J. J. Rudolphi
Schneeglöckchen
J. J. Rudolphi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Grasmücke

Eine Grasmücke hatte einmal zwei Eyer in ihr Nestchen gelegt, und war dann davon geflogen, um sich ein Paar Raupen und Fliegen zum Mittagessen zu holen. Es hatte sie aber ein träger Kukuk von ihrem Neste wegfliehen sehen; da flog er hin, warf eins von den Grasmückeneyern heraus, und legte dafür sein Kukuksey hinein. Dann flog er wieder fort, und dachte: »Die Grasmücke mag das Ey ausbrüten und mein Kukukssöhnchen groß ziehen!« Die Grasmücke hatte es aber nicht gemerkt, daß sie ein fremdes Ey in ihrem Neste habe, sondern brütete Tag und Nacht, bis sie nach einiger Zeit zwei junge Vögelchen ausgebrütet hatte. Sie sahen aber einander gar nicht ähnlich. Das junge Grasmückchen war gar zart gebaut, aber der junge Kukuk hatte einen gewaltig großen Bauch, und schrie den ganzen Tag: »Mutter, essen, essen!« und wenn die Mutter mit einer Raupe oder einer Fliege nach Haus geflogen kam, so schnappte der Kukuk immer zuerst darnach, so daß das kleine Grasmückchen fast nichts bekam. Er machte sich auch in dem Nestchen so breit, daß das kleine Grasmückchen keinen Platz hatte zum Sitzen. Es waren aber noch nicht zwei Wochen vergangen, da sagte einmal der Kukuk zum Grasmückchen: »mache mir Platz!« Da sagte Grasmückchen: »ich kann gar nicht mehr weiter rücken, du nimmst ja das ganze Nestchen allein ein!« »Mache mir Platz!« schrie der Kukuk, »oder ich fresse dich.« Da setzte sich klein Grasmückchen auf den Rand des Nestes, und hielt sich mit dem Schnabel fest: aber der Kukuk schüttelte und rüttelte sich, da fiel das arme Grasmückchen hinunter auf den Boden, denn seine Flügel waren noch nicht gewachsen. Es ging aber ein kleiner Knabe am Baume vorbei, der hörte das Grasmückchen schreien, da nahm er es mit sich nach Haus, und fütterte es mit Würmern und Brosamen, und das Grasmückchen wuchs und ward stark und munter. Es flog aber in der Stube umher und fraß die Fliegen und zwitscherte und sang gar munter und lustig. Wenn ihm aber der kleine Knabe rief: »Grasmückchen komm',« so flog Grasmückchen herbei, und setzte sich auf seinen Finger.

Grasmückchen aber lebte bei dem Knaben den Herbst und Winter über, und ergötzte alle durch seine Fröhlichkeit und sein munteres Wesen. Als aber im Frühjahr der Schnee von den Bergen geschmolzen war, und die Erde fing an wieder grün zu werden, und die Bäume bekamen Blätter und die Vögel sangen lustig darin, und die Sonne schien so freundlich zum Fenster herein, da ward es dem Grasmückchen zu enge in dem kleinen Stübchen, und es wäre gerne draußen gewesen im grünen Walde bei seiner Mutter. Der Knabe merkte sein Begehren, und öffnete ihm das Fenster; da flog es hinaus zu dem Baum, wo seiner Mutter Nest gestanden hatte, aber es war nicht mehr da; auf dem Boden lagen aber Heu, Pferdehaare und ausgerupfte Federn herumgestreut, und es sah, daß jemand das Nest zerrissen haben mußte. Darüber betrübte sich Grasmückchen sehr, und flog in den Wald hinein, und fragte alle Vögel, ob sie seine Mutter nicht gesehen hätten. Aber Niemand konnte ihr etwas von ihr sagen. Mit der alten Grasmücke aber war es also zugegangen.

Nachdem nämlich der Kukuk das Grasmückchen aus dem Neste geworfen hatte, war die Mutter nach Hause gekommen; da fragte sie, wo klein Grasmückchen sey. Der Kukuk aber sagte: »ja das ist ein recht boshaftes Kind, es hat mich aus dem Neste jagen wollen, ich habe mich aber gewehrt, und da ist es davon geflogen!« Die alte Grasmücke hatte das geglaubt, und war fortgeflogen um dem Kukuck Fressen zu hohlen; der war aber nicht mehr zu sättigen, und die alte Grasmücke wurde ganz matt vom vielen Hin- und Herfliegen. Als sie aber eines Abends sehr müde nach Hause gekommen war, wollte er, daß sie noch einmal ausflöge; da sagte sie aber, du kannst satt sein für heute, du fauler Vielfresser, warte bis morgen.« Da riß er aber seinen Schnabel ganz schrecklich auf, und sagte: »Wenn du mir nicht gleich zu essen gibst, so fresse ich dich.« Da fürchtete sich die alte Grasmücke und flog davon; als aber am andern Morgen der Kukuk sah, daß die alte Grasmücke nicht mehr zurückkommen wollte, sah er sich gezwungen, jetzt selbst seine Nahrung zu suchen; er flog darum aus dem Nest, aus Bosheit aber zerriß er es, und warf es auf die Erde.

Die alte Grasmücke aber hatte ihr Grasmückentöchterchen überall aufgesucht, hatte es aber nicht finden können; da flog sie auf einen Busch, dessen Blätter hatte ein Knabe mit Vogelleim bestrichen. Als sie aber wieder weg fliegen wollte, konnte sie nicht; da fing sie an zu schreien und mit den Flügeln zu schlagen, aber sie konnte nicht los kommen, und der Knabe kam hinzu und nahm sie, und setzte sie in einen Käfig. Er gab ihr aber zu essen und zu trinken, und behielt sie den Herbst und Winter über bei sich.

Unterdessen hatte aber auch klein Grasmückchen seine Mutter vergeblich gesucht; da kam sie einmal zu einer Nachtigall, die sagte: »ich will dir einen guten Rath geben. Wir reisen jetzt bald in das Land nach Mittag, da gehe du mit uns, vielleicht findest du deine Mutter.« Das war Grasmückchen zufrieden, und als es Nacht war, flog es mit den Nachtigallen fort, die wurden von einer Königin angeführt. Sie flogen nur des Nachts, am Tage aber schliefen sie in dichtem Gehölze, oder sie suchten ihre Nahrung und aßen und tranken. Nachdem sie aber über ein großes Meer geflogen waren, kamen sie in ein Land, das war lauter Sand, so weit man sehen konnte. Ganz am Ende aber sah man einen erhabenen Punkt, das war eine Insel in dem Sandmeere, die grünte das ganze Jahr, während rings herum alles verdorrt und erstorben war. Mitten auf der Insel war eine kleine Quelle, die floß aus einem Felsen heraus, und lief über eine Wiese, wo sie aber in den Sand kam, versiegte sie plötzlich vor der großen Hitze; auf der Insel hingegen war es kühl und schattig und die Nachtigallen sangen wunderschön, und wenn sie gesungen hatten, badeten sie sich in dem klaren Wässerchen.

Grasmückchen aber suchte vergeblich nach seiner Mutter, sie war nirgends zu finden. Die Nachtigallen blieben aber so lange hier, bis in ihrer Heimath der Winter vorbei war, und auf der Insel der Herbst anfing; da flogen sie wieder fort ihrer Heimath zu, die Nachtigallenkönigin aber flog voraus. Ehe sie aber über das große Meer flogen, machten sie einmal Halt, und setzten sich am Ufer nieder, um Kräfte zur Ueberfahrt zu sammeln. Da scharrte Grasmückchen ein wenig im Sand, und fand zwei schwarze glänzende Kugeln. Da dachte es, die will ich mit nehmen, und will sie dem Knaben schenken, der mich gefüttert und gepflegt hat. Sie nahm sie also in ihre Klauen, und flog mit ihnen über das Meer in ihre Heimath.

Es war aber gerade Frühling, und die Sonne schien so freundlich durch das Fensterlein, hinter welchem Grasmückchens Mutter im Käfig gefangen saß; sie wäre aber gar gerne draußen gewesen in der frischen, freien Luft. Das merkte der Knabe, und hing den Käfig vor das Fenster, und die Grasmücke wurde gar lustig und munter. Da sah sie eine andere Grasmücke herbeifliegen, die hatte zwei Kugeln in ihren Krallen; es war aber ihr Töchterchen, das junge Grasmückchen. Da rief sie schnell, »mach auf, mach auf!« Da schob klein Grasmückchen den Riegel vor dem Thürchen zurück, und husch, flog die Alte heraus; als sie sich aber einander wiedersahen, da weinten beide vor Freude, und erzählten sich auf einem nahen Baume alles, was ihnen seitdem begegnet war. Als sie aber fertig waren mit Erzählen, sagte die Alte: »willst du denn nicht dem Knaben, der mich den ganzen Winter gefüttert hat, eine von deinen Kugeln schenken? Du hast ja noch eine!« »Ach ja,« sagte klein Grasmückchen, und flog hin zum Käfig, und legte die eine Kugel in das Nestchen. Dann flogen sie fort zu dem Knaben, der klein Grasmückchen gepflegt hatte, und warf ihm die andere Kugel zum Fenster hinein, wie sie aber auf den Boden fiel, zerbrach sie in zwei Stücke, aber aus der Höhlung fiel ein Diamant heraus, der glänzte wie Feuer. Den fand der Knabe, und sein Vater trug ihn in die Stadt, und verkaufte ihn für vieles Geld, so daß der Knabe sehr reich wurde. Der andere Knabe hatte aber auch seine Kugel gefunden. Da betrachtete er sie lange, und hielt sie für ein Ey. Das will ich ausbrüten lassen, sagte er, darin muß ein sonderbarer Vogel stecken. Während dem er die Kugel so in der Hand betrachtete, hörte er an dem Busch mit Vogelleim ganz gewaltig schreien, er lief hinaus, um zu schauen, was es gäbe, und siehe da, es hatte sich ein großer Kukuk in den Vogelleim festgeklebt. Das war derselbe, der die junge und die alte Grasmücke aus dem Nest getrieben hatte. Da nahm ihn der Knabe und setzte ihn auf das Nest in seinen Käfig und sagte: »jetzt brüte mir einmal das Ey aus!« Der Kukuk aber, weil er sonst gar nichts zu thun hatte, brütete und brütete recht lange; da zerplatzte auf einmal das Ey, aber statt eines Vögelchens kam eine junge Schlange heraus, die wickelte sich um seinen Hals und erwürgte ihn, dann schlüpfte sie zum Käfig hinaus, und verkroch sich in die Erde.

Die beiden Grasmücken aber bauten sich ihr zerrissenes Nestchen wieder, und lebten noch lange in Friede und Eintracht bei einander.


 << zurück weiter >>