Zimmer, daß sich Klare-Bels Lider unwillkürlich davor schlossen in einem abergläubischen Erschrecken, wie wenn der Himmel selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe. Blau lachte es herab, und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch zerronnenen Schneefederchen über dem Garten. So warm spielten die hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin, als sei er draußen vom Strauch geschnitten.

»Dunkel,« bat Klare-Bel leise, »– ich möchte auf mein Bett, – mach's dunkel.«

Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem aufstoßenden kleinen Gemach auf ihr Bett, hinter dem er die Fenstervorhänge aus den Klammern löste und zuzog.

Sie suchte nach seiner Hand.

»Die Briefe, Erik, – wie du ihr geschrieben hast, – war es lauter Verstellung? Oder hast du ihr, – hast du nicht auch anders geschrieben? Niemals?«

»Ich habe ihr auch anders geschrieben, Bel. Ganz anders. Jedes einzige Mal, wo ein solcher Brief an sie abging. Aber es war nur für mich allein. Sie hat's nie gelesen.«

»Du hast es nicht abgeschickt? – Hast du diese Briefe noch, Erik?«

»Nein. Ich habe sie jedesmal, sobald sie geschrieben waren, vernichtet.«

»Wozu hast du's dann nur getan, Erik?«

»Es half mir.«

Fast hätte er hinzugefügt: »Ich liebe sie ja, Bel! Ich liebe sie! Ich mußte zu ihr sprechen.«

Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise: »Und ich hatte keine Ahnung, – nein, keine Ahnung hatt' ich, daß du sie um des willen von dir gabst. Nun erst weiß ich's.«

Er richtete sich betroffen auf. Mißverstand sie ihn jetzt nicht? Meinte sie nicht, er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen? um Herr zu werden seiner Liebe?

Mußte er ihr die letzte, die tödlichste Kränkung zufügen: »Nicht an dich hab' ich dabei gedacht.«

Ja, einmal mußte auch das sein. Aber mußte es heute sein? Alles heute? Litt sie nicht genug, – maßlos?

Er vermochte es nicht.

Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach, trat er von ihrem Bett zurück an die offne Tür des Wohnzimmers.

Gräßlich war es, einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust. Das Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter mitleidsloser Macht, – mit einem nie gekannten wehen, elenden Gefühl umkrallte es ihn.

Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen; der Himmel hatte sich längst wieder verfinstert. Von neuem stäubte ein feiner Schneeschauer um das Fenster, – dasselbe Aprilspiel wie zuvor.

Erik warf gedankenlos eine Hand voll Tannenzapfen in die rote Glut, und ein schwacher Duft, den er liebte wie keinen andern, – ein Duft nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube. Unwillkürlich dachte man sich den kahlen, kalten Garten im Winterfrost und einen geputzten Christbaum in der Zimmerecke.

Weihnachten, – – – auch in diesem Winter hatten sie den Baum geschmückt und sich um ihn geschart, aber zum ersten Male hatten sie sich wie drei arme Erwachsne gefühlte, die am Fest der Kinder leer ausgehn. Erik, der zu beschenken wußte wie nur ein Knecht Ruprecht, und sich zu freuen wie nur ein Kind, war karg, – war wortkarg geblieben.

Es kam ihm selbst sonderbar vor, daß sich sein Mitleid an lauter solche kleine, kleinliche Rückerinnerungen heftete.

Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehn.

Nicht daß sie jetzt dalag und litt, – aber daß sie so lange, – lange umsonst auf seine Freude gewartet, in seinen Zügen nach Freude gespäht hatte all diese Monate hindurch, – das erschütterte ihn so tief. Genesen war sie, – wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten unter ihnen stehn sollen zu jeglicher Stunde, lichterblitzend, mit tausend neuen kleinen Freuden geschmückt. Und sie hatten sich nicht wie frohe Kinder darum geschart – –.

Klare-Bel lag noch immer und schwieg. Er mochte nicht zu ihr hineingehn, er mochte nicht fortgehn. Noch immer ging er auf und ab wie ein Verurteilter.

Endlich kam Jonas. Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch. Beim Eintreten in das Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch.

»Wo ist denn Mama? Mehr war nicht im Briefkasten in der Stadtwohnung. Zwei an dich.«

»Mama ist nicht ganz wohl. Sie liegt auf ihrem Bett.«

Während Jonas auf den Fußspitzen leise ans Bett trat, griff Erik nach den Briefen. Der eine von Frau Römer, der andre von Warwara. Ohne zu wissen, warum, erbrach er zuerst Warwaras kurzes Billett: die Bitte, den nächsten Tag bei ihr zu speisen, sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges Befinden und wünsche auch, ihm eine Mitteilung zu machen, etwa in einer Woche verreise sie bereits ins Ausland.

Erik setzte sich ans Fenster und öffnete Frau Römers Brief. Ein längerer als sonst. Acht Seiten.

 

»Lieber Freund!

Heute schreibe ich in einer besondern Angelegenheit, die unsre Ruth betrifft. Aber erschrecken Sie nicht, denn erstens ist es nichts zum Erschrecken, und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit, sondern vorläufig nur eine Möglichkeit.

Sie erraten wohl, daß sich's um Jurii handelt. Ich wußte wohl von seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth, ohne sie besonders zu beachten. Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen Menschen. Jetzt aber glaube ich, daß er Ruth ernsthaft liebt und im Begriff steht, um sie zu werben. Dies ist nun von geringem Interesse für Sie, es sei denn, daß ihn Ruth wiederliebt. Dafür hab' ich keinerlei stichhaltige Beweise. Aber das Wunderliche ist, daß man nie ganz ergründen kann, was in Ruth vorgeht, und wie sie in ihrem innersten Herzen denkt. Nie sah ich einen Menschen, der offner, nie einen, der verborgener gewesen wäre als sie. Offen: bewußt; verschlossen: unbewußt. Es ist, als führe sie noch hinter allem andern, was sichtbar wird, ein geheimes Eigenleben für sich, wovon sie selbst nicht recht weiß, woraus aber bei ihr dennoch alle entscheidenden Gefühle und Gedanken kommen. So könnte sie recht gut einmal sich selbst zur Überraschung handeln, – ihrer ganzen klaren, frischen, heitern Unbefangenheit zur Überraschung, – und grade damit ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen. –

Aber nun zu Jurii. Ich kann über ihn nur Gutes, ja Vor treffliches mitteilen. Ich kann es nur in die Worte fassen: hätt' ich eine Tochter, – mir sollt's recht sein. Er ist brav, sympathisch, sehr begabt, ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen. Gänzlich unverdorben. Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge. Das ist viel auf einmal. Über Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das Beste bekannt. Seine große Jugend ist kein Fehler, da ihn Ruth mit ihm teilt und ihn die Zeit so gründlich heilt.

Aber glauben Sie, bitte, trotzdem nicht, daß meine Wünsche Ruth vorauslaufen, – auf Kupplerfüßen laufen. Ich wünschte nur, Sie rechtzeitig vorzubereiten, damit Sie überlegen, wie Sie sich zur Sache stellen wollen. Denn gegen Ihren Willen, – nein, auch nur ohne Ihren vollen Willen, – würde ja wohl Ruth nie etwas tun –«

 

Erik las nicht weiter.

Er über flog die nächsten Seiten: sie handelten nicht mehr hiervon.

Ruths Schweigsamkeit, – war sie doch gewollt, bewußt? Abkehr von ihm, eine stille Wandlung?

Er glaubte seinen eignen erwachenden Zweifeln nicht. Aber sie kamen wieder. Hell und dunkel, Licht und Schatten glitt es über seine Gedanken hin, wie draußen.

»Aprilwetter – in mir! um einen Knaben!« murmelte er im Zorn über sich, »in Angst um eine Aprillaune, – in Angst, in den April geschickt worden zu sein!«

Er war so zornig, so ungerecht als möglich gegen sie, gegen sich selbst.

Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehn.

Und Klare-Bel wollte ruhen, wollte allein sein. So schlich er sich in seine Stube.

Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam, bemerkte Gonne gegen ihn, die Frau habe sich zur Ruhe begeben, sie sei krank.

Er ging zu ihr.

Sie saß auf recht im Bett; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher. Im Nachtjäckchen, ihre kleine Haube auf dem wie zur Nacht glatt zurück gestrichenen blonden Haar, sah sie ihm verwirrt und angst voll entgegen. Als fürchte sie sich vor ihm. Als schäme sie sich vor ihm.

Er ertrug es nicht. Er beugte sich über sie, das Gesicht auf ihren Händen, und küßte diese. »Bel, – Bel, – verzeih mir.«

Sie gab sich Mühe, zu lächeln, es war ein merkwürdiges, schwaches, kleines Lächeln, das dabei herauskam. Und nun wurde sie dunkelrot.

»Ach Erik, – nicht so. Es ist mir zu – es ist mir so ungewohnt. Schrecklich ist mir's. Sprich nicht so zu mir.«

Er setzte sich neben sie, auf den Stuhl an ihrem Bett.

»Lasest du, Bel?« fragte er zerstreut, gepeinigt.

»Ja, Erik. Du mußt nicht böse drüber sein. Es sind so alte Bücher, – die alten, weißt du? Aber neulich fand ich einmal etwas, und das machte mich so glücklich. Das suchte ich mir heute auf. Es ist so schön zu lesen, Erik.«

Sie sprach rasch, befangen, wie ein verlegenes Mädchen.

Er blickte nieder auf die Bücher. Ein goldenes Kreuz auf dem einen. Und das andre: P. A. de Génestets »Laiengedichte«, – diese echt holländischen Lieder, worin sich Trotz und Glaube, Trost und Zweifel seltsam genug mischen.

»Ich hatte sie so völlig vergessen, alle beide. Weiß selbst nicht, wie nur. – Wie gut, daß so etwas dableibt, ob man es auch vergißt. Sie waren so verkramt, und ganz staubig, als ich sie neulich fand. – Willst du mir die ›Laiengedichte‹ herreichen, Erik? Ein Lesezeichen liegt drin.«

Er schlug das Buch auf und reichte es ihr. Das Lesezeichen fiel dabei heraus.

»Höre nur, – Erik, – nur einige Verse, magst du? Auch du mußt es schön finden. Es heißt ›Peinzensmoede‹. Es sollte wohl heißen: ›Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‹.«

Und sie las mit ihrer sanften Stimme:

Wo sind die Priester,
Die dich erklärten?
In Rätseln wandelt
Der Mensch auf Erden.
Geheimnis – das Leben,
Geheimnis – der Tod,
Die Schöpfung, sie predigt
Keinen liebreichen Gott.
Natur nur umgibt dich,
Die nicht auf dich hört,
Gleich viel, ob sie wohl tut,
Oder ob sie zerstört.

Und doch, – nisten Zweifel
Mir auch in der Brust, –
An dich, meinen Vater,
Glaub' ich unbewußt.
Nicht weil deine Schöpfung
Dein Lieben enthüllt, –
Nein! nein! nur trotz allem,
Dem Zweifel entquillt!
Trotz jeglichem Rätsel,
Trotz jeglicher Not,
Trotz Angst und Verderben,
Trotz Schmerzen und Tod!

Ich schmachte, vom Schicksal
Zu Tode getroffen,
Meine Hoffnung ist Wehmut,
Meine Wehmut ist Hoffen.
Ich will's – will es glauben,
Daß ich deine Hand
Im Leben wohl spürte,
Nur sie nicht erkannt; –
Will's glauben, was Kirche
Und Priester mich lehrten:
Daß niemand umsonst dich
Gesucht hat auf Erden. Frei nach dem Holländischen.

Sie saß da und las, den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig gesenkt, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Die Röte der Befangenheit, der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht, rührend und vertrauensvoll sah sie aus, wie ein Kind, das seiner Mutter ein Gebet nachspricht.

Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele, in all ihrer Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung, vor ihn hin – ohne jeden falschen Stolz. Sie kannte es nicht anders.

Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es geistesabwesend. Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hineinverirrt: ein nackter Amor mit einem großen Rosenbukett.

Während er aber stumm darauf hinschaute, sprach er in Gedanken mit Klare-Bel, unterbrach sie im Lesen, nahm ihr das Buch aus der Hand. Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch:

»Dieser Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel, Bel; ›Peinzensmoede‹ bedeutet ja: des Sinnens, des Grübelns müde. Wann hättest du das gekannt? Ein vom Zufall der Erziehung dir lässig übergeworfenes Kleid, – ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von dir abgeglittenes Kleid: das war in deinem Leben der Glaube.«

Und in Gedanken hörte er Klare-Bel: »Woran soll ich denn aber noch glauben, Erik? An dich? Doch nicht an dich? Woher einen Halt nehmen? Du warst mein Halt! Ach, der hält nicht! Er biegt sich unter meiner Hand hinweg und läßt mich stürzen. Soll ich mir selbst ein Leid antun? Dich ermorden? Sie vergiften? Ich bin keiner von den Menschen, über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen. Bin ich dadurch nicht nur hilfloser? Meine tiefste Verzweiflung heißt Hilflosigkeit, – das Tasten nach einer Stütze: mein letzter klarer Gedanke. Warum verwehrst du es mir?«

»Weil ich diese Stütze hasse, – diesen Halt, der mich ersetzen soll. Nein, weil ich mich dessen schäme, – daß er mich ersetzen muß. Weil ich mit dir kein Mitleid mehr habe, – nur noch Zorn und Haß und Scham vor mir selbst.«– – – – – –

Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf, unsicher gemacht durch sein Schweigen.

»Ist es nun nicht schön, Erik?« fragte sie leise, bei nahe bittend, »– mich macht es glücklich.«

»Dann ist es schön, Bel!« sagte er sanft. –

Aber seine Stimmung war nicht sanft. Den ganzen Abend schlug er sich mit einer ihm fremden Pein herum. Schon am Vormittag, – als er seine Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte, sondern sich edler nehmen ließ, als er war, – und jetzt wieder, wo seine Lippen anders redeten als seine beschämten, zornigen Gedanken, – hatte er gegen seine innerste Natur gehandelt, sich passiv verhalten, die Dinge gehn lassen. Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids, – aus gerechter Überzeugung: ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war, durfte nicht in Betracht kommen gegenüber dem, was Klare-Bel durch ihn erleiden mußte.

Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht, gegen seine eigenste Natur handeln zu müssen.

*

Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung, um seine Gedanken von allem los zu reißen, was ihn quälte, und auf seine Arbeit zu richten. Bald sah er Bel als Betschwester vor sich, bald Ruth als Braut; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn. In bei den Fällen war er der entthronte König.

»Einen neuen Gott die eine, – einen neuen Mann die andre, – es ist fast dasselbe!« dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit seiner Gedanken.

In einer Pause zwischen seinen Schulstunden, während der er in der Stadtwohnung vorsprach, zog er Frau Römers Brief aus seinem Taschenbuch. Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen, – nur durchflogen, – und jetzt kam ihm das Gefühl: es müsse wohl tun, diese Frau reden zu hören, bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen, was in einem Menschen aufgewühlt werden kann.

Und er las weiter:

 

»Es ist ja nicht notwendig, daß sich Ruth schon so jung bindet. Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten, – vielleicht nie. Nun sehen Sie, dies wäre nicht wünschenswert. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken. Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für die Ehe. Aber ich habe gut reden: ohne meinen Mann wär' ich wohl ein nichtsnutziges Ding geblieben, – mit etwas Interesse für Tand und einer großen Leere im Herzen. Ich glaube, Sie legen einen Hauptwert auf Ruths geistige Entwicklung. Ich auch. Aber dazu verhält sich ein frühes glückliches Liebesleben nicht als Gegensatz, sondern als die einzige gesunde, natürliche Grundlage auch für das Geistesstreben im Weibe. Nicht nur damit sie die Gehilfin des Mannes sei. Häufig langt es ja gar nicht zu mehr. Wo es aber langt, – desto besser. Von meinem Mann glaub ich bestimmt, daß er mich im Ergreifen eines jeden Berufes unterstützt hätte, zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden gewesen wäre. Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich. Liebe ist nicht selbstlos. Wohl aber um den ganzen frischen Duft, die ganze Fülle und Freude um sich zu haben, die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung ausstrahlt, der voll erblüht. Und daß zwei Blüten beieinander stehn wollen: das bedeutet ja wohl ›Ehe‹ –.«

 

Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch.

Etwas ganz andres, als er gesucht, hatte er darin gefunden, – etwas ganz Unerwartetes: einen unbewußten Vorwurf.

Seine Ehe mit Bel, das waren keine zwei selbständigen Blüten, die zusammenstanden: das war eine Blüte, die einen Tautropfen aufgesogen hatte, der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war.

So würd' es wohl Frau Römer ausdrücken.

Römers standen eben von vornherein anders zueinander. Sie bewunderten sich gegenseitig, – eigentlich war es rührend. Man konnte nicht recht darüber lächeln: man mußte diese beiden Menschen achten.

Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden. Als er sie fand, ein Jahr älter als er selbst, sinnbetörend schön, bereits fertig mit ihrer kurzen Entwicklung, – ein in gewisser Weise viel fertigerer Mensch als er, – was hätt' er da wohl anders tun können, als dürstend in sich aufzusaugen, was sich, nach Selbstuntergang sehnsüchtig, ihm darbot?

Aber wenn man einen schwächern Menschen so absolut in Besitz nimmt, so fühlt man die furchtbare Verpflichtung, ihn nicht wieder von sich zu lösen. Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf hinein zwischen Scham und Mitleid bei jedem leisesten Versuch, sich dieser Verpflichtung zu entziehen.

Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein. – Auch – Ruths Meinung? Ruth grübelte nicht über solche Fragen. Aber was täglich, stündlich auf sie wirkte, sie mächtiger beeinflussen mußte als alle Worte, alle Grübeleien, – das war Frau Römers Ehe. Eine heilig gehaltene, glückliche Ehe.

*

Sobald ihn sein Unterricht frei ließ, ging Erik zu Warwara. Mehr als er sich's selbst gestehn wollte, war es ihm recht, jetzt noch nicht nach Hause zu fahren.

Als Erik gemeldet wurde, entfernte sich eine lange hagere Engländerin, Warwaras Gesellschafterin, aus dem Zimmer.

»Sie sehen ganz besonders ernst aus,« bemerkte er bei der Begrüßung zu Warwara, »es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert?‹

Sie mußte hell auf lachen.

»Etwas passiert, – ja. Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen.«

»– Verlobt?! – war das die Mitteilung?! – Mit wem?«

Sie setzte sich in ihre Plauderecke. »Gleich viel mit wem. Ein Ihnen ganz Fremder. Im Auslande. Sie werden es auf einer schön gestochenen Verlobungskarte lesen.«

»Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen, Warwara?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine natürlich, ob Sie das Geringste für den Mann fühlen, den sie heiraten wollen.«

»Daran zweifeln Sie.«

Er schweig.

»Ich will's Ihnen sagen. Dazu rief ich Sie ja her. Ich hab' ihn gern. Sehr gern. Aber mir wird nicht heiß und kalt, wenn ich an ihn denke.«

»Und das scheint Ihnen zu genügen. Es genügt nicht, Warwara.«

»So will ich Ihnen noch mehr eingestehn. Was ich in der Ehe suche, – das Glück, das ich suche, – ist nicht der Mann.«

»Sondern?«

Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch, mit dessen Pflanzen sie sich zu schaffen machte. »Das Kind.«

Erik schwieg überrascht.

Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist ein sehr vertrautes Geständnis. Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut, – mehr, als Sie wissen. Hab' Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat gefragt. Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt. Wir hätten öfter, als wir getan haben, ernst Dinge miteinander teilen sollen.«

»Das hätte mich sehr froh gemacht, Warwara. Schon das, was Sie da sagen, macht mich froh. Ich bedurfte grade dessen.«

»Nun, sehen Sie, das ist gut. So will ich's auch ruhig bekennen. Daß ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin, voll von allerlei Tand und Plunder. Und daß ich gern mehr sein möchte. Vielleicht dank Ihnen, – dank den stillen Unterhaltungen, die ich da mitunter mit Ihnen geführt habe. Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und Meister ersehnen und erwünschen, der aus mir noch das Beste machen kann, – das Beste, was in mir ist.«

»Das alles erwarten Sie von einem Kinde?«

»Von der Mutterschaft, – ja. Von der Mutterliebe. Dem Mutterglück. Der Mutterpflicht. – Und dann,« sie wandte sich lebhaft zu ihm, »irgendwann einmal, wenn ich wirklich so glücklich sein soll, dann geb' ich mein Kind in Ihre Hand, damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen heranziehen helfen, sie Menschenlehrer.«

»Hätten Sie das Vertrauen zu mir? Ein so festes? Einen ganz festen Glauben an mich? Ich danke Ihnen, Warwara.«

»Ja. Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu. Unter der einen Bedingung: daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben.«

»Mit andern Worten: keine Kraft zur Pflichttreue.«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube nur trotz allem, daß Sie im Grunde Gemütsmensch sind. Und das heißt doch nur: sehr lieben können – Menschen oder Ideen, – und da wo man sehr liebt, sich rückhaltlos verschenken können. Hingegen all das andre, was Sie bisweilen mit solchem Selbstvertrauen zu behaupten pflegen, – all die Sicherheit und Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle, – nein, – daran glaub' ich auch für Sie nicht.«

»Sie sind eine große Philosophin geworden,« bemerkte er halblaut.

»Wie? Sie geben mir's zu?« fragte sie überrascht. »Welch ein fremder guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen? Aber es ist wahr, warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen, wie abhängig wir alle vom Glück sind, – wir armen Weltkinder alle? Von dem fruchtbaren Erdfleckchen, wo auf auch für uns noch ein ganzes Glück, eine ganze Liebe und – dadurch allein! – auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit wachsen kann.«

»Und wenn wir dies Erdfleckchen, grade dies, nicht bebauen dürfen?«

»Dann verdorren wir, – oder wir verschleudern uns. Wenigstens ich. Und Sie auch.«

Ein Diener erschien in der Portierentür und bat zur Tafel.

Warwara stand auf.

»Geben Sie mir den Arm. So ernst? Ich habe Sie doch nicht verletzt?«

»Nein. Sie haben ganz recht. Hatten recht, als Sie ein mal vor langer – sehr langer Zeit zu mir sagten: ›Wir haben eine gemeinsame Versuchung.‹ Es erkennen, heißt hart werden – gegen alles, was uns hindert, uns fruchtbar auszuleben.« –

*

Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch. Jonas fand: einander gegenüber, das sei zu feierlich. Es machte ihm Spaß, dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen, von allem das Beste. Er war bemüht, sie zu unterhalten.

Klare-Bel hörte nicht recht hin, ihre Blicke hingen an einem Brief, den Jonas mitgebracht hatte. Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der Stadtwohnung dort eingelaufen.

Von Ruth. Ganz außer der Zeit. Klare-Bel konnte eine schwache, törichte Hoffnung nicht unterdrücken, die mitten in Jonas' harmloses Geplauder hineinredete.

Als Erik bald nach dem Abendtee zu Hause eintraf, bemerkte er sofort den Brief, der für ihn bereit lag. Sein Blick streifte Jonas, – flüchtig nur, – aber Jonas stand sofort auf, um hinauszugehn. Der Vater wußte doch ganz gut, wie schwer ihm das fiel, – aber er sollte ihm nicht noch einmal, wie in jener Nacht vor Ruths Abreise, Mangel an Selbstbeherrschung vorwerfen. Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind, – auf den Wink; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer: er führte ihn ja doch den Weg zu Ruth.

Klare-Bels Augen hingen mit unausprechlicher Spannung an Erik, während er den Brief erbrach. Eine einzige Sekunde, – die Seite umgerissen, – eine zweite, blitzschnell, – und er ballte das Papier in der Hand.

Er war grau im Gesicht.

»Erik! was ist es? – etwas Schlimmes, – für dich Schlimmes, – Erik!«

Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen.

Er entfaltete das Papier wieder, nur die Hand ballte er. Vor seinen Gedanken schwirrten vier Worte: »Ich habe ihn lieb,« und am Schluß etwas wie »den Kuß gab ich ihm,« – mehr hatte er nicht gelesen. Er biß die Zähne aufeinander.

Das zu lesen, jetzt, vor den Augen seiner Frau –

Er las es, aufrecht stehend, hell beleuchtet, vor der Lampe.

 

»Am Schloßberg. Dienstag.

Ich soll Ihnen von Jurii schreiben, sagt Frau Römer. Ob ich ihn lieb habe. Ich habe ihn lieb. Und ich soll alles so erzählen, wie es gewesen ist. Es ist so gewesen: Um den Schloßberg stürmte und regnete es. Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehn, weil ich mit Husten zu Bett gelegen hatte. Ich ging aber doch hin, um mir ein Buch für meine Arbeit zu holen. Unten fand ich Jurii, und er brachte mich nach Hause. Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken. Es war aber sehr glatt, und Jurii mußte immer nur achtgeben, daß ich nicht mit den Galoschen ins Rutschen kam. Da sagte Jurii zu mir: ›Ich liebe Sie. Ich liebe Sie so sehr. Werden Sie, bitte, meine Frau.‹ Das sagte er aber russisch, und darüber fing ich an zu lachen, denn wir sprechen ja immer deutsch. Da sagte er noch: ›Ich weiß jetzt, daß Sie mich nicht wiederlieben. Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt. Sterben möcht' ich.‹ Darüber daß er sterben wollte, wurde ich ganz traurig, und er wurde es auch. Wir achteten nicht mehr auf den Schirm und auf die Galoschen, ich verlor einen, und der Regen lief uns in den Rücken. Frau Römer schalt sehr, als wir pudelnaß ankamen, steckte mich ins Bett und kochte heißen Tee. Ich lag und weinte, denn ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, damit wir wieder vergnügt sein könnten. An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan, und da lag jemand und tat dasselbe. Frau Römer kam herein und horchte, ob nebenan auch jemand weinte, und lächelte etwas und sagte, wir wären rechte Kinder. Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein Haar zurück (das tut sie grade so wie Sie) und fragte: ob ich Jurii denn nicht ein wenig lieb hätte. Ich sagte: ›Ja‹. Da sagte sie: ›Ich meine es anders. Denke einmal nach, was dir das Schönste auf der ganzen Welt ist? Gehört Jurii dazu?‹ Ich dachte nach und sagte, das Schönste auf der ganzen Welt sei ja, daß ich Ihr Kind sei. Darauf sagte sie: ›Vielleicht jetzt noch. Aber kannst du dir denn nicht denken, daß es später noch viel, viel schöner wäre, einem andern zuliebe Braut zu sein?‹ Das konnt ich mir nicht denken. Da fragte sie nichts mehr. Sie küßte mich und ging fort.

Heute ist Jurii fortgereist. Er will nicht mehr hier studieren. Ich stand grade bei meinen vielen Schneeglöckchentöpfchen, die ich im Februar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe. Ich schnitt die aufgeblühten ab für Frau Römers Glas, damit sie wieder gut sein sollte. Da kam Jurii in mein Zimmer. Er wollte die Blumen haben und einen Kuß. Er sah so blaß und verweint aus. Ich gab ihm die Blumen. Und den Kuß gab ich ihm auch.

So ist es gewesen.

Ruth.«

 

Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewandt. Sein Gesicht verriet alles, was im Brief stand. Allzu deutlich verriet es, daß sein Schreck grundlos gewesen war.

Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem, was Ruth tat oder unterließ, – das war gräßlich. Das wollte sie nicht sehen.

Sie hatte gemeint, das Schwerste sei gestern über sie gekommen. Aber nicht, es zu wissen, war das Schwerste, – nein, es mit wissenden Augen zu beobachten, täglich, stündlich, es bestätigt zu finden in solchen kleinen Vorgängen. Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen, – das war schwerer. Nicht nur schwerer, – unmöglich war es.

Und dann, – wenn Ruth einen andern abwies, – dann liebte wohl auch sie Erik. Und wenn sie ihn liebte, – dann erst war er für Bel verloren. Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten – für Bel, auf Ruths Glück nie. Nicht, wenn er sie wirklich liebte. Wo die stärkere Liebe blüht, da wächst auch das stärkere Pflichtgefühl: da sorgt man nur noch um das Glück des andern.

So empfand Klare-Bel.

*

Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück. Gonne hatte es ihr auf ihr Zimmer bringen müssen.

Erik suchte sie sofort auf. Er war schon in aller Frühe aufgestanden und hatte, nach mehreren vergeblichen Versuchen, Ruth geschrieben.

Aber diesmal gelang es ihm schlecht, – ein gequälter Ton klang durch.

Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl, eine Felldecke über den Knien. Sie sah nicht krank aus. Viel mehr klar und gesammelt.

»Du bist doch nicht leidend?« fragte er dennoch, mit ehrlicher Sorge.

»Ich bin nicht leidend, Erik. Aber ich mußte dich bei mir haben. Allein, – ganz allein, – ohne Jonas.«

Und sie umfaßte seine Hand mit ihren bei den Händen.

»Um dich zu bitten: laß mich jetzt abreisen! Jetzt schon. Es sollte ja doch bald sein. Laß es jetzt sein!«

Er schwieg einen Augen blick. Diese Bitte war beredt. »Wenn du es durchaus willst, Bel. Dann soll es beeilt werden. Ich will jede Sorge dafür tragen. Ich bin jetzt gebunden. Aber Jonas soll dich hinbringen.«

»Ach nein, Erik! Laß mich allein hin. Nicht mit Jonas. Gonne genügt. Ich bitte dich so sehr darum. Mit Jonas bin ich nicht allein. Er hat so feine Augen. Vor ihm will ich nicht –«

Sie brach ab, aber der einzige Stolz, den sie besaß, ihr Mutterstolz, schrie in ihr: »Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen, in meinem Elend!«

»Nun gut. Auch das. Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen. Darauf besteh' ich, Bel.«

»Ich danke dir. Und nun muß ich dir noch das andre sagen, Erik.«

»Was denn?«

Er schritt unruhig ein paar mal durchs Zimmer und lehnte sich ans Fenster. Sie sprach so klar und so ruhig bewußt. Er kannte seine Bel vollkommen, – jede leiseste Regung in ihr kannte er, – und beeinflußte er. Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes, ihm Entrücktes aus, – etwas Fremdes. Er fühlte es, ohne sich's noch erklären zu können, wie einen Druck auf die Nerven. Ein ganz seltsames Gefühl: als sei noch ein Dritter im Zimmer.

»Ich will es nur lieber schnell heraussagen, Erik. Das andre ist, daß auch du verreisen sollst, – so bald als möglich. Nicht erst zum Sommer, um mich abzuholen. Bald, – eher, – in den Ostertagen. Wo du zwei Wochen Zeit hast. Um sie wiederzusehen. Um dich zu überzeugen, ob wohl auch sie – –. Ganz gewiß, das mußt du tun. Denn sonst bist du zeitlebens unglücklich, Erik. Und das, – siehst du, – das könnt ich ja nicht aushalten.«

Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen. Dunkelrot bis über die Stirn. Er warf den Kopf zurück gegen die Fensterscheibe.

Das war es: eine neue Stütze besaß sie, die sie selbständig gehn und handeln lehrte! Einen neuen Herrn: schon handelte sie auf sein Geheiß!

Wie hatte er nur an Kampf denken können – mit Bel! Kampf? Nein, ausrauben, ausplündern wollte er sie! Aber sie ließ es nicht zu: sie beschenkte ihren Räuber, – freiwillig, überreich beschenkte sie ihn: »Nimm, du Armer, vom Glück Abhängiger, – ich kann's entbehren, bin die Stärkere, – ich kann entsagen, – du – nicht.«

Und glühend brannte in ihm die Scham empor, – glühende Scham, – und Auflehnung als einzige Antwort: »Tausendmal lieber ein Räuber als ein Beschenkter!«

Klare-Bel sah den Schweigenden, Wortlosen nicht an. So ganz ergriffen und benommen war sie von dem Schweren, was sie vorhatte, daß ihn ihre Blicke nicht suchten, nicht befragten, wie sonst wohl.

»Heute nacht lag ich immer und dachte: wenn es anders möglich wäre! Aber das ist es ja: es ist nicht möglich. Du kannst nicht aufhören, an sie zu denken, und ich, – wie sollte ich – wie sollte ich nicht anfangen, sie zu hassen? Und so versündigen wir uns aneinander, Erik. Das soll nicht sein. Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns. Es kann traurig werden, – sterbenstraurig. Aber nicht häßlich. Das soll es nicht. Ich ertrüg' es nicht.«

Ein halber Laut entfuhr ihm. Sie, – was wußte sie wohl von »Haß«. Von Häßlichem. Nein, nichts! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen Staunen: in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich, nicht bitter und ungerecht, im Kampf und Zweifel, im Aufruhr und Schwanken der Seele. Sie dachte nichts Häßliches.

»Und nun habe ich auch verstanden, – heute nacht, – warum ich gesund geworden bin,« sagte Bel leiser, als er noch immer schwieg, »und warum wir doch dessen nicht froh werden konnten. Nicht froh, obgleich ich auf meinen Füßen stehn und gehn konnte. Gott sprach darin zu mir: ›Geh!‹«

»Bel!« stieß er gequält heraus. Diese religiöse Exaltation war ihm entsetzlich. Aber Klare-Bel sagte ruhig, beinahe freundlich: »Ja, Erik. Und ich gehe. Gott selbst wollte es so. Er wollte es. Aber Jonas mußt du mir später lassen. Bei mir lassen. Jonas gehört mir mehr als dir.«

Höchstes und Alltägliches ging durcheinander. Erik fand: nun redete sie von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug; »dies ist mehr mein, – dies mehr dein.«

Er trat an ihr Bett.

»Hör mich jetzt an, Bel. Du fassest keinen Entschluß – über nichts, – eh ich jetzt zu dir gesprochen habe. Offen. Offner als bis her. Denn du weißt nicht alles.«

»Ach Erik, – sage nichts! Es ist schrecklich, es zu hören! – Nichts, – nein! Nur eins – hätt' ich von dir erbeten!«

Er ergriff die Hände, die sie gegen ihn vorstreckte, und hielt sie sanft fest.

»Es muß sein, Bel. Du muß mich hören.«

»Warte noch. Bitte, nicht! Erik, – sag mir nur erst: – hast du – ihr schon geschrieben?«

»Ja,« versetzte er erstaunt.

»Ich meine – den andern Brief?«

»Ja, – auch den andern.«

»Und du hast ihn vernichtet. Nicht wahr, – das hast du doch?«

In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht. Unwillkürlich griff er an die Tasche seiner Joppe. Er knisterte leise unter seinen Fingern.

»Erik! – das ist das einzige, – was ich von dir erbitten wollte.«

Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne zerknitterte Papier, – wieder stieg ihm eine Blutwelle ins Gesicht, – wieder die Röte der Scham, einer feinen, empfindlichen Scham. Nein, – nur das nicht! Das konnte er nicht! Vor Bels Augen das Innerste, Geheimste bloßlegen, – sein Heiligstes und sein Unheiligstes, – den Aufruhr der wildesten Stunde, – die Andacht der stillsten –.

Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so. Sie hatte recht, – tausend mal hatte sie ein Recht darauf! Und was sie daraus erfuhr, war, was sie erfahren mußte, – sich zu erfahren scheute. Und wenn es mehr war, als sein Bekenntnis hätte aussprechen können, – wenn er selbst es war mit allem, was in ihm tobte, gärte, schluchzte, kämpfte, – mit allem Häßlichen auch, und dem Aufschrei nach Glück, – dann war es gut so.

Vor seinen Worten scheute sie sich, – vor der endgültigen Klarheit: und in dieses Dunkel griff sie verlangend, – vermessen. Wer ergründet wohl einer Frauenseele Furcht und Neu gier!

Er reicht ihr das zerdrückte Blatt, – zusammengeballt war es zu einer Kugel.

»Du hast es gewollt.«

Dann verließ er sie.

Nebenan in Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt. Jonas hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehn müssen.

Erik blieb in der Mitte der Stube stehn und starrte ins Leere.

»Nicht entsagen!« war sein einziger deutlicher Gedanke. »Nicht entsagen! nicht in der Versuchung des Mitleides, – nicht in der schlimmern: der Versuchung der Scham.«

Ihm war, als handle sich's gar nicht um einen einzelnen Menschen, noch weniger um ein Weib, – nein, um alles, was Mensch hieß, was ihm Mensch sein konnte, – um alles, was er noch berühren konnte, schaffend, wirkend, liebend, – – um sein eignes Menschsein.

Es konzentrierte sich jetzt in diesen zwei kindlichen, gläubigen Augen, die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten.

Entsagen hieß in die Wüste gehn – nicht nur mit seiner Liebe, – auch mit seiner Tatkraft, – mit seiner Kraft überhaupt, – ins Unfruchtbare, in die tote Einsamkeit.

Gab es eine Kraft auch für die Wüste? Die in solcher Einsamkeit stand hielt? Ja in ihr vielleicht erst erstand? Die nicht mehr eines andern bedurfte, um stark und schön zu bleiben, – keiner Augen, die da glaubten und warteten und an sie appellierten?

Ja, vielleicht! für Reflexionsmenschen, die sich selber über die Schulter gucken, sich in sich selbst bespiegeln – spottend oder genießend! Oder für Gefühlsmenschen, die in ihren eignen Erregungen sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen, – auch sie ihr eignes Publikum!


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