Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

F. C. Andreas

Der bedeutende Mensch, im Vergleich zu dem, was von uns (meistens allzu oberflächlichen Blickes) als Durchschnittsmensch angeschaut wird, ist ein Fall breiterer Dimensionen – also dessen, was in sich Raum birgt für den ganzen Menschen »mit seinem Widerspruch«, aber freilich auch mit seinen Nöten, die veranlaßt sind durch ein solches Miteinander von Gegensätzen. Auch was uns »Begabung« zu heißen pflegt, aktualisiert sich oftmals erst durch diese innere Dramatik, diese Reibung beim notvollen Schlichtungsversuch, der das Letzte, Äußerste dazu an Kraft heranholt. Die sogenannte Harmonie der Persönlichkeit – irgendwie allen Menschentums Ziel – bleibt tatsächlich entweder ein Vorliebnehmen mit etwas billigerm Frieden mittels einer Reduktion menschlicher Möglichkeiten – oder aber ein bloßes Vollkommenheitsschema, wie wir es uns im Grunde nur konstruieren und illustrieren nach dem Nichtmenschlichen von Kreatur oder Vegetation, woran wir neidvoll unsere weitergehenden Komplikationen ermessen.

Innerhalb des Menschentums stehen sich Urhaftes und Bewußtgewordenes etwa gegenüber wie »primitiv« und »kulturell«, obschon das Eine Fortsetzung, nicht Einbuße des andern ist, da das Geistgewordenste dem Urbodenständigsten nicht entlaufen, es nur überbauen kann. Von uns aus nennen wir diese Zweiheit ungefähr das Europäische und das Außereuropäische (trotz dessen schon hochkultivierten Völkerschaften von ehemals); oder sie entspricht für uns etwa den beiden Richtungen: vorwiegend Nordwestlich und vorwiegend Südöstlich. Und schließlich umgreift solche gegensätzliche Zusammengehörigkeit die nie zu schlichtende Problematik des Menschentums überhaupt. Aber das Gegensätzliche in individueller Steigerung empfangen zu haben, bedeutet sowohl reichern Besitz als auch vermehrte Preisgegebenheit an den Kampf von Begabungen und Nöten. Wo nun gar ein Einzelner in den äußern Zusammenstoß der beiden Richtungen und Möglichkeiten hineingeboren ist, da läßt sich nicht umgehen, daß die ihm damit überkommenen Gaben sich aneinander nicht nur steigern, sondern auch rächen, ja daß ein solcher Umstand sich zu einem persönlichen Grundzug der Gesamtgestalt entwickelt. Und etwas von diesem Sachverhalt will sich mir jedesmal zur Erklärung aufdrängen vor der Gestalt von F. C. Andreas, die sich zwischen Beides gestellt sah, in ihrer Bedeutsamkeit wie in ihren Beeinträchtigungen, so daß ich gar nicht umhin kann, ihn daraus zu verstehen: obschon ich mir dabei der Einseitigkeit solcher Zeichnung bewußt bin. Macht sie doch nur einen Zug, wenn auch Grundzug, seiner Gestalt deutlich, auf den ich mich aber beschränken muß, weil, den vollen Umriß zu zeichnen, mich die persönliche Blicknähe abhält.

In Friedrich Carl Andreas als dem Enkel – mütterlicherseits – eines norddeutschen Arztes von hohen geistigen Qualitäten, der nach Java übersiedelte und sich einer Malaiin – einer schönen, sanften, sehr geliebten Frau – vermählte, waren schon damit West und Ost an seiner Geburt beteiligt; seine Mutter aber verband sich ihrerseits einem in Isfahan ansässigen Armenier aus dem Fürstengeschlecht der Bagratuni; wie es bei persischen Geschlechterfehden Brauch war, hatte der unterlegene Teil den Namen gewechselt, hier den Vornamen Andreas angenommen. Der Vater des kleinen Andreas siedelte in dessen 6. Jahr nach Hamburg über; den Vierzehnjährigen gab er nach Genf ins Gymnasium, wo er durch feurigen Ehrgeiz auffiel und – neben Musik – bereits leidenschaftlich Sprachstudien trieb. In Deutschland konzentrierte er sich auf den Hochschulen auf Orientalia, speziell Iranistik, promovierte 1868 in Erlangen, oblag dann noch zwei Jahre in Kopenhagen Spezialstudien, bis er durch den Krieg von 1870 heimberufen wurde. Bei Kriegsende ging er nach Kiel, zur Förderung seiner Untersuchungen an der Pehlevi-Schrift und -Sprache, die erst 1882 beendet wurden, da er inzwischen als Begleiter einer Expedition nach Persien gesandt worden war. Entsprach dies vollends seinen Wünschen und verband es endgültig seine Studienzwecke mit den Erfahrungen und persönlichen Eindrücken im Orient, so machte es anderseits auch bereits das Unstimmige kund zwischen dem zweckhaft angepaßten Europäer in ihm und dem, der sich nicht enthalten konnte, in aller Muße und Zeitverschwendung zum ersten Male damit in den Orient gleichsam heimzukehren. Was das Schicksal überraschend freundlich verbunden und geschenkt hatte, mißriet. Er kam ganz verspätet der Expedition nach – sie war schon auf und davon –, aufgehalten auf dem Weg über Indien, wo ihm wertvolle Beobachtungen und Funde gelangen, die aber nichts mit dem zu tun hatten, weswegen er gesandt worden war; man nahm an ihm Ärgernis, mißverstand infolgedessen auch erste Sendungen von ihm aus Persien und berief ihn zurück. Was dann daheim dem Faß den Boden ausschlug, war sein haßsprühender Temperamentsausbruch in der offiziellen Antwort darauf, der er dann trotzigste heiße Weiterarbeit in Persien ohne staatliche Finanzierung folgen ließ. Sechs Jahre, zumeist in bitterer Not verbracht, währte sein persischer Aufenthalt; nach der Rückkehr, zu der ihn ein bei Inschriftenuntersuchung in hellem Sonnenlicht erworbenes Augenleiden zwang, mußte er in mühseligem Privatunterricht sein Leben fristen bis zur Gründung des Orientalischen Seminars in Berlin, an dem er eine Professur erhielt. Aber bald schon fand auch dies ein Ende infolge von Intrigen, die es so erscheinen ließen, als sei Andreas auch hier nicht den Zwecken und Grenzen seiner Aufgabe gerecht geworden, die nicht der Belehrung reiner Wissenschaftler, sondern der von Diplomaten und praktisch interessierten Kaufleuten galt: was als um so ungerechtfertigter sich erwies, als gerade seine Klasse lauter Wissenschaftler umfaßte, denen er der geborene Lehrer geworden war.

Aber solche äußerlich bedingten Mißverständnisse hatten ihre Hauptgefahr darin, daß sie ein innerliches Mißverhältnis in ihm selber beleuchteten; denn auch wo er sich, so unbegrenzt wie er wollte, seiner Forschungsarbeit hingeben konnte, stieß er damit an eine andere Grenze: indem ihm der Weg rationaler Beweisführung in sich selber endlos – sozusagen unbeendbar – erschien gegenüber der innern Evidenz, welche die wissenschaftlich untersuchten Dinge für ihn vorwegnehmend, fast visionär, besaßen.

Seine Gründlichkeit, gerade weil sie eine Übergründlichkeit bis ins Minuziöseste war, gerade weil sie ihn darin zum Meister werden ließ, stieß sich an ihrer eigenen Unmöglichkeit, der andern Wesensbegabung in ihm, der visionären Evidenz, genugzutun. Was zwischen beiden, gleichsam in der genauen Mitte, hindurchfiel, war die exakte Enderledigung. Jemand, der Andreas übelwollte, sprach es einmal dennoch ganz richtig aus: »Als weiser Mann im Orient hättest Du Deinen Mann gestanden –.« So aber, in einem Zelt unter hellem Südhimmel, seinen Jüngern Weisheit spendend, dachte er sich selber ja nicht, sondern durchaus als den Forscher auf wissenschaftlicher Fährte, auf den Wegen des westindischen Gelehrten, das Ziel strengster Wissenschaft vor Augen. Beides war keineswegs dazu angetan, einander Zugeständnisse zu machen; jedes war so ganz nach sich selbst verlangend, wie es diesem starken Temperament zukam. Auch später, nach jenen schweren Jahren, blieb das so: nachdem Andreas den Göttinger Lehrstuhl für Iranistik und die Westasiatischen Sprachen erhalten hatte, ließ er es daran fehlen, seine Forschungsergebnisse in Büchern zu fixieren, zu publizieren; er beließ sie in vorläufigen Notizen: gleichsam unterwegs. Streng genommen ist auch in der Tat ein Ergebnis durch solche Fixierung nicht erledigt, es könnte in breitern und tiefern Zusammenhängen immer noch wissenschaftlicher plausibel gemacht werden – wenn man gewillt wäre, die gesamte Länge des Lebens daran zu setzen. Die Mischung von Ultragründlichkeit und von überschauender Divinations- und Kombinationsgabe, die Andreas als seine große Kraft zugesprochen wird, ließ keine offiziellere Auswertung seiner Forscherarbeiten zu, unterstellte sie nie und nie dem Entschluß, sie zweckdienlich zu erledigen. So verblieb der wertvollste Rest eine Art intimer Vision in ihm selbst, in einem persönlichen Erlebnis, obschon jedes kleinste Stück Erforschung oder Beweisführung in seiner Einzelheit auf das Ganze zielte, das Ganze tatsächlich verdeutlichen half.

Eine Stelle gab es indessen, wo seine beiden gegnerischen Erkenntnismethoden sich für ihn zusammenfanden: dies Wundersame zwischen Vision und Gelehrsamkeit war ihm garantiert im Menschen gleichen Forscherwillens, – im produktionsbereiten Schüler: sein Überwissenschaftliches ward durch Wissenschaft in seine Schüler eingesenkt. Von Andreas kann man ruhig sagen: es war wie Mord, daß er fünfzehn seiner besten Mannesjahre ohne Schüler von Format hatte bleiben müssen (etwa um in Berlin türkischen Offizieren Deutschstunden zu verabreichen). In Göttingen erst erlebte er das Reichste durch diesen Anschluß an die begabtesten seiner Hörer – einen Anschluß ungleich dem eines bloßen Lehrers oder selbst eines lehrenden Freundes. Seine Schüler waren ihm seine Äcker, in die er seinen Reichtum säte – so genau und so rückhaltlos, wie es ihm allein entsprach. Ein Kollege von ihm, der ihn seit Jugendzeiten gekannt, sagte davon nach dem Tode meines Mannes: »Wer dazu jemals gehört hatte, den hielt er wie in Händen – der blieb ihm treu!, aber wie betreut waren auch sie von ihm!«

Wenn ich bekenne, daß das Erlebtwordensein von Andreas durch seine ehemaligen Schüler mir seinen Tod fast auslöschte, so meine ich damit weder deren Trauer, noch Teilnahme, noch Vermissen, sondern den Umstand, daß es sein Bild in so ungeheurer Lebendigkeit nachwirken ließ, als würde er selber erst ganz Wirklichkeit. Ich möchte wiedererzählen dürfen, was einer der geliebtesten mir schilderte: wie er, von jahrelangen Kriegsdiensten heimkehrend, sich von der Wissenschaft losgerissen vorkam, da der Drang und die Art wissenschaftlichen Denkens in seinem Gedächtnis keinen gelehrten Wissensstoff mehr vorfand. »Durch Bücherstudium diese innere Welt neu aufzubauen, schien aussichtslos; aber ich brauchte mich nur zu fragen: wie war es doch damals bei Andreas ..., gleich das erste Mal und später ..., wie sah er aus bei seinen Worten, die mich gleich anfangs mit dem Ganzen überschütteten, so daß ich drin zu ertrinken meinte und es nicht glaubte bewältigen zu können, obschon mein bisheriger großer Lehrer mir eingeschärft hatte: ›jetzt sind Sie so weit, daß Sie zu Andreas müssen‹, – da war in der Erinnerung dieser Eindrücke das Gesuchte auf einmal wieder da. Was am wenigsten Bücherwissen war, was sogar in Aufzeichnungen nicht festzuhalten gewesen war, indem Andreas lehrend stets neu suchte und mit den Lernenden gemeinsam aufs neue fand: dies lebendig Erlebte war völlig unversehrt und rundete sich von da aus wieder ins Weite.«

Seinen Schülern baute sich, aus Persönlichkeit und Wissen, einheitlich auf, was in ihm selbst zwiespältig aufeinanderstieß: das Geschaute, Gesicherte, Evidente und die Endlosigkeit des bis ins Kleinste zu Beweisenden. Den gesammelten Eindruck, der von ihm ausging, nannte deshalb ein anderer ehemaliger Schüler den der »königlichsten Souveränität«, die er je empfunden, die gefeit sei gegen alle Angriffe von außen, im Bewußtsein des großen gesicherten Besitzes und infolge der heitern Ehrgeizlosigkeit, der mangelnden Ruhmgier nach außen, der innern Freiheit davon.

Die äußere Form, worin Andreas seine Kollegs abhielt (nicht in der Universität: zu Hause, in seinem Arbeitszimmer), trug noch dazu bei, die rein persönlichen Eindrücke mit einfließen zu lassen. Man kam erst abends, sozusagen am Rande der Nacht, zusammen und ging nicht gerade bald wieder auseinander, – wie ihm, der nicht vor vier Uhr morgens zur Ruhe zu gehen pflegte, Tag und Nacht sich ohne weiteres tauschten. Zur Erquickung der in solchen Anspruch genommenen Geister dienten entweder Tee – den er eigenhändig mit orientalischer Sorgfalt bereitete – und Kuchen, oder aber Wein und belegte Schnitten; und was von beidem dran war, kennzeichnete gleichsam Charakter und Thema des jeweils Erörterten.

Was seinen Schülern geschah, geschah ihm. In den ersten Jahren in Göttingen gelang es ihm – mit unsäglicher Mühe –, für einen seiner Schüler, der einer Expedition nach Persien beigegeben wurde, ausreichende Finanzierung sicherzustellen: ich glaube, das war der freudestrahlendste Ausdruck, den ich je in einem Gesicht gesehen, als er heimkam und mir davon berichtete; erst diesen Augenblick war restlos hinweggetilgt, worunter er selber anläßlich seiner verhängnisvollen Expedition gelitten hatte.

Und doch, zuunterst und zuhinterst der – förmlich erlösenden – Befriedigung in solcher Gemeinschaft löste sich nicht die letzte Doppelrichtung in Andreas' Wesen. Latent lag sie am Grunde gleich einer tragischen Möglichkeit – wenn auch nur andeutungsweise, hie und da, verwirklicht. Etwa dann, wenn einer seiner Schüler zur eigenen Produktion überzugehen hatte – um dieser seiner Produktionskraft willen vorgezogen, gefördert, geliebt – und sich den Zwecken forscherischer Begabung besser anpaßte, als es Andreas je gelang. Das Mißtrauen, ob etwas wirklich schon zu Ende gedacht, wirklich schon publikations bedürftig sei, übertrug Andreas da aus seinen Skrupeln zu unwillkürlich auf das Geschaffene des Andern: das Mißtrauen, ob damit nicht Zwecken des Ehrgeizes und eiligen Zeitansprüchen das geopfert werde, was der noch unerschöpfte, noch endlos unabhängige Sinn der gemeinsamen Arbeit gewesen sei. Aber wer will ermessen, ob dieser Argwohn nicht letztlich für Andreas eine – man möchte sagen: hygienische – Notwendigkeit war, um selber des entgegengesetzten Argwohns nicht inne zu werden: des Zwiespalts zwischen den zwei Methoden seines Schaffens: der spontan an erlebter Evidenz sich vollendenden – und der wissenschaftlich dem Beweis irgendwie ausgelieferten, an sich nicht vollend- und beendbaren. Sein Schrecken blieb auf allen Gebieten das Täuschungsmanöver des Dilettantischen, das zum Glauben verleitet, ihm eigne das Ganze, während es nur auf die Exaktheit der Teile verzichtet. In den latenten Haßmöglichkeiten Lieblingsschülern gegenüber kreuzte sich für Andreas dieser Schrecken mit dem entgegengesetzten Gram des Getrenntseins von ihnen durch die Furcht, seinen eigenen Reichtum nicht einmal für sie voll ausmünzen zu können. Das flachte seine Zugehörigkeit zu ihnen nicht ab, es vertiefte sie auch noch im Haßgrund schmerzlich. Unübertrefflich zeichnete einmal Gerhart Hauptmann in jüngern Jahren meines Mannes Liebesfähigkeit mit den Worten: »wie wild und wie weich.«

Man kann den gefährlichen Zug nicht übersehen, der für Andreas seinen Zwiespalt zu einer Überbürdung, Kraftbelastung machte, die ihn jeweils in innere Rastlosigkeit stoßen konnte, in eine Art von Sonntagslosigkeit, die des Rückblicks auf Erledigtes, Hinter-sich-gebrachtes ermangelte, so daß sie diesen wundersam Rüstigen auf einmal erschöpft und wie von sich selber gehetzt aussehen ließ. Es führte dazu, daß man im Zusammenleben gut tat, Ablenkendes behutsam nicht mit ihm zu teilen, auch wo es ihn interessiert haben würde (und was interessierte diesen geistig Allregsamen nicht!). Aus Gleichem stammte seine ratlose Haltung dem rein Pflichtmäßigen gegenüber, das einer stetigen, sozusagen termingebundenen Halbbeteiligung bedarf; dann gab er dem wohl mehr, »als des Kaisers ist«, aber dies »Mehr« zu angestrengt, um es erledigen zu können. Und die Kämpfe solcher Art prägten sich an ihm so leibhaft aus, daß es einen ins Herz treffen konnte wie Schicksal. Deshalb stand in ihm lebenslang der Gram um die Unerledigungen der jungen Jahre und um die Unbill, die ihm das in der deutschen Heimat zugezogen hatte. Ich erinnere mich der Wirkung auf ihn, als ich einmal von jemandem, der ihm wohlwollte, verpflichtet wurde, ihm nahezulegen, ob er nicht seinen Beitrag zu gesammelten Selbstbiographien von Gelehrten verfertigen wollte. Mein Mann stand gerade und goß sich seinen Tee auf. Er antwortete nicht, aber sein gebräuntes Gesicht wurde weiß, und seine Augen bohrten sich so drohend in einen bestimmten Punkt an der Wand, als lehne dort, ihm gegenüber, der unglückliche Fragesteller bereits als ein Mann des Todes. Schnell setzte er die Teekanne aus der Hand, denn seine Glieder flogen. Der banale Grund, warum er die Kanne niedersetzte, war klar genug. Und doch durchschauerte einen der Eindruck: als habe er seine Hände freimachen müssen –

Nun ist aber dies und ähnliches gar nicht dem zu vergleichen, was wir sonst für Sich-gehen-lassen oder Mangel an Selbstbeherrschung halten: diese vermochte er unter Umständen bis zu ebenso extremen Graden. Eher riß ihn was zu Ausbrüchen deshalb hin, weil seine gesamte Gefühlssphäre vibrationsfähiger war als üblich und sie sogar auch bei manchem Anlaß, der ihn selber kaum berührte, in Mitbewegung geriet – als bewillkommne sie unwillkürlich die Gelegenheit zu Auslösungen inmitten der gelassenen Ordnungen der Dinge. Man erschrak dann zu Unrecht über sein inneres Mittun fast mehr, als über den von ihm reflektierten Anlaß.

Mir erschien dafür eine kleine Episode charakteristisch aus den ersten Jahren nach unserer Verheiratung: Wir hatten uns einen riesigen Neufundländer zum Wächter angeschafft, und in der Sommernacht schlich sich mein Mann vom Garten in den Hausflur, um zu prüfen, ob dem noch unvertrauten Hund seine Witterung den Herrn oder einen Einbrecher verriete: denn er war nackt, wie ihn der Hund noch nicht gekannt. Er selber, in der Behutsamkeit und Gelenkigkeit seiner Glieder und dem völlig selbstvergessenen Ernst seines Gesichtsausdrucks, sah aber dermaßen einem seine Beute beschleichenden Raubtier gleich, daß – man kann es schwer in Worte einfangen – die beiden sich glichen wie zwei Geheimnisse. Das innere Drama im Tier ging so in ihn ein, jenes »Für oder Wider«, daß er scheinbar gar nicht mehr spielte, sondern selbst seinem eigenen Doppelwunsch überantwortet schien: denn wirklich wünschte er ja vom neuen Gefährten sowohl geliebt als bewacht zu sein. Das Tier, in ungeheurer Spannung, zog sich glänzend aus der Affäre, indem es beidem gerecht wurde: es zog sich – drohend knurrend – zurück. Worauf mein Mann, einfach beglückt, laut lachte und den ihm an die Schulter Springenden hingerissen in seine Umarmung zog.

Viel verwunderte oft ein Zurückhaltendes, Verhaltenes an ihm, das trotz – oder wegen – innerer Beteiligung leicht Zugedeckte. So z. B., wenn der ihm sehr befreundete Franz Stolze, der ihm beigegebene Begleiter in Persien, von jenen gemeinsamen Jahren dort erzählte, wie man das gern von interessanten Begebnissen tut: dann saß Andreas meistens einsilbig daneben. Man empfand, es sei für ihn nicht Interessantes, sondern Intimes, noch in seinem Äußerlichsten fast nur als Indiskretion Weiterzugebendes. Und nicht etwa nur des dabei Erlittenen halber, sondern auch des Glückvollen wegen, das ihn zu stark berührte. Dann aber gab es Stunden, wo er davon herzeigte, wie von Kleinodien: seinen Freunden und Schülern erzählte: von den Abenden beim Vizekönig, von seinem Diener, seinem Pferd, seinem Foxterrier, den er voller Gram zurückließ, seinem Chamäleon. Doch ich möchte am liebsten wieder aus dem Munde eines von ihnen zitieren, wie Andreas von seinen Reisen erzählte: »Wenn ich gegen Morgen zur eigentlichen Arbeit zu müde war, aber noch nicht entlassen wurde, verbreitete sich das Gespräch weiter. Da las er mir einmal Vierzeiler des Omar Chajjām in der Rosenschen Übersetzung vor; das war nicht erzählt von Persien, das war wie eine Szene unter dem Himmel Persiens. Da sprach aus den Versen orientalische Weisheit, da war von Wein und Liebe die Rede, da herrschte eine heitere Geistigkeit und einzige Zartheit –.« Oder: »Außer der stets erneuten Produktivität, vermöge deren kein fester Lernstoff als Fertiges gegeben wurde, war alles, auch das anscheinend formal Grammatikalische, ein Stück erlebter Orient. Man spürte hinter dem Abgeleiteten der rationalen Wissenschaft immer noch das quellende Leben, aus dem es entnommen war, – unausgesprochenes, darin pulsierendes Leben, was ihm ein Wort und alle daran zu beobachtenden Laut- und Deklinationsregeln zu einem Stück wirklicher Welt machte –.«

Mir will es erscheinen, als ob in solchem Sinn das »ganz Wirkliche« des Geistigen im Menschen des Ostens unmittelbarere Anschauung geblieben sei als im Westländer, dem »Idee«, »ideell«, »ideologisch« schon immer auch einen Abstand bedeuten zu etwas darüber oder darunter (es sei denn bei der Goetheschen Liebe zum Orient und zur Natur, die » Beides ist mit einem Male«). Dem Geistigen kommt ein Ausdruck zu, der sich leibhaft ausspricht, und die Leiblichkeit wiederum gewinnt Bedeutung über sich hinaus. Mir schien sich daraus manches zu erklären, was an Andreas als Besonderheit und wesentlich wirkte, indem sich »geistig« und »leiblich« darin auf eine unzerreißliche Art und Weise zusammentaten. Seine Schüler wissen, wie oft vor oder nach dem Kolleg Fragen hygienischer Natur mit unverkürzter Wichtigkeit erörtert wurden, als gehörten sie dazu; und obschon er der Sorgloseste war hinsichtlich seines körperlichen Befindens oder seiner äußern Erscheinung, stand ihm das Körperliche – der klare Leib, der mit orientalischem Ernst gebadete und gesalbte – als Ehrfurcht verlangend nichts anderm nach. Man möchte scherzhaft sagen: das Ideenmäßige steckte für ihn zwar nicht sichtlich ablesbar mit drin, aber doch wie mit unabweisbarer Beheimatung, die nicht erst in langsamer Gedankenfolge, sondern in unbegreiflicher Existenzialität und Spontaneität ihre Vorhandenheit sicherte. Mir fällt dabei stets ein Verschen des alten Matthias Claudius ein (vielleicht noch von der Hamburger Kindheit her meinem Mann geläufig), das er nie ohne einen verschmitzt-heitern Ton zitierte und das mir direkt herzustammen schien aus seinen Sicherheiten und Vorhandenheiten, an denen die Einseitigkeiten weder von Leibesdunkel noch von Geisteshelle ihn irre machen konnten:

Siehst du den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
Und ist doch rund und schön –

Es gehört auch mit hierzu, wenn im Eindruck, den man von Andreas hatte, Jugend und Alter sich weniger scharf, als sie es sonst zu tun pflegten, unterschieden. Beide äußerten sich weniger separat und in Nacheinanderfolge; ich weiß kaum, ob ich ihn früher abgeklärter oder früher ungestümer kannte; denn, war er ganz da, dann durch eine Gegenwärtigkeit, die zeitloses Gepräge hatte – vor der auch noch »rund und schön« das zur Zeit Unsichtbare stand. Ich stelle mir vor, daß es dies gewesen sein wird, was manche Menschen, auch solche, die ihn nur wenig, nur kaum gekannt haben, seinen »charme« nannten. Ungeachtet des Zwiespältigen, Unvereinbaren, worunter er gelitten, umgab ihn unzerstörbare Gegenwart und blieb ihm bis in sein 85. Jahr, bis er, ohne Blick für Tod oder nahenden Schrecken, wie ein tief beschäftigtes Kind, aller Zeitlichkeit entschlief. In seinem hohen Alter habe ich manchmal denken müssen: wenn einer nicht gelebt hätte wie er, so unbefangen Außerordentlichem zugewendet, sondern als Unhold und Übeltäter und Prasser, wäre aber nach so langem Leben so lebensvoll geblieben, so froh-sichern Herzens, so des Zornigsten wie des Zartesten fähig – wahrlich, er wäre gerechtfertigt und den Menschen ein Wohlgefallen. –

Was ich hier von ihm aussage, kann kaum mehr tun, als an die Erinnerung von Menschen rühren, in deren Wohlgefallen er bereits ruht; dessen werde ich inne, sobald ich um mich blicke in den Räumen, in denen er zu Hause war, und wo schon belangloseste Ereignisse aus der Breite des Alltäglichen von ihm beredt werden, seine Gestalt sichtbar machen.

Oder: ich schaue aus den Fenstern über den Obstgarten hin; sehe ihn bei seinem Tagesschluß noch einmal hindurchgehen: das ist in der sommerlichen Frühdämmerung, ehe er sich zur Ruhe legte. Meistens noch ganz voll von dem, was an wissenschaftlichen Problemen ihn alles übrige darüber hatte vergessen lassen bei mühseliger und seliger Arbeit. Aber was man sah, war ganz etwas anderes: nämlich wie er, wie Tiere behutsam schreitend, die Amseln weckte mit ein paar ihnen nachgemachten Tönen, daß sie leise antworteten und auf einmal einfielen mit ihrem süßen Geschwätz; und wie der Hahn im Hühnerhaus, der noch fest geschlafen hatte, sich ebenfalls angerufen hörte und, von Ehrgeiz gepackt, den fremden zweiten Hahn zu übertrumpfen strebte mit gleichem Krähen.

Der es da den Amseln und Hähnen zuvortat, machte dies nicht nur so gut, verstand hier seine Sache nicht nur so gut wie am Schreibtisch bei seiner Sprachforschung: es war ihm im Augenblick des Erlebnisses auch von gleicher Wichtigkeit, gleichem Aufschluß, wie durch Gemeinschaft von Seinesgleichen.


 << zurück weiter >>