Jean-Jacques Rousseau
Rousseau's Bekenntnisse. Zweiter Theil
Jean-Jacques Rousseau

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1763

Eine andere Schrift berührte mich desto empfindlicher, weil sie von einem Manne herrührte, vor dem ich stets Hochachtung gehegt, und dessen Beständigkeit ich bewunderte, während ich seine Verblendung bedauerte. Ich rede von dem Erlaß des Erzbischofs von Paris wider mich.

Ich glaubte es mir schuldig zu sein, darauf zu antworten. Ich konnte es, ohne mich zu erniedrigen; es war ein Fall, der dem mit dem Könige von Polen ungefähr ähnlich war. Ich habe rohe Zänkereien nach Voltaire'scher Manier nie geliebt. Ich verstehe mich nur mit Würde zu schlagen und verlange, wenn ich mich zur Vertheidigung herablassen soll, daß mein Angreifer meine Schläge nicht ehrlos macht. Ich zweifelte nicht, daß dieser Erlaß ein Machwerk der Jesuiten wäre, und obgleich sie damals selbst unglücklich waren, erkannte ich doch darin ihren alten Grundsatz, die Unglücklichen zu vernichten. Ich konnte demnach auch meinem alten Grundsatz treu bleiben, den vorgeschützten Verfasser zu ehren und das Werk zu zermalmen; und das glaube ich mit ziemlichem Erfolge gethan zu haben.

Ich fand den Aufenthalt in Motiers sehr angenehm und um mich zu dem Entschluß zu bringen, dort meine Lebenstage zu beschließen, fehlte mir nur ein sicherer Unterhalt; aber man lebt dort ziemlich theuer, und ich hatte durch die Auflösung meines Haushalts, durch die Einrichtung eines neuen, durch den Verkauf oder die Vertheilung aller meiner Möbel und durch die Ausgaben, die ich seit meiner Abreise von Montmorency hatte machen müssen, alle meine alten Pläne dahinsinken sehen. Ich sah das kleine Kapital, das ich in Händen hatte, sich täglich vermindern. Zwei oder drei Jahre genügten, den Rest zu verzehren, ohne daß ich ein Mittel, es zu erneuern, sah, wenn ich mich nicht wieder auf die Schriftstellerei, dieses verhängnisvolle Handwerk, dem ich bereits entsagt hatte, verlegen wollte.

Ueberzeugt, daß in meinen Verhältnissen bald ein Umschlag eintreten müßte, und daß das Publikum, von seiner Tollheit zurückgekommen, die Regierungen zum Erröthen über ihre eigene bringen würde, suchte ich meine Hilfsquellen nur bis zu dieser glücklichen Wendung zu verlängern, die mir unter den sich darbietenden Mitteln eine freiere Wahl gestattete. Deshalb nahm ich mein »Musikalisches Wörterbuch« wieder vor, welches eine zehnjährige Arbeit schon weit gefördert hatte; ich brauchte nur die letzte Hand anzulegen und es dann noch ins Reine zu schreiben. Meine Bücher, welche mir vor kurzem nachgesandt waren, setzten mich in den Stand, dieses Werk zu vollenden. Meine Papiere, die gleichzeitig angelangt waren, ermöglichten mir den Beginn meiner Denkwürdigkeiten, mit denen ich mich künftighin einzig und allein beschäftigen wollte. Ich fing damit an, die Briefe in eine Sammlung einzutragen, die meinem Gedächtnisse bei der Feststellung der Reihenfolge der Thatsachen und Zeiten behilflich sein konnte. Ich hatte die Sichtung derer, die ich zu diesem Zwecke aufheben wollte, bereits vorgenommen, und ihre Reihe war während beinahe zehn Jahre nirgends unterbrochen. Bei ihrer Ordnung behufs der Abschrift fand ich indessen eine Lücke, die mich überraschte. Sie umfaßte beinahe sechs Monate, nämlich vom October 1756 bis zum folgenden März. Ich erinnerte mich genau, unter die gesichteten Papiere eine Anzahl Briefe von Diderot, von Deleyre, von Frau von Epinay, von Frau von Chenonceaux u. s. w. aufgenommen zu haben, welche diese Lücke ausfüllten und sich nicht mehr vorfanden. Was war aus ihnen geworden? Hatte jemand während der wenigen Monate, die meine Papiere in dem Hotel Luxembourg geblieben waren, Hand an sie gelegt? Das ließ sich nicht annehmen; ich hatte selbst gesehen, daß der Herr Marschall den Schlüssel zu dem Zimmer, in das ich sie gelegt, an sich genommen hatte. Da mehrere Briefe von Frauen und Diderots sämmtliche ohne Datum waren und ich mich gezwungen gesehen hatte, diese Data aus dem Gedächtnis und nur ungewiß nachzuholen, um die Reihenfolge dieser Briefe zu ordnen, so glaubte ich mich anfangs in der Zeitangabe geirrt zu haben und musterte alle Briefe, die kein Datum hatten oder auf denen ich es erst ergänzt hatte, um zu sehen, ob ich unter ihnen nicht die auffinden würde, welche diese Lücke ausfüllen mußten. Dieser Versuch war erfolglos; ich sah, daß es sich hier wirklich um eine Lücke handelte und die Briefe unstreitig genommen waren. Von wem und weshalb? Das war mir unfaßbar. Diese Briefe, die meinen großen Streitigkeiten vorausgingen und aus der Zeit meiner ersten Trunkenheit für die »Julie« stammten, konnten niemand interessiren. Sie enthielten höchstens einige Klatschereien Diderots, einige Witzeleien Deleyres, einige Freundschaftsbezeigungen der Frau von Chenonceaux oder sogar der Frau von Epinay, mit der ich damals auf bestem Fuße stand. Wem konnte an diesen Briefen gelegen sein? Was wollte man mit ihnen anfangen? Erst sieben Jahre später habe ich die schändliche Absicht dieses Diebstahls geargwöhnt.

In Folge des augenscheinlichen Fehlens dieser Briefe suchte ich unter meinen Concepten, ob ich auch unter ihnen einige vermissen würde. Ich konnte mehrere nicht finden, was mich bei meinem schwachen Gedächtnisse das Fehlen noch anderer in der Menge meiner Papiere annehmen ließ. Ich wurde gewahr, daß das Concept der »Sensitiven Moral« sowie das zu dem Auszuge aus den »Abenteuern des Lord Eduard« verschwunden waren. Das Fehlen des letzteren lenkte, wie ich gestehe, meinen Verdacht auf Frau von Luxembourg. Ihr Kammerdiener La Roche hatte diese Papiere an mich abgesandt und sie allein in der Welt konnte meines Bedünkens Interesse an diesem Wische nehmen. Was für ein Interesse konnte sie jedoch an dem andern und den geraubten Briefen nehmen, von denen man selbst bei böser Absicht keinen mir nachtheiligen Gebrauch machen konnte, falls man keine Fälschung vornehmen wollte? Den Herrn Marschall, dessen unerschütterliche Redlichkeit und aufrichtige Freundschaft für mich ich kannte, konnte ich nicht einen Augenblick in Verdacht haben. Ich konnte diesen Verdacht nicht einmal gegen die Frau Marschall festhalten. Nach langem Nachsinnen, um den Urheber dieses Diebstahls zu entdecken, schien es mir am vernünftigsten, d'Alembert dafür zu halten, der sich schon damals bei Frau von Luxembourg eingenistet und Gelegenheit gefunden haben konnte, diese Papiere zu durchsuchen und aus ihnen an Manuscripten wie an Briefen mitzunehmen, was ihm gefallen hatte, sei es nun, um jemand mit mir zu verfeinden, oder um sich anzueignen, was ihm etwa zusagte. Ich nahm an, daß er durch den Titel der »Sensitiven Moral« irregeleitet, darin den Plan zu einem vollständigen Lehrbuche über den Materialismus zu finden geglaubt hatte, den er, wie man sich vorstellen kann, nach Kräften gegen mich verwerthet haben würde. Ueberzeugt, daß er bei Durchsicht des Conceptes bald enttäuscht sein würde, und entschlossen, mich von der Literatur ganz zurückzuziehen, beunruhigte ich mich wenig über diese Entwendungen, die nicht die ersten von derselben HandIn seinen »Elementen der Musik« hatte ich vieles gefunden, das dem, was ich über diese Kunst für die Encyklopädie geschrieben und was ihm mehrere Jahre vor dem Erscheinen seiner Elemente zugestellt worden, entnommen war. Ich weiß nicht, welchen Antheil er an einem Buche haben konnte, welches den Titel »Wörterbuch der schönen Künste« führte, allein ich habe darin von den meinigen Wort für Wort abgeschriebene Artikel gefunden, und zwar lange bevor diese nämlichen Artikel in der Encyklopädie gedruckt waren. waren, welche ich, ohne mich darüber zu beklagen, geduldet hatte. Bald dachte ich an diese Treulosigkeit nicht mehr, als hätte man gar keine gegen mich verübt, und ich schickte mich an, die Materialien, die man mir gelassen hatte, wieder zu ordnen, um an meinen »Bekenntnissen« zu arbeiten.

Lange hatte ich geglaubt, daß in Genf die Gastlichkeit oder wenigstens die wirklichen Bürger und die Meister gegen die Verletzung des Religonsedictes, die in der gegen mich erlassenen Verfügung lag, Einspruch erheben würden. Alles blieb ruhig, wenigstens äußerlich, denn es war eine allgemeine Unzufriedenheit vorhanden, die nur auf eine Gelegenheit wartete, um sich kund zu thun. Meine Freunde, oder doch meine sogenannten Freunde, schrieben Briefe über Briefe an mich, in denen sie mich aufforderten, zu kommen und mich an ihre Spitze zu stellen, und mir eine öffentliche Ehrenerklärung von Seiten des Rathes zusicherten. Die Besorgnis vor Unordnung und Unruhen, die meine Gegenwart hervorrufen konnte, hielt mich ab, auf ihre Bitten einzugehen; und treu dem Eide, den ich einst abgelegt hatte, mich in meiner Vaterstadt nie in einen bürgerlichen Zwist einzulassen, wollte ich lieber die mir zugefügte Beleidigung bestehen lassen und mich für immer aus meiner Heimat verbannen, als mir die Rückkehr dahin durch gewaltsame und gefährliche Mittel bahnen. Allerdings hatte ich von der Bürgerschaft gesetzliche und friedliche Vorstellungen wider eine Rechtsverletzung, die sie selbst im hohen Grade berührte, erwartet. Diese unterblieben völlig. Ihre Anführer suchten weniger die wirkliche Abstellung von Beeinträchtigungen, als die Gelegenheit, sich nothwendig zu machen. Man schmiedete Ränke, aber man schwieg und ließ die Schwätzer und Scheinheiligen oder ähnliches Gelichter belfern, die der Rath vorschob, um mich bei der großen Menge verhaßt zu machen und seine Albernheit dem religiösen Eifer zuschreiben zu können.

Nachdem ich vergeblich länger als ein Jahr gewartet hatte, daß jemand gegen ein ungesetzliches Verfahren einschritte, faßte ich endlich einen Entschluß. Da ich mich von meinen Mitbürgern verlassen sah, war es mein fester Vorsatz auf meine undankbare Vaterstadt zu verzichten, in der ich nie gelebt, von der ich weder eine Wohlthat noch eine Freundlichkeit empfangen hatte, und von der ich mich zum Lohne für die Ehre, die ich ihr zu machen gesucht, unter einstimmiger Beipflichtung, indem die, welche hätten reden sollen, schwiegen, so unwürdig behandelt sah. Ich schrieb deshalb an den derzeitigen ersten Syndikus, einen gewissen Herrn Favre, wie ich glaube, einen Brief, indem ich feierlich meinem Bürgerrechte entsagte, sonst aber den Anstand und die Mäßigung beobachtete, die ich immer in die Handlungen des Stolzes gelegt habe, zu denen mich die Grausamkeit meiner Feinde in den Zeiten meines Unglücks oft gezwungen hat.

Dieser Schritt öffnete den Bürgern endlich die Augen; einsehend, daß sie Unrecht gehabt und meine Vertheidigung in ihrem eigenen Interesse nicht hätten verabsäumen dürfen, schritten sie zu derselben, als es nicht mehr an der Zeit war. Sie verbanden damit noch andere Beschwerden und fanden darin Stoff zu mehreren sehr vernünftigen Vorstellungen, die sie in dem Maße erweiterten und verstärkten, wie ihnen die in harter und schroffer Weise ertheilten abschlägigen Bescheide des Rathes, der sich von dem französischen Ministerium unterstützt fühlte, den Plan desselben, sie zu knechten, immer deutlicher zum Bewußtsein brachte. Diese Zänkereien veranlaßten verschiedene Broschüren, die nichts entschieden, bis plötzlich die »Lettres écrites de la Campagne« erschienen, ein für den Rath mit ungemeiner Gewandtheit geschriebenes Werk, durch welches die angreifende Partei zum Schweigen gebracht und eine Zeit lang vernichtet wurde. Diese Broschüre, ein unvergängliches Denkmal der seltenen Talente ihres Verfassers, war vom Generalprocurator Tronchin verfaßt, einem geistreichen, aufgeklärten und in den Gesetzen und der Verfassung der Republik sehr erfahrenen Manne. Siluit terra.


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