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Freundeserleben

An einem Märzabend des Jahres 1882 in Rom, während bei Malwida von Meysenbug ein paar Freunde beisammensaßen, begab es sich, daß nach einem Schrillen der Hausglocke Malwidas getreues Faktotum Trina hereingestürzt kam, ihr einen aufregenden Bescheid ins Ohr zu flüstern – woraufhin Malwida an ihren Sekretär eilte, hastig Geld zusammenscharrte und es hinaustrug. Bei ihrer Rückkehr ins Zimmer, obwohl sie dabei lachte, flog ihr das feine schwarze Seidentüchlein noch ein wenig vor Erregung um den Kopf. Neben ihr trat der junge Paul Rée ein: ihr langjähriger, wie ein Sohn geliebter Freund, der – Hals über Kopf von Monte Carlo kommend – Eile hatte, dem dortigen Kellner das gepumpte Reisegeld zuzustellen, nachdem er alles, wörtlich, restlos alles verspielt.

Dieser lustig sensationelle Auftakt zu unserer Bekanntschaft störte mich erstaunlich wenig: sie war im Nu geschlossen – ja vielleicht trug sogar zu ihr bei, daß Paul Rée infolgedessen, wie auf einem Isolierschemel herausgehoben, schärfer umrissen, unter den übrigen wirkte. Jedenfalls wurde sein scharf geschnittenes Profil, das grundgescheite Auge mir sofort durch seinen Ausdruck vertraut, worin sich im Augenblick etwas humorvoll Zerknirschtes mit überlegen Gütigem mischte.

Schon am selben Abend, wie von da ab täglich, fanden unsere eifrigen Unterredungen erst ihr Ende beim Nachhausegehn auf Umwegen: von Malwidas Via della Polveriera in die Pension, wo meine Mutter mit mir abgestiegen war. Diese Gänge durch die Straßen Roms im Mond- und Sternenschein brachten uns einander bald so nahe, daß sich in mir ein wundervoller Plan zu entwickeln begann, wie wir dem Dauer verleihen könnten, auch nachdem meine Mutter, die mich von Zürich nach dem Süden zur Erholung gebracht hatte, heimgereist sein würde. Zwar benahm sich Paul Rée zunächst völlig falsch, indem er, zu meinem zornigen Leidwesen, meiner Mutter einen ganz andern Plan – einen Heiratsplan – unterbreitet hatte, der ihre Einwilligung zu dem meinen endlos erschwerte. Vorerst mußte ich nun erst ihm selber plausibel machen, wozu mein »für Lebenszeit abgeschlossenes« Liebesleben und wozu mein total entriegelter Freiheitsdrang mich veranlaßten.

Ich will ehrlich gestehen: was mich am unmittelbarsten davon überzeugte, daß mein, den geltenden gesellschaftlichen Sitten von damals hohnsprechender Plan sich verwirklichen ließe, war zuerst ein simpler nächtlicher Traum. Da erblickte ich nämlich eine angenehme Arbeitsstube voller Bücher und Blumen, flankiert von zwei Schlafstuben und, zwischen uns hin und her gehend, Arbeitskameraden, zu heiterem und ernstem Kreis geschlossen. Nicht geleugnet kann aber werden, daß unser fast fünfjähriges Beisammenleben geradezu verblüffend diesem Traumbilde gleich wurde. Paul Rée meinte mal: die Abweichung davon bestände fast lediglich darin, daß ich in Wirklichkeit erst allmählich lernte, die Bücher und die Blumen besser auseinander zu halten, indem ich anfangs die ehrwürdigen Universitätsbände mit Untersätzen für die Topfblumen verwechselte und ähnlich verwirrende Zusammenfassungen mitunter auch mit Menschen anrichtete. – Schließlich, während ich noch mit meiner armen Mama rang, die am liebsten alle ihre Söhne zu Hilfe gerufen hätte, um mich tot oder lebendig nach Hause zu schleifen, erwies sich zu meinem Erstaunen Malwida als fast noch vorurteilsvoller denn meine Mama, die doch hinter sich die ihr geheiligte Tradition der Welt sowie des Glaubens unerschüttert stehen hatte. Allerdings erfuhr ich hinterher, daß manches davon Paul Rée aufs Schuldkonto kam, indem er ursprünglich in heller Aufregung zu Malwida gelaufen war, ihr zu gestehen, wir müßten »einander fliehen«, denn in ihm saß fest, er dürfe Malwidas »Prinzipien« nicht kompromittieren – was, nach Malwidas Meinung, bereits durch unsere abendlichen »Umwege« (um die meine Mutter ja wußte) geschehen war. Ich erfuhr dann mit Überraschung, bis zu welchem Grade der Freiheitsidealismus zur Behinderung der individuellen Freiheitstendenz werden kann, indem er, um seiner Propaganda willen, am ängstlichsten jedes Mißverständnis, jeden »falschen Schein« meidet und sich damit dem Urteil der andern unterstellt. In einem Brief aus Rom an meinen Erzieher, der mir ebenfalls nicht helfen zu wollen schien, schrieb ich ärgerlich und enttäuscht, auf einen Brief von ihm antwortend – hier folgt dieser Brief, an ihn nach St. Petersburg gerichtet:

Rom, 26/13 März 1882 Ihren Brief hab ich gewiß schon 5 Mal gelesen, aber kapirt hab ich ihn noch immer nicht. Was, in Dreiteufelsnamen, hab ich denn verkehrt gemacht? Ich dachte ja, Sie würden grade jetzt des Lobes voll über mich sein. Weil ich doch grade dabei bin zu beweisen, wie gut ich seinerzeit meine Lektion bei Ihnen gelernt habe. Erstens indem ich doch ganz und gar nicht einer bloßen Phantasie nachhänge, sondern sie verwirklichen werde, und zweitens, indem es durch Menschen geschehen soll, die wie direkt von Ihnen ausgesucht erscheinen, nämlich vor lauter Geist und Verstandesschärfe schon fast platzen. Aber nun behaupten Sie statt dessen, die ganze Idee sei so phantastisch wie nur jemals eine früher, und werde nur noch ärger dadurch, daß sie wahrhaftig auch noch in Leben umgesetzt werden solle, und um so viel ältere und überlegene Männer wie Rée, Nietzsche und andere könnte ich nicht richtig beurteilen. Darin täuschen Sie sich nun aber. Das Wesentliche (und das Wesentliche ist menschlich für mich nur Rée) weiß man entweder sofort oder garnicht. Er ist auch noch nicht vollkommen gewonnen, er ist noch etwas perplex, aber auf unsern nächtlichen Gängen zwischen 12 – 2 im römischen Mondschein, wenn wir aus der Gesellschaft von Malwida v. Meysenbug kommen, setze ich es ihm immer erfolgreicher auseinander. Auch Malwida ist gegen unsern Plan, und dies thut mir ja leid, denn ich habe sie riesig lieb. Aber mir ist doch schon seit längerm klar, daß wir im Grunde stets Verschiedenes meinen, selbst wo wir übereinstimmen. Sie pflegt sich so auszudrücken, dies oder jenes dürfen »wir« nicht thun, oder müssen »wir« leisten, – und dabei hab ich doch keine Ahnung, wer dies »wir« eigentlich wohl ist – irgend eine ideale oder philosophische Parthei wahrscheinlich, – aber ich selber weiß doch nur was von »ich«. Ich kann weder Vorbildern nachleben, noch werde ich jemals ein Vorbild darstellen können für wen es auch sei, hingegen mein eignes Leben nach mir selber bilden, das werde ich ganz gewiß, mag es nun damit gehn wie es mag. Damit habe ich ja kein Prinzip zu vertreten, sondern etwas viel Wundervolleres, – etwas, das in Einem selber steckt und ganz heiß von lauter Leben ist und jauchzt und heraus will. – Nun schreiben Sie zwar auch: ein solches volles Sichhingeben an rein geistige Endziele hätten Sie immer nur als »Übergang« für mich gemeint. Ja, was nennen Sie »Übergang«? Wenn dahinter andere Endziele stehen sollen, solche, für die man das Herrlichste und Schwersterrungene auf Erden aufgeben muß, nämlich die Freiheit, dann will ich immer im Übergang stecken bleiben, denn das geb ich nicht dran. Glücklicher als ich jetzt bin, kann man bestimmt nicht werden, denn der frisch-fromm-fröhliche Krieg, der nun wohl losgehn wird, schreckt mich ja nicht, im Gegentheil, der soll nur losgehn. Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten sogenannten »unübersteiglichen Schranken« die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen!

Wohl aber würde mich erschrecken, wenn Sie da nicht innerlich mitgingen. Sie schreiben verstimmt, daß Ihr Rath wohl nicht mehr viel dagegen helfen könnte. »Rath«, – nein! was ich von Ihnen brauche, ist ganz ungeheuer viel mehr als Rath: Vertrauen. Natürlich nicht in dem gewöhnlichen Sinn, wie es sich von selbst versteht, – nein, aber das Vertrauen, daß, was ich auch thun oder lassen mag, es im Umkreise dessen bleibt, was uns gemeinsam ist, (– sehen Sie! dies ist nun doch ein »wir«, das ich kenne und anerkenne). Und was mir ohne weiteres und so sicher zugehören müßte, wie Kopf, Hände oder Füße, – von dem Tage an, seit ich wurde, was ich durch Sie geworden bin:

Ihr Mädel.

Zunächst ereignete sich etwas in Rom, wodurch wir Oberwasser bekamen: das war die Ankunft Friedrich Nietzsches bei uns, den seine Freunde, Malwida und Paul Rée, brieflich verständigt hatten und der unerwartet aus Messina herbei kam, unser Zusammensein zu teilen. Das noch Unerwartetere geschah, daß Nietzsche, kaum hatte er von Paul Rées und meinem Plan erfahren, sich zum Dritten im Bunde machte. Sogar der Ort unserer künftigen Dreieinigkeit wurde bald bestimmt: das sollte (ursprünglich für eine Weile Wien) dann Paris sein, wo Nietzsche gewisse Kollegs hören wollte und wo sowohl Paul Rée von früher her als auch ich durch St. Petersburg Beziehungen zu Iwán Turgéniew besaßen. Malwida beruhigte es sogar ein wenig, daß sie uns dort beschirmt sah durch ihre Pflegetöchter Olga Monod und Natalie Herzen, die noch dazu ein Kränzchen unterhielt, bei dem junge Mädchen mit ihr schöne Dinge lasen. Aber am liebsten hätte Malwida gesehen, wenn Frau Rée ihren Sohn und Fräulein Nietzsche den Bruder begleitet hätte. –

Unser Scherzen war fröhlich und harmlos, denn wir liebten gemeinsam Malwida ja so sehr, und Nietzsche befand sich oft in so angeregter Verfassung, daß sein sonst etwas gemessenes oder richtiger ein wenig feierliches Wesen dagegen zurücktrat. Dieses Feierlichen entsinne ich mich schon von unserer allerersten Begegnung her, die in der Peterskirche stattfand, wo Paul Rée, in einem besonders günstig zum Licht stehenden Beichtstuhl, seinen Arbeitsnotizen mit Feuer und Frömmigkeit oblag und wohin Nietzsche deshalb gewiesen worden war. Seine erste Begrüßung meiner waren die Worte: »Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?« Was so gut begann, erfuhr dann aber eine Wendung, die Paul Rée und mich in neue Besorgnis um unsern Plan geraten ließ, indem dieser Plan sich durch den Dritten unberechenbar verkompliziert fand. Nietzsche meinte damit freilich eher eine Vereinfachung der Situation: er machte Rée zum Fürsprecher bei mir für einen Heiratsantrag. Sorgenvoll überlegten wir, wie das am besten beizulegen sei, ohne unsere Dreieinigkeit zu gefährden. Es wurde beschlossen, Nietzsche vor allem meine grundsätzliche Abneigung gegen alle Ehe überhaupt klarzulegen, außerdem aber auch den Umstand, daß ich nur von der Generalspension meiner Mutter lebe und überdies durch Verheiratung meiner eigenen kleinen Pension verlustig gehe, die einzigen Töchtern des russischen Adels bewilligt war.

Als wir Rom verließen, schien das zunächst erledigt; in letzter Zeit litt Nietzsche überdies vermehrt an seinen »Anfällen« – an der Krankheit, wegen derer er sich einstmals seiner Baseler Professur hatte entledigen müssen und die sich anließ wie eine furchtbar übersteigerte Migräne; Paul Rée blieb deshalb bei ihm, während meine Mutter – wie ich mich zu erinnern glaube – es für passender hielt, mit mir vorauszureisen, so daß wir erst unterwegs wieder aufeinander stießen. Wir machten zusammen zwischendurch Station, z. B. in Orta an den oberitalienischen Seen, wo der nebengelegene Monte sacro uns gefesselt zu haben scheint; wenigstens ergab sich eine unbeabsichtigte Kränkung meiner Mutter dadurch, daß Nietzsche und ich uns auf dem Monte sacro zu lange aufhielten, um sie rechtzeitig abzuholen, was auch Paul Rée, der sie inzwischen unterhielt, sehr übel vermerkte. Nachdem wir Italien verlassen, machte Nietzsche einen Sprung nach Basel zu Overbecks, kam aber von dort gleich nochmals mit uns in Luzern zusammen, weil ihm nun hinterher Paul Rées römische Fürsprache für ihn ungenügend erschien und er sich persönlich mit mir aussprechen wollte, was dann am Luzerner Löwengarten geschah. Gleichzeitig betrieb Nietzsche auch die Bildaufnahme von uns Dreien, trotz heftigem Widerstreben Paul Rées, der lebenslang einen krankhaften Abscheu vor der Wiedergabe seines Gesichts behielt. Nietzsche, in übermütiger Stimmung, bestand nicht nur darauf, sondern befaßte sich persönlich und eifrig mit dem Zustandekommen von den Einzelheiten – wie dem kleinen (zu klein geratenen!) Leiterwagen, sogar dem Kitsch des Fliederzweiges an der Peitsche usw.

Nietzsche fuhr dann nach Basel zurück, Paul Rée mit uns nach Zürich, von wo er auf das westpreußische Familiengut der Rées, Stibbe bei Tütz, heimkehrte, während meine Mutter mit mir noch ein wenig in Zürich bei den Freunden verweilte, bei denen ich auf ihrem reizenden Landsitz bis zur Süden-Reise gewohnt hatte. Dann ging's über Hamburg nach Berlin, schon in Begleitschaft meines mir im Alter nächststehenden Bruders Eugène, der vom ältesten, dem vatervertretenden, zu meiner Mutter Hilfe abgesandt worden war. Nun entbrannten die letzten Kämpfe: aber auf meiner Seite half mir am meisten das Vertrauen, das Paul Rée unweigerlich einflößte und das allmählich auch meine Mutter erfaßt hatte, und so endete die Sache denn doch damit, daß mein Bruder mich zu Rées geleitete, wobei Paul Rée uns bis Schneidemühl in Westpreußen entgegenkam und Räuber und Hüter den ersten Händedruck tauschen konnten.

Laut Programm blieb ich bis in den Hochsommer – es waren wohl Monate – in Stibbe, um alsdann, mit Anbruch der Bayreuther Festspiele, bei Wagners mit Malwida zusammenzutreffen. So lernte ich in seinem letzten Lebensjahr Richard Wagner kennen, zu dessen »Parsifal« ich auf das Patronatsbillett Paul Rées ebenfalls Zutritt hatte; an den Wahnfried-Abenden, immer zwischen zwei Parsifal-Aufführungen eingeschoben, sah ich viel vom Leben der Familie, so umwogt sie auch war von ungeheurer Gästeflut aus aller Herren Ländern. Da, wo der Mittelpunkt sich befand, Richard Wagner – infolge seines kleinen, ständig überragten Wuchses immer nur momenthaft sichtbar, wie ein aufschnellender Springbrunnen –, erscholl immer die hellste Heiterkeit; wogegen Cosimas Erscheinung sie durch ihre Größe über alle Umstehenden hinaushob, an denen ihre endlos lange Schleppe vorbeiglitt – zugleich sie förmlich einkreisend und ihr Distanz schaffend. Jedenfalls aus Freundlichkeit gegen Malwida hat diese unbeschreiblich anziehende und vornehm wirkende Frau mich auch einmal persönlich aufgesucht und mir damit ein langes und eingehendes Gespräch mit ihr ermöglicht. Der junge Erzieher des damals etwa dreizehnjährigen Siegfried, Heinrich von Stein, den ich in Bayreuth kennenlernte, zählte im Winter darauf zu den frühesten und treuesten Mitgliedern des Berliner Kreises um Paul Rée und mich. Unter den Nächsten um Wagners befreundete ich mich am meisten mit dem russischen Maler Joukowsky, dessen kleines Namensschild, der Maikäfer, auch in der Ecke des riesigen Gemäldes angebracht war, das in Wahnfried gleich in die Augen fällt: die heilige Familie, mit Siegfried als Heiland, Daniela als Gottesmutter und den drei andern schönen Töchtern als Engeln.

Über das alle überwältigende Ereignis des Bayreuther Festspiels selber darf ich hier nicht den leisesten Laut hörbar werden lassen, dermaßen unverdient wurde es mir zuteil, die ich, musiktauben Ohres, bar jeden Verstehens oder jeglicher Würdigkeit dastand. Wenn es jemanden gab, dem ich mich hierin vergleichen könnte, so war das Malwidas treues Faktotum Trina, die sich, tief beschämt, mit allerlei Unehre bedeckt sah: von ihr hatte nämlich Richard Wagner prophezeit, gerade einer so total Unwissenden werde hier »der Star im Ohr« gestochen werden, wie in einer Offenbarung, weshalb man sie mehrmalig zu der Aufführung zulassen wolle. Trotz ihrer dankbaren Beglückung mißriet aber der Versuch, weil Trina ihre bestürzte Enttäuschung nicht für sich behalten konnte, als wiederum der Parsifal in Szene ging, anstatt jedesmal »ein neues Stück«.

Von Bayreuth aus war ein mehrwöchiges Zusammensein von Nietzsche und mir in Thüringen – Tautenburg bei Dornburg – geplant, wo ich zufällig in einem Hause zu wohnen kam, dessen Wirt, der Prediger am Ort, sich als ein ehemaliger Schüler meines Hauptprofessors in Zürich, Alois Biedermann, herausstellte. Anfangs scheinen zwischen Nietzsche und mir Streitigkeiten stattgefunden zu haben, veranlaßt durch allerlei Geschwätz, das mir bis jetzt unverständlich geblieben ist, weil es sich mit keinerlei Wirklichkeit deckte, und dessen wir uns auch alsbald entledigten, um ein reiches Miteinandersein zu erleben, mit möglichster Ausschaltung störender Dritter. In Nietzsches Gedankenkreise kam ich hier viel tiefer hinein als in Rom oder unterwegs: von seinen Werken kannte ich noch nichts außer der »Fröhlichen Wissenschaft«, die er noch in letzter Arbeit hatte und aus der er uns schon in Rom vorlas: in Unterredungen solcher Art nahmen sich Nietzsche und Rée die Worte vom Munde, gehörten seit langem in die gleiche Geistesrichtung, oder jedenfalls seit Nietzsches Abfall von Wagner. Die Bevorzugung aphoristischer Arbeitsweise – Nietzsche durch sein Kranksein und seine Lebensweise aufgezwungen – war Paul Rée von vornherein eigen; von jeher lief er mit einem Larochefoucauld oder einem La Bruyère in der Tasche herum, wie er ja auch seit seiner kleinen Erstlingsschrift »Über die Eitelkeit« stets des gleichen Geistes geblieben ist. An Nietzsche fühlte man aber bereits, was ihn über seine Aphorismensammlungen hinaus und dem »Zarathustra« entgegenführen sollte: die tiefe Bewegung des Gottsuchers Nietzsche, der von Religion herkam und auf Religionsprophetie zuging.

In einem meiner Briefe aus Tautenburg an Paul Rée, vom 18. August, steht schon: »Ganz im Anfange meiner Bekanntschaft mit Nietzsche schrieb ich Malwida von ihm, er sei eine religiöse Natur und weckte damit ihre stärksten Bedenken. Heute möchte ich diesen Ausdruck noch doppelt unterstreichen.« »Wir erleben es noch, daß er als der Verkündiger einer neuen Religion auftritt und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt. Wie sehr gleich denken und empfinden wir darüber, und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt, und sonderbarerweise hält er es jetzt plötzlich aus, cirka 10 Stunden täglich zu verplaudern.« »Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe geraten, an jene schwindligen Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt, und wenn uns Jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich.«

Es konnte nicht fehlen, daß in Nietzsches Wesen und Reden mich gerade etwas von dem faszinierte, was zwischen ihm und Paul Rée weniger zu Worte kam. Schwangen doch für mich dabei Erinnerungen oder halb unwissentliche Gefühle mit, die aus meiner allerkindischsten und doch persönlichsten, unvernichtbaren Kindheit herrührten. Nur: es war zugleich eben dies, was mich nie hätte zu seiner Jüngerin, seiner Nachfolgerin werden lassen: jederzeit hätte es mich mißtrauisch gemacht, in der Richtung zu schreiten, der ich mich entwinden mußte, um Klarheit zu finden. Das Faszinierende und zugleich eine innere Abkehr davon gehörten ineinander.

Nachdem ich für den Herbst nach Stibbe zurückgereist war, kamen wir noch einmal mit Nietzsche für drei Wochen (?) im Oktober in Leipzig zusammen. Niemand von uns beiden ahnte, daß es zum letzten Male sei. Dennoch war es nicht mehr ganz so wie anfangs, obwohl unsere Wünsche für unsere gemeinsame Zukunft zu Dritt noch feststanden. Wenn ich mich frage, was meine innere Einstellung zu Nietzsche am ehesten zu beeinträchtigen begann, so war das die zunehmende Häufung solcher Andeutungen von ihm, die Paul Rée bei mir schlecht machen sollten – und auch das Erstaunen, daß er diese Methode für wirksam halten konnte. Erst nach unserm Abschied von Leipzig brachen dann Feindseligkeiten auch gegen mich aus, Vorwürfe hassender Art, von denen mir aber nur ein vorläufiger Brief bekannt wurde. Was später folgte, schien Nietzsches Wesen und Würde dermaßen widersprechend, daß es nur fremdem Einfluß zugeschrieben werden kann. So, wenn er Rée und mich gerade den Verdächtigungen preisgab, deren Haltlosigkeit er selbst am besten kannte. Aber das Häßliche aus dieser Zeit wurde mir durch Paul Rées Fürsorge – um viele Jahre älter verstand ich das erst – einfach unterschlagen; sogar scheint es, daß Briefe von Nietzsche an mich nie zu mir gelangt sind, die mir unbegreifliche Verunglimpfungen enthielten. Und nicht nur dies: Paul Rée unterschlug mir auch die Tatsache, wie stark die umlaufenden Aufhetzereien auch seine Familie gegen mich aufbrachten, bis zum Haß, wobei allerdings insbesondere die krankhaft eifersuchtsvolle Veranlagung seiner Mutter mitsprach, die diesen Sohn ganz für sich allein zu haben begehrte.

Viel später stand Nietzsche wohl selber unwillig zu den von ihm veranlaßten Gerüchten; denn wir erfuhren durch Heinrich von Stein, der uns nahestand, folgende Episode aus Sils Maria, wo er Nietzsche einmal besucht hat (nicht ohne unser Einverständnis damit erst eingeholt zu haben). Er plädierte vor Nietzsche für die Möglichkeit, die entstandenen Mißverständnisse zwischen uns Dreien zu beseitigen; doch Nietzsche antwortete kopfschüttelnd: » Was ich getan, das kann man nicht verzeihen

In der Folgezeit habe ich die Methode Paul Rées mir gegenüber selber befolgt: mir all das fernzuhalten, indem ich nichts mehr darüber las, auf die Feindseligkeiten des Hauses Nietzsche ebensowenig einging wie überhaupt auf die Nietzsche-Literatur nach seinem Tode. Mein Buch »Friedrich Nietzsche in seinen Werken« schrieb ich noch voller Unbefangenheit, nur dadurch veranlaßt, daß mit seinem eigentlichen Berühmtsein gar zu viele Literatenjünglinge sich seiner mißverständlich bemächtigten; mir selbst war ja erst nach unserm persönlichen Verkehr das geistige Bild Nietzsches recht aufgegangen an seinen Werken; mir war an nichts gelegen als am Verstehen der Nietzschegestalt aus diesen sachlichen Eindrücken heraus. Und so, wie mir sein Bild – in der reinen Nachfeier des Persönlichen – aufging, sollte es vor mir stehenbleiben.

Inzwischen hatten Paul Rée und ich uns in Berlin niedergelassen. Unser anfänglicher Plan, nach Paris überzusiedeln, schob sich erst auf und hob sich dann auf durch die Erkrankung Iwán Turgéniews und seinen Tod; und nun verwirklichte sich die geträumte Gemeinschaft im ganzen Ausmaße in einem Kreis junger Geisteswissenschaftler, vielfach Dozenten, der im Verlauf mehrerer Jahre bald sich ergänzte, bald an Zugehörigen wechselte. Paul Rée hieß in diesem Kreis »die Ehrendame« und ich »die Exzellenz«, wie in meinem russischen Paß, wo ich nach russischer Sitte als einzige Tochter des Vaters Titel erbte. Sogar, wenn wir sommers Berlin verließen, kamen für die Universitätsferien von unsern Freunden etwelche nach. Als besonders beglückend erinnere ich mich eines Sommers in Celerina im Oberengadin, wo wir gemeinsam bei Müllersleuten hausten und wo erst im tiefen ersten Schnee des Spätherbstes Paul Rée und ich südwärts fuhren; noch gab es keine Bahn über Landquart, und so nahm uns ein Postlandauer, der winters den Omnibus abzulösen hatte, als einzige Passagiere auf; so ungestört langsam (wie wir es den heutigen Privat-Autoleuten vorwegnehmen konnten) fuhren wir bis Meran-Bozen hinunter, nach Belieben verweilend bei Sonnen- oder Mondenschein.

Obschon wir so viel reisten, kamen wir gut mit unserm Geld aus; das betrug für mich 250 Mark monatlich, durch meiner Mutter Pension, und rührender Weise für Paul Rée ebensoviel, denn er legte das gleiche für sich in unsern gemeinsamen Beutel. Wo es schwer langte, da lernten wir sparen und wirtschaften – was heiter war und mir von Pauls Bruder Georg, dem Verwalter auch seines Vermögens, begeisterte Briefe eintrug über den bescheiden gewordenen, nie mehr geldbedürftig ihn bedrängenden Paul.

Mal haben wir auch ein Stück Winters in Wien versucht, wo mein Bruder Eugène einige Semester bei Nothnagel nachstudierte; aber das mißriet aus humorvollen Gründen: nämlich anstelle des gewissen steifen Mißtrauens, das uns in Berlin öfters bei den Vermietern unserer drei Zimmer begegnet war, empfingen uns die Wiener Vermieter mit so herzlich-sichtbarer Billigung unseres unbezweifelbaren Liebesstandes, daß Malwidas Furcht vor dem »bösen Schein« sich allzu witzig ins Gute verkehrt sah. Auf Paul Rées weisen Rat (ein Mann ist eben eine wissendere Ehrendame als irgendeine weibliche) hatten wir auch in Berlin nur im eigenen Kreise und in diesem fest angeschlossenen andern verkehrt, weder in Familien noch in der damaligen Bohème – dies um so mehr mit Recht, als die »schöne Literatur« bei mir auf die schönste Unbildung stieß.

Dennoch ergab es sich gerade damals, daß ich, in Gries-Meran, mein »erstes Buch« schrieb. Anlaß war, daß man mich heimzuholen versuchte und daß unser Freundeskreis fand, ein Buch geschrieben zu haben, werde eine Auslandserlaubnis erwirken; tatsächlich erreichte es diesen Zweck, wenn auch unter der Bedingung, daß der Name der Familie nicht mit hineingezogen werde; so wählte ich als Pseudonym den Vornamen meines holländischen Jugendfreundes und meinen eigenen, den er einst für mich (anstelle des schwer aussprechbaren russischen) gewählt hatte. Drolligerweise erhielt dies Buch – »Im Kampf um Gott« von Henri Lou – die beste Presse, die ich je gehabt, darunter von den mir später so gut bekannten Brüdern Heinrich und Julius Hart, die ich dann dafür auslachen konnte; denn ich selbst wußte ja am besten, zu welch rein praktischem Zweck allein das Opus entstanden war: aus meinen Petersburger Notizen und, als das zur Füllung nicht ausreichte, aus einer mal verbrochenen Novelle in Versen, die ich einfach ihrer Skandierbarkeit entkleidete.

Unter denen, die uns umgaben, gab es Vertreter verschiedener Fächer – Naturwissenschaftler, Orientalisten, Historiker und, nicht allzu sparsam, Philosophen. Anfänglich schloß der Kreis sich um Ludwig Haller, der aus langer Schweigsamkeit und Arbeitsamkeit, droben im Schwarzwald, niedergestiegen kam, mit einem Manuskript im Arm, und in privatesten Vorträgen uns an seinen metaphysischen Siegen und Sorgen teilnehmen ließ; er hat, mittlern Alters, nach Drucklegung dieses Werkes (»Alles in Allen«, Metalogik, Metaphysik, Metapsychik) während einer Überfahrt nach Skandinavien einen freiwilligen Todessprung ins Meer getan, der ausgesprochen mystisch untergründet gewesen.

Aber es lag auch an der besondern Einstellung der Zeit, wenn Philosophie beunruhigend und antreibend auf die Geister wirkte. Die großen nachkantischen Systeme, bis in die Hegelschen Ausläufer nach rechts und links, flauten nicht ab ohne sehr merkbaren Zusammenstoß mit dem ihnen entgegengesetzten Geist des sogenannten »darwinistischen Zeitalters« des 19. Jahrhunderts. Mitten in der grundsätzlichen Nüchternheit und Sachlichkeit der Denkweisen, denen man huldigte, machten sich pessimistische Stimmungen Raum, sei es verhehlt im Untergrund des Denkens, sei es betont gesteigert und eingestanden. Dies stellte eine noch immer sehr idealistische Reaktion dar auf allerlei Praktiken der »Entgötterungen«: man brachte um der »Wahrheit« willen ehrliche Opfer. Fast möchte man insofern von einer heroischen Periode der damals philosophisch Interessierten reden, die ihr Ende erst fand, als (gerade durch immer reinlichere und strengere Scheidung des wissenschaftlich »wahr« Geheißenen von subjektiven Beimischungen aus Wahrheit und Dichtung) sich der Dienst an der Wahrheit in immer bescheidenere Bezirke eingeschränkt fand, die der allzu großen Worte gut entbehren konnten. Die menschliche Gemütsart selber ward Objekt der Prüfung, legte sich mehr ihrer eigenen Erforschung frei: sowohl in ihren, das strenge Erkennen ungehörig beeinflussenden Wirkungsweisen als auch in ihren unzweifelbaren Rechten lebendiger Ergänzung und Auffüllung des wissenschaftlich Lehrbaren. Der Zeitwille überführte die Strenge der Logik in die eigene Strenge einer Psychologie. Nach der Demut vor der »Wahrheit« brach ein ganzes Zeitalter der Demütigungen durch Selbstbekenntnisse an: des besondern Hochmuts der Überlegenheit in Feststellung der menschlichen Unterlegenheit.

Noch kannten auch in unserm Kreis – so, wie er in den Jahren ab- und zunahm, sich ergänzte und wechselte – nicht alle denjenigen näher, dessen Aphorismensammlungen der psychologisierenden Richtung ihre Weltberühmtheit geben sollten: Friedrich Nietzsche. Dennoch stand er, gleichsam verhüllten Umrisses, in unsichtbarer Gestalt mitten unter uns. Denn stieß er nicht an eben jene Aufgerührtheit von Seelen, die innerlich durchlebten, was Verstandeserkenntnisse ihnen gaben oder nahmen, und die ihre Freuden und Leiden inmitten des sachlichsten Geist-Erlebens hatten? Und war nicht Nietzsches eigenstes Genietum eben die Gewalt der Ausdrucksfähigkeit dafür? Umfaßten in ihm Dichter- und Erkennerkraft einander nicht so fruchtbar, weil seelische Kämpfe und Notlagen ihn dazu trieben, sein Äußerstes zu leisten?

Indessen kennzeichnet sich darin – neben dem, was Nietzsche eine so große Resonanz geben sollte in dem menschlich-geistigsten Erleben jener und der folgenden Zeit – zugleich der Gegensatz, den er zu unsern Freunden von damals bildete. Denn wie verschieden die einzelnen zu den ihnen wesentlichen Fragen standen – in einem Punkt gehörten sie zusammen: in der Wertung ihrer Sachlichkeit – in dem Bestreben, ihre eigenen Aufgerührtheiten vom erkennenden Willen zu scheiden, sie vom wissenschaftlich zu Leistenden nach Möglichkeit getrennt zu halten, sie zu erledigen als ihre Privatsache.

Für Nietzsche, anstatt dessen, wurde sein Zuständliches, seine Tiefe der Not, zum Schmelzofen worin sich der Erkenntniswille erst zur Form ausglühte; dies Formwerden in solcher Glut ist das »Gesamtwerk Nietzsche«; die Dichtung darin ist wesenhafter als seine Wahrheiten – die er nicht nur wechselte, sondern denen er sich theoretisch jedesmal als schon in einer Richtung vorliegenden anschloß: mit fast weiblicher Hingegebenheit. Bis hin zu seiner Prophetie: der Lehre von Zarathustra, dem Übermenschen und der Ewigen Wiederkehr, wo er selber sich spaltet in den alles Erleidenden und den alles Beherrschenden – den Gott. Bis dorthin, wovon man sagen konnte: er leistete das »in Wahrheit und Dichtung«; denn da setzte der Forscher in ihm sich seine Grenze, da verzichtete er auf sich, schob sich den Vorhang vor: den seine leidende und begehrende Zuständlichkeit so grandios und so unwillkürlich bemalte, daß er ihm nie wieder hochflog und den Blick freigab.

Und mir, unter den andern, wurde eben dieser Gegensatz zwischen Nietzsche und uns zum Wohltuendsten, was mich in unserm Kreise umgab: hier war das gesunde, klare Klima, auf das ich zustrebte und das mir auch Paul Rée selbst dann noch zum Geisteskameraden machte, als er sich noch immer mit seiner etwas engstirnig utilitaristisch gehandhabten »Gewissensentstehung« plagte und ich, geistig arbeitend, einigen unter uns näher war als ihm. (Ich nenne: Ferdinand Tönnies und Hermann Ebbinghaus).

Was Paul Rée und mich zueinanderführte, war allerdings nicht nur als Begegnung für eine Weile, sondern es war für immer gemeint. Daß wir das für möglich hielten, ohne unlösliche Widersprüche darin zu fürchten, hing mit seiner Wesensart zusammen, die, wohl unter vielen Tausenden, ihn zum Gefährten edelster Einzigkeit werden ließ. Vieles davon, was meiner unerfahrenen Kalbrigkeit als natürlich und selbstverständlich erschien, gehörte zum Außerordentlichen: vor allem die Art seiner unwandelbaren Herzensgüte, von der ich anfangs nicht ahnen konnte, daß sie auf einem geheimen Selbsthaß beruhe, – daß gerade so gänzliche Hingabe an einen ganz anders Gearteten von ihm »selbstlos« als frohe Erlösung erlebt werde. Tatsächlich wurde aus dem Melancholiker und Pessimisten Paul Rée, der schon als Jüngling mit Selbstmordgedanken nicht nur gespielt, ein zuversichtlicher, heiterer Mensch; sein Humor brach durch, und was von Pessimismus sich noch äußerte, tat sich in der liebenswürdigen Einstellung kund, die noch an Enttäuschungen des Alltags, welche andere ärgern oder wundern, nur das heiter herausfand, was seine schwarzseherische Erwartung immer noch – angenehm enttäuschte. So blieb mir der neurotische Untergrund an ihm ziemlich unentdeckt, wie offen er auch selbst alle möglichen Untugenden an sich betrauerte: hie und da nur – nachdem ich ihn noch einmal seiner Spielleidenschaft hatte erliegen sehen – formten sich mir Zusammenhänge zwischen dem Spieler, als den ich ihn in Rom am ersten Abend kennengelernt, und seinem sonstigen Wesen, so wie ich es heute sehe und begreife. Und noch heute packt mich eine wütende Trauer beim Gedanken, welches Heil ihm hätte widerfahren können, wäre nur um einige Jahrzehnte früher Freuds Tiefenforschung in der Welt und auf ihn anwendbar gewesen. Denn nicht nur würde sie ihn sich selbst zurückgegeben haben, sondern er würde berufen gewesen sein wie wenige, dieser großen Angelegenheit des neuen Jahrhunderts zu dienen: hätte doch erst sie ihn, mit seinem tiefen Menschenverständnis, auch intellektuell zu Ende entwickelt.

Als ich mich verlobte, hatte dieser Umstand keine Änderung an unserer Verbundenheit bewirken sollen. Damit hatte mein Mann als mit einer durch nichts umstößlichen Tatsache sich einverstanden erklärt. Paul Rée tat auch so, als glaube er daran, daß meine Verlobung damit stehe und falle: aber was ihm zutiefst fehlte, war der Glaube, daß man ihn wahrhaft lieb haben könne; und nur solange die Wirklichkeit ihm das fortwährend gegenbewies, erinnerte er sich gewaltsam des Umstandes nicht mehr, daß er in Rom abgelehnt worden war. So blieb trotz der Redlichkeit unserer Aussprache zu zweien (meinen Mann nicht zu sehen und zu sprechen, wenigstens für eine Zeitlang, hatte er sich für den Übergang bedungen) ein Mißverstehen doch zugrunde. Paul Rée hatte damals das medizinische Studium begonnen und wohnte wegen der Früharbeit in der Anatomie allein (– sogar hatten wir beratschlagt, ob ich nicht auch dabei mittun solle, aber uns lachend überlegt, daß es kaum vonnöten sei für zwei, die sich nie trennen würden).

Der letzte Abend, da er von mir fortging, blieb mit nie ganz verglimmendem Brand mir im Gedächtnis haften. Spät in der Nacht ging er, kehrte nach mehreren Minuten von der Straße zurück, weil es zu sinnlos regne. Worauf er nach einer Weile wieder ging, jedoch bald nochmals kam, um sich ein Buch mitzunehmen. Nachdem er nun fortgegangen war, wurde es schon Morgen. Ich schaute hinaus und wurde stutzig: über trockenen Straßen schauten die erblassenden Sterne aus wolkenlosem Himmel. Mich vom Fenster wendend, sah ich im Schein der Lampe ein kleines Kinderbild von mir aus Rées Besitze liegen. Auf dem Papierstück, das drum gefaltet war, stand: »barmherzig sein, nicht suchen«.

Es konnte nicht gut anders ausfallen, als daß das Entschwinden Paul Rées meinem Mann normalerweise wohltat, wie zart er auch darüber schwieg. Und es konnte auch nicht anders ausfallen, als daß, über Jahre hinweg, auf mir der Gram liegen blieb um etwas, wovon ich wußte, daß es nie hätte geschehen dürfen. Wenn ich morgens unter einem Druck erwachte, hatte ein Traum daran gearbeitet, es ungeschehen zu machen. Einer der unheimlichsten war dieser: Ich befand mich in Gesellschaft unserer Freunde, die mir froh entgegenriefen, Paul Rée sei unter ihnen. Da musterte ich sie, und als ich ihn nicht herausfand, wandte ich mich zum Garderobenraum, wo sie ihre Mäntel hingehängt hatten. Mein Blick fiel auf einen fremden Dickwanst, der hinter den Mänteln ruhig, mit zusammengelegten Händen, dasaß. Kaum noch erkennbar war sein Gesicht vor überquellendem Fett, das die Augen fast zudrückte und wie eine fleischerne Totenmaske über die Züge gelegt war. »Nicht wahr«, sagte er zufrieden, » so findet mich niemand.«

Paul Rée vollendete sein begonnenes medizinisches Studium; später zog er sich nach Celerina im Oberengadin zurück, wo er sich armer Bevölkerung als Arzt zur Verfügung stellte.

In den Bergen um Celerina verunglückte Paul Rée tödlich durch Absturz.


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