Jean-Jacques Rousseau
Rousseau's Bekenntnisse. Erster Theil
Jean-Jacques Rousseau

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Fünftes Buch

1732–1736

Es war, wenn mir recht ist, im Jahre 1732, als ich, wie ich so eben berichtet, in Chambéry anlangte und mein Amt beim Kataster in königlichen Diensten antrat. Ich war beinahe einundzwanzig Jahre alt. Für mein Alter war ich geistig ziemlich entwickelt, weniger jedoch meine Urtheilskraft, und es war nöthig, daß ich in Hände fiel, die mich richtig leiteten. Denn einige Jahre der Erfahrung hatten mich noch immer nicht von Grund aus von meinen romantischen Traumgebilden zu heilen vermocht, und trotz aller Leiden, die ich erduldet, kannte ich die Welt und die Menschen so wenig, als wenn ich noch kein Lehrgeld hätte bezahlen müssen.

Ich wohnte für mich allein, das heißt bei Mama, aber ein Zimmer wie in Annecy fand ich nicht wieder; keinen Garten, keinen Bach, keine Landschaft. Das Haus, welches sie gemiethet, war finster und düster, und mein Zimmer das finsterste und düsterste im ganzen Hause. Eine Mauer als Aussicht, eine Sackgasse als Straße, wenig Luft, wenig Licht, wenig Raum, Heimchen, Ratten, vermorschte Dielen, das alles bildete keine freundliche Wohnung. Allein ich war bei ihr, in ihrer Nähe; fortwährend auf meinem Bureau oder in ihrem Zimmer bemerkte ich wenig von der Häßlichkeit meines eigenen; ich hatte nicht Zeit, daran zu denken. Es wird seltsam scheinen, daß sie Chambéry zu ihrem Aufenthalte gewählt hatte, lediglich um dieses häßliche Haus zu bewohnen; aber sogar hierin liegt ein Beweis ihrer Klugheit, den ich nicht verschweigen darf. Sie hatte eine große Abneigung dagegen, nach Turin zu gehen, da sie sehr gut einsah, daß es nach dem vor Kurzem erfolgten Umschwung der Dinge und bei der Aufregung, in welcher man sich noch immer bei Hofe befand, nicht der Augenblick war, sich an ihm vorzustellen. Trotzdem verlangten ihre Angelegenheiten, daß sie sich dort zeigte. Sie besorgte, vergessen oder benachtheiligt zu werden; namentlich hatte sie in Erfahrung gebracht, daß der Graf von Saint-Laurent, der Generalintendant der Finanzen, ihr nicht geneigt war. Nun besaß er in Chambéry ein altes, baufälliges Haus, welches in einer so schlechten Gegend lag, daß es stets leer blieb; sie miethete es und machte sich dort ansässig. Das war ihr nützlicher, als eine Reise; die Pension wurde ihr nicht entzogen, und der Graf von Saint-Laurent war ihr seitdem stets freundlich gesinnt.

Ich fand ihre Wirthschaft fast in dem nämlichen Zustande wie früher, und den treuen Claude Anet noch immer bei ihr. Er war, wie ich erwähnt zu haben glaube, ein Bauerbursche aus Moutru, der in jungen Jahren im Jura Kräuter gesammelt hatte, um Schweizer Thee zu machen, und den sie um seiner Kenntnisse willen in Dienst genommen hatte, da sie es bequem fand, in ihrem Diener zugleich einen Kräuterkenner zu besitzen. Er war ein so leidenschaftlicher Pflanzensammler, und sie stachelte seine Neigung so sehr an, daß er ein wirklicher Botaniker wurde, und sich, wäre er nicht jung gestorben, in dieser Wissenschaft einen Namen erworben haben würde, wie er einen unter den Ehrenmännern verdiente. Da er ernst, sogar verschlossen war, und ich jünger als er, so wurde er für mich eine Art Hofmeister, der mich vor vielen Thorheiten bewahrte; denn er flößte mir Achtung ein und ich wagte nicht, mich ihm gegenüber zu vergessen. Sogar seiner Herrin, die seinen gesunden Verstand, seine Redlichkeit, seine unwandelbare Anhänglichkeit an sie kannte und sie ihm durch gleiche Zuneigung vergalt, nöthigte er Achtung ab. Claude Anet war ohne Widerspruch ein seltener Mann und sogar der einzige seiner Art, den ich je kennen gelernt. Langsam, gesetzt, bedachtsam, von besonnener Klugheit, kaltem Benehmen, lakonischer und sentenzenreicher Sprechweise, besaß er in seinen Leidenschaften eine stürmische Heftigkeit, die er nie sichtbar werden ließ, sondern in sich zurückdrängte, und die ihn zwar nie in seinem Leben eine Thorheit, wohl aber eine furchtbare That begehen ließ, denn er hat sich vergiftet. Dieser tragische Auftritt ereignete sich kurz nach meiner Ankunft, und ohne ihn hätte ich das vertrauliche Verhältnis des jungen Mannes mit seiner Herrin gar nicht erfahren, denn hätte sie es mir nicht selbst gesagt, würde ich es nie vermuthet haben. Fürwahr, wenn Anhänglichkeit, Eifer und Treue einen solchen Lohn verdienen können, so war sie ihn ihm schuldig, und zum Beweise, wie würdig er desselben war, dient der Umstand, daß er ihn nie mißbrauchte. Sie hatten selten Zänkereien, und diese endeten stets gut. Eine entstand jedoch, die einen schlechten Ausgang nahm; im Zorne sagte ihm seine Herrin ein höchst beleidigendes Wort, das er nicht zu ertragen vermochte. Er gab nur seiner Verzweiflung Gehör, und da er eine Phiole mit Laudanum in Händen hatte, trank er sie aus und legte sich darauf, in dem Gedanken nie wieder zu erwachen, ruhig nieder. Glücklicherweise fand Frau von Warens, die selbst unruhig und aufgeregt, unstet im Hause umherirrte, die leere Phiole und ahnte das Uebrige. Zu seiner Hilfe herbeieilend, stieß sie ein Geschrei aus, welches mich herbeizog. Sie gestand mir alles, flehte mich um Beistand an und brachte es mit vieler Mühe dahin, daß er das Opium wieder ausbrach. Zeuge dieses Auftrittes, wunderte ich mich über meine Dummheit, nie die geringste Ahnung von der Verbindung gehabt zu haben, in die sie mich einweihte. Allein Claude Anet war so vorsichtig, daß sich auch Scharfsichtigere hätten täuschen können. Die Aussöhnung war so, daß ich selbst lebhaft davon gerührt wurde, und seit dieser Zeit fühlte ich nicht nur Achtung vor ihm, sondern wahre Hochachtung und wurde gewissermaßen sein Zögling, was nicht zu meinem Nachtheil ausfiel.

Gleichwohl wurde ich schmerzlich von der Kunde berührt, daß jemand ein noch vertraulicheres Verhältnis mit ihr unterhalten könnte, als ich. Es war nicht einmal der Wunsch in mir rege geworden, selbst diese Stelle bei ihr einzunehmen; aber es war hart für mich mit anzusehen, daß ein anderer sie ausfüllte, das war sehr natürlich. Statt indessen gegen den, welcher sie mir weggekapert hatte, von Abneigung ergriffen zu werden, fühlte ich in Wahrheit, wie sich meine Anhänglichkeit an sie auch auf ihn ausdehnte. Vor allem wünschte ich, daß sie glücklich wäre, und da sie seiner bedurfte, um es zu sein, war ich zufrieden, daß auch er glücklich wäre. Er seinerseits ging vollkommen auf ihre Gefühle ein und faßte für den Freund, den sie sich gewählt hatte, eine aufrichtige Freundschaft. Ohne sich ein Übergewicht über mich anzumaßen, welches er bei seiner Stellung wohl hätte beanspruchen können, begnügte er sich einfach mit dem, welches ihm seine reifere Urtheilskraft über die meinige verlieh. Ich wagte nichts zu thun, was er zu mißbilligen schien, und er mißbilligte nur, was schlecht war. So lebten wir in einer Einigkeit, die uns alle glücklich machte und welche der Tod allein hat auflösen können. Ein Beweis von der Vortrefflichkeit des Charakters dieser liebenswürdigen Frau ist, daß alle, die sie liebten, sich wieder unter einander liebten. Die Eifersucht, ja selbst die Nebenbuhlerschaft trat gegen das herrschende Gefühl, das sie einflößte, in den Hintergrund, und ich habe unter denen, welche sie umgaben, nie Einen gesehen, der dem Andern zu nahe getreten wäre. Mögen die, welche dieses Werk lesen, bei diesem Lobe einen Augenblick inne halten, und wenn sie, darüber nachdenkend, irgend eine andere Frau finden, der sie dasselbe nachrühmen können, so mögen sie sich um der Ruhe ihres Lebens willens fest an sie anschließen, (und wäre sie im Uebrigen die niedrigste der Dirnen).Die eingeklammerten Worte finden sich in der Genfer Ausgabe nicht, sei es, daß Rousseau selbst bei der Abschrift geglaubt hat, sie fortlassen zu müssen, sei es, daß sich die Herausgeber diese Streichung aus leicht begreiflichen Gründen erlaubt haben.

Hier beginnt von meiner Ankunft in Chambéry an bis zu meiner Abreise nach Paris, im Jahre 1741, ein Zeitraum von acht oder neun Jahren, aus welchem ich wenige Ereignisse zu berichten habe, weil mein Leben eben so einfach wie angenehm war, und diese Einfachheit war es gerade, der ich so sehr bedurfte, um die Bildung meines Charakters zu vollenden, dessen Befestigung die fortwährende Unruhe verhindert hatte. Während dieses köstlichen Zeitraums erlangte mein Charakter, zu dessen zusammenhangsloser Entwickelung so viele verschiedenartige Elemente beigetragen hatten, erst die Festigkeit, die mich zu dem gemacht hat, was ich durch alle Stürme hindurch, die meiner warteten, beständig geblieben bin. Diese Entwickelung war unmerklich und langsam und knüpfte sich an wenige bemerkenswerte Ereignisse; aber sie verdient dennoch die Schilderung ihres stufenweisen Fortschreitens.

Beim Beginn war ich fast nur mit meiner Arbeit beschäftigt; der Zwang des Bureaulebens ließ mich an nichts anderes denken. Meine wenige freie Zeit brachte ich bei der guten Mama zu, und da mir nicht einmal Muße zum Lesen blieb, so fühlte ich auch keine Lust dazu. Als aber in Folge erlangter Fertigkeit meine amtlichen Arbeiten den Geist weniger in Anspruch nahmen, stellte sich seine alte Unruhe wieder ein, und die Lectüre wurde mir von neuem zum Bedürfnis, und als ob dieser Hang durch die Schwierigkeit, mich ihm hinzugeben, noch mehr angefacht wäre, würde er, wie damals bei meinem Meister, abermals zur Leidenschaft geworden sein, wenn mich nicht andere dazwischen tretende Neigungen von ihm abgelenkt hätten.

Obgleich wir bei unseren Berechnungen keine transzendentale Arithmetik nöthig hatten, so kam doch genug von ihr vor, um mich bisweilen in Verlegenheit zu setzen. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, kaufte ich mir Lehrbücher der Arithmetik. Ich lernte diese Wissenschaft gründlich, denn ich lernte sie allein. Die praktische Arithmetik erstreckt sich, wenn man ganz gründlich zu Werke gehen will, über ein weit größeres Feld, als man gewöhnlich annimmt. Es giebt Berechnungen von einer ganz außerordentlichen Länge, bei denen ich auch tüchtige Geometer sich habe mitunter irren sehen. Die mit Uebung gepaarte Ueberlegung giebt deutliche Begriffe, und dann entdeckt man abgekürzte Methoden, deren Auffindung die Eigenliebe angenehm berührt, deren Richtigkeit den Geist befriedigt, und die bewirken, daß man an eine an sich undankbare Arbeit mit Lust und Liebe geht. Ich arbeitete mich so in die Arithmetik hinein, daß es keine durch Zahlen allein lösbare Aufgabe gab, die mich in Verlegenheit gesetzt hätte, und jetzt, wo alles, was ich gewußt habe, meinem Gedächtnisse täglich mehr entfällt, bin ich in dieser Wissenschaft noch theilweise zu Hause, obgleich ich sie schon dreißig Jahre nicht getrieben habe. Noch vor einigen Tagen habe ich, als ich auf einer Reise nach Davenport bei meinem Wirthe der Rechenstunde seiner Kinder beiwohnte, eines der verwickeltsten Exempel fehlerlos und mit unglaublichem Vergnügen ausgerechnet. Beim Aufschreiben meiner Zahlen war mir zu Muthe, als befände ich mich noch in meinen glücklichen Tagen zu Chambéry. Das hieß einen weiten Umweg machen, um wieder zu meiner Erzählung zurück zu kommen!

Das Austuschen der Karten unserer Geometer hatte auch in mir wieder die Lust zum Zeichnen erregt. Ich kaufte Farben und begann Blumen und Landschaften zu malen. Es ist Schade, daß ich wenig Talent für diese Kunst in mir entdeckte, da ich für sie schwärmte. Inmitten meiner Stifte und Pinsel hätte ich Monate lang zubringen können, ohne auszugehen. Da mich diese Beschäftigung allmählich vollkommen in Beschlag nahm, war man genöthigt, mich von ihr loszureißen. In gleicher Weise verhält es sich mit allen Neigungen, denen ich mich hinzugeben beginne; sie steigern sich, werden zur Leidenschaft, und bald sehe ich in der ganzen Welt nichts mehr als das Vergnügen, mit dem ich beschäftigt bin. Das Alter hat mich von diesem Fehler nicht geheilt, es hat ihn nicht einmal verringert, und jetzt, wo ich dieses schreibe, bin ich alter Schwätzer wieder in ein anderes unnützes Studium verliebt, von dem ich nichts verstehe,Die Botanik. und welches sogar diejenigen, die es von Jugend auf betreiben, in dem Alter, worin ich es beginnen will, aufgeben müssen.

Damals wäre es an seinem Platze gewesen. Die Gelegenheit war schön; und ich fühlte mich versucht, sie zu benutzen. Die Befriedigung, welche aus Anets Augen strahlte, wenn er mit neuen Pflanzen beladen nach Hause zurückkehrte, hätte mich zwei- oder dreimal beinahe bewogen, ihn beim Botanisiren zu begleiten. Ich bin halb und halb überzeugt, daß, hätte ich es nur ein einziges Mal gethan, mich die Botanik völlig bezaubert hätte, und ich heut vielleicht ein großer Botaniker wäre; denn ich kenne kein Studium auf der Welt, welches mit meinen natürlichen Neigungen besser in Einklang steht, als das der Pflanzen, und das Leben, welches ich seit zehn Jahren auf dem Lande führe, ist eigentlich nichts als ein unausgesetztes Botanisiren, in Wahrheit ohne Zweck und ohne daß ich weiter komme; aber da ich damals durchaus keinen Begriff von dieser Wissenschaft hatte, erfüllte mich eine Art Verachtung und sogar Widerwillen gegen sie; ich betrachtete sie nur wie ein Studium für Apotheker.Var. . . . ich betrachtete sie, wie alle Ignoranten, nur . . . Mama, welche sie liebte, machte selbst keinen andren Gebrauch von ihr, sie ließ nur Nutzpflanzen sammeln, um sie zu ihren Mixturen zu verwenden. So dienten mir Botanik, Chemie und Anatomie, die in meinem Geiste alle in dem Namen Medicin aufgingen, nur den ganzen Tag lang zur Zielscheibe spöttischer Bemerkungen und dazu, mir von Zeit zu Zeit Ohrfeigen zuzuziehen. Uebrigens wurden in mir alle andere Neigungen bald durch eine sehr abweichende und zu entgegengesetzte überwuchert, die alle übrige verdrängte. Ich rede von der Musik. Ich muß gewiß für diese Kunst geboren sein, da ich sie schon als Kind zu lieben begann und sie die einzige ist, die ich zu allen Zeiten beharrlich liebte. Seltsamer Weise hat mir eine Kunst, für die ich geboren war, nichtsdestoweniger so viel Mühe gekostet und habe ich in ihr so langsame Fortschritte gemacht, daß ich es, nachdem ich sie mein ganzes Leben lang getrieben habe, nie dahin brachte, mit Sicherheit alles vom Blatt singen zu können. Was mir damals dieses Studium besonders angenehm machte, war, daß Mama daran Theil nehmen konnte. Obgleich unsere Neigungen sonst sehr verschieden waren, bildete die Musik doch für uns einen Verbindungspunkt, dessen ich mich gern bediente. Sie ging mit Freuden darauf ein; ich war damals ungefähr eben so weit wie sie, nach zwei oder drei Versuchen konnten wir ein Lied vom Blatte singen. Mitunter sagte ich zu ihr, wenn ich sie am Ofen sehr beschäftigt sah: »Mama, hier ist ein reizendes Duett, das mir ganz danach angethan zu sein scheint, deinen Tränklein ein Vorgefühl himmlischer Seligkeit zu geben.« – »Ei, meiner Treu,« erwiderte sie dann wohl, »wenn du Schuld bist, daß ich sie anbrennen lasse, so sollst du sie selbst austrinken.« Noch im Wortwechsel darüber zog ich sie an ihr Klavier; wir vergaßen dabei alles; der Wachholder- oder Absynthextract war verbrannt; sie beschmierte mir das Gesicht damit, und dies alles war köstlich.

Man sieht, daß ich trotz weniger freier Zeit vielerlei hatte, dem ich sie widmen mußte. Und doch kam noch ein neuer Zeitvertreib hinzu, der alle übrige aufwog.

Das Loch, in dem wir wohnten, war so dumpfig, daß wir mitunter das Bedürfnis hatten, im Freien frische Luft zu schöpfen. Anet drang darauf, daß Mama in einer Vorstadt einen Garten zur Pflanzenzucht miethete. Zu diesem Garten gehörte ein ziemlich hübsches Landhäuschen, das man mit den nöthigsten Möbeln versah; auch ein Bett wurde darin aufgestellt. Wir nahmen dort oft das Mittagbrot ein, und ich schlief bisweilen da. Unvermerkt verliebte ich mich in dieses abgeschiedene Plätzchen; ich brachte einige Bücher und viele Kupferstiche in diese Sommerwohnung und wandte einen Theil meiner Zeit dazu an, es zu schmücken und Mama, wenn sie hinkäme, um sich im Garten zu ergehen, irgend eine angenehme Ueberraschung zu bereiten. Ich trennte mich nur von Mama, um mich mit ihr zu beschäftigen, um an sie mit größerer Freude zu denken, wieder eine Laune, die ich weder entschuldige, noch erkläre, aber bekenne, weil es so war. Ich entsinne mich, daß mir einmal die Frau von Luxemberg lachend von einem Manne erzählte, der seine Geliebte verließ, um an sie schreiben zu können. Ich erwiderte ihr, ich hätte sehr gut zu diesem Manne gepaßt, und hätte hinzufügen können, daß ich es wiederholentlich eben so gemacht. Bei Mama habe ich indessen nie dieses Bedürfnis gefühlt, mich von ihr zu entfernen, um sie noch heißer zu lieben, denn unter vier Augen mit ihr war ich vollkommen eben so glücklich, als wäre ich allein gewesen, und dies kann ich keiner anderen Person, mochte es Mann oder Weib sein, nachrühmen, wie lieb ich sie auch immer hatte. Aber sie war oft so umdrängt, und noch dazu von Leuten, die mir nicht sehr angenehm waren, daß mich Aerger und Langeweile in mein Asyl trieben, wo ich sie hatte, wie ich sie wollte, ohne Furcht, daß uns Aufdringlinge bis hierher verfolgen könnten.

Während ich so, zwischen Arbeit, Vergnügen und Studien getheilt, in süßester Ruhe dahin lebte, war Europa nicht in so friedlicher Ruhe wie ich. Frankreich und der Kaiser hatten sich gegenseitig den Krieg erklärt; der König von Sardinien hatte sich an dem Kampfe betheiligt, und das französische Heer rückte in Piemont ein, um von dort in das Mailändische einzufallen. Eine Colonne kam durch Chambéry, und unter andern das Regiment aus der Champagne, dessen Oberst, der Herzog von Tremouille, dem ich vorgestellt wurde, mir große Versprechungen machte und sicherlich nie wieder an mich gedacht hat. Unser Gärtchen lag mit der Vorstadt, durch welche die Truppen einzogen, genau in gleicher Höhe, so daß ich mich an dem Vergnügen, ihren Vorbeimarsch mit anzusehen, sättigen konnte, und ich begeisterte mich für den Ausgang dieses Krieges, als ob ich etwas damit zu schaffen gehabt hätte. Bis dahin war es mir noch nie in den Sinn gekommen, mich um die öffentlichen Angelegenheiten zu bekümmern, und zum ersten Male begann ich die Zeitungen zu lesen, aber mit solcher Parteinahme für Frankreich, daß mir bei den geringsten Vortheilen seines Heeres das Herz vor Freude klopfte und seine Unfälle mich betrübten, als hätten sie mich selbst betroffen. Wäre diese Thorheit nur vorübergehend gewesen, so würde ich kein Wort darüber verlieren, aber sie hat ohne irgend einen Grund in meinem Herzen so feste Wurzeln geschlafen, daß, als ich in der Folge in Paris den Tyrannenfeind und den stolzen Republikaner spielte, ich mir selbst zum Trotze eine geheime Vorliebe für das nämliche Volk empfand, welches mir knechtisch vorkam, und für diese Regierung, die ich mich zu tadeln anstellte. Spaßhaft dabei war, daß ich aus Scham über eine meinen Grundsätzen so widerstreitende Neigung sie niemandem zu gestehen wagte und die Franzosen wegen ihrer Niederlagen aufzog, während mir das Herz darüber mehr als ihnen blutete. Ich bin sicherlich der Einzige, der, unter einem Volke, welches ihm freundlich entgegenkam und das er anbetete, sich, so lange er unter demselben lebte, den Anschein gab, als verachtete er es. Kurz, diese Neigung hat sich von meiner Seite als so uneigennützig, so stark, so unerschütterlich, so unwandelbar herausgestellt, daß selbst, nachdem ich Frankreich verlassen hatte, nachdem seine Regierung, seine Behörden, seine Schriftsteller um die Wette über mich hergefallen und es guter Ton geworden war, mich mit Ungerechtigkeiten und Beleidigungen zu überhäufen, ich mich von meiner Thorheit nicht habe befreien können. Ich liebe die Franzosen mir selbst zum Trotz, obgleich sie mich mißhandeln.Var. . . . mich mißhandeln. Indem ich bereits den Verfall Englands beginnen sehe, den ich inmitten seines Triumphes vorausgesagt habe, wiege ich mich in der thörichten Hoffnung, daß die französische Nation, ihrerseits wieder siegreich, eines Tages vielleicht kommen wird, mich der traurigen Gefangenschaft, in der ich lebe, zu entreißen.

Ich habe mich lange bemüht, mir den Grund dieser Parteilichkeit klar zu machen, und habe ihn nur in der Gelegenheit, der sie ihr Entstehen verdankte, finden können. Eine sich stets steigernde Vorliebe für die Literatur flößte mir Gefallen an französischen Büchern, an den Verfassern dieser Bücher und an der Heimat dieser Verfasser ein. In demselben Augenblicke, in welchem das französische Heer vor meinen Augen vorüberzog, las ich »die großen Feldherren« von Brantôme. Ich hatte den Kopf voll von all den Clisson, Bayard, Lautrec, Coligny, Montmorency, la Trimouille, und ich hatte ihre Nachkommen als die Erben ihrer Verdienste und ihres Muthes lieb. In jedem Regimente, welches vorbeizog, wähnte ich jene berühmten schwarzen Banden zu erkennen, die einst in Piemont so große Heldenthaten vollbracht hatten. Kurz, ich übertrug auf das, was ich erblickte, meine aus den Büchern geschöpften Ideen. Meine fortwährende Lectüre französischer Werke nährte meine Liebe zu der französischen Nation und machte mit der Zeit eine blinde durch nichts zu erschütternde Leidenschaft daraus. Auf meinen Reisen habe ich später Gelegenheit gehabt wahrzunehmen, daß ich nicht allein diesen Eindruck empfand, und daß er, da er mehr oder minder in allen Ländern auf den Theil des Volkes einwirkte, der die Literatur liebte und studirte, dem allgemeinen Haß, den das anmaßende Wesen der Franzosen überall hervorruft, das Gleichgewicht hielt. Mehr die Romane als die Männer üben eine Anziehungskraft auf die Frauen aller Länder aus, und ihre dramatischen Meisterwerke machen wieder die Jugend zu Freunden ihres Theaterwesens. Der Ruhm der Pariser Bühnen lockt eine Menge Fremde herbei, welche begeistert zurückkehren. Kurz, der ausgezeichnete Geschmack ihrer Literatur gewinnt ihnen alle, die auf Geist Anspruch machen können, und bei dem Kriege, der einen so unglücklichen Verlauf für sie nahm, habe ich ihre Schriftsteller und ihre Philosophen den Ruhm, der durch ihre Krieger an Glanz verloren hatte, aufrecht erhalten sehen.

Ich war also leidenschaftlicher Franzose, und das machte mich zum Neuigkeitsjäger. Ich zog mit der Schaar der Müßiggänger, die auf neue Nachrichten erpicht waren, bei Postankunft auf den Markt, und dümmer als der Esel in der Fabel, beunruhigte ich mich sehr, um in Erfahrung zu bringen, welcher Herr mir die Ehre anthun würde, mir den Kappzaum anzulegen, denn es ging damals das Gerücht, daß wir an Frankreich fallen sollten, da der König von Sardinien die Absicht hätte, Savoyen gegen das Mailändische einzutauschen. Man muß jedenfalls zugeben, daß ich einigen Grund zu Befürchtungen hatte, denn wenn dieser Krieg für die Verbündeten einen üblen Ausgang nahm, so war Gefahr für Mamas Pension. Aber ich setzte alles Vertrauen in meine guten Freunde, und trotz des Ueberfalles des Herrn von Broglie wurde dieses Vertrauen diesmal nicht getäuscht, Dank dem Könige von Sardinien, an den ich nicht gedacht hatte.

Während man sich in Italien schlug, sang man in Frankreich. Rameau's Opern begannen Aufsehen zu erregen und brachten seine theoretischen Werke, die wegen ihrer Dunkelheit nur Wenigen verständlich waren, wieder zur Geltung. Zufällig hörte ich von seiner Abhandlung über die Harmonie reden und hatte keine Ruhe, bis ich mir dieses Buch verschafft hatte. Durch einen andern Zufall erkrankte ich. Die Krankheit war entzündlich; sie war heftig und kurz, aber meine Wiedergenesung dauerte lange, und erst nach einem Monate war ich im Stande auszugehen. Während dieser Zeit überflog und verschlang ich meine Abhandlung über die Harmonie; aber sie war so weitläuftig, so verworren, so schlecht geordnet, daß ich einsah, es würde ihr Studium und ihr Verständnis eine bedeutende Zeit in Anspruch nehmen. Das machte meinem Fleiße mit einem Male ein Ende, und ich erfrischte nun meine Augen an dem Anblicke von Noten. Berniers Cantaten, an denen ich mich übte, gingen mir nicht mehr aus dem Kopfe. Ich lernte vier oder fünf von ihnen auswendig, darunter die, welche den Titel führt: »Die schlummernden Liebesgötter«; sie ist mir seitdem nie wieder vor Augen gekommen, und ich habe sie fast noch vollkommen im Gedächtnis. Ferner lernte ich ungefähr in der nämlichen Zeit: »Der von der Biene gestochene Amor«, eine sehr hübsche Cantate von Clerambault.

Um mich vollends dafür einzunehmen, kam von Wal d'Aost ein junger Organist, der Abbé Palais herüber, ein guter Musiker, ein guter Mensch und ein sehr guter Klavierbegleiter. Ich lernte ihn kennen, und wir wurden mit einem Male unzertrennlich. Er war der Schüler eines italienischen Mönchs, eines großen Organisten. Er redete mit mir von seinen Principien. Ich verglich sie mit denen meines Rameau und füllte mir den Kopf mit Begleitungen, Accorden und Harmonielehre an. Dies alles bedurfte Uebung des Ohres. Ich schlug Mama deshalb vor, monatlich ein kleines Concert zu veranstalten; sie willigte ein. Nun war ich so voll von diesen Concerten, daß ich mich Tag und Nacht mit nichts anderem beschäftigte, und wirklich machte es mir auch viel zu thun, die Musik, die Mitspieler, die Instrumente aufzutreiben, die Stimmen auszuschreiben u. s. w. Mama sang, der Pastor Caton, dessen ich bereits erwähnt und noch öfter werde erwähnen müssen, sang gleichfalls; ein Tanzlehrer, Namens Rocha, und sein Sohn spielten die Geige; Canavas, ein piemontesischer Musiker, der beim Kataster arbeitete und sich später in Paris verheirathet hat, spielte Violoncello; der Abbé Palais übernahm die Klavierbegleitung, und mir wurde die Ehre zu Theil, mit dem Taktstocke in der Hand, das Ganze leiten zu dürfen. Man kann sich vorstellen, wie schön dies alles war; nicht genau so wie bei Herrn von Treytorens, aber es fehlte doch nicht viel.

Die kleinen Concerte der Frau von Warens, einer Neubekehrten, die noch dazu nur von der Gnade des Königs leben sollte, setzte das fromme Gelichter in Harnisch, waren indessen für viele ehrliche Leute ein angenehmes Vergnügen. Man sollte nicht vermuthen, wen ich hier an ihre Spitze stellen muß: einen Mönch, aber einen höchst begabten und sogar liebenswürdigen Mönch, dessen Mißgeschick mir in der Folge sehr nahe gegangen ist. Ich meine den Pater Caton, einen Franziskaner, der im Verein mit dem Grafen Dortan auf die Noten der armen kleinen Katze in Lyon hatte Beschlag legen lassen, was gerade nicht der schönste Zug in seinem Leben ist. Er war Baccalaureus der Sorbonne. In Paris hatte er sich lange in vornehmen Kreisen bewegt und namentlich mit dem Marquis von Antremont, dem damaligen sardinischen Gesandten, viel verkehrt. Er war ein großer, wohlgebildeter Mann mit vollem Gesichte, hervorstehenden Augen und schwarzem Haar, das an den Schläfen in natürlichen Locken hinabfiel. Er hatte ein eben so edles wie offenes und bescheidenes Wesen, ein einfaches und gefälliges Auftreten, in dem nichts von dem scheinheiligen und frechen Benehmen der Mönche, noch von dem geckenhaften Betragen eines Modeherrn hervortrat, obgleich er es war. Statt dessen zeigte er die Sicherheit eines Ehrenmannes, der, ohne über seinen Rock zu erröthen, sich selbst ehrt und sich unter Ehrenmännern stets an seiner Stelle suhlt. Besaß der Pater Caton auch für einen Doctor nicht viel Kenntnisse, so besaß er doch viel für einen Weltmann, und während er sein Wissen nicht geflissentlich zur Schau trug, brachte er es stets im rechten Augenblicke so zur Geltung, daß man ihm ein noch weit größeres zutraute. Da er viel in der Gesellschaft gelebt, hatte er sich mehr angenehme Talente als ein gründliches Wissen angeeignet. Er hatte Geist, machte Verse, sprach gut, sang noch besser, hatte eine schöne Stimme, spielte Orgel und Klavier. Es bedurfte nicht so viel, um gesucht zu werden, er war es in hohem Grade; allein dessenungeachtet setzte er seine Berufspflichten so wenig außer Augen, daß es ihm trotz sehr eifersüchtiger Mitbewerber gelang, zum Definitor seiner Provinz, oder wie man zu sagen pflegt, zu einer der großen Ordensketten gewählt zu werden.

Dieser Pater Caton machte bei dem Marquis von Antremont Mamas Bekanntschaft. Als er von unsren Concerten reden hörte, hatte er Lust, darin mitzuwirken; er that es und machte sie glänzend. Durch unsere gemeinsame Lust zur Musik, die bei uns beiden zur heftigen Leidenschaft geworden, freilich mit dem Unterschiede, daß er in Wahrheit ein Musiker und ich nur ein Pfuscher war, wurden wir bald befreundet. Wir fingen an, mit Canavas und dem Abbé Palais auf seinem Zimmer Musik zu treiben und an Festtagen zuweilen an seiner Orgel. Wir theilten oft sein dürftiges Mahl, denn eigentümlicherweise war er für einen Mönch auch noch freigebig, gastfreundlich und der Sinnenlust ergeben, wenn auch nicht der groben. An den Concerttagen nahm er mit uns das Abendbrot bei Mama ein. Diese Abendessen waren sehr heiter und angenehm; man plauderte zwanglos und sang Duette. Ich fühlte mich während derselben überglücklich, hatte Geist und sprühte vor Witz, der Pater Caton war bezaubernd, Mama anbetungswürdig, und der Abbé Palais mit seiner Ochsenstimme das allgemeine Stichblatt. Ihr süßen Augenblicke jugendlicher Thorheit, wie lange seid ihr verschwunden!

Da ich nicht mehr Gelegenheit haben werde, von diesem armen Pater Caton zu reden, will ich hier in wenigen Worten seine traurige Geschichte bis ans Ende erzählen. Die anderen Mönche, eifersüchtig oder vielmehr wüthend, an ihm viel Verdienstliches und eine Feinheit der Sitten wahrzunehmen, die nichts von klösterlicher Völlerei an sich hatte, faßten Haß gegen ihn, weil er nicht so hassenswerth war wie sie. Ihre Häuptlinge verbündeten sich gegen ihn und wiegelten die Mönchlein auf, die ihn um seine Stellung beneideten und früher nicht gewagt hatten, die Augen zu ihm aufzuschlagen. Man beleidigte ihn auf tausenderlei Weise, man setzte ihn ab, man entzog ihm sein Zimmer, welches er geschmackvoll, wenn auch einfach ausgestattet hatte; man verwies ihn, ich weiß nicht wohin; kurz, diese Elenden überhäuften ihn mit so vieler Schmach, daß seine redliche und mit Recht stolze Seele dem nicht zu widerstehen vermochte, und nachdem er die Freude und Würze der liebenswürdigsten Gesellschaft gewesen war, starb er vor Gram auf einem elenden Bette, in irgend einer dunklen Zelle oder einem Gefängnisse, von allen ehrlichen Leuten, die ihn gekannt und keinen andern Fehler an ihm entdeckt hatten, als daß er Mönch war, betrauert und beweint.

Unter diesen einfachen Lebensverhältnissen kam es mit mir in kurzer Zeit so weit, daß ich, von der Musik völlig in Anspruch genommen, außer Stande war, an etwas anderes zu denken. Ich ging nur noch mit Unlust auf mein Bureau; der Zwang daselbst und das unaufhörliche Sitzen bei der Arbeit waren für mich eine unerträgliche Qual, und ich trug mich endlich mit der Absicht, mein Amt aufzugeben, um mich ganz der Musik zu widmen. Man kann sich denken, daß diese Thorheit auf Widerstand stieß. Aus einer anständigen Stellung mit einem festen Einkommen zu scheiden, um hinter ungewissen Schülern herzulaufen, war ein zu unverständiger Entschluß, um Mama gefallen zu können. Selbst wenn man meine Aussichten für so vortheilhaft hätte annehmen können, wie ich sie mir einbildete, so lag darin doch immer eine arge Beschränkung meines Ehrgeizes darin, wenn ich mich für mein ganzes Leben mit dem Stande eines Musikers begnügen wollte. Sie, die sich immer nur mit großartigen Entwürfen trug und mich nicht mehr völlig nach dem Gutachten des Herrn von Aubonne beurtheilte, sah mich nur mit Schmerz in vollem Ernst ein Talent pflegen, von dem sie sich für mich nichts versprach, und wiederholte mir oft das auf dem Lande zwar richtige, aber in Paris weniger berechtigte Sprichwort: »Wer gut singen und tanzen kann, treibt ein Geschäft, das nicht nährt den Mann.« Andererseits sah sie mich von einem unwiderstehlichen Triebe fortgerissen; meine Musikleidenschaft wurde zur Wuth und es stand zu befürchten, daß ich wegen der Mannhaftigkeit meiner Leistungen, die in Folge meiner fortwährenden Zerstreutheit immer sichtlicher hervortraten, den Abschied erhalten könnte, den es weit besser war freiwillig zu nehmen. Ferner stellte ich ihr vor, daß meine Beschäftigung nicht von langer Dauer wäre, daß ich zur Erwerbung meines Lebensunterhaltes eines Talentes bedürfte und es sicherer wäre, mir die Kunst, zu der meine Neigung mich hinzöge und die sie selbst für mich gewählt hätte, durch ihre Betreibung vollends anzueignen, als mich auf fremden Beistand zu verlassen oder mir eine neue Laufbahn zu eröffnen, die einen üblen Ausgang nehmen und mich jetzt, wo ich nicht mehr im lernfähigen Alter stände, ohne Broterwerb lassen könnte. Endlich erzwang ich mehr durch dringendes Bitten und Liebkosungen als durch Vernunftgründe, die sie befriedigt hätten, ihre Einwilligung. Augenblicklich lief ich, mich bei Herrn Coccelli, dem Generaldirector des Katasters, zu bedanken, stolz, als hätte ich die heldenmüthigste That vollbracht; so legte ich freiwillig ohne Veranlassung, ohne Grund, ohne Vorwand mein Amt mit eben so großer, ja noch größerer Freude nieder, als ich bei Uebernahme desselben vor noch nicht zwei Jahren empfunden hatte.

So thöricht dieser Schritt auch war, verschaffte er mir doch in der Gegend eine Art Ansehen, das mir nützlich wurde. Einige vermutheten Hilfsquellen bei mir, die ich nicht besaß; andere beurtheilten, als sie sahen, wie ich mich ganz der Musik hingegeben, mein Talent nach dem gebrachten Opfer und waren überzeugt, daß ich bei so großer Leidenschaft für diese Kunst auch Meister in ihr sein müßte. Im Lande der Blinden ist der Einäugige König. So galt ich denn für einen guten Lehrer, weil es dort nur schlechte gab. Da mir übrigens ein gewisser Geschmack für den Gesangsvortrag nicht abging, dem noch dazu mein Alter und mein Aeußeres zu Statten kam, so hatte ich bald mehr Schülerinnen, als ich zum Ersatz meines Secretärgehaltes nöthig hatte.

Zur Erhöhung der Annehmlichkeit des Lebens konnte man sicherlich nicht schneller von einem Extrem zum anderen übergehen. Beim Kataster täglich acht Stunden mit der garstigen Arbeit unter noch garstigeren Leuten beschäftigt, in ein düsteres, von der Ausdünstung und dem Schweiße aller dieser größtentheils schlecht gekämmten und höchst unsauberen Burschen verpestetes Bureau eingesperrt, fühlte ich mich mitunter durch die angespannteste Thätigkeit, den Geruch, den Zwang und das ewige Einerlei der Arbeit bis zum Schwindel angegriffen. Statt dessen befand ich mich mit einem Male inmitten der schönen Welt, hatte Zutritt zu den besten Häusern und war gesucht in ihnen; überall eine freundliche schmeichelhafte Aufnahme, ein festliches Aeußere; liebenswürdige junge Damen im höchsten Staat erwarten mich, empfangen mich mit größter Zuvorkommenheit; ich sehe nur reizende Gegenstände, athme nur den Duft von Rosen und Orangenblüten; man singt, man plaudert, man lacht, man unterhält sich; ich gehe von dort nur fort, um anderswo in gleicher Weise aufgenommen zu werden. Man wird zugeben, daß ich bei Gleichheit des Verdienstes keine Ursache hatte, bei der Wahl zu schwanken. Auch befand ich mich bei der getroffenen sehr wohl, so daß ich sie nie bereut habe und auch in diesem Augenblicke nicht bereue, wo ich in der Vollkraft der Vernunft die Handlungen meines Lebens reiflich überlege und von den nicht allzu vernünftigen Beweggründen, von denen ich mich leiten ließ, vollkommen frei bin.

Dies war fast das einzige Mal, bei dem ich mich, sobald ich nur meinen Neigungen gehorchte, in meiner Erwartung nicht getäuscht sah. Das freundliche Entgegenkommen, der gesellige Charakter, das fröhliche Temperament der dortigen Bevölkerung machte mir den Umgang mit der Welt angenehm, und die Lust zu einem solchen, welche damals in mir erwachte, hat mir den klaren Beweis geliefert, daß, wenn ich nicht gern unter den Menschen lebe, die Schuld weniger an mir als an ihnen liegt.

Es ist Schade, daß die Savoyarden nicht reich sind, oder es würde vielleicht Schade sein, wenn sie es wären, denn so wie sie sind, bilden sie das beste und umgänglichste Völklein, welches ich kenne. Giebt es ein Städtchen in der Welt, in dem man die Süßigkeit des Lebens in einem angenehmen und sicheren Umgange genießt, so ist es Chambéry. Der Landadel, der sich darin zusammenfindet, besitzt nur die Mittel zu einem anständigen Auskommen, aber nicht genug, um sich emporzuschwingen, und da er also außer Stande ist, sich dem Ehrgeize zu überlassen, so befolgt er nothgedrungen den Rath des Cymos. In der Jugend widmet er sich dem Soldatenstande; in reiferen Jahren kehrt er zurück, um daheim einen friedlichen Lebensabend zu genießen. Diese lange bestehende Gewohnheit wird von der Ehre und der Vernunft in gleicher Weise bedingt. Die Frauen sind schön und würden die Schönheit nicht nöthig haben, da sie alles besitzen, was dieselbe hervorhebt und sie sogar ersetzt. Es ist eigentümlich, daß ich, durch meinen Beruf genöthigt, mit vielen Mädchen zu verkehren, mich nicht erinnere, in Chambéry auch nur eine einzige gesehen zu haben, welche nicht reizend war. Man wird einwenden, ich hätte sie so finden wollen, und man hat vielleicht Recht; aber ich brauchte ihnen nicht erst besondere Schönheiten anzudichten. Ich kann wirklich nicht ohne Freude an meine jungen Schülerinnen zurückdenken. Weshalb kann ich nicht, wenn ich hier der liebenswürdigsten Erwähnung thue, sie und mich selber mit ihnen in das glückliche Alter zurückversetzen, in welchem wir damals standen, mit seinen eben so süßen wie unschuldigen Augenblicken, die ich an ihrer Seite verlebt habe! Die erste war Fräulein von Mellarede, meine Nachbarin, Schwester der Schülerin des Herrn Gaime. Sie war eine sehr lebhafte Brünette, aber von einer angenehmen und liebenswürdigen Lebhaftigkeit, voller Anmuth und sehr sittsam. War sie auch gleich den meisten Mädchen ihres Alters ein wenig mager, so bedurften doch ihre leuchtenden Augen, ihr feiner Wuchs, ihr fesselndes Wesen nicht der Fülle, um zu gefallen. Ich ging des Morgens zu ihr, und sie befand sich gewöhnlich noch im Hauskleide. Ihre nachlässig aufgesteckten Haare schmückte sie bei meiner Ankunft nur mit einigen Blumen, die sie nach meinem Weggehen wieder wegnahm, um sich zu frisiren. Nichts in der Welt fürchte ich so sehr als ein Mädchen im Morgenkleide, geputzt würde ich sie hundertmal weniger fürchten. Fräulein von Menthon, zu der ich nachmittags ging, war es stets und machte auf mich einen zwar eben so angenehmen, aber doch ganz verschiedenartigen Eindruck. Die Haare der jungen Dame waren aschblond; sie war sehr niedlich, sehr schüchtern und sehr blaß; ihre Stimme war schön und weich, eine wahre Flötenstimme, aber sie hatte nicht den Muth, sie in ihrem ganzen Umfange zur Geltung zu bringen. Am Busen hatte sie eine Narbe, die von einer durch kochendes Wasser hervorgerufenen Brandwunde herrührte und von einem blauseidenen Halstuche nicht allzu ängstlich verhüllt wurde. Dieses Mal zog bisweilen meine Aufmerksamkeit auf sich, die bald nicht allein der Narbe galt. Fräulein von Challes, eine andere meiner Nachbarinnen, war ein schon vollkommen entwickeltes Mädchen, groß, eine stattliche Erscheinung von runden Formen und üppiger Fülle; sie war sehr hübsch gewesen. Jetzt war sie keine Schönheit mehr, aber sie war noch immer eine durch ihre Anmuth, ihre stets gleiche Fröhlichkeit und ihren liebenswürdigen Charakter anziehende Persönlichkeit. Ihre Schwester, Frau von Charly, die schönste Frau in Chambéry, lernte nicht mehr Musik, ließ jedoch ihre noch ganz junge Tochter darin unterrichten, deren aufblühende Schönheit der der Mutter einst gleichzukommen versprochen hätte, wäre sie nicht leider ein wenig rothhaarig gewesen. Auch im Kloster der Heimsuchung hätte ich eine kleine Französin, deren Namen ich vergessen habe, die aber eine Stelle in dem Verzeichnisse meiner Lieblingsschülerinnen verdient. Sie hatte den langsamen und schleppenden Ton der Nonnen angenommen, und in diesem schleppenden Tone sagte sie überaus witzige Dinge, die mit ihrem sonstigen Auftreten gar nicht in Einklang zu stehen schienen. Im Uebrigen war sie träge, gab sich nicht gern Mühe, ihren Geist leuchten zu lassen und erwies nicht einem jeden diese Gunst. Erst nach einem ein- oder zweimonatlichen Unterrichte, den ich ihr nicht mit großer Pünktlichkeit ertheilt hatte, ersann sie dieses Mittel, um mich pünktlicher zu machen, denn ich habe es nie über mich gewinnen können, es zu sein. War ich mitten im Unterrichte, so hatte ich Freude daran, aber ich wollte von dem Zwange nichts wissen, mich mit dem Glockenschlage hin zu begeben; Zwang und Gebundenheit sind mir eben in allen Dingen unerträglich, sie könnten mir gegen das Vergnügen selber Haß einflößen. Bei den Mohamedanern soll bei Tagesanbruch ein Mann durch die Straßen gehen, um den Ehemännern zu befehlen, ihre eheliche Pflicht bei ihren Frauen auszuüben. Ich würde in diesen Stunden ein schlechter Türke sein.

Auch aus der Bürgerschaft hatte ich einige Schülerinnen und unter andern eine, welche die mittelbare Ursache einer Veränderung meines Verhältnisses wurde, deren ich erwähne, da ich doch einmal alles sagen muß. Sie war die Tochter eines Krämers, Namens Lard, ein wahres Modell für eine griechische Bildsäule, die ich für das schönste Mädchen, welches ich je gesehen, ausgeben würde, wenn es eine wahre Schönheit ohne Leben und Seele gäbe. Ihre Stumpfheit, ihre Kälte, ihre Unempfindlichkeit gingen ins Unglaubliche. Es war eben so unmöglich ihr zu gefallen wie sie ärgerlich zu machen, und ich bin überzeugt, daß sie sich, hätte man sich Freiheiten gegen sie erlaubt, alles hätte gefallen lassen, nicht aus Lust daran, sondern aus reiner Dummheit. Ihre Mutter, die dergleichen vorbeugen wollte, wich nicht von ihrer Seite. Dadurch daß sie ihr Gesangunterricht geben ließ und einen jungen Lehrer dazu wählte, that sie ihr Bestes, um ihr Leben einzuflößen, aber es gelang ihr nicht. Während der Lehrer der Tochter den Hof machte, machte ihn die Mutter dem Lehrer mit nicht viel besserem Glück. Frau Lard verband mit ihrer natürlichen Lebhaftigkeit noch alle die, welche ihre Tochter hätte haben sollen. Es war ein aufgewecktes, zwar unregelmäßiges, aber angenehmes Gesichtchen, dem nur die Blattern übel mitgespielt hatten. Sie hatte kleine, sehr feurige und ein wenig röthliche Augen, weil sie fast immer schlimm waren. Jeden Morgen fand ich, sobald ich kam, meinen Rahmkaffee bereit, und die Mutter versäumte nie, mich mit einem Kusse auf den Mund zu empfangen, den ich der Tochter aus Neugier gern hätte wiedergeben mögen, um zu sehen, wie sie sich dabei benommen haben würde. Uebrigens machte sich das so einfach und war so ungefährlich, daß auch in Herrn Lards Gegenwart die Scherze und Küsse ungestört weiter gingen. Er war eine ehrliche Haut, der echte Vater seiner Tochter, den seine Frau nicht betrog, weil es bei ihm nicht nöthig war.

Ich gab mich zu diesen Zärtlichkeiten mit meiner gewöhnlichen Tölpelhaftigkeit her, da ich sie ganz ehrlich für Zeichen reiner Freundschaft hielt. Indessen wurde sie mir mitunter doch lästig, denn die lebhafte Frau Lard ward mit der Zeit anspruchsvoll, und wäre ich am Tage an ihrem Laden vorbeigegangen, ohne einen Augenblick vorzusprechen, würde es Lärm gesetzt haben. Wenn ich Eile hatte, mußte ich einen Umweg durch eine andere Straße machen, da ich recht wohl wußte, daß es schwerer war von ihr wieder fortzukommen als einzutreten.

Frau Lard beschäftigte sich zu viel mit mir, als daß ich mich nicht mit ihr hätte beschäftigen sollen. Ihre Aufmerksamkeiten rührten mich sehr. Ich redete mit Mama davon wie von einer offenkundigen Sache, und würde auch dann, wenn es hätte ein Geheimnis sein sollen, mit ihr geredet haben, denn es wäre mir unmöglich gewesen, ihr etwas zu verheimlichen; mein Herz lag vor ihr so offen wie vor Gott. Sie faßte die Sache nicht ganz so unschuldig auf wie ich. Sie betrachtete das, was ich für Freundschaftsbeweise hielt, als Annäherungsversuche; sie war überzeugt, daß es der Frau Lard, sobald sie einen Ehrenpunkt daraus gemacht, mich der Dummheit, in der sie mich gefunden hatte, zu entreißen, auf die eine oder die andere Weise gelingen würde, sich mir verständlich zu machen; und ganz abgesehen von der Unbilligkeit, daß sich eine andere Frau die Belehrung ihres Zöglings anmaßte, hatte sie Gründe, die ihrer würdiger waren, mich vor den Schlingen zu bewahren, denen mich mein Alter und mein Stand aussetzten. Zu der nämlichen Zeit legte man mir eine von noch gefährlicherer Art, der ich zwar entging, die sie aber darauf aufmerksam machten, daß die mir unaufhörlich drohenden Gefahren alle Schutzmittel nöthig machten, die zu ihrer Verfügung standen.

Die Frau Gräfin von Menthon, Mutter einer meiner Schülerinnen, war eine Frau von viel Geist und stand in dem Rufe, eben so boshaft wie geistreich zu sein. Sie sollte dem Gerüchte nach die Ursache vieler Zwistigkeiten gewesen sein, und unter andern einer, die für die Familie Antremont verhängnisvolle Folgen gehabt hatte. Mama war mit ihr befreundet genug gewesen, um ihren Charakter zu kennen. Da sie völlig unschuldigerweise einem Herrn, auf welchen Frau von Menthon Absichten hatte, Neigung eingeflößt, rechnete ihr letztere diese Bevorzugung als Verbrechen an, obgleich sie sie weder gesucht noch angenommen hatte, und seitdem suchte Frau von Menthon ihrer Nebenbuhlerin mehrere Streiche zu spielen, von denen keiner Erfolg hatte. Zur Probe will ich hier nur einen der komischsten berichten. Sie waren einst mit mehreren Edelleuten aus der Nachbarschaft, unter denen sich auch der streitige Herr befand, zusammen auf dem Lande. Eines Tages sagte Frau von Menthon zu einem dieser Herren, Frau von Warens wäre nur eine gezierte Närrin, sie hätte keinen Geschmack, kleidete sich schlecht und verhüllte ihren Busen wie eine Bürgerfrau. »Für das Letztere,« erwiderte der Herr, der ein Spaßvogel war, »hat sie ihre Gründe; wie ich nämlich weiß, hat sie auf ihrem Busen ein Mal, das einer dicken häßlichen Ratte gleicht, und zwar so täuschend, daß man sie für eine wirkliche halten sollte.« Der Haß macht eben so leichtgläubig wie die Liebe. Frau von Menthon beschloß, sich diese Entdeckung zu Nutze zu machen, und als Mama eines Tages mit dem undankbaren Günstling der Dame beim Spiele saß, nahm diese die Gelegenheit wahr, sich hinter ihre Nebenbuhlerin zu stellen, ihr den Stuhl halb umzuwerfen und dabei das Halstuch geschickt aufzudecken; allein anstatt der dicken Ratte bekam der Herr nur einen davon sehr verschiedenen Gegenstand zu erblicken, der nicht leichter zu vergessen war als zu sehen zu bekommen, und das hatte die Dame keineswegs beabsichtigt.

Meine Person war nicht dazu angethan, Frau von Menthon, die nur glänzende Leute um sich sehen wollte, zu beschäftigen. Trotzdem schenkte sie mir einige Beachtung, nicht um meines Aeußern willen, um welches sie sich sicherlich durchaus nicht kümmerte, sondern des Geistes wegen, den man bei mir annahm, und den sie zur Befriedigung ihres Hanges hätte verwerthen können. Sie hatte einen sehr lebhaften zur Satyre. Sie bespöttelte Leute, die ihr Mißfallen erregten, gern in Liedern und in Versen. Hätte sie bei mir genügendes Talent entdeckt, um ihr bei ihrer Versedrechslerei behilflich zu sein, und hinlängliche Bereitwilligkeit, um sie abzuschreiben, so würden wir beide in Chambéry das Oberste zu unterst gekehrt haben. Man würde schließlich die Quelle dieser Spottlieder aufgefunden haben, Frau von Menthon hätte sich, indem sie mich opferte, aus der Sache gezogen, und ich wäre vielleicht lebenslänglich eingesperrt worden, um mich zu lehren, den Phöbus bei den Damen zu machen.

Glücklicherweise geschah nichts von dem allen. Frau von Menthon behielt mich zwei- oder dreimal zu Tische zurück, um mich zum Plaudern zu bringen, und gewann die Ueberzeugung, daß ich nur ein Dummkopf wäre. Ich fühlte es selbst und seufzte darüber, meinen Freund Venture um seine Talente beneidend, während ich meiner Dummheit hätte danken sollen, daß sie mich vor solchen Gefahren bewahrte. Ich blieb für Frau von Menthon der Gesanglehrer ihrer Tochter und nichts weiter; allein ich lebte in Chambéry in Frieden und stets gern gesehen. Das hatte höheren Werth, als in ihren Augen ein Schöngeist und in denen aller anderen Leute eine Schlange zu sein.

Wie dem nun auch sein mag, Mama sah ein, daß es, um mich den Gefahren meiner Jugend zu entreißen, an der Zeit wäre, mich als Mann zu behandeln, und das that sie nun auch, aber in der eigentümlichsten Weise, auf welche wohl je eine Frau bei solcher Gelegenheit verfallen ist. Ich fand ihre Miene ernster, ihre Reden strenger als gewöhnlich. Die schelmische Heiterkeit, die sie ihren Belehrungen sonst beizumischen pflegte, hatte plötzlich einem stets gesetzten Tone, der weder vertraulich noch strenge war, aber eine Erklärung vorzubereiten schien, Platz gemacht. Nachdem ich den Grund dieser Veränderung vergeblich in mir selbst gesucht hatte, fragte ich sie nach demselben; darauf hatte sie nur gewartet. Sie schlug mir für den nächsten Tag einen Spaziergang nach dem kleinen Garten vor; wir hielten uns dort schon vom Morgen an auf. Sie hatte dafür gesorgt, daß man uns den ganzen Tag allein ließe; sie wandte ihn dazu an, mich auf die Gunst, die sie mir beweisen wollte, vorzubereiten, nicht wie eine andere Frau durch einschmeichelndes Benehmen und Liebkosungen, sondern durch Gespräche voller Gefühl und Vernunft, die mehr geeignet waren, mich zu belehren als zu verführen, und mehr zu meinem Herzen als zu meinen Sinnen redeten. Aber so vortrefflich und schön die Reden, welche sie mir hielt, auch waren, und obgleich sich in ihnen nichts weniger als Kälte und Trübsinn aussprach, so schenkte ich ihnen doch nicht die ganze Aufmerksamkeit, welche sie verdienten, und ich behielt sie nicht im Gedächtnisse, wie ich es in jeder andren Zeit gethan hätte. Ihre vorbereitende Einleitung, die eigenthümlichen Anstalten, die sie machte, hatten mich mit Unruhe erfüllt. Wider meinen Willen, während sie sprach, träumerisch und zerstreut, war ich weniger mit dem, was sie sagte, als mit Grübeleien darüber beschäftigt, worauf sie eigentlich abzielte, und sobald ich dies begriffen hatte, was mir gar nicht leicht wurde, beschäftigte mich darauf die Neuheit dieses Gedankens, auf den ich, so lange ich bei ihr lebte, auch nicht ein einziges Mal gekommen war, so vollständig, daß ich unfähig war, an das zu denken, was sie sagte. Ich dachte nur an sie und hörte sie nicht.

Wenn man junge Leute auf das, was man ihnen sagen will, dadurch aufmerksam zu machen sucht, daß man ihnen einen sie überaus anziehenden Gegenstand als Ziel zeigt, so begeht man eine große Thorheit, die ich mir selbst in meinem Emil habe zu Schulden kommen lassen. Gefesselt von dem Gegenstande, den man ihm in Aussicht stellt, beschäftigt sich der junge Mensch einzig und allein mit diesem und springt in einem Satz über eure einleitenden Reden hinfort, um augenblicklich das Ziel zu erreichen, welchem ihr ihn viel zu langsam für seine Wünsche entgegenführt. Will man ihn aufmerksam machen, darf man sich nicht vor der Zeit durchschauen lassen, und hierin zeigte sich Mama ungeschickt. In Folge einer Wunderlichkeit, die in ihrem systematischen Wesen ihre Erklärung findet, ergriff sie die sehr vergebliche Vorsichtsmaßregel, ihre Bedingungen zu stellen; aber sobald ich erst den verheißenen Lohn wußte, hörte ich nicht einmal auf jene und beeilte mich, auf alles einzugehen. Ich zweifle sogar, daß es auf der ganzen Welt einen Mann giebt, der aufrichtig und muthig genug wäre, um in einer ähnlichen Lage zu feilschen, und auch nur eine einzige Frau, die ihm ein solches Unterfangen verzeihen könnte. Aus gleicher Wunderlichkeit gab sie dieser Uebereinkunft die feierlichsten Formen und räumte mir acht Tage ein, um darüber nachzudenken, die ich lügnerischer Weise versicherte nicht erst nöthig zu haben, denn um allen Wunderlichkeiten noch die Krone aufzusetzen, war ich sehr froh, sie zu bekommen, so bestürzt hatte mich die Neuheit dieser Gedanken gemacht und einen so großen Umschwung fühlte ich in den meinen, welcher Zeit verlangte, sie erst zu ordnen.

Man meint vielleicht, diese acht Tage wären mir wie eben so viele Jahrhunderte vorgekommen; ganz im Gegentheil, ich hätte gewünscht, sie hätten wirklich so lange gedauert. Ich weiß nicht, wie ich den Zustand, in dem ich mich befand, schildern soll; mich peinigte ein mit Ungeduld gemischter Schrecken, bei dem ich das, wonach ich mich sehnte, in einem solchen Grade fürchtete, daß ich bisweilen in vollem Ernste in meinem Kopfe nach einem anständigen Mittel suchte, meinem Glücke aus dem Wege zu gehen. Stelle man sich mein glühendes und sinnliches Temperament, mein erhitztes Blut, mein liebetrunkenes Herz, meine Lebenskraft, meine Gesundheit und mein Alter vor! Sei man dessen eingedenk, daß ich in diesem Zustande, nach Sinnengenuß schmachtend, noch nie eine Frau berührt hatte, daß die Einbildungskraft, der Naturtrieb, die Eitelkeit, die Neugier sich vereinten, um mich mit dem glühenden Verlangen zu erfüllen, ein Mann zu sein und mich als solcher zu zeigen! Und dann darf man vor allen Dingen nicht vergessen, daß meine lebhafte und zärtliche Zuneigung zu ihr nicht etwa allmählich erkaltet war, sondern sich vielmehr mit jedem Tage gesteigert hatte, daß ich mich nur an ihrer Seite wohl fühlte, daß ich mich von ihr nur entfernte, um an sie zu denken, daß sie mein ganzes Herz einnahm nicht allein wegen ihrer Güte und ihres liebenswürdigen Charakters, sondern auch um ihres Geschlechts, ihres Aeußern, ihrer Persönlichkeit, ihrer selbst willen, mit einem Worte nach allen Beziehungen hin, in denen sie mir theuer sein konnte. Auch wähne man nicht, daß sie wegen der zehn oder zwölf Jahre, die ich jünger war als sie, im Vergleich zu mir alt gewesen oder mir so vorgekommen wäre. In den fünf oder sechs Jahren, seitdem mich ihr erster Anblick in so großes Entzücken versetzt, hatte sie sich in Wahrheit wenig verändert und ich hatte gar keine Veränderung wahrgenommen. Für mich ist sie stets reizend gewesen und war es damals noch für alle Welt. Ihre Taille allein war etwas umfangreicher geworden. Sonst aber war es noch immer dasselbe Auge, dieselbe Gesichtsfarbe, derselbe Busen, dieselben Züge, dieselben schönen blonden Haare, derselbe Frohsinn, alles bis auf dieselbe Stimme, diese silberhelle Stimme der Jugend, die auf mich stets einen solchen Eindruck machte, daß ich noch heutigen Tages den Ton einer hübschen Mädchenstimme nicht ohne Rührung vernehmen kann.

Was ich in der Erwartung des Besitzes einer mir so theuren Person zu fürchten hatte, war natürlich der Wunsch, mir ihn schon vorher zu verschaffen und mein Verlangen und meine Einbildungskraft nicht genug beherrschen zu können, um Herr meiner selbst zu bleiben. Man wird sehen, daß in reiferem Alter schon die Vorstellung einiger unbedeutenden Gunstbezeigungen, die ich von der Geliebten zu erlangen hoffte, mein Blut dermaßen in Wallung brachte, daß es mir unmöglich war, ungestraft den kurzen Gang zu ihr hin zurückzulegen. Wie, durch welches Wunder hatte ich in der Blüte meiner Jugend so geringe Sehnsucht nach dem ersten Genuß? Wie konnte ich die Stunde desselben mit mehr Angst als Freude heranrücken sehen? Weshalb fühlte ich anstatt des Wonnetaumels, der mich hätte berauschen müssen, beinahe Widerwillen und Furcht? Es unterliegt keinem Zweifel, daß, hätte ich mich meinem Glück mit Anstand entziehen können, ich es von ganzem Herzen gethan hätte. Ich habe Seltsamkeiten in der Geschichte meiner Liebe zu ihr verheißen; dies ist doch sicherlich eine, die man nicht vermuthet hatte.

Der schon empörte Leser denkt, daß sie, die doch bereits einem andern Manne angehörte, sich durch diese Theilung ihres Besitzes in meinen Augen herabwürdigte, und daß ein Gefühl der Verachtung die Neigung erkalten machte, welches sie mir eingeflößt hatte; er irrt sich. Allerdings wurde ich durch diese Theilung peinlich berührt, sowohl aus einer sehr natürlichen Empfindlichkeit, als auch weil ich sie in Wahrheit ihrer und meiner wenig würdig fand; aber was meine Gefühle für sie anlangt, so litten sie darunter nicht, und ich kann beschwören, daß ich sie nie zärtlicher liebte, als in dieser Zeit, wo ich mich so wenig nach ihrem Besitze sehnte. Ich kannte ihr keusches Herz und ihr eisiges Temperament zu gut, um auch nur einen Augenblick zu wähnen, daß Sinnenlust irgend einen Antheil an dieser Hingabe ihrer Person hätte. Ich war vollkommen überzeugt, daß lediglich ihre Sorge, mich Gefahren zu entreißen, die sonst fast unvermeidlich waren, und mich ganz mir selbst und meinen Pflichten zu erhalten, sie selber eine Pflicht verletzen ließ, die sie, wie später mitgetheilt werden soll, nicht mit denselben Augen, wie andere Frauen, betrachtete. Ich bedauerte sie und bedauerte mich. Ich hätte ihr sagen mögen: »Nein, Mama, es ist nicht nöthig; auch ohne dieses Opfer bürge ich dir für mich.« Allem ich wagte es nicht, erstlich weil sich dergleichen nicht gut sagen läßt, und dann weil ich im Grunde die Unwahrheit fühlte, weil ich einsah, daß mich in der That nur eine Frau vor den anderen Frauen schützen und vor Versuchungen bewahren konnte. Ohne Verlangen nach ihrem Besitze war ich doch sehr froh, daß sie mir das Verlangen nach dem Besitze anderer Frauen nahm, in so hohem Grade galt mir alles, was mich von ihr abziehen konnte, für ein Unglück.

Die lange Gewohnheit, zusammen und unschuldig zusammen zu leben, hatte meine Gefühle für sie nicht geschwächt, sondern erst recht verstärkt, ihnen jedoch eine andere Richtung gegeben, welche sie inniger, vielleicht zärtlicher, aber weniger sinnlich machte. Dadurch, daß ich sie Mama nannte, daß ich die Vertraulichkeit eines Sohnes gegen sie an den Tag legte, hatte ich mich gewöhnt, mich als solchen zu betrachten. Darin liegt meines Erachtens mein geringes Verlangen nach ihrem Besitze, so lieb sie mir auch war. Ich erinnere mich sehr wohl, daß meine ersten Gefühle, ohne lebhafter zu sein, von weit wollüstigerer Natur waren. In Annecy war ich wie im Rausche; in Chambéry war ich es nicht mehr. Ich liebte sie noch immer mit aller nur möglichen Leidenschaft, aber ich liebte sie mehr um ihrer und weniger um meiner willen, oder ich suchte bei ihr wenigstens mehr mein Glück als meinen Genuß. Sie war für mich mehr als eine Schwester, mehr als eine Mutter, mehr als eine Freundin, ja sogar mehr als eine Geliebte, und deshalb war sie eben keine Geliebte. Kurz, ich liebte sie zu sehr, um ihrer zu begehren, das sprach sich in meinen Gedanken am klarsten aus.

Der mehr gefürchtete als ersehnte Tag kam endlich. Ich versprach alles und log nicht. Mein Herz bestätigte alle meine Betheuerungen, ohne den Lohn dafür zu begehren. Ich erhielt ihn trotzdem. Zum ersten Male sah ich mich in den Armen einer Frau, und zwar einer Frau, die ich anbetete. War ich glücklich? Nein, ich genoß nur die Sinnenlust. Ich weiß nicht, welche unüberwindliche Traurigkeit mir den Reiz derselben vergiftete; mir war zu Muthe, als hätte ich eine Blutschande begangen. Zwei- oder dreimal benetzte ich, indem ich sie wonnetrunken in meine Arme drückte, ihren Busen mit meinen Thränen. Sie dagegen war weder traurig noch leidenschaftlich, sie war zärtlich und ruhig. Da sie wenig sinnlich war und nicht die Befriedigung der Wollust bezweckt hatte, genoß sie nicht ihre Wonne und brauchte nie Reue über sie zu empfinden.

Ich wiederhole es: alle ihre Fehler rührten von ihren Irrthümern, nie von ihren Leidenschaften her. Sie war von guter Herkunft, ihr Herz war rein, sie liebte die Sittsamkeit, ihre Neigungen waren redlich und tugendhaft, ihr Geschmack war fein; sie war zur Sittenreinheit geschaffen, die sie stets geliebt, aber nie gezeigt hat, weil sie nicht auf ihr Herz hörte, welches sie richtig leitete, sondern auf ihre Vernunft, die sie irre leitete. Wenn falsche Grundsätze sie auf Abwege führten, so standen ihre wahren Gefühle mit ihnen doch stets in Widerspruch; aber leider that sie sich etwas auf ihre Philosophie zu Gute, und die Moral, die sie sich selbst gemacht hatte, verdarb die, welche ihr ihr Herz eingab.

Herr von Tavel, ihr erster Liebhaber, war ihr Lehrer in der Philosophie, und die Grundsätze, die er ihr beibrachte, waren solche, die er zu ihrer Verführung nöthig hatte. Da er fand, daß sie ihrem Manne und ihren Pflichten ergeben, immer kalt, nachsinnend und durch Erregung der Sinnlichkeit nicht zu gewinnen war, ging er darauf aus, sie durch Sophismen zu gewinnen und es gelang ihm auch, ihr die Pflichten, denen sie so treu nachkam, als reines Katechismusgeschwätz darzustellen, nur zur Unterhaltung von Kindern ersonnen; die Vereinigung der Geschlechter als einen an sich ganz gleichgültigen Akt; die eheliche Treue als eine Scheinverpflichtung, deren ganzer sittlicher Sinn nur die öffentliche Meinung im Auge hätte; die Ruhe der Ehegatten als die einzige Richtschnur für die Pflicht der Frauen, so daß eine Untreue, die verschwiegen bliebe, für den, welchem sie die Treue brächen, sowie für das Gewissen nichts zu bedeuten hatte; kurz, er redete ihr ein, daß die Sache an sich nichts wäre, daß sie erst durch das Aufsehen etwas würde, und daß jede Frau, die keusch schiene, es schon dadurch allein in Wahrheit wäre. Auf diese Weise erreichte der Elende sein Ziel, indem er die Vernunft eines Kindes irre leitete, dessen Herz er nicht hatte verführen können. Er wurde durch die verzehrendste Eifersucht bestraft, überzeugt, daß sie ihn selbst so behandelte, wie er sie ihren Mann zu behandeln gelehrt hatte. Ich weiß nicht, ob er sich in diesem Punkte irrte. Der Prediger Perret galt für seinen Nachfolger. Ich weiß nur, daß das kalte Temperament dieser jungen Frau, welches sie vor diesen Ansichten hätte schützen sollen, sie gerade in der Folge davon abhielt, dieselben wieder aufzugeben. Sie konnte nicht begreifen, daß man einem Akte so viele Bedeutung beilegte, der für sie gar keine hatte. Sie beehrte eine Enthaltsamkeit, die ihr so wenig kostete, nie mit dem Namen Tugend.

Für sich selbst hatte sie also mit ihrem falschen Grundsatze wenig Mißbrauch getrieben, wohl aber für andere, und dies aus einer anderen, fast eben so unrichtigen Maxime, die jedoch mit ihrem guten Herzen in besserem Einklange stand. Sie war stets der Ansicht, daß nichts einen Mann so sehr an eine Frau fessele als der Besitz, und obgleich sie ihren Freunden nur in Freundschaft zugethan war, so war diese doch so zärtlich, daß sie alle in ihrer Macht stehenden Mittel anwandte, um sie noch fester an sich zu ketten, und merkwürdig genug, gelang ihr das fast immer. Sie war so wahrhaft liebenswürdig, daß man, je größer die Vertraulichkeit war, in der man mit ihr lebte, nur desto mehr neue Gründe fand, sie zu lieben. Eben so bemerkenswerth ist der Umstand, daß sie nach ihrer ersten Schwäche fast nur noch Unglücklichen ihre Gunst zugewandt hat. Männer in glänzenden Verhältnissen haben sich sämmtlich vergebens um sie bemüht; aber ein Mann, den sie erst zu bedauern begann, mußte sehr wenig liebenswürdig sein, wenn sie nicht damit enden sollte, ihn zu lieben. Kam es vor, daß die getroffene Wahl ihrer nicht ganz würdig war, so trugen nicht etwa niedere Neigungen, die ihrem edlen Herzen fremd waren, die Schuld, sondern einzig und allein ihr großherziges, zu freundliches, zu mitleidiges, zu hingebendes Gemüth, welches sie nicht immer mit hinreichender Urteilskraft beherrschte.

Haben einige falsche Grundsätze sie irre geleitet, nun, wie viele bewunderungswürdige hatte sie dafür, die sie nie aufgab! Durch wie viele Tugenden machte sie nicht ihre Schwächen, wenn man Verirrungen, an denen ihre Sinne so wenig Antheil hatten, überhaupt so nennen kann, wieder gut! Der nämliche Mann, der ihr über einen Punkt falsche Ansichten beigebracht, hatte sie über tausend andere vorzüglich unterrichtet; und da ihre nur schwachen Leidenschaften ihr gestatteten, beständig ihrer Einsicht zu folgen, so blieb sie auf dem rechten Wege, wenn ihre Sophismen sie nicht irre führten. Ihre Beweggründe waren selbst bei ihren Fehlern lobenswerth; so lange sie sich in Täuschungen befand, konnte sie Unrecht thun, aber sie war unfähig, Unrechtes zu wollen. Sie verabscheute Falschheit und Lüge; sie war gerecht, billig, liebreich, und uneigennützig, treu ihren Worten und ihren Freunden, treu allen Pflichten, die sie als solche anerkannte, unzugänglich allen Gefühlen der Rache und des Hasses, und begriff nicht einmal, daß im Verzeihen das geringste Verdienst liegen könnte. Kurz, um auf das zurückzukommen, was am wenigsten verzeihlich ist, sie machte, ohne selbst den wahren Werth ihrer Gunst zu schätzen, nie einen gemeinen Handel daraus; sie verschwendete sie, aber sie verkaufte sie nicht, obgleich sie unaufhörlich in Nahrungssorgen war, und ich wage zu behaupten, wenn Sokrates Aspasia achten konnte, hätte er vor Frau von Warens Hochachtung gehabt.

Ich weiß im voraus, daß ich, wenn ich ihr ein empfängliches Gemüth und ein kaltes Temperament gebe, wie gewöhnlich und mit eben so viel Grund des Widerspruches werde geziehen werden. Möglicherweise hatte die Natur Unrecht, und diese Verbindung hätte nicht sein sollen; ich weiß nur, daß sie stattgefunden hat. Alle, welche Frau von Warens gekannt haben, und deren lebt noch heutigen Tages eine große Zahl, haben erfahren können, daß sie so war. Ich wage sogar die Behauptung hinzuzufügen, daß sie nur eine einzige wahre Freude hienieden gekannt hat, nämlich die, allen, welche sie liebte, Freude zu bereiten. Trotzdem bleibt es jedem unbenommen, darüber nach eigenem Belieben zu urtheilen und auf das gelehrteste darzuthun, daß es nicht wahr ist. Meine Aufgabe ist, die Wahrheit zu sagen, aber nicht, sie glaubbar zu machen.

Alles, was ich so eben erzählt habe, erfuhr ich allmählich aus den Unterhaltungen, welche wir nach unserer Verbindung hatten und die schon allein hinreichend waren, sie mir entzückend zu machen. Sie hatte Recht gehabt zu hoffen, daß mir ihre Gunstbewilligung nützlich sein würde; ich zog für meine Belehrung großen Vortheil daraus. Bis dahin hatte sie, als ob ich noch ein Kind wäre, nur von mir gesprochen. Jetzt begann sie mich als Mann zu behandeln und sprach mit mir von sich. Alles, was sie mir erzählte, war für mich so anziehend, ich fühlte mich davon so gerührt, daß mir, da ich dadurch zum Nachdenken über mich selbst getrieben wurde, ihre vertraulichen Mittheilungen größeren Nutzen brachten als ihre Ermahnungen. Wenn man in Wahrheit fühlt, daß das Herz spricht, öffnet sich das unsere, um seine Ergüsse aufzunehmen, und nie werden sich alle Moralpredigten eines Erziehers mit dem liebevollen und zärtlichen Geplauder einer verständigen Frau vergleichen können, für die man Zuneigung hegt.

Da ihr das vertraute Verhältnis, in dem ich mit ihr lebte, eine bessere Meinung von mir beigebracht hatte, war sie überzeugt, daß es sich trotz meines linkischen Wesens der Mühe lohnte, mir etwas Weltschliff beizubringen, und daß, wenn ich mich eines Tages in der Welt auf einem gewissen Fuße zeigte, ich auch im Stande sein würde, in ihr weiter zu kommen. In diesem Gedanken befleißigte sie sich nicht allein mein Urtheil, sondern auch mein Aeußeres und mein Benehmen zu bilden und mich eben so liebenswürdig wie achtungswerth zu machen, und ist es möglich, daß sich in der Welt der Erfolg mit der Tugend vereinigen läßt, – was ich meinerseits in Abrede stelle – so bin ich wenigstens sicher, daß es zu dem Zwecke keinen andern Weg giebt, als den sie einschlug und mir zeigen wollte. Denn Frau von Warens kannte die Menschen und verstand in hohem Grade die Kunst, sie ohne Lug und Trug, ohne Täuschung und Kränkung zu behandeln. Allein diese Kunst ließ sich weit mehr aus ihrem Charakter als aus ihren Lehren entnehmen; sie wußte sie besser praktisch auszuüben als auseinander zu setzen, und ich war unter allen Menschen der Welt am wenigsten geeignet, sie zu lernen. Auch war alles, was sie in dieser Hinsicht that, ziemlich verlorene Mühe, eben so wie die Verschwendung, die sie trieb, mir Tanz- und Fechtunterricht geben zu lassen. Obgleich schlank und gut gewachsen, lernte ich nie ein Menuet tanzen. Wegen meiner Hühneraugen hatte ich mich so daran gewöhnt, auf den Fersen zu gehen, daß es mir Roche nicht mehr abgewöhnen konnte, und trotz meines leichtfüßigen Aussehens bin ich nie im Stande gewesen, auch nur über einen mittelmäßigen Graben zu springen. Auf dem Fechtboden war es noch schlimmer. Nach einem dreimonatlichen Unterricht wurde ich, unfähig einen Ausfall zu machen, noch immer bis an die Wand gedrängt, und meine Faust war nie geschmeidig oder mein Arm kräftig genug, um den Stoßdegen festzuhalten, wenn sich mein Fechtlehrer das Vergnügen machen wollte, ihn mir aus der Hand zu schlagen. Dazu muß man noch in Anschlag bringen, daß ich eine tödtliche Abneigung gegen diese Waffenübung und den Lehrer hatte, der sich bemühte, mich darin zu unterweisen. Ich hätte mir nie eingebildet, daß man auf die Kunst, einen Menschen zu tödten, so stolz sein könnte. Um sein erhabenes Genie meiner Fassungskraft verständlich zu machen, drückte er sich nur in Vergleichen aus, die er der Musik, von der er nichts verstand, entlehnte. Er entdeckte zwischen den Terz- und Quartstößen und den musikalischen Intervallen gleichen Namens auffallende Aehnlichkeiten. Wollte er eine Finte machen, so forderte er mich auf, ich sollte mich vor den mit dem Kreuz versehenen Noten hüten, weil man diese vor Alters Finte nannte; hatte er mir den Stoßdegen aus der Hand geschlagen, so meinte er grinsend, das wäre eine Pause. Kurz, ich sah in meinem ganzen Leben keinen unerträglicheren Pedanten als diesen armen Menschen mit seinem Federbusch und seinem Brustleder.

Ich machte also in diesen Uebungen, die ich aus reinem Abscheu dagegen bald aufgab, geringe Fortschritte; dagegen machte ich um so größere in einer nützlicheren Kunst, in der, mit meinem Loose zufrieden zu sein und mich nach keinem glänzenderen zu sehnen, für welches ich, wie ich einzusehen begann, nicht geboren war. Nur von dem Verlangen erfüllt, Mama das Leben glücklich zu machen, fühlte ich mich an ihrer Seite immer zufriedener, und wenn ich mich, um in die Stadt zu gehen, von ihr trennen mußte, begann ich trotz meiner Leidenschaft für die Musik den Zwang zu merken, der mit meinen Unterrichtsstunden verbunden war.

Ich weiß nicht, ob Claude Anet die Vertraulichkeit unseres Verhältnisses wahrnahm. Ich habe Ursache anzunehmen, daß es ihm nicht verborgen blieb. Es war ein sehr scharfblickender, aber auch sehr verschwiegener Mann, der nur sprach, wie er dachte, aber seine Gedanken nicht immer enthüllte. Ohne zu thun, als ob er etwas wüßte, gab er doch durch sein Benehmen zu erkennen, daß er über unser Verhältnis nicht in Unkunde war, und dieses Benehmen war sicherlich nicht der Ausfluß einer gemeinen Denkungsweise, sondern seines Eingehens auf die Grundsätze seiner Herrin, deren getreue Durchführung er nicht mißbilligen konnte. Obgleich eben so jung wie sie, war er doch so gesetzt und ernst, daß er uns fast wie zwei der Nachsicht bedürftige Kinder betrachtete, und wir betrachteten ihn beide als einen Ehrfurcht einflößenden Mann, dessen Achtung wir uns zu bewahren hatten. Erst nach ihrer Untreue gegen ihn erkannte ich ganz die aufrichtige Liebe, mit der sie ihm zugethan war. Da sie wußte, daß ich nur durch sie dachte, empfand und athmete, zeigte sie mir, wie innig sie ihn liebte, damit ich ihn eben so lieben sollte, und sie hob hierbei weniger ihre Freundschaft für ihn als ihre Achtung hervor, weil dies das Gefühl war, welches ich am vollkommensten theilen konnte. Wie oft rührte sie unsere Herzen und verlangte unter Thränen, daß wir uns umarmten, indem sie uns versicherte, daß wir beide zum Glücke ihres Lebens nöthig wären! Mögen die Frauen, die dieses lesen werden, nicht hämisch lächeln. Bei ihrem Temperamente lag in diesem Bedürfnisse nichts Zweideutiges; es war lediglich das Bedürfnis ihres Herzens.

Auf diese Weise entspann sich unter uns dreien ein geselliges Verhältnis, wie es vielleicht ohne Beispiel auf Erden dasteht. Alle unsere Wünsche, unsere Sorgen, unsere Herzensregungen waren gemeinschaftlich; nichts davon ging über diesen kleinen Kreis heraus. Die Gewohnheit des Zusammenlebens und zwar des ausschließlichen Zusammenlebens wurde so stark, daß, wenn bei unseren Mahlzeiten einer von uns dreien fehlte oder ein Vierter hinzukam, alles gestört war, und uns trotz unserer besonderen Liebesverhältnisse unsere Zusammenkünfte unter vier Augen weniger süß waren als unser aller Zusammensein. Was unter uns jeden Zwang verhütete, war ein großes gegenseitiges Vertrauen und was jede Langeweile verhütete, war unsere ununterbrochene Beschäftigung. Mama, die sich stets mit Plänen trug und beständig thätig war, ließ uns beide nicht müßig, und wir hatten noch für uns selbst genug zu thun, um unsere Zeit vollkommen auszufüllen. Meines Erachtens ist der Müßiggang dem geselligen Leben eben so nachtheilig wie der Einsamkeit. Nichts beschränkt den Geist mehr, nichts erzeugt mehr Nichtigkeiten, Klatschereien, üble Nachreden und Lügen als ewig in einem Zimmer einander gegenüber eingeschlossen zu sitzen, in Ermangelung jeder Arbeit gezwungen, unaufhörlich zu schwatzen. Ist jedermann beschäftigt, so redet man nur, wenn man etwas zu sagen hat; thut man jedoch nichts, so muß man durchaus beständig reden, und das ist der lästigste und gefährlichste Zwang, der sich denken läßt. Ich wage sogar noch weiter zu gehen und behaupte, daß, um einen Kreis wahrhaft angenehm zu machen, nicht allein jeder etwas thun muß, sondern auch etwas, das ein wenig Aufmerksamkeit verlangt. Filetstricken heißt nichts thun, und es gehört genau eben so viel dazu, um eine Frau, die Filet strickt, zu unterhalten, wie eine, die die Hände in den Schoos legt. Stickt sie, ist es schon etwas anderes; sie ist dann hinreichend beschäftigt, um die Ruhepausen in der Unterhaltung auszufüllen. Höchst anstößig und lächerlich ist es, wenn man sieht, wie während dieser Zeit ein Dutzend Stutzer sich erheben, sich wieder hinsetzen, auf- und abgehen, sich auf den Absätzen herumdrehen, zweihundertmal die Porzellanfiguren auf dem Kaminsimse umkehren und ihr Gehirn abarbeiten, um ihren Redestrom nicht versiegen zu lassen: eine schöne Beschäftigung! Solche Leute werden, was sie auch thun mögen, stets anderen und sich selbst zur Last sein. Als ich zu Motiers war, machte ich, wenn ich bei meinen Nachbarinnen war, Schnürsenkel; kehrte ich einmal in das Weltleben zurück, würde ich stets in meiner Tasche einen Fangbecher bei mir tragen und den ganzen Tag über damit spielen, um des Redens überhoben zu sein, wenn ich nichts zu sagen hätte. Machte es ein jeder eben so, würden die Menschen weniger boshaft, würde der Umgang mit ihnen zuverlässiger und, wie ich glaube, angenehmer werden. Kurz, mögen die Albernen, wenn sie wollen, lachen, aber ich behaupte, daß die einzige für dieses Jahrhundert passende Moral die des Fangbechers ist.

Uebrigens konnten wir beim besten Willen der Langeweile nicht ganz aus dem Wege gehen, denn der Andrang lästiger Besucher bereitete uns so große, daß uns auch für die Zeit, in der wir allein waren, noch immer einige übrig blieb. Die Ungeduld, mit der mich solche Besuche sonst erfüllt, hatte nicht abgenommen, und der ganze Unterschied bestand nur dann, daß ich weniger Zeit hatte, mich ihr hinzugeben. Die arme Mama hatte ihre alte Vorliebe für Pläne und Unternehmungen nicht verloren. Im Gegentheile, je drückender ihre häuslichen Verlegenheiten wurden, desto mehr überließ sie sich, um ihnen abzuhelfen, ihren Hirngespinsten; je geringer ihre augenblicklichen Hilfsmittel waren, desto mehr sann sie auf ihre Erhöhung für die Zukunft. Im Laufe der Jahre nahm dieser leidenschaftliche Hang bei ihr nur noch zu, und in dem Maße, wie sie das Gefallen an den Freuden der Welt und der Jugend verlor, suchte sie für dieselben durch die Freude an Geheimmitteln und Entwürfen Ersatz. Das Haus wurde nicht leer von Quacksalbern, Fabrikanten, Goldmachern, Unternehmern aller Art, die mit Millionen um sich warfen, aber schließlich aus augenblicklicher Noth um einen Thaler baten. Keiner ging bei ihr leer aus, und über nichts habe ich mich mehr gewundert, als daß sie eine so große Verschwendung so lange hat aushalten können, ohne die Quelle dazu zu erschöpfen und ihre Gläubiger zu ermüden.

Der Plan, mit dem sie sich in der Zeit, von welcher ich rede, am meisten beschäftigte, und der nicht der unvernünftigste war, den sie ersonnen hat, bezweckte die Anlegung eines königlichen Pflanzengartens in Chambéry mit einem besoldeten praktischen Lehrer der Botanik; wem diese Stelle zugedacht war, begreift man im voraus. Die Lage dieser mitten in den Alpen gelegenen Stadt war botanischen Zwecken überaus günstig, und Mama, die immer einen Plan durch einen anderen zu erleichtern suchte, hatte die Absicht, mit dem Garten eine Pharmaceutenschule zu verbinden, die in einem so armen Lande, wo die Apotheker fast die einzigen Aerzte sind, in der That sehr nützlich erschien. Die nach dem Tode des Königs Victor erfolgte Uebersiedelung des Leibarztes Grossi nach Chambéry schien ihr der Ausführung dieses Planes sehr zu Statten zu kommen und hatte ihn vielleicht erst in ihr angeregt. Wie dem auch sei, sie begann Grossi den Hof zu machen, obgleich er zum Hofmachen nicht sehr angethan war, denn er war der beißendste und gröbste Mensch, den ich je gekannt. Man möge nach einigen Anekdoten, die ich hier als Probe anführen will, selbst darüber urtheilen.

Eines Tages hatte er mit einigen Aerzten, unter denen sich auch der aus Annecy herbeigeeilte Hausarzt des Kranken befand, eine Consultation. Dieser junge, für einen Arzt noch nicht genügend geschulte Mann wagte die Ansicht des Herrn Leibarztes nicht zu theilen. Statt aller weiteren Antwort fragte ihn dieser, wann er zurückritte und welche Wege er einschlüge. Nach ertheilter Auskunft fragt ihn nun der andere seinerseits, ob er ihm etwa eine Gefälligkeit erweisen könnte? »Nein, nein,« erwiderte Grossi, »ich wollte mich nur an ein Fenster stellen, an dem ihr Weg vorüberführt, um das Vergnügen zu haben, einen Esel zu Pferde einherziehen zu sehen.« – Er war eben so habgierig wie reich und hart. Einer seiner Freunde wollte einst eine kleine Anleihe gegen gute Sicherheit bei ihm machen. »Mein Freund,« sagte er zu ihm, indem er ihm grinsend den Arm drückte, »wenn der heilige Petrus vom Himmel herabstiege, um zehn Pistolen von mir zu leihen, und mir die heilige Dreieinigkeit als Bürgen stellte, würde ich sie ihm nicht leihen.« – Eines Tages von dem sehr frommen Grafen Picon, der Gouverneur von Savoyen war, zur Tafel geladen, erscheint er vor der Eßstunde, und seine Excellenz, gerade mit dem Abbeten des Rosenkranzes beschäftigt, schlägt ihm denselben Zeitvertreib vor. Da er nicht weiß, was er antworten soll, schneidet er ein schreckliches Gesicht und fällt auf die Knie. Kaum hat er jedoch zwei Ave gesprochen, als er sich, da er es nicht länger aushalten kann, schnell erhebt, seinen Stock nimmt und, ohne ein Wort zu sagen, davon läuft. Der Graf Picon rennt hinter ihm her und ruft ihm nach: »Herr Grossi, Herr Grossi, bleiben Sie doch! Es steckt für Sie unten ein herrliches Steinhuhn am Spieß!« – »Herr Graf,« erwidert ihm der andere, sich umwendend, »und wenn Sie mir einen gebratenen Engel vorsetzten, würde ich nicht bleiben.« So war der Herr Leibarzt Grossi, dessen Zähmung Mama unternahm und schließlich zu Stande brachte. Obgleich er sehr beschäftigt war, gewöhnte er sich daran, sie oft zu besuchen, behandelte Anet freundschaftlich, gab zu erkennen, daß er seine Kenntnisse schätzte, redete von ihnen mit Anerkennung und bestrebte sich, was man von einem solchen Bären nicht hätte erwarten sollen, ihm alle Achtung zu erweisen, um die früheren Eindrücke zu verwischen. Denn obgleich Anet nicht mehr auf dem Fuße eines Dieners stand, so wußte man doch, daß er es gewesen war, und es bedurfte nicht weniger als des Beispiels und des Ansehens des Herrn Leibarztes, um den Ton anzugeben, den man ihm gegenüber annehmen mußte und keinem andern zu Liebe angenommen hätte. Mit seinem schwarzen Gewande, seiner wohlgekämmten Perrücke, seiner ernsten und ehrbaren Haltung, seinem verständigen und besonnenen Benehmen und seinen ziemlich umfassenden medicinischen und botanischen Kenntnissen konnte Claude Anet, zumal ihm der Dekan der Facultät günstig war, ziemlich sicher hoffen, die Stelle eines königlichen praktischen Lehrers der Botanik zur Zufriedenheit auszufüllen, wenn die geplante Anlage zur Ausführung kam; und Grossi hatte den Plan wirklich gebilligt, ihn zu dem seinigen gemacht und wartete, um ihn dem Hofe vorzulegen, nur auf den Augenblick, wo der Friede gestatten würde, an nützliche Dinge zu denken und einiges Geld zu ihrer Verwirklichung aufzuwenden.

Allein dieser Plan, dessen Ausführung mich wahrscheinlich zur Botanik getrieben hätte, für welche ich, wie ich glaube, geboren bin, scheiterte in Folge eines jener unerwarteten Schicksalsschläge, welche auch die am klügsten berechneten Entwürfe zerstören. Ich war bestimmt, stufenweise ein Beispiel der menschlichen Leiden zu werden. Man sollte meinen, die Vorsehung, die mich zu solchen großen Prüfungen berief, hätte mit eigner Hand alles beseitigt, was mich mit hätte abhalten können, dieselben durchzumachen. Bei einem botanischen Ausfluge, den Anet nach dem Hochgebirge unternommen hatte, um Genipi, eine seltene Pflanze, die nur auf den Alpen wächst und die Herr Grossi brauchte, zu holen, erhitzte sich der arme Bursch dermaßen, daß er eine Brustfellentzündung bekam, von der ihn auch das Genipi nicht heilen konnte, obgleich es gerade das Hauptmittel gegen diese Krankheit sein soll. Trotz der Kunst Grossi's, der sicherlich ein sehr geschickter Arzt war, trotz Mamas und meiner treusten Pflege, starb er am fünften Tage nach schwerem Todeskampfe in unsern Armen. Ich allein hatte ihn zum Tode vorbereitet und mit ihm unter solchen Ausbrüchen des Schmerzes und mit solchem zuversichtlichen Glauben gebetet, daß ihm mein Zuspruch, wenn er ihn noch zu verstehen im Stande war, zum Troste gereichen mußte. So verlor ich den zuverlässigsten Freund, den ich in meinem ganzen Leben hatte, einen achtungswerthen und ausgezeichneten Menschen, in dem die natürliche Begabung die Erziehung ersetzte, der in seiner dienstlichen Stellung alle Tugenden großer Männer nährte, und dem, um als solcher von aller Welt erkannt zu werden, vielleicht nichts als ein längeres Leben und eine richtige Stellung fehlte.

Am andern Tage redete ich mit Mama in der tiefsten und aufrichtigsten Trauer von ihm, und mitten im Gespräche kam mir plötzlich der schändliche und unwürdige Gedanke, daß ich ja der Erbe seiner Sachen und namentlich eines schönen schwarzen Anzuges wäre, der mir in die Augen gestochen hatte. Ich dachte es und sagte es folglich, denn bei ihr war das für mich eins. Nichts machte ihr den erlittenen Verlust fühlbarer als diese elende und schlechte Bemerkung, da Uneigennützigkeit und Seelenadel gerade zu seinen hervorragendsten Eigenschaften gehört hatten. Ohne mich einer Antwort zu würdigen, wandte sich die arme Frau nach der andern Seite und begann zu weinen. Theure und köstliche Thränen! Sie waren mir verständlich und strömten alle in mein Herz; sie reinigten es bis auf die letzte Spur von einer niedrigen und ehrlosen Gesinnung. Sie hat seit dieser Zeit nie wieder Eingang in dasselbe gefunden.

Dieser Verlust bereitete Mama eben so viel Nachtheil wie Kummer. Von diesem Augenblick an hörten ihre Angelegenheiten nicht auf bergab zu gehen. Anet war ein genauer und ordentlicher Mensch gewesen, der auch im Hause seiner Herrin Ordnung hielt. Man fürchtete seine Wachsamkeit, und die Verschleuderung war geringer. Sie selbst fürchtete seinen Tadel und suchte ihre Neigung zur Verschwendung zu mäßigen. Seine Liebe genügte ihr nicht, sie wollte sich auch seine Achtung bewahren, und sie fürchtete den gerechten Vorwurf, den er ihr mitunter zu machen wagte, daß sie das Gut anderer eben so sehr verschwendete als ihr eigenes. Ich theilte seine Ansicht und sprach es sogar aus, aber ich hatte nicht denselben Einfluß auf sie und meine Reden wirkten nicht so nachhaltig auf sie wie die seinigen. Als er nicht mehr war, wurde ich gezwungen, seine Stellung einzunehmen, zu der ich eben so wenig Fähigkeit wie Lust besaß; ich füllte sie schlecht aus. Ich war wenig sorgsam und dabei zu schüchtern; während ich im Stillen schalt, ließ ich alles gehen, wie es gehen wollte. Uebrigens war mir wohl dasselbe Vertrauen zu Theil geworden, aber nicht dasselbe Ansehen. Ich bemerkte die Unordnung, ich seufzte und klagte darüber, wurde aber nicht angehört. Ich war noch zu jung und zu lebhaft, um das Recht zu haben, vernünftig zu sein, und wenn ich mich als Hausherr hineinmischen wollte, gab mir Mama kleine zärtliche Backenstreiche, nannte mich ihren kleinen Mentor und zwang mich, wieder in die Rolle zurückzufallen, die mir ziemte.

Die entschiedene Ahnung der Noth, in welche ihre unvorsichtigen Ausgaben sie früher oder später stürzen mußten, machten einen um so stärkeren Eindruck auf mich, als ich jetzt in der Eigenschaft ihres Haushofmeisters mich selbst von der Ungleichheit zwischen ihrem Soll und Haben überzeugen konnte. Von dieser Zeit schreibe ich die Neigung zum Geiz her, welche ich seitdem immer in mir bemerkt habe. Thörichte Verschwendung hatte ich nur in einer augenblicklichen tollen Laune getrieben; aber bis dahin war ich nie sehr unruhig darüber gewesen, ob ich wenig oder viel Geld hatte. Jetzt begann ich meine Aufmerksamkeit darauf zu lenken und mich um meine Börse zu kümmern. Aus einem sehr edlen Beweggrunde wurde ich geizig, denn ich dachte in Wahrheit nur daran, der lieben Mama für die Katastrophe, die ich voraussah, einige Geldmittel anzusammeln. Ich befürchtete, ihre Gläubiger würden ihre Pension mit Beschlag belegen lassen, oder sie könnte ihr ganz entzogen werden, und ich bildete mir nach meinem beschränkten Gesichtskreise ein, daß ihr mein kleiner Schatz dann eine große Hilfe gewähren würde. Aber um ihn zusammen zu sparen und vor allen Dingen ihn sicher zu verwahren, mußte ich ihn ihr verheimlichen, denn bei ihren ewigen Verlegenheiten durfte sie von diesen kleinen Ersparnissen nichts wissen. Ich suchte deshalb bald hier, bald dort Verstecke, in denen ich einige Goldstücke verbarg, in der Hoffnung, sie bis zu dem Augenblicke, wo ich sie ihr zu Füßen legen wollte, unaufhörlich vermehren zu können. Allein ich war in der Wahl meiner Verstecke so ungeschickt, daß sie sie stets entdeckte; um mir dann zu zeigen, daß sie sie aufgefunden, nahm sie das Gold, welches ich dort versteckt hatte, weg und legte eine noch größere Summe in andern Münzen dafür hin. Ganz beschämt warf ich meinen kleinen Schatz wieder in die gemeinschaftliche Kasse und sie verabsäumte nie, ihn für mich zu verausgaben, indem sie mir dafür Wäsche oder andere Dinge, wie einen silbernen Degen, eine Uhr oder etwas Aehnliches kaufte.

In der festen Überzeugung, daß mir das Zurücklegen nie gelingen und für sie ein geringes Rettungsmittel sein würde, kam ich endlich zu der Einsicht, daß ich wider das von mir befürchtete Unglück keinen andern Ausweg hätte, als mich in den Stand zu setzen, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, sobald sie, unfähig, länger für mich zu sorgen, der bittersten Noth entgegensehen würde. Da ich leider meine Pläne nach meinen Neigungen entwarf, bestand ich thörichterweise darauf, mein Glück in der Musik zu suchen; gingen mir Motive und Melodien durch den Kopf, so glaubte ich sofort, daß ich, wenn es mir nur gelänge, sie zu verwerthen, auf dem besten Wege wäre, ein berühmter Mann zu werden, ein moderner Orpheus, dessen Töne alle Schätze Perus herbeilocken würden. Nachdem ich angefangen hatte, die Noten ziemlich geläufig zu lesen, handelte es sich jetzt für mich darum, die Compositonslehre zu lernen. Die Schwierigkeit war, einen geeigneten Lehrer zu finden, denn mit meinem bloßen Rameau glaubte ich mir selbst nicht weiter helfen zu können, und seit Le Maîtres Abreise gab es in ganz Savoyen niemanden, der von der Harmonielehre etwas verstand.

Hierbei wird man wieder eine jener Inconsequenzen wahrnehmen, deren so viele in meinem Leben vorkommen und die mich oft von meinem Ziele entfernt haben, wenn ich unmittelbar auf dasselbe zuzugehen dachte. Venture hatte mir viel von dem Abbé Blanchard, seinem Lehrer in der Composition, einem sehr begabten und talentvollen Manne erzählt, der damals Kapellmeister an der Kathedrale zu Besançon war und es jetzt an der Kapelle von Versailles ist. Ich setzte mir in den Kopf, nach Besançon zu gehen, um beim Abbé Blanchard Unterricht zu nehmen, und dieser Gedanke kam mir so vernünftig vor, daß es mir gelang, ihn auch Mama annehmbar zu machen. So nahm sie denn die Anfertigung meiner kleinen Ausstattung vor und that es mit der Verschwendung, die sie in jeder Sache trieb. Trotz der beständigen Absicht, ihren Bankerott zu verhüten und die Folgen ihrer Verschwendung in der Zukunft auszugleichen, verursachte ich ihr auf diese Weise zunächst eine Ausgabe von achthundert Franken; ich beschleunigte also ihren Untergang, um mich in den Stand zu setzen, ihm vorzubeugen. So albern dieses Treiben war, so vollkommen war doch meine wie ihre Verblendung. Wir waren beide überzeugt, ich, daß meine Bemühung ihr, sie, daß dieselbe mir zum Nutzen gereichte.

Ich hatte darauf gerechnet, Venture noch in Annecy zu finden, da ich ihn um einen Empfehlungsbrief an den Abbé Blanchard bitten wollte. Er war nicht mehr da. Statt aller weiteren Auskunft über ihn mußte ich mich mit einer vierstimmigen, von ihm selbst niedergeschriebenen Messe eigener Composition begnügen, die er mir zurückgelassen hatte. Mit dieser Empfehlung machte ich mich nach Besançon auf den Weg, der mich durch Genf, wo ich meine Verwandten besuchte, und durch Nyon führte, wo ich zu meinem Vater ging, der mich wie gewöhnlich empfing und die Nachsendung meines Koffers übernahm, welcher, da ich zu Pferde reiste, erst später als ich ankam. Ich treffe in Besançon ein. Der Abbé Blanchard nimmt mich freundlich auf, verspricht mir seinen Unterricht und bietet mir seine Dienste an. Wir wollen bereits beginnen, als ich aus einem Briefe meines Vaters erfahre, daß mein Koffer in Rousses, dem französischen Zollamte an der Schweizer Grenze, mit Beschlag belegt und confiscirt ist. Ueber diese Nachricht erschrocken, bemühe ich mich, durch die Bekanntschaften, welche ich in Besançon bereits gemacht hatte, den Grund dieser Beschlagnahme in Erfahrung zu bringen; denn da ich überzeugt war, keine verbotene Waare gehabt zu haben, konnte ich nicht begreifen, was den Vorwand zu diesem Gewaltacte hatte geben können. Endlich entdeckte ich die Ursache und kann nicht umhin, sie hier anzugeben, da sie doch gar zu seltsam ist.

Ich verkehrte in Chambéry mit einem alten Lyoneser, einem sehr gutmüthigen Manne, Namens Duvivier, der unter der Regentschaft eine Anstellung auf dem Paßamte gehabt, und nach Verlust dieses Amtes bei dem Kataster Beschäftigung gesucht hatte. Er hatte in der großen Welt gelebt, besaß Talente, einige Kenntnisse, ein freundliches und höfliches Wesen und verstand Musik. Da wir ein gemeinschaftliches Arbeitszimmer hatten, so waren wir inmitten der schlecht geleckten Bären in ein ganz besonders freundschaftliches Verhältnis getreten. Er hatte noch immer Verbindungen in Paris, durch die er über jene unbedeutenden Kleinigkeiten, jene flüchtigen Tagesneuigkeiten, die plötzlich, man weiß nicht weshalb, von Mund zu Munde gehen, und wieder ein Ende finden, man weiß nicht wie, und deren niemand je wieder gedenkt, wenn man aufgehört hat, von ihnen zu reden, unterrichtet wurde. Da ich ihn zuweilen zu Mama zum Essen mitnahm, machte er mir in gewisser Weise den Hof und, um sich angenehm zu machen, suchte er mir Geschmack an dergleichen Albernheiten einzuflößen, gegen welche ich stets einen solchen Widerwillen gehabt hatte, daß ich mich mein ganzes Leben lang nicht habe überwinden können, etwas dieser Art für mich allein zu lesen.Var. . . . für mich allein zu lesen. Um ihm einen Gefallen zu erweisen, nahm ich diese kostbaren Wische, steckte sie in die Tasche und benutzte sie nur zu dem einzigen Zwecke, zu dem sie gut waren. Unglücklicherweise blieb eines dieser verwünschten Papiere in der Brusttasche eines neuen Rockes stecken, den ich zwei- oder dreimal getragen hatte, damit ich auf der Grenze keinen Zoll für ihn zu entrichten brauchte. Es enthielt eine in jansenistischer Anschauungsweise geschriebene, ziemlich geistlose Parodie der schönen Scene in Racine's Mithridates. Ich hatte nicht zehn Verse davon gelesen und sie aus Vergeßlichkeit in meiner Tasche gelassen. Hierin fand man genügenden Grund zur Beschlagnahme meiner Habseligkeiten. Die Zollbeamten leiteten das Inhaltsverzeichnis meines Koffers mit einer amtlichen, in feierlichen Worten abgefaßten Erklärung ein, in der sie in der Voraussetzung, daß dieses Schriftstück aus Genf käme, um in Frankreich gedruckt und vertheilt zu werden, in salbungsvollen Worten gegen die Feinde Gottes und der Kirche loszogen und sich in Lobeserhebungen über ihre fromme Wachsamkeit ergingen, welche die Ausführung dieses höllischen Unterfangens verhindert hätte. Unzweifelhaft rochen ihnen meine Hemden ebenfalls nach Ketzerei, denn wegen dieses fürchterlichen Blattes wurde alles confiscirt, ohne daß ich je eine Entschädigung oder auch nur eine Benachrichtigung über den Verbleib meines Reisegepäcks erhalten hätte. Die Finanzbeamten, an die man sich wandte, verlangten so viele Nachweisungen, Aufschlüsse, Zeugnisse und Eingaben, daß ich mich in diesem Labyrinthe tausendmal verirrte und mich gezwungen sah, alles Preis zu geben. Es thut mir wahrlich Leid, diese amtliche Erklärung des Zollamtes zu Rousses nicht aufbewahrt zu haben; sie hätte eine hervorragende Stelle unter den Belegstücken eingenommen, deren Sammlung gleichzeitig mit diesem Werke erscheinen soll.

Dieser Verlust zwang mich zur sofortigen Rückkehr nach Chambéry, ohne den Unterricht des Abbé's Blanchard empfangen zu haben; und da ich, alles wohl erwogen, einsah, daß mich das Unglück bei allen meinen Unternehmungen verfolgte, so war ich entschlossen, mich lediglich an Mama anzuschließen, ihre Gefahr zu theilen und mich nicht mehr fruchtlos über eine Zukunft zu beunruhigen, der ich ihren Lauf lassen mußte. Sie empfing mich, als hätte ich Schätze zurückgebracht, schaffte mir nach und nach wieder eine kleine Garderobe an, und mein Unglück, so groß es für mich wie für sie auch war, wurde fast eben so schnell vergessen, wie es hereingebrochen.

Obgleich ich in Folge dieses Unglücks jetzt über meine Musikpläne kühler dachte, unterließ ich doch nicht, meinen Rameau beständig zu studiren, und mit großer Anstrengung brachte ich es endlich dahin, ihn zu verstehen und einige kleine Compositionsversuche zu machen, deren Erfolg mich ermuthigte. Der Graf von Bellegarde, ein Sohn des Marquis von Antremont, war nach dem Tode des Königs August aus Dresden zurückgekehrt. Er hatte lange in Paris gelebt; er war ein großer Musikfreund und hatte besonders für Rameau'sche Musik eine wahre Leidenschaft gefaßt. Sein Bruder, der Graf von Nangis spielte Violine, und Frau Gräfin von La Tour, ihre Schwester, sang ein wenig. Hierdurch kam in Chambéry die Musik in Mode und man veranstaltete eine Art öffentlicher Concerte, deren Leitung man anfangs mir übertragen wollte; allein man merkte bald, daß sie meine Kräfte überstieg, und richtete sich anders ein. Ich unterließ nicht, dabei einige kleine Stücke eigener Arbeit vorzutragen und unter andern eine Cantate, die sehr gefiel. Sie war zwar kein Meisterstück, aber voll neuer und wirkungsvoller Melodien, die man mir nicht zugetraut hatte. Diese Herren konnten nicht glauben, daß ich, der ich so schlecht Noten las, im Stande wäre, leidlich zu componiren, und sie zweifelten nicht, daß ich mich mit fremden Federn geschmückt hätte. Um die Wahrheit festzustellen, suchte mich eines Morgens Herr von Nangis mit einer Cantate von Clerambaut auf, die er nach seiner Erklärung, um sie singbarer zu machen, transponirt hatte, und zu der nun ein anderer Baß geschrieben werden müßte, da in Folge der Transposition Clerambauts Composition für dieses Instrument nicht mehr paßte. Ich erwiderte, dies wäre eine bedeutende Arbeit, die sich nicht auf der Stelle ausführen ließ. Er glaubte, ich wäre nur um eine Ausflucht verlegen und drängte mich, ihm wenigstens den Baß zu einem Recitativ zu schreiben. Ich that es also, jedenfalls mangelhaft, weil ich, um etwas gut zu machen, bei jedem Dinge der Zwanglosigkeit und Freiheit bedarf; aber ich machte die Arbeit nach den Regeln, und da er zugegen war, konnte er meine Kenntnis der Anfangsgründe der Kompositionslehre nicht bezweifeln. So verlor ich meine Schülerinnen nicht, allein ich wurde ein wenig kühl gegen die Musik, da ich gewahrte, daß man ein Concert veranstaltete, ohne mich dabei zu gebrauchen.

Ungefähr um diese Zeit wurde Friede geschlossen und die französische Armee marschirte über das Gebirge zurück. Mehrere Officiere besuchten Mama, unter andern der Graf von Lautrec, Oberst des Regiments Orleans, später Gesandter in Genf und endlich Marschall von Frankreich. Diesem wurde ich von Mama vorgestellt. Nach dem, was sie ihm sagte, schien er großes Interesse für mich zu gewinnen und versprach mir vielerlei, woran er sich erst im letzten Jahre seines Lebens erinnerte, als ich ihn nicht mehr nöthig hatte. Zu der nämlichen Zeit kam der junge Marquis von Sennecterre, dessen Vater damals Gesandter in Turin war, durch Chambéry. Er speiste bei Frau von Menthon; auch ich speiste an diesem Tage bei ihr. Nach dem Essen war von Musik die Rede, von der er ein gründlicher Kenner war. Die Oper Jephtah war damals etwas Neues, er erzählte von ihr, man ließ die Partitur holen. Ich schauderte, als er mir den Vorschlag machte, diese Oper in Gemeinschaft mit ihm zu singen. Als er die Partitur aufschlug, kam er gerade auf die berühmte, für zwei Chöre geschriebene Stelle:

La terre, l'enfer, le ciel même
Tout tremble devant le Seigneur.

Er fragte mich: »Wie viel Stimmen wollen Sie singen? Ich für meine Person will diese sechs übernehmen.« Ich war noch nicht an solche französische Großthuerei gewöhnt, und obgleich ich mitunter Partituren mühselig gelesen hatte, war es mir doch unfaßbar, wie derselbe Mensch gleichzeitig sechs Stimmen, ja auch nur zwei singen könnte. Nichts ist mir bei musikalischen Uebungen schwerer gewesen, als mit Leichtigkeit von einer Stimme zur anderen überzugehen und zugleich eine ganze Partitur mit den Augen zu überfliegen. Nach der Art und Weise, mit der ich mich aus der Sache zog, mußte sich Herr von Sennecterre zu der Annahme berechtigt fühlen, daß ich von der Musik nichts verstände. Vielleicht um sich von der Wahrheit seiner Vermuthung zu überzeugen, forderte er mich auf, die Noten eines Liedes aufzuschreiben, welches er Fräulein von Menthon überreichen wollte. Ich konnte mich dem nicht entziehen. Er sang das Lied, und ich schrieb es auf, sogar ohne es mir oft wiederholen zu lassen. Darauf las er es durch und fand, wie es auch wirklich der Fall war, daß ich es vollkommen richtig aufgeschrieben hatte. Da er meine Verlegenheit bemerkt hatte, machte es ihm Freude, diesen kleinen Erfolg in ein recht günstiges Licht zu stellen. Es war jedoch im Ganzen genommen eine sehr einfache Sache. Im Grunde verstand ich die Musik sehr gut, es fehlte mir nur die Schnelligkeit des ersten Ueberblicks, die mir bei allem abging und die man in der Musik nur durch lange Uebung erwirbt. Wie dem auch sei, ich war ihm dankbar für die redliche Mühe, die er sich gab, die kleine Beschämung, welche ich erlitten, bei den Uebrigen wie bei mir in Vergessenheit zu bringen. Als ich zwölf oder fünfzehn Jahre später in verschiedenen Häusern in Paris mit ihm zusammentraf, fühlte ich mich mehrmals versucht, ihm dieses Geschichtchen in die Erinnerung zurückzurufen und ihm zu zeigen, daß ich es im Gedächtnis bewahrt hatte. Aber er hatte seitdem das Augenlicht verloren; ich fürchtete, ihn von neuem mit Schmerz zu erfüllen, wenn ich ihn an den Gebrauch erinnerte, den er von demselben gemacht hatte, und schwieg.

Ich nähere mich jetzt dem Zeitabschnitte, der meine vergangene gesellschaftliche Stellung mit meiner gegenwärtigen in Verbindung setzt. Einige Freundschaften, die sich seit jener Zeit bis jetzt fortgesetzt haben, sind mir sehr werth geworden. Um ihretwillen habe ich mich oft nach jener glücklichen Niedrigkeit zurückgesehnt, in welcher diejenigen, die sich meine Freunde nannten, es meinetwegen waren und mich meinetwegen liebten, aus reinem Wohlwollen, nicht aus Eitelkeit, mit einem bekannten Manne in Verbindung zu stehen, oder aus dem geheimen Verlangen, auf diese Weise mehr Gelegenheit zu finden, ihm zu schaden. Von hier an rechne ich meine erste Bekanntschaft mit meinem alten Freunde Gauffecourt, der mir aller Anstrengungen ungeachtet, die man machte, ihn mir zu rauben, stets ein treuer Freund geblieben ist. Stets geblieben ist? Ach nein, ich habe ihn vor Kurzem verloren. Aber erst mit dem Erlöschen seines Lebens erlosch seine Liebe zu mir, und unsere Freundschaft hat erst mit ihm selber geendet. Herr von Gauffecourt war einer der liebenswürdigsten Männer, die es je gegeben hat. Es war unmöglich ihn zu sehen, ohne ihn zu lieben, und mit ihm zu leben, ohne sich ihm völlig anzuschließen. Ich habe nie offnere, gefälligere Gesichtszüge gesehen, die mehr Heiterkeit, mehr Gefühl und Geist verrathen, mehr Vertrauen eingeflößt hätten. Wie zurückhaltend man auch sein mochte, so konnte man sich doch von dem ersten Zusammentreffen an nicht erwehren, mit ihm so vertraulich zu verkehren, als hätte man ihn schon zwanzig Jahre gekannt, und ich, dem es so schwer fiel neuen Gesichtern gegenüber meine Unbefangenheit zu bewahren, war bei ihm vom ersten Augenblicke an heiter und ungezwungen. Seine Stimme, seine Aussprache, seine Aeußerungen machten einen eben so angenehmen Eindruck wie seine Züge. Der Ton seiner Stimme war rein, klangvoll, wohltönend, ein schöner, kräftiger und umfangreicher Baß, der das Ohr erfüllte und zum Herzen drang. Es ist unmöglich eine gleichmäßigere und angenehmere Heiterkeit zu haben, eine unverfälschtere und einfachere Anmuth, natürlichere und mit größerem Geschmack ausgebildete Talente. Hierzu denke man sich noch ein liebendes Herz, welches alle Welt nur ein wenig zu sehr liebte, einen gegen alle ohne Ausnahme gefälligen Charakter, der ihn antrieb, seinen Freunden eifrig zu dienen, oder bei dem er sich vielmehr abmühte, sich aus Leuten, welchen er dienen konnte, Freunde zu machen, und es sehr geschickt verstand, sein Glück dabei zu finden, daß er für das Glück anderer sorgte. Gauffecourt war der Sohn eines einfachen Uhrmachers und war selbst Uhrmacher gewesen. Aber sein Aeußeres und seine Befähigung beriefen ihn in einen anderen Kreis, in den er nicht einzutreten verabsäumte. Er machte die Bekanntschaft des Herrn von La Closure, des französischen Gesandten in Genf, der ihn lieb gewann. Derselbe verschaffte ihm in Paris andere Bekanntschaften, die ihm nützlich waren und ihm die Salzlieferung in Wallis verschafften, welche ihm eine Jahreseinnahme von zwanzigtausend Franken einbrachte. Mit seinem bisherigen nicht unbedeutenden Glücke bei den Männern war es nun vorbei, dafür wurde aber das bei den Frauen desto größer; er brauchte nur zu wählen und machte, was er wollte.Var. . . . er brauchte nur zu wählen, er wählte alles und machte, etc. Was noch seltener und deshalb um so ehrenvoller für ihn war, das war der Umstand, daß er, obgleich er in allen Ständen freundschaftliche Verhältnisse unterhielt, überall geliebt und von aller Welt gesucht war, ohne je von jemandem beneidet oder gehaßt zu werden, und ich bin überzeugt, daß er gestorben ist, ohne einen einzigen Feind in seinem Leben gehabt zu haben. Glücklicher Mensch! Er besuchte jedes Jahr die Bäder von Aix, wo die gute Gesellschaft der benachbarten Länder zusammenkommt. Da er mit dem ganzen savoyischen Adel in Verkehr stand, kam er von Aix nach Chambéry, um den Grafen von Bellegarde und seinen Vater, den Marquis von Antremont, zu besuchen, bei welchem ihn Mama kennen lernte und mich darauf mit ihm bekannt machte. Diese Bekanntschaft, die anfangs schien erfolglos bleiben zu sollen und eine langjährige Unterbrechung erlitt, erneuerte sich bei einer Gelegenheit, die ich noch erwähnen werde, und wurde ein echter Freundschaftsbund. Das genügt, um mir die Berechtigung zu geben, von einem Freunde zu sprechen, mit welchem ich so eng verbunden gewesen bin; allein selbst wenn ich für sein Gedächtnis kein persönliches Interesse hätte, so war er doch ein so liebenswürdiger und von der Natur mit so glücklichen Anlagen ausgestatteter Mann, daß ich ihm zur Ehre des menschlichen Geschlechts stets ein freundliches Andenken bewahren werde. Gleichwohl hatte auch dieser so treffliche Mann wie alle andern seine Fehler, wie man weiter unten sehen wird; aber hätte er sie nicht gehabt, wäre er vielleicht weniger liebenswürdig gewesen. Um ihn so fesselnd zu machen, wie er es nur sein konnte, mußte man ihm etwas zu verzeihen haben.

Auch eine andere Verbindung aus der nämlichen Zeit hat noch immer Bestand und schmeichelt mir fort und fort mit der Hoffnung auf ein zeitliches Glück. Herr von Conzié, ein savoyischer Edelmann, damals jung und liebenswürdig, verfiel auf den Gedanken, Musik zu lernen oder vielmehr die Bekanntschaft des Musiklehrers zu machen. Neben Geist und Geschmack für die schönen Wissenschaften besaß Herr von Conzié eine Sanftmuth des Charakters, die ihn sehr anziehend machte, und ich selbst war es wiederum für solche Leute, an denen ich sie wahrnahm. Der Freundschaftsbund war bald geschlossen.Ich habe ihn seitdem wiedergesehen, und völlig verändert gefunden. O, welch ein großer Zauberer ist der Herr von Choiseul! Keiner meiner alten Bekannten hat seiner Umgestaltungskraft entgehen können. Die Keime von Literatur und Philosophie, die in meinem Kopfe aufzuschießen begannen und nur auf ein wenig Pflege und Nacheiferung warteten, um sich völlig zu entwickeln, fanden sie bei ihm. Für die Musik hatte Herr von Conzié wenig Anlage. Für mich war das ein Glück; die Unterrichtsstunden verliefen unter ganz anderen Dingen als unter Solfeggiren. Wir frühstückten, wir plauderten, wir lasen einige neue Erscheinungen der Presse und sprachen kein Wort von Musik. Der Briefwechsel Voltaire's mit dem Kronprinzen von Preußen erregte damals Aufsehen; wir unterhielten uns häufig von diesen beiden berühmten Männern, von denen der eine seit kurzem auf dem Throne,Friedrich der Große kam bekanntlich erst 1740 auf den Thron. – Anm. des Uebers. schon im voraus seine künftige Größe errathen ließ, und der andere, so verrufen, wie jetzt bewundert, uns das Unglück, welches ihn zu verfolgen schien und das man so oft als das Loos großer Geister wahrnehmen kann, aufrichtig beklagen ließ. Der Kronprinz von Preußen war in seiner Jugend nicht sehr glücklich gewesen, und Voltaire schien dazu geschaffen, es nie zu sein. Das Interesse, das wir an dem einen wie dem andern nahmen, erstreckte sich auf alles, was sich auf sie bezog. Nichts von allem, was Voltaire schrieb, entging uns. Das Gefallen, das ich an dieser Lectüre fand, flößte mir den Wunsch ein, fein und gewählt schreiben zu lernen, und ich bestrebte mich, die glänzende Darstellung dieses Schriftstellers, von dem ich bezaubert war, nachzuahmen.Diese oft wiederholte Huldigung ist die beste Antwort, welche ich denen geben kann, die behaupten, Jean Jacques wäre auf Voltaire eifersüchtig gewesen. Einige Zeit darauf erschienen seine philosophischen Briefe. Obgleich sie sicherlich nicht sein bestes Werk sind, war es doch das, welches mich am meisten zum Studium zog, und diese wachsende Neigung erlosch seit jener Zeit nicht mehr.

Aber der Augenblick war noch nicht gekommen, mich ihr gänzlich zu überlassen. Es blieb mir noch immer eine gewisse Flatterhaftigkeit, ein Verlangen zu gehen und zu kommen, welches zwar abgenommen hatte, aber nicht völlig unterdrückt war und durch das Leben im Hause der Frau von Warens, das für meinen Hang zur Einsamkeit zu geräuschvoll war, immer neue Nahrung erhielt. Diese Menge unbekannter Leute, die täglich von allen Seiten herbeiströmten, und meine feste Ueberzeugung, daß sie sie nur, ein jeder auf seine Weise, zu betrügen suchten, machten mir meine Wohnung zur wahren Qual. Seitdem ich Claude Anets Nachfolger im Vertrauen seiner Herrin war, verfolgte ich den Stand ihrer Verhältnisse näher und gewahrte einen Fortschritt zum Schlimmern, der mich mit Schrecken erfüllte. Hundertmal hatte ich ihr Vorstellungen gemacht, sie gebeten, gedrängt, beschworen und immer vergebens. Ich hatte mich ihr zu Füßen geworfen, hatte sie in klaren Worten auf die Katastrophe hingewiesen, hatte sie dringend ermahnt, ihre Ausgaben zu beschränken und mit mir dabei den Anfang zu machen, hatte sie gebeten, lieber jetzt, wo sie noch jung wäre, sich an geringe Entbehrungen zu gewöhnen, als sich bei dem steten Anwachsen ihrer Schulden und ihrer Gläubiger in ihren alten Tagen den lästigen Forderungen derselben und der Noth auszusetzen. Ergriffen von der Aufrichtigkeit meines Eifers, wurde sie eben so gerührt wie ich und machte mir die schönsten Versprechungen von der Welt. Aber bei dem Erscheinen des ersten besten Lumpen war alles wieder vergessen. Was blieb mir nach tausend Beweisen der Vergeblichkeit meiner Vorstellungen schließlich übrig, als die Augen von dem Uebelstand abzuwenden, den ich nicht zu verhüten im Stande war. Ich entfernte mich aus dem Hause, dessen Thür ich nicht hüten konnte; ich machte kleine Reisen nach Nyon, nach Genf, nach Lyon, auf denen ich mir zwar meinen geheimen Kummer aus dem Sinne schlug, aber durch meine Ausgaben doch zugleich den Grund zu demselben vergrößerte. Ich kann beschwören, ich hätte mit Freuden ganz auf sie verzichtet, wenn Mama von der dadurch erzielten Ersparnis wirklichen Nutzen gehabt hätte; aber dessen gewiß, daß alles, was ich mir entzog, nur Gaunern zu Gute kam, mißbrauchte ich ihre Schwäche, um mit ihnen zu theilen, und wie der Hund, der aus dem Schlachthaus kommt, schleppte ich von dem Bissen, den ich nicht hatte retten können, meinen Knochen hinweg.

An Vorwänden für alle diese Reisen fehlte es mir nicht und schon Mama allein hätte mir hinreichende an die Hand gegeben, so viele geschäftliche Verbindungen, Unterhandlungen, Angelegenheiten und Aufträge hatte sie überall, deren Regelung nur einer zuverlässigen Persönlichkeit anvertraut werden konnte. Sie hatte nur immer Lust mich auszusenden, ich nur immer Lust zu reisen, was natürlich ein reges Wanderleben zur Folge haben mußte. Diese Reisen gaben mir Gelegenheit, einige gute Bekanntschaften zu machen, welche mir später angenehm oder nützlich waren, unter andern zu Lyon die des Herrn Perrichon, die ich im Hinblick auf die Güte, welche er mir bewies, bedauere nicht genug gepflegt zu haben; die des ehrlichen Parisot, von dem ich seiner Zeit reden werde; in Grenoble die der Frau Deybens und die der Frau Präsident von Bordonanche, einer sehr geistreichen Frau, die mir ihre Freundschaft geschenkt haben würde, wenn ich sie öfter hätte besuchen können; in Genf die des Herrn von La Closure, des französischen Geschäftsträgers, der mir oft von meiner Mutter erzählte, die sein Herz trotz ihres Todes und der Jahre noch immer nicht hätte vergessen können; die der beiden Barillot, von denen der Vater, der mich seinen Enkel nannte, im Umgange äußerst liebenswürdig und überhaupt einer der würdigsten Männer war, die ich je gekannt habe. Während der Unruhen in der Republik warfen sich diese beiden Bürger in die beiden sich einander feindlich gegenüberstehenden Parteien, der Sohn in die der Bürgerschaft, der Vater in die der Regierung; und als man im Jahre 1737 zu den Waffen griff, sah ich bei meinem Aufenthalte in Genf Vater und Sohn bewaffnet aus demselben Hause kommen, der eine, um nach dem Rathhause, der andere, um nach seinem Sammelplatz zu eilen, sicher, sich zwei Stunden später einander gegenüber zu stehen, und der Gefahr ausgesetzt, einander zu tödten. Dieses entsetzliche Schauspiel machte auf mich einen so tiefen Eindruck, daß ich schwor, nie an einem Bürgerkriege Theil zu nehmen und die innere Freiheit nie mit den Waffen zu behaupten, weder mit meiner Person noch mit meiner Billigung, wenn ich je wieder in mein Bürgerrecht eintreten sollte. Ich kann mir das Zeugnis ausstellen, daß ich diesen Schwur bei einer sehr bedenklichen Gelegenheit gehalten habe, und man wird mir, wie ich glaube, zugeben, daß in meiner Mäßigung etwas Verdienstliches lag.

Aber damals befand ich mich noch nicht in dieser ersten patriotischen Gährung, welche das unter Waffen stehende Genf in meinem Herzen erregte. Wie weit ich noch davon entfernt war, kann man einer sehr ernsten Thatsache entnehmen, die mir zur Last fällt. Ich habe sie an der richtigen Stelle zu berichten vergessen und hole sie hier nach, da sie hier nicht übergangen werden darf.

Mein Oheim Bernard war vor einigen Jahren nach Carolina übersiedelt, um dort den Bau der Stadt Charleston zu leiten, zu dem er den Plan entworfen hatte; kurz darauf war er dort gestorben. Mein armer Vetter war ebenfalls im Dienste des Königs von Preußen gestorben, und meine Tante verlor so ihren Mann und ihren Sohn fast zu gleicher Zeit. Diese Verluste belebten wieder ein wenig ihre Freundschaft für den nächsten Verwandten, der ihr in meiner Person geblieben war. So oft ich nach Genf ging, wohnte ich bei ihr und unterhielt mich damit, die Bücher und Papiere, welche mein Oheim hinterlassen hatte, zu durchfliegen und zu durchblättern. Ich fand unter ihnen viele merkwürdige Dinge und Briefe, die man sicherlich nicht vermuthet hätte. Meine Tante, welche auf diese Papiere wenig Werth legte, hätte sie mir, wenn ich den Wunsch ausgesprochen, sämmtlich gern überlassen. Ich begnügte mich mit zwei oder drei Büchern, welche Glossen und Zusätze von der eigenen Hand meines Großvaters, des Pfarrers Bernard, enthielten. Unter andern eignete ich mir die hinterlassenen Werke von Rochault in Quartformat an, die voll trefflicher Randbemerkungen waren, welche mir Lust und Liebe zur Mathematik einflößten. Dieses Buch ist unter denen der Frau von Warens zurückgeblieben; es hat mir stets Leid gethan, es nicht behalten zu haben. Außer diesen Büchern nahm ich noch fünf oder sechs handschriftliche Abhandlungen und eine einzige gedruckte von dem bekannten Micheli Ducret, einem sehr geistreichen, gelehrten und aufgeklärten, aber zu unruhigen Manne, der von dem Genfer Rathe eine höchst grausame Behandlung zu erdulden hatte. Er war unlängst in der Festung Arberg gestorben, wo er lange Jahre eingesperrt gewesen, weil er in die Berner Verschwörung verwickelt sein sollte.

Diese Abhandlung war eine sehr verständige Kritik jenes großen und lächerlichen Befestigungsplanes, den man in Genf theilweise ausgeführt hat, zum großen Gelächter der Fachleute, welche den geheimen Zweck nicht kennen, den der Rath bei der Ausführung dieses großartigen Unternehmens verfolgte. Weil Micheli wegen seines über diesen Plan ausgesprochenen Tadels von der Befestigungscommission ausgeschlossen worden war, hatte er geglaubt, als Mitglied der Zweihundert und schon als einfacher Bürger seine Ansicht darüber noch ausführlicher begründen zu dürfen, und das that er eben in dieser Abhandlung, die er unklugerweise hatte drucken, wenn auch nicht veröffentlichen lassen, denn er ließ nur die für die Zweihundert nöthigen Exemplare abziehen, welche jedoch auf Befehl des kleinen Raths auf der Post sämmtlich mit Beschlag belegt wurden. Diese Abhandlung nun fand ich unter den Papieren meines Oheims nebst der Erwiderung, welche er gegen sie abzufassen beauftragt worden war, und ich nahm die eine wie die andere an mich. Ich hatte diese Reise kurz nach meinem Austritt aus dem Kataster unternommen und war mit dem Advokaten Coccelli, welcher die Leitung desselben hatte, in einiger Verbindung geblieben. Einige Zeit darauf hatte der Director des Zollamts die Liebenswürdigkeit, mich zum Pathen seines Kindes zu wählen, und gab mir Frau Coccelli zur Mitgevatterin. Diese Ehrenerweisungen verdrehten mir den Kopf, und stolz, mit dem Herrn Advokaten in so naher Verbindung zu stehen, suchte ich mir einen Anstrich von Wichtigkeit zu geben, um mich dieser Ehre würdig zu zeigen.

Von diesem Gedanken ausgehend, glaubte ich nichts Besseres thun zu können, als ihm Micheli's gedruckte Abhandlung, welche wirklich eine Seltenheit war, zum Zeugnisse dafür vorzuweisen, daß ich mit den angesehensten Genfer Bürgern, welchen die Staatsgeheimnisse bekannt wären, in Verbindung stände. Mit einer halben Zurückhaltung, die ich schwerlich zu erklären im Stande wäre, zeigte ich ihm indessen nicht die Erwiderung meines Oheims gegen diese Abhandlung, vielleicht weil sie nur handschriftlich vorhanden war, und bei dem Herrn Advokaten nur Gedrucktes Anerkennung fand. Er erkannte jedoch den Werth des Schriftstückes, welches ich die Dummheit hatte ihm anzuvertrauen, so gut, daß ich es nie zurückerhalten oder auch nur wieder zu Gesicht bekommen konnte. Vollkommen von der Vergeblichkeit meiner Bemühungen überzeugt, machte ich mir deshalb ein Verdienst daraus, das Gestohlene in ein Geschenk zu verwandeln. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß er versucht hat, sich mit dieser mehr merkwürdigen als werthvollen Schrift am Turiner Hofe Ansehen zu erwerben, und große Mühe aufgewandt hat, sich auf eine oder die andere Weise Ersatz für das Geld zu verschaffen, welches ihm die Auftreibung desselben gekostet haben mußte. Glücklicherweise ist von allem, was im Schooße der Zukunft liegen kann, es am allerwenigsten wahrscheinlich, daß der König von Sardinien eines Tages Genf belagern werde. Da es jedoch nicht zu den Unmöglichkeiten gehört, werde ich meiner albernen Eitelkeit stets vorzuwerfen haben, daß ich die schwächsten Stellen dieses Platzes seinem ältesten Feinde aufgedeckt habe.

Auf diese Weise verlebte ich zwei oder drei Jahre zwischen Musik, Gesangstunden, Plänen und Reisen, unaufhörlich von einem zum andern schwankend mit dem lebhaften Wunsche, mich zu Einem zu entschließen, ohne zu wissen wozu, aber endlich doch nach und nach zum Studium hingezogen, da ich mit Schriftstellern verkehrte, von Literatur reden hörte und bisweilen selbst mit hinein zu reden wagte, wobei ich mir freilich mehr die äußere Einkleidung der Bücher als die Kenntnis ihres Inhalts zu eigen machte. Auf meinen Genfer Reisen besuchte ich im Vorübergehen von Zeit zu Zeit meinen alten lieben Freund Simon, welcher meinen Drang und Eifer mit den allerneusten Berichten aus der Gelehrtenrepublik nährte, die er aus Baillet oder Colamie's schöpfte. Auch verkehrte ich in Chambéry viel mit einem Jakobiner, einem Lehrer der Physik und höchst gutmüthigen Mönche, dessen Namen ich vergessen habe. Er machte oft kleine Experimente, die mir außerordentliche Freude machten. Ich wollte sein Beispiel befolgen und nach Anleitung von Ozanams »Mathematischen Belustigungen« sympathetische Tinte machen. Nachdem ich zu diesem Zwecke eine Flasche mehr als zur Hälfte mit ungelöschtem Kalk, Schwefelarsenik und Wasser gefüllt hatte, pfropfte ich sie fest zu. Die Gährung trat fast augenblicklich mit großer Heftigkeit ein. Ich lief nach der Flasche hin, um sie zu öffnen, war aber nicht schnell genug da; wie eine Bombe sprang sie mir ins Gesicht. Ich mußte Schwefelarsenik und Kalk hinunterwürgen, und wäre daran fast gestorben. Länger als sechs Wochen blieb ich blind und lernte auf diese Weise, mich nicht mit Experimentalphysik zu befassen, ohne ihre Anfangsgründe zu kennen.

Im Hinblick auf meinen Gesundheitszustand, der seit einiger Zeit merklich schlechter wurde, stieß mir dieser Unfall sehr zur Unzeit zu. Ich weiß nicht, woher es kam, daß ich trotz meiner kräftigen Statur und Vermeidung jeglicher Ausschweifung zusehends abnahm. Ich habe eine umfangreiche breite Brust, die meiner Lunge genügenden Spielraum gewähren muß; nichtsdestoweniger hatte ich kurzen Athem, fühlte mich bedrückt, seufzte unwillkürlich, litt an Herzklopfen, spuckte Blut und bekam das schleichende Fieber, das ich nie wieder verloren habe. Wie kann man in der Blüte der Jahre, ohne einen organischen Fehler, ohne durch eigene Schuld die Gesundheit zerstört zu haben, in einen solchen Zustand verfallen?

Der Degen nutzt die Scheide ab, pflegt man zu sagen. Das ist meine Geschichte. Meine Leidenschaften haben mir Lebenskraft gegeben und meine Leidenschaften haben mich getödtet. Was für Leidenschaften? wird man fragen. Nichtigkeiten, die kindischsten Sachen von der Welt, die mich aber in eine Aufregung versetzten, als hätte es sich um den Besitz der schönen Helena oder den Thron des Weltalls gehandelt. Zuerst die Frauen. Wenn ich eine besaß, so waren meine Sinne zwar ruhig, aber mein Herz war es nie. Mitten im Genusse verzehrte mich das Bedürfnis nach Liebe. Ich hatte eine zärtliche Mutter, eine theure Freundin, aber ich hatte eine Geliebte nöthig. Ich stellte mir diese an ihrer Stelle vor; ich rief mir, um mich selbst zu täuschen, ihr Bild unter tausenderlei Gestalten vor die Seele. Hätte ich mich, wenn ich Mama umarmte, dem Gedanken hingegeben, sie selbst in den Armen zu halten, so würden meine Umarmungen zwar nicht weniger lebhaft gewesen sein, aber all mein Verlangen wäre erloschen; ich hätte vor Zärtlichkeit geschluchzt, aber nicht genossen. Genießen! Ist der Mensch denn zum Genusse geschaffen? Ach, hätte ich alle Wonnen der Liebe je auch nur ein einziges Mal in meinem Leben in ihrer ganzen Fülle gekostet, ich glaube nicht, daß meine schwächliche Natur sie hätte aushalten können; ich wäre auf der Stelle gestorben.

Ich glühte also vor Liebe ohne Gegenstand, und vielleicht erschöpft sie auf diese Weise am meisten. Ich war unruhig, gequält durch die üble Lage der Verhältnisse meiner armen Mutter und durch ihre unkluge Wirtschaft, die ihren völligen Untergang in kurzer Zeit hervorrufen mußte. Meine unerträgliche Phantasie, die dem Unglück immer zuvoreilt, zeigte ihn mir unaufhörlich in seiner ganzen Furchtbarkeit und allen seinen Folgen. Ich sah mich schon im voraus durch die bittre Noth gewaltsam von der getrennt, der ich mein Leben geweiht und ohne die ich keine Freude am Dasein hatte. So war mein Gemüth in fortwährender Aufregung; Verlangen und Furcht verzehrten mich abwechselnd.

Die Musik war bei mir eine andere, zwar weniger heftige, aber nicht weniger verzehrende Leidenschaft wegen der Glut, mit der ich mich ihr hingab, wegen des beharrlichen Studiums der dunklen Werke Rameaus, wegen meiner unbezwinglichen Hartnäckigkeit, mein Gedächtnis mit dem, was ihm stets widerstrebte, zu belasten, wegen meiner fortwährenden Ausflüge und meiner unzähmbaren Sucht, wahre Berge von Musikalien zu sammeln, die mich antrieb oft ganze Nächte lang Noten abzuschreiben. Allein weshalb soll ich bei den fortdauernden Zuständen stehen bleiben, da alle Thorheiten, die durch meinen unbeständigen Kopf gingen, die flüchtigen Neigungen eines einzigen Tages, eine Reise, ein Concert, ein Abendessen, ein beabsichtigter Spaziergang, die Lectüre eines Romans, der Besuch einer Theatervorstellung, alles, was bei meinen Vergnügungen oder Geschäften in keiner Weise vorher bedacht war, für mich eben so heftige Leidenschaften wurden, die mir in ihrer lächerlichen Glut die größte Pein bereiteten? Die Lectüre der erdichteten Leiden Clevelands, über die ich gierig herfiel und oft unterbrechen mußte, hat mir, wie ich glaube, mehr schlechtes Blut gemacht, als meine eigenen.

In Chambéry lebte ein Genfer, Namens Bagueret, der unter Peter dem Großen eine Anstellung am russischen Hofe gehabt hatte, einer der elendesten Menschen und größten Narren, die ich je kennen gelernt habe, stets voller Pläne, die eben so toll waren wie er selbst. Er streute die Millionen nur so um sich her und ging mit den Nullen sehr freigebig um. Dieser Mensch, den ein beim höchsten Gerichte gegen ihn anhängig gemachter Proceß hierher getrieben hatte, bemächtigte sich selbstverständlich Mamas und preßte ihr für seine Schätze an Nullen, die er mit verschwenderischer Großmuth über sie ausschüttete, ihre wenigen Thaler Stück für Stück ab. Ich liebte ihn nicht, er bemerkte es, denn bei mir ist das nicht schwer zu erkennen, und nun gab es keine Art Kriecherei, die er nicht aufbot, mir zu schmeicheln. Er kam auf den Gedanken, mich im Schachspiel zu unterrichten, welches er ein wenig verstand. Ich machte fast wider Willen einen Versuch es zu lernen, und als ich erst die Züge der Figuren zur Noth begriffen hatte, machte ich so schnelle Fortschritte, daß ich ihm noch vor Ende der ersten Sitzung einen Thurm vorgab, den er mir am Anfange vorgegeben hatte. Mehr war bei mir nicht nöthig. Ich vergaß alles über das Schach. Ich kaufe ein Schachbrett, kaufe die Figuren, schließe mich in mein Zimmer ein, bringe Tage und Nächte damit zu, alle Züge auswendig zu lernen, sie wohl oder übel meinem Kopfe einzutrichtern und fort und fort allein zu spielen. Nach zwei oder drei Monaten dieser allerliebsten Arbeit und ganz undenkbarer Anstrengungen gehe ich abgemagert, gelb und fast stumpfsinnig nach dem Kaffeehause. Ich mache einen neuen Versuch und spiele wieder mit Herrn Bagueret; er besiegt mich einmal, zweimal, zwanzigmal; in meinem Kopfe hatten sich die vielen Berechnungen dergestalt verwirrt und meine Einbildungskraft war so erloschen, daß ich nur noch eine Wolke vor mir sah. So oft ich mich nach den Büchern Philidors oder Stamma's auf einzelne Züge habe einüben wollen, ist es mir in gleicher Weise ergangen; von Ermüdung erschöpft, fühlte ich mich schwächer als vorher. Ob ich übrigens das Schach eine Zeit lang ruhen ließ oder es mit Leidenschaft spielte, so bin ich doch seit dieser ersten Sitzung nie einen Schritt weiter gekommen, und ich habe mich stets auf demselben Punkte befunden, auf dem ich stand, als ich sie beendete. Und wenn ich mich Tausende von Jahrhunderten übte, würde ich es doch nie weiter bringen, als Bagueret einen Thurm vorgeben zu können. Das ist eine herrliche Anwendung der Zeit, wird man sagen. Ei ja, ich habe nicht wenig darauf verwendet. Ich endete diesen ersten Versuch erst, als ich nicht mehr die Kraft besaß ihn fortzusetzen. Als ich wieder aus meinem Zimmer unter die Menschen kam, hatte ich das Aussehen eines Ausgegrabenen, und hätte ich es so fortgetrieben, wäre ich nicht lange als ein Ausgegrabener umhergewandelt. Es ist, wie man zugeben wird, schwer, und zumal in der Zeit der vollsten Jugendkraft schwer, daß ein solcher Charakter den Körper stets in gesundem Zustande läßt.

Die Abnahme meiner Gesundheit wirkte auf meine Laune und mäßigte die Glut meiner Hirngespinste. Da ich mich schwächer fühlte, wurde ich ruhiger und verlor ein wenig meine Reisewuth. Häuslicher geworden, wurde ich nicht von Langeweile, sondern von Schwermuth erfaßt. Krankhafte Launen folgten auf die Leidenschaften; meine Abgespanntheit ging in Trübsinn über; ich weinte und stöhnte über nichts, ich fühlte mein Leben dahin schwinden, ohne es genossen zu haben; ich seufzte über den Zustand, in dem ich meine arme Mama lassen würde, über den, in welchen ich sie im Begriffe sah zu versinken; mein einziger Kummer war, wie ich dreist behaupten kann, sie in dem Augenblicke verlassen zu müssen, wo sie am beklagenswerthesten war. Endlich wurde ich ernstlich krank. Sie pflegte mich, wie nie eine Mutter ihr Kind gepflegt hat, und das war für sie selbst gut, da sie dadurch von ihren Entwürfen abgelenkt und von den Projectenmachern fern gehalten wurde. Welch ein süßer Tod, wäre er damals eingetreten! Hatte ich wenig von den Gütern des Lebens genossen, so hatte ich doch auch wenig von den Uebeln, die es mit sich bringt, erduldet. Meine friedliche Seele konnte ruhig heimgehen ohne alle Bitterkeit über die Ungerechtigkeit der Menschen, die das Leben und den Tod vergiftet. Ich hatte den Trost, mich in der bessern Hälfte meines Selbst zu überleben; das hieß kaum sterben. Ohne die Unruhe, die mir ihr Schicksal einflößte, wäre mein Tod ein ruhiges Hinüberschlummern gewesen, und selbst diese Unruhe hatte einen rührenden und zärtlichen Gegenstand, der ihre Bitterkeit milderte. Ich sagte zu ihr: »Mein ganzes Sein lege ich in deine Hand; handle so, daß es glücklich ist!« Zwei- oder dreimal, als ich mich am schlimmsten befand, litt es mich nicht länger im Bette, ich erhob mich des Nachts und schleppte mich in ihre Kammer, um ihr Rathschläge über ihre Handlungsweise zu geben, die, wie ich wohl sagen darf, richtig und vernünftig waren, und in denen sich der Antheil, den ich an ihrem Schicksale nahm, deutlicher zeigte, als alles andere. Als wären die Thränen meine Nahrung und mein Heilmittel gewesen, gewann ich Kraft durch die, welche ich, auf ihrem Bette sitzend und ihre Hände in den meinigen haltend, bei ihr und mit ihr weinte. Die Stunden flogen in diesen nächtlichen Unterredungen dahin, und ich kehrte in besserem Befinden, als ich gekommen war, von ihnen zurück. Zufrieden und durch ihre Versprechungen wie durch die Hoffnungen, die sie in mir erweckt, beruhigt, schlief ich ein mit Frieden im Herzen und voll Ergebung in die Vorsehung. Wolle Gott, daß nach so vielen Ursachen das Leben zu hassen, nach so vielen Stürmen, die das meinige bewegt und es mir zur Last gemacht haben, der Tod, der ihm ein Ende machen wird, mir ein eben so wenig grausamer sei, als er es mir in jenen Augenblicken gewesen wäre.

Durch ihre Pflege, Wachsamkeit und unglaubliche Mühe rettete sie mich, und es ist sicher, daß sie allein mich retten konnte. Ich habe wenig Vertrauen zu der Kunst der Aerzte, aber ein großes zu der der wahren Freunde. Das, wovon unser Glück abhängt, geschieht stets weit besser als alles andere. Giebt es im Leben ein köstliches Gefühl, so ist es das, welches wir empfanden, einander wiedergegeben zu sein. Unsere gegenseitige Anhänglichkeit nahm dadurch nicht zu, das war nicht möglich, aber sie nahm etwas, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, etwas noch Vertraulicheres, etwas in ihrer Einfachheit noch Rührenderes an. Ich wurde völlig ihr Werk, völlig ihr Kind, und mehr, als wenn sie meine wahre Mutter gewesen wäre. Wir fingen unbewußt an, uns nicht mehr von einander zu trennen, gewissermaßen unser ganzes Dasein als etwas zu einander Gehöriges zu betrachten, und fühlend, daß wir uns gegenseitig nicht allein nothwendig, sondern auch genügend wären, gewöhnten wir uns daran, an nichts außer uns Liegendes mehr zu denken, unser Glück und unsere Wünsche gänzlich auf diesen gegenseitigen und vielleicht unter den Sterblichen einzigen Besitz zu beschränken, der, wie gesagt, nicht der der Liebe, sondern ein weit zuverlässigerer Besitz war, der, ohne auf der Sinnlichkeit, dem Geschlecht und der Gestalt zu beruhen, das ganze Wesen umfaßte, und den man nur verlieren kann, wenn man aufhört zu sein.

Woran lag es, daß diese glückliche Wendung nicht ihr wie mein Glück für immer herbeiführte? Nicht an mir, dieses tröstliche Zeugnis kann ich mir geben; und eben so wenig trug sie die Schuld, wenigstens nicht mit Willen. Es stand geschrieben, daß die nicht zu überwindende Natur bald wieder ihre Herrschaft einnehmen sollte. Aber dieser unselige Rückschlag trat nicht plötzlich ein. Dank dem Himmel blieb eine Zwischenzeit, eine kurze, aber köstliche Zwischenzeit, die nicht durch meine Schuld ein Ende nahm, und die ich, wie ich mir mit gutem Gewissen nachsagen kann, nach bestem Vermögen ausgenutzt habe.

Obgleich von meiner schweren Krankheit genesen, hatte ich meine alte Lebenskraft doch nicht wiedergewonnen. Meine Brust war noch nicht wieder hergestellt; ein Ueberbleibsel des Fiebers hielt noch immer an und ermattete mich. Mein ganzes Sinnen war nur darauf gerichtet, mein Leben an der Seite der Frau zu beschließen, die mir theuer war, sie in ihren guten Entschlüssen zu erhalten, ihr begreiflich zu machen, worin der wahre Reiz eines glücklichen Lebens bestände und ihr Leben, so weit es von mir abhinge, in ein solches zu verwandeln. Aber ich sah ein, ich fühlte es sogar, daß die beständige Einsamkeit eines nur auf uns beide beschränkten Beisammenseins in einem düstern und langweiligen Hause schließlich auch langweilig werden würde. Wie von selbst zeigte sich ein Gegenmittel dawider. Mama hatte mir Milch verordnet und verlangte, ich sollte auf dem Lande eine förmliche Milchkur durchmachen. Ich willigte unter der Bedingung ein, daß sie mit mir auf das Land zöge. Mehr bedurfte es nicht, um sie dafür zu gewinnen; es handelte sich nur noch um die Wahl des Ortes. Der Garten in der Vorstadt gewährte nicht die Genüsse des Landlebens; von Häusern und andern Gärten umgeben, hatte er nicht den Reiz einer ländlichen Zurückgezogenheit. Nach Anets Tode hatten wir übrigens den Garten aus Gründen der Sparsamkeit wieder abgetreten, da wir uns nicht mehr mit der Zucht von Pflanzen beschäftigen wollten, und uns andere Absichten diesen Zufluchtsort nicht mehr begehrenswerth machten.

Indem ich nun den Widerwillen, den ich bei ihr gegen die Stadt fand, benutzte, schlug ich ihr vor, dieselbe ganz zu verlassen und uns in einer freundlichen, aber einsamen Gegend ansässig zu machen, in irgend einem Häuschen, welches durch seine Entfernung Hoffnung erweckte, lästige Besucher fern zu halten. Sie hätte es gethan, und dieser Entschluß, den ihr und mein guter Engel mir eingab, hätte uns wahrscheinlich glückliche und ruhige Tage bis zu dem Augenblicke gesichert, wo der Tod uns scheiden mußte. Aber eine solche Lebenslage war uns nicht beschieden. Mama sollte, nachdem sie ihr Leben in Ueberfluß zugebracht hatte, alle Sorgen der Armuth und des Elends durchmachen, um diese Welt mit weniger Schmerz verlassen zu können; und ich sollte eine Reihe von Leiden aller Art Über mich ergehen lassen, um dermaleinst jedem als Beispiel zu dienen, der aus reiner Liebe für das allgemeine Wohl und aus Gerechtigkeitssinn den Muth hat, den Menschen im Bewußtsein seiner Unschuld offen die Wahrheit zu sagen, ohne sich auf eine Partei zu stützen, ohne sich Anhänger verschafft zu haben, die im Stande waren, ihn zu schützen.

Eine unglückliche Rücksicht hielt sie ab. Sie wagte nicht, ihr garstiges Haus aufzugeben, aus Furcht, den Besitzer zu erzürnen. »Dein Plan eines zurückgezogenen Lebens ist reizend,« sagte sie zu mir, »und ganz nach meinem Geschmack; aber in dieser Zurückgezogenheit bedarf man des Unterhalts. Wenn ich mein Gefängnis verlasse, laufe ich Gefahr, mein Brot zu verlieren, und wenn es uns in den Wäldern fehlt, werden wir doch wieder in die Stadt zurückkehren müssen, um es dort zu suchen. Um es nicht erst nöthig zu haben, wollen wir sie nicht ganz verlassen. Bezahlen wir dem Grafen von Saint-Laurent diese kleine Pension, damit er mir die meinige läßt. Suchen wir irgend einen abgelegenen Versteck, weit genug von der Stadt, um in der Stille zu leben, und nahe genug, um jederzeit zu ihr gelangen zu können.« So geschah es denn. Nach kurzem Suchen übersiedelten wir nach Charmettes, einem zwar vor dem Thore von Chambéry gelegenen Gute des Herrn von Conzié, das aber trotzdem so versteckt und einsam lag, als wäre man hundert Meilen davon. Zwischen zwei ziemlich hohen, mit Wein bebauten Hügeln zieht sich ein kleines Thal von Norden nach Süden hin, auf dessen Grunde sich ein Bach zwischen Steinen und Bäumen hindurchwindet. Dieses Thal entlang liegen auf halber Bergeshöhe einzelne Häuser zerstreut in recht angenehmer Lage für jemand, der die Einsamkeit liebt. Nachdem wir zwei oder drei von diesen Häusern besichtigt hatten, wählten wir endlich das hübscheste, welches einem Herrn Noiret, einem im Dienst stehenden Edelmanne gehörte. Das Haus war sehr wohnlich. Vor demselben befand sich ein terrassenförmiger Blumengarten, über ihm ein Weingarten, unter ihm ein Obstgarten; gegenüber ein kleines Kastanienwäldchen, in geringer Entfernung eine Quelle; höher im Gebirge Wiesen zum Unterhalt des Viehs, kurz alles, was wir für die kleine Landwirthschaft, die wir treiben wollten, nöthig hatten. So weit ich mich zu erinnern vermag, nahmen wir gegen Ende des Sommers 1736 davon Besitz. Ich war am ersten Tage, als wir dort schliefen, außer mir vor Wonne. »O Mama,« sagte ich zu dieser theuren Freundin, indem ich sie umarmte und mit Thränen der Rührung und Freude benetzte, »hier ist die Heimat des Glückes und der Unschuld. Wenn wir hier nicht beides finden, brauchen wir es nirgends zu suchen.«Das Haus, welches Rousseau mit Frau von Warens in Charmettes bewohnte, trägt folgende Inschrift, die Herault de Sechelles im Jahre 1792 an ihm anbringen ließ, als er Bevollmächtigter des Convents im Departement Mont-Blanc war:
        Réduit par Jean-Jacques habité.
        Tu me rapelles son genie,
        Sa solitude, sa fierté
        Et ses malheurs et sa folie

        A la gloire, à la verité
        Il osa consacrer sa vie,
        Et fut toujours persécuté
        Ou par lui-même, ou par l'envie.



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