Jean-Jacques Rousseau
Rousseau's Bekenntnisse. Erster Theil
Jean-Jacques Rousseau

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1737–1741

Barillot, der im folgenden Winter von Italien zurückkehrte, brachte mir einige Bücher mit, unter andern den Bontempi und die Cartella per musica des Pater Banchieri, die mir Lust machten, mich mit der Geschichte der Musik und mit theoretischen Forschungen über diese schöne Kunst zu beschäftigen. Barillot blieb einige Zeit bei uns, und da ich vor einigen Monaten mündig geworden, so kamen wir überein, daß ich im nächsten Frühjahr nach Genf gehen sollte, um das Vermögen meiner Mutter oder wenigstens, bis man sichere Nachricht über den Verbleib meines Bruders hätte, den auf mich fallenden Theil zu verlangen. Dies geschah, wie beschlossen war. Ich ging nach Genf, mein Vater kam seinerseits dahin. Er kam schon längst wieder dahin, ohne daß man ihn deshalb belangte, obgleich der gegen ihn gefaßte Beschluß nicht aufgehoben war; da man aber seinen Muth achtete und seine Rechtlichkeit hoch schätzte, that man, als ob man seine Angelegenheit vergessen hätte. Dazu kam, daß die Behörden, die sich mit dem bald darauf zur Ausführung kommenden großen Plane trugen, die Bürgerschaft nicht vor der Zeit dadurch kopfscheu machen wollten, daß sie derselben ihre frühere Parteilichkeit in die Erinnerung zurückriefen.

Ich fürchtete, man würde mir des Religionswechsels wegen Schwierigkeiten machen, was man jedoch nicht that. Die Genfer Gesetze sind in dieser Hinsicht weniger hart als die von Bern, wo jeder, der seinen Glauben ändert, nicht allein Heimatsrecht, sondern auch sein Vermögen verliert. Das meinige wurde mir also nicht streitig gemacht, war aber, wie sich zeigte, aus einem mir unbekannten Grunde sehr vermindert. Obgleich man von dem Tode meines Bruders ziemlich überzeugt war, hatte man doch keinen gerichtlichen Beweis dafür. Es fehlte mir an genügenden Rechtsansprüchen, um seinen Theil zu beanspruchen, und ich überließ ihn meinem Vater gern als Unterstützung, der auch, so lange er lebte, die Nutznießung davon hatte. Sobald die gerichtlichen Formalitäten beendet waren und ich mein Geld empfangen hatte, legte ich einen Theil davon in Büchern an und eilte, den Rest Mama zu Füßen zu legen. Unterwegs klopfte mir das Herz vor Lust, und der Augenblick, in welchem ich dieses Geld in Mama's Hände niederlegte, erfüllte mich mit tausendmal größerer Freude als jener, in welchem es den meinigen übergeben wurde. Sie nahm es mit jener Einfachheit schöner Seelen, die, da sie ohne Ueberwindung eben so handeln, auch nichts Bewunderungswürdiges darin finden. Dieses Geld wurde fast ganz für mich verwandt und zwar mit der nämlichen Einfachheit. Es würde genau dieselbe Verwendung gefunden haben, wäre es ihr von anderer Seite zugegangen.

Meine Gesundheit war indessen noch immer nicht wieder hergestellt; ich schwand im Gegentheile sichtlich dahin; ich war blaß wie der Tod und mager wie ein Gerippe. Das Pulsiren in meinen Adern war furchtbar, das Herzklopfen schneller, ich litt unaufhörlich an Brustbeklemmungen, und meine Schwäche nahm endlich dergestalt zu, daß ich mich kaum noch zu bewegen vermochte. Ich konnte meine Schritte nicht beschleunigen, ohne zu ersticken, ich konnte mich nicht bücken, ohne schwindlig zu werden, ich konnte nicht die leiseste Last aufheben; ich war zu der für einen so unruhigen Menschen, wie ich bin, qualvollsten Unthätigkeit gezwungen. Sicherlich gesellten sich zu dem allen noch viele hypochondrische Zufälle. Die Hypochondrie ist die Krankheit glücklicher Leute, an ihr litt ich. Die Thränen, die ich oft ohne alle Ursache zum Weinen vergoß, das heftige Zusammenfahren beim Rauschen eines Baches oder bei dem Auffliegen eines Vogels, die ungleiche Gemüthsstimmung in der friedlichen Stimmung des glücklichsten Lebens, alles dies verrieth diese Langeweile des Wohlbefindens, bei welcher die Empfindlichkeit gleichsam in die wunderlichste Reizbarkeit ausartet. Wir sind so wenig zum irdischen Glücke geschaffen, daß notwendigerweise die Seele oder der Körper leiden muß, wenn sie nicht alle beide leiden, und daß der gesunde Zustand des einen dem andern fast immer zum Nachtheil gereicht. Als ich das Leben hätte genießen können, ließ es meine verfallende Maschine nicht zu, ohne daß man im Stande gewesen wäre, den eigentlichen Sitz meines Leidens anzugeben. Trotz des höheren Alters und sehr fühlbarer und schwerer Leiden scheint mein Körper späterhin wieder Kräfte gewonnen zu haben, um mein Unglück desto stärker zu empfinden; und jetzt, wo ich dies schreibe, gebrechlich und fast sechzigjährig, von allerlei Schmerzen gedrückt, fühle ich mehr Lebenskraft und Muth zum Leiden in mir, als ich in der Blüte meines Alters und im Schooße des wahrsten Glückes zum Genießen besaß.

Um das Maß voll zu machen, hatte ich, nachdem ich ein wenig Physiologie in den Kreis meiner Lectüre hineingezogen, mich auf das Studium der Anatomie geworfen und mir dadurch einen Ueberblick über die Menge und Wirksamkeit der Theile, die meine Maschine bildeten, erworben. Zwanzigmal machte ich mich nun täglich darauf gefaßt, dies alles in Unordnung kommen zu fühlen. Ich staunte nicht etwa darüber, daß ich todtkrank wäre, sondern nur, daß ich noch immer leben könnte, und ich las nicht die Beschreibung einer einzigen Krankheit, ohne sie für die meinige zu halten. Ich bin vollkommen überzeugt, wäre ich nicht schon krank gewesen, würde ich es durch dieses unselige Studium geworden sein. Da ich bei jeder Krankheit Symptome der meinigen erkannte, glaubte ich sie alle zu haben, und zog mir auch noch eine weit schmerzlichere zu, von der ich mich frei geglaubt hatte, nämlich die Lust, wieder gesund zu werden. Es ist schwer, sie von sich fern zu halten, wenn man sich an die Lectüre medicinischer Bücher macht. Unter emsigen Forschungen, Ueberlegungen und Vergleichungen setzte sich der Gedanke in mir fest, der Grund meines Leidens wäre ein Herzpolyp, und selbst Salomon schien von diesem Gedanken betroffen. Vernünftigerweise hätte diese Annahme dazu beitragen müssen, mich in meinem früheren Entschlusse zu bestärken. Das war nicht der Fall. Ich spannte alle Kräfte meines Geistes an, um ein Mittel zur Heilung eines Herzpolypens ausfindig zu machen, entschlossen, mich einer solchen Wunderkur zu unterziehen. Auf einer Reise, welche Anet nach Montpellier unternommen hatte, um den dortigen botanischen Garten und den praktischen Lehrer an demselben, Herrn Sauvages, kennen zu lernen, hatte man ihm erzählt, daß Herr Fizes einen solchen Polypen geheilt hätte. Mama erinnerte sich dessen und sprach mit mir davon. Mehr war nicht nöthig, um den Wunsch in mir zu erregen, Herrn Fizes um Rath zu fragen. Die Hoffnung auf Genesung erfüllte mich wieder mit Muth und Kraft, die Reise zu wagen. Das in Genf erhaltene Geld gewährte die Mittel dazu. Mama sucht es mir nicht etwa auszureden, sondern ermuntert mich dazu; und siehe da, ich mache mich auf den Weg nach Montpellier.

Ich hatte nicht nöthig so weit zu gehen, um den Arzt zu finden, dessen ich bedurfte. Da mich das Reiten zu sehr angriff, hatte ich in Grenoble einen Wagen genommen. Bei meinem Einzüge in Moirans fuhren fünf oder sechs andere Wagen in einer Reihe hinter dem meinigen her. Das war ja wahrhaftig wie jene Geschichte mit den Sänften! Die meisten dieser Wagen gehörten zum Geleit einer Neuvermählten, einer Frau Du Colombier. In ihrer Begleitung war eine andere Dame, Frau von Larnage, weniger jung und schön als Frau Du Colombier, aber nicht weniger liebenswürdig, welche von Romaes, wo jene blieb, noch bis zum Flecken Saint-Andiol, in der Nähe von Pont-Saint-Esprit, weiterreisen mußte. Bei der Schüchternheit, die man an mir kennt, wird man annehmen, daß meine Bekanntschaft mit diesen hochstehenden Damen und ihrer Umgebung nicht so bald geschlossen war; allein da wir den gleichen Weg hatten, in den gleichen Gasthäusern abstiegen, und ich, wenn ich nicht für einen Griesgram gelten wollte, gezwungen war, an der gleichen Tafel zu erscheinen, so mußte diese Bekanntschaft doch endlich gemacht werden. Sie wurde also gemacht und sogar früher, als ich gewünscht hätte, denn all dieser Lärm eignete sich nicht für einen Kranken und vollends nicht für einen Kranken in meiner Stimmung. Aber die Neugier macht diese Frauenzimmer so einnehmend, daß sie, um zur Bekanntschaft eines Mannes zu gelangen, damit anfangen, ihm den Kopf zu verdrehen. So ging es mir. Frau Du Colombier, die von ihren jungen Anbetern zu sehr umschwärmt war, hatte freilich keine Zeit, ihre Kunst an mir zu versuchen, was, da wir ja bald wieder von einander scheiden sollten, sich überdies nicht der Mühe lohnte; aber Frau von Larnage, die weniger umlagert wurde, mußte daran denken, sich für die Weiterreise zu versehen. So sucht Frau von Larnage denn mit mir anzubinden, und nun ist es vorbei mit dem armen Jean-Jacques, oder vielmehr mit dem Fieber, der Hypochondrie und dem Polypen. In ihrer Nähe weicht alle Krankheit von mir, nur ein eigenthümliches Herzklopfen will nicht schwinden, und sie macht auch gar keine Anstalten, mich davon zu heilen. Gespräche über meinen leidenden Gesundheitszustand waren die erste Veranlassung zu unserer Bekanntschaft. Man sah, daß ich krank war; man wußte, daß ich nach Montpellier ging, und meine Miene und mein Auftreten mußten wohl auf keinen Wüstling schließen lassen, denn späterhin wurde es klar, daß man mich nicht im Verdacht gehabt hatte, ich ginge dorthin, um gegen gewisse ansteckende Krankheiten Heilung zu suchen. Obgleich ein krankhafter Zustand für einen Herrn bei Damen keine große Empfehlung ist, machte er mich doch den meinigen interessant. Des Morgens ließen sie sich nach mir erkundigen und mich einladen, die Chocolade bei ihnen zu trinken; sie fragten mich noch persönlich, wie ich die Nacht zugebracht hätte. Nach meiner löblichen Gewohnheit, zu sprechen ohne zu denken, erwiderte ich einmal, ich wüßte es nicht. Diese Antwort brachte sie auf den Gedanken, ich müßte verrückt sein. Sie fragten mich deshalb weitläuftiger aus, und dieses Examen schadete mir nicht. Ich hörte Frau Du Colombier einmal zu ihrer Freunden sagen: »Es fehlt ihm an Lebensart, aber er ist liebenswürdig.« Dieses Wort flößte mir Zuversicht ein und machte, daß ich es wirklich wurde.

Als wir so vertrauter mit einander wurden, mußte jeder von sich reden, angeben, woher er käme und wer er wäre. Dies setzte mich in Verlegenheit, denn ich wußte recht gut, daß mich unter Edelleuten und anmuthigen Damen das Wort Convertit vernichten mußte. Ich weiß nicht, aus welcher wunderlichen Laune ich auf den Einfall gerieth, die Rolle eines Engländers zu spielen. Ich gab mich für einen Jakobiten aus und man erkannte mich als solchen an; ich nannte mich Dudding und man redete mich Master Dudding an. Ein verwünschter Marquis von Torignan, der sich auch in der Gesellschaft befand, krank wie ich, außerdem noch alt und übellaunig, setzte es sich in den Kopf, mit Master Dudding ein Gespräch anzuknüpfen. Er redete mit mir vom Könige Jakob, vom Prätendenten, vom alten Hofe von Saint-Germain. Ich saß wie auf Kohlen. Von dem allen wußte ich nur das Wenige, was ich im Grafen Hamilton und in den Zeitungen gelesen hatte; indessen machte ich von diesem Wenigen so guten Gebrauch, daß ich mich leidlich aus der Sache zog, glücklich darüber, daß niemand darauf verfallen war, mich über die englische Sprache zu fragen, von der ich nicht ein Sterbenswörtchen verstand.

Die ganze Gesellschaft hatte Gefallen an einander und sah mit Bedauern dem Augenblick der Trennung entgegen. Wir machten Tagereisen, als wären wir Schnecken gewesen. An einem Sonntage befanden wir uns in Saint-Marcellin. Frau von Larnage wollte in die Messe gehen, und ich begleitete sie; das hätte beinahe alles wieder verdorben. Ich benahm mich wie immer. Nach meiner ehrbaren und andächtigen Haltung hielt sie mich für scheinheilig und faßte von mir die schlechteste Meinung von der Welt, wie sie mir zwei Tage später gestand. Ich mußte nachher viele Galanterien verschwenden, um diesen schlechten Eindruck wieder zu verwischen, oder Frau von Larnage wollte vielmehr als Frau von Erfahrung, die nicht leicht den Muth verlor, gern die Gefahr ihres Entgegenkommens laufen, um zu sehen, wie ich mich aus der Sache ziehen würde. Sie erwies mir so viele und so große Aufmerksamkeiten, daß ich, weit entfernt mir auf mein Aeußeres etwas einzubilden, mich dem Glauben hingab, sie wollte sich über mich lustig machen. Es gab keinerlei Dummheiten, die ich in diesem thörichten Gedanken nicht beging; ich war schlimmer als der Marquis Du Legs. Frau von Larnage hielt Stand, schäkerte unaufhörlich mit mir und sagte mir so zärtliche Dinge, daß auch ein weniger dummer Mann Mühe gehabt hätte, dies alles für Ernst zu halten. Je mehr sie sich um mich bemühte, desto mehr bestärkte sie mich in meinem Gedanken, und was mich noch mehr quälte, war, daß ich offen gesagt mich ernstlich in sie verliebte. Ich sagte zu mir selbst und sagte seufzend zu ihr: »Ach, weshalb ist dies alles nicht wahr! Ich würde der Glücklichste der Menschen sein!« Ich glaube, daß meine Novizeneinfalt ihre Verliebtheit erst recht anstachelte; sie wollte ihre Absicht entschieden durchsetzen.

Wir hatten Frau Du Colombier und ihr Gefolge in Romans verlassen. Auf die langsamste und angenehmste Art von der Welt setzten wir, Frau von Larnage, der Marquis von Torignan und ich, unsere Reise fort. Obgleich krank und mürrisch, war der Marquis doch ein ziemlich gutmüthiger Mann, der aber bei Bratenduft sein Brot nicht gern trocken aß. Frau von Larnage verhehlte ihre Liebe zu mir so wenig, daß er sie früher entdeckte als ich. Schon seine boshaften Spöttereien allein hätten mir die Zuversicht einflößen müssen, die ich auf die Gewogenheit der Dame nicht zu gründen wagte, wenn ich mir nicht in einer nur mir eigenen Verschrobenheit eingebildet hätte, daß sie im gegenseitigen Einverständnisse darauf ausgingen, mich zu foppen. Diese dumme Vorstellung verrückte mir vollends den Kopf und ließ mich die albernste Rolle spielen und noch dazu in einer Lage, in der mich mein verliebtes Herz zu einer glänzenderen hätte begeistern müssen. Ich begreife nicht, wie sich Frau von Larnage nicht durch mein widerwärtiges Wesen zurückschrecken ließ und mich nicht mit der äußersten Verachtung verabschiedete. Allein sie war eine geistreiche Frau, die sich auf die Menschen verstand und recht wohl einsah, daß in meinem Benehmen mehr Albernheit als Kälte lag.

Endlich brachte sie es dahin, sich mir verständlich zu machen, und zwar nicht ohne Mühe. Wir hatten das Mittagsessen in Valence eingenommen und brachten nun nach unserer löblichen Gewohnheit den Rest des Tages daselbst zu. Wir waren außerhalb der Stadt in Saint-Jacques abgestiegen; ich werde mich immer dieses Gasthauses wie des Zimmers erinnern, welches Frau von Larnage in demselben bewohnte. Nach dem Essen wollte sie lustwandeln. Sie wußte, daß der Marquis nicht gern spazieren ging; deshalb war es ein Mittel, sich eine Unterredung unter vier Augen zu verschaffen, die sie zu benutzen entschlossen war, denn es war keine Zeit mehr zu verlieren, wollten wir noch Zeit übrig behalten, sie zu genießen. Wir gingen die Gräben entlang um die Stadt herum. Ich begann von neuem die ganze Litanei meiner Klagen, auf welche sie, meinen Arm, den sie hielt, bisweilen an ihr Herz drückend, mit einem so zärtlichen Tone antwortete, daß eine Dummheit wie die meinige dazu gehörte, um nicht zu begreifen, daß sie im vollen Ernste spräche. Köstlich war dabei, daß ich selbst außerordentlich gerührt war. Sie war, wie gesagt, liebenswürdig; die Liebe machte sie bezaubernd; sie verlieh ihr wieder den vollen Glanz der ersten Jugend und sie umstrickte mich mit ihren Liebkosungen mit einer solchen Gewandtheit, daß sie auch den erfahrensten Mann verführt haben würde. Ich gerieth also in große Verlegenheit; ich stand immer auf dem Punkte, mir Freiheiten herauszunehmen; aber die Furcht zu beleidigen oder zu mißfallen, die noch größere Angst verhöhnt, verlacht, aufgezogen zu werden, Stoff zu einer Tafelanekdote zu geben und von dem unbarmherzigen Marquis über meinen Unternehmungseist beglückwünscht zu werden, legten mir eine derartige Rückhaltung auf, daß ich mich über meine alberne Verschämtheit selber ärgerte und sie nicht zu überwinden im Stande war, obgleich ich sie mir zum Vorwurf machte. Ich war wie auf der Folter; ich konnte meine bisherigen schmachtenden Redensarten, deren ganze Lächerlichkeit auf einem so schönen Wege ich sehr wohl fühlte, nicht mehr über die Lippen bringen. Da ich nicht mehr wußte, welche Haltung ich annehmen noch was ich sagen sollte, schwieg ich; ich machte ein verdrießliches Gesicht, kurz ich that alles, was nöthig war, um mir die befürchtete Behandlung wirklich zuzuziehen. Glücklicherweise bewies sich Frau von Larnage menschlicher. Sie unterbrach plötzlich dieses Stillschweigen, indem sie einen Arm um meinen Hals schlang, und zugleich sprach ihr Mund auf dem meinigen zu deutlich, um mich in meinem Irrthume zu lassen. Die Entsendung konnte nicht rechtzeitiger eintreten. Ich wurde liebenswürdig, und es war Zeit. Sie hatte mich mit der Zuversicht erfüllt, deren Mangel mich fast stets gehindert hat, mich zu geben, wie ich bin. Nun that ich es. Nie haben meine Augen, meine Sinne, mein Herz und mein Mund so lebhaft geredet; nie habe ich mein Unrecht so vollkommen gesühnt; und hatte diese kleine Eroberung der Frau von Larnage Mühe gemacht, so hatte ich dafür Ursache zu glauben, daß sie sie nicht bereut hat.

Wenn ich hundert Jahre lebte, würde ich mich nie ohne Vergnügen an diese bezaubernde Frau erinnern. Ich sage bezaubernd, obgleich sie weder jung noch schön war; da sie jedoch auch weder häßlich noch alt war, hatte sie nichts in ihrem Aeußern, was ihren Geist und ihre Anmuth gehindert hätte, sich geltend zu machen. Ganz im Gegensatz zu andern Frauen war das Gesicht an ihr am wenigsten frisch; und ich glaube, daß das aufgelegte Roth es ihr verdorben hatte. Sie hatte ihre Gründe, schwach und hingebend zu sein; es war das Mittel, ihren ganzen Werth zu erkennen zu geben. Man konnte sie sehen, ohne sie zu lieben, aber sie nicht besitzen, ohne sie anzubeten. Das scheint mir zu beweisen, daß sie mit ihrer Gunst nicht immer so verschwenderisch gewesen, wie sie gegen mich war. Ihre Liebe war zu schnell entstanden und war zu leidenschaftlich, um entschuldbar zu sein, aber sie war dabei eben so sehr dem Zuge ihres Herzens wie ihrer Sinnlichkeit gefolgt: und während der kurzen und köstlichen Zeit, die ich an ihrer Seite verlebte, hatte ich nach der Mäßigung, die sie mir auferlegte, Grund anzunehmen, daß sie, so sinnlich und wollüstig sie auch war, doch noch mehr meine Gesundheit als ihren Genuß im Auge hatte.

Unser Einverständnis entging dem Marquis nicht. Ich war deshalb nicht weniger sein Stichblatt; im Gegentheil, er behandelte mich mehr als je wie einen armen schüchternen Liebhaber, wie einen Märtyrer der Grausamkeit seiner Dame. Nie entschlüpfte ihm ein Wort, ein Lächeln, ein Blick, aus dem ich hätte Verdacht schöpfen können, daß er uns errathen, und ich würde ihn für den von uns Getäuschten gehalten haben, wenn mir Frau von Larnage, die besser als ich sah, nicht gesagt hätte, er wäre nicht hintergangen, wäre aber ein Ehrenmann. Wirklich hätte man keine artigeren Aufmerksamkeiten bezeigen und sich nicht höflicher benehmen können, als er es immer, selbst gegen mich, that, wenn ich von seinen Neckereien absehe, namentlich von dem Augenblicke meines Erfolges an. Er schrieb mir vielleicht die Ehre desselben zu und hielt mich für weniger dumm, als ich ausgesehen hatte. Wie man gesehen, war er im Irrthum; aber was that es, er kam mir zu Gute, und da ich die Lacher einmal auf meiner Seite hatte, so gab ich mich willig und mit ziemlich guter Miene zur Zielscheibe seiner Spöttereien her und gab sie ihm auch mitunter in gleicher Münze zurück, ganz stolz darauf, in Frau von Larnage's Gegenwart den Geist zu Ehren zu bringen, den sie mir eingehaucht hatte. Ich war nicht mehr derselbe Mensch.

Wir waren in einem Lande und in einer Jahreszeit reicher Tafelfreuden. Dank der Fürsorge des Marquis war die Bewirthung überall vorzüglich. Gleichwohl hätte ich gern darauf Verzicht geleistet, daß er sie auch bis auf unsere Zimmer ausdehnte; aber er schickte seinen Diener voraus, um sie zu belegen, und dieser Schuft brachte, sei es nun aus eigenem Antriebe oder auf Befehl seines Herrn diesen stets neben Frau von Larnage unter, während er mich in das andere Ende des Hauses steckte. Aber das setzte mich nicht leicht in Verlegenheit, und unsere Rendezvous gewannen dadurch nur an Reiz. Dieses wonnevolle Leben währte vier oder fünf Tage, während deren ich mich an den süßesten Genüssen berauschte. Die Seligkeit, die ich empfand, war rein, tief und ohne irgend eine Beimischung von Schmerz. Es sind die ersten und die einzigen Freuden, die ich in solcher Weise genossen habe; und ich kann sagen, daß ich es Frau von Larnage verdanke, wenn ich nicht sterbe, ohne die Sinnenlust kennen gelernt zu haben.

Wenn das, was ich für sie empfand, nicht gerade Liebe war, so war es wenigstens eine so zärtliche Erwiderung der Liebe, die sie mir an den Tag legte, es war eine im Genuß so glühende Sinnlichkeit und eine in unsern Unterhaltungen so innige Vertraulichkeit, daß es allen Reiz der Leidenschaft besaß, ohne etwas von ihrer Raserei an sich zu haben, die nur den Kopf verdreht und den Genuß aufhebt. Ich habe nur einmal in meinem Leben wahre Liebe empfunden, und das war nicht an ihrer Seite. Ich liebte sie auch nicht, wie ich Frau von Warens geliebt hatte und noch immer liebte; aber gerade um deswillen besaß ich sie hundertmal mehr. Bei Mama war mein Genuß stets durch ein Gefühl von Traurigkeit, durch einen geheimen Druck auf dem Herzen getrübt, von dem ich mich nicht so leicht wieder frei machen konnte, statt mich ihres Besitzes wegen glücklich zu schätzen, warf ich mir vor, sie herabzuziehen. Bei Frau von Larnage dagegen überließ ich mich freudig und zuversichtlich der Sinnlichkeit, stolz darauf ein Mann zu sein und an ihrer Seite glücklich zu werden; ich theilte den Eindruck, den ich auf ihre Sinne ausübte; ich blieb meiner Herr genug, um mit eben so großer Eitelkeit wie Wollust meinen Triumph anzuschauen und ihn dadurch zu verdoppeln.

Ich erinnere mich nicht des Ortes, an dem der Marquis, welcher aus der Gegend war, von uns schied; aber wir befanden uns, ehe wir Montelimar erreichten, allein, und von da an brachte Frau von Larnage ihre Kammerfrau in meinem Wagen unter, während ich bei ihr in dem ihrigen fuhr. Ich kann versichern, daß uns die Reise auf diese Weise nicht langweilig wurde, und ich würde schwerlich im Stande sein, die Gegend, durch die wir kamen, zu beschreiben. In Montelimar wurde sie von Geschäften drei Tage festgehalten, während deren sie mich trotzdem nur eine Viertelstunde verließ, um einen Besuch zu machen, der unangenehme Belästigungen und Einladungen zur Folge hatte, die sie sich anzunehmen hütete. Sie schützte Unwohlsein vor, welches uns jedoch nicht hinderte, täglich in der schönsten Gegend und unter dem schönsten Himmel von der Welt für uns allein spazieren zu gehen. Ach, diese drei Tage! Ich habe oft Ursache gehabt, sie mir zurückzuwünschen. Aehnliche habe ich nie wieder erlebt.

Reiseliebschaften sind nicht für die Dauer berechnet. Wir mußten uns trennen, und ich gestehe, daß es Zeit war, nicht, daß ich gesättigt oder nahe daran gewesen wäre, es zu werden; ich schloß mich vielmehr jeden Tag enger an sie an; aber trotz alles Maßhaltens der Dame blieb mir nicht mehr viel übrig als der gute Wille.Var. . . . als der gute Wille, und ehe wir uns trennten, wollte ich diesen Ueberrest noch ausnutzen, was sie aus Vorsicht gegen die Mädchen von Montpellier auch duldete. Wir bemühten uns durch Entwerfung von Plänen eines baldigen Wiedersehens unsern Schmerz zurückzudrängen. Es wurde beschlossen, daß ich diese Lebensweise, die mir jedenfalls gut that, fortsetzen und den Winter unter Oberaufsicht der Frau von Larnage in dem Flecken Saint-Andiol zubringen sollte. In Montpellier sollte ich nur fünf oder sechs Wochen bleiben, um ihr Zeit zu lassen, alles so vorzubereiten, daß den Klatschereien vorgebeugt würde. Sie gab mir umfassende Verhaltungsbefehle über das, was ich wissen mußte, über das, was ich sagen sollte, über die Art und Weise, wie ich mich zu benehmen hatte. Mittlerweile wollten wir uns schreiben. Sie hielt mir lange und sehr ernst gemeinte Vorträge über die Pflege meiner Gesundheit; ermahnte mich, ja recht geschickte Leute um Rath zu fragen, recht aufmerksam auf alle ihre Verordnungen zu sein, und übernahm es, während meines Aufenthaltes bei ihr für meine pünktliche Befolgung ihrer Vorschriften zu sorgen, so streng sie auch immer sein würden. Ich glaube, sie meinte es aufrichtig, denn sie liebte mich; sie gab mir tausend Beweise davon, die zuverlässiger, als ihre Gunstbezeigungen waren. Aus meiner Ausstattung schloß sie, daß ich nicht im Überfluß schwimmen konnte. Obgleich sie selbst nicht reich war, wollte sie mich bei unserem Scheiden durchaus zwingen, ihre Börse zu theilen, die sie von Grenoble ziemlich reich gespickt mitbrachte, und ich konnte sie nur mit großer Mühe davon abbringen. Endlich trennte ich mich von ihr, das Herz voll von ihrem Bilde und eine wahre Zuneigung, wie ich glaube, in ihr hinterlassend.

Ich beendete meine Reise, während ich sie in der Erinnerung noch einmal durchmachte, und jetzt sehr zufrieden, in einem guten Wagen zu sitzen, weil ich mit noch größerem Behagen von den genossenen Freuden und denen, die mir verheißen waren, träumen konnte. Ich dachte nur an Saint-Andiol und an das reizende Leben, das meiner dort wartete; ich sah nur Frau von Larnage und ihre Umgebung; das ganze übrige Weltall war für mich nichts, selbst Mama war vergessen. Ich beschäftigte mich damit, in meinem Kopfe alle die Einzelheiten zusammenzustellen, in welche mich Frau von Larnage eingeweiht hatte, um mir im voraus eine Vorstellung von ihrer Wohnung, ihrer Nachbarschaft, ihrem Verkehrskreise, ihrer ganzen Lebensweise zu geben. Sie hatte eine Tochter, von der sie mir sehr oft wie eine blind eingenommene Mutter erzählt hatte. Diese Tochter stand im sechszehnten Jahre, war lebhaft, reizend und von liebenswürdigem Charakter. Man hatte mir versprochen, ich würde von ihr auf Händen getragen werden, und ich war sehr neugierig mir vorzustellen, wie Fräulein von Larnage den guten Freund ihrer Mama behandeln würde. Das waren die Gegenstände meiner Träumereien von Pont-Saint-Esprits bis nach Remoulin. Man hatte mich zur Besichtigung des Pont du Gard aufgefordert, was ich nicht zu thun verabsäumte. Nachdem ich einige vorzügliche Feigen zum Frühstück gegessen hatte, nahm ich mir einen Führer und machte mich auf den Weg, mir den Pont du Gard anzusehen. Es war das erste Römerwerk, das ich sah. Ich hatte erwartet, ein Baudenkmal zu sehen, würdig der Hände, die es errichtet hatten. Aber dieses Werk übertraf meine Erwartung, und das war das einzige Mal in meinem Leben. Die Römer allein waren im Stande, eine solche Wirkung hervorzubringen. Der Anblick dieses einfachen und großartigen Werkes überwältigte mich um so mehr, weil es inmitten einer Einöde liegt, wo die Stille und Einsamkeit das Werk großartiger erscheinen lassen und die Bewunderung um so lebhafter machen, denn diese sogenannte Brücke war nur eine Wasserleitung. Man fragt sich, welche Macht diese ungeheuren Steine, so weit von jedem Steinbruch entfernt, hierher geschafft und die Arme von so vielen Tausenden von Menschen in einer unbewohnten Gegend zusammengebracht hat. Ich durchstreifte die drei Stockwerke dieses großartigen Gebäudes, auf welches die Ehrfurcht mir beinahe die Füße zu setzen verbot. Der Wiederhall meiner Schritte unter diesen unermeßlichen Gewölben kam mir wie die gewaltige Stimme ihrer Erbauer vor. Ich verlor mich wie ein Insekt in dieser Unermeßlichkeit. Ich hatte, so klein ich mich auch machte, ein eigenthümliches Gefühl, das mir die Seele erhob, und seufzend sagte ich zu mir: »Ach, daß ich nicht als Römer geboren bin!« Mehrere Stunden blieb ich dort in einer entzückenden Betrachtung. Ich kehrte zerstreut und träumerisch von dort zurück, und diese Träumerei war der Frau von Larnage nicht günstig. Sie hatte wohl daran gedacht, mich gegen die Mädchen von Montpellier zu schützen, aber nicht gegen den Pont du Gard. Man denkt nie an alles.

In Nimes suchte ich die Arena auf. Sie ist ein weit prächtigeres Bauwerk als der Pont du Gard und machte trotzdem einen weit geringeren Eindruck auf mich, sei es nun, daß sich meine Bewunderung bei dem ersten Gegenstande erschöpft hatte, oder auch die Lage der Arena mitten in einer Stadt weniger geeignet war, sie hervorzurufen. Dieses weite und wunderbar schöne Amphitheater ist von elenden kleinen Häusern umringt, und andere noch elendere und noch kleinere Häuser füllen überdies das Innere desselben aus, so daß das Ganze einen ungleichartigen und verworrenen Anblick gewährt, bei welchem der Aerger und die Entrüstung das Vergnügen und das Erstaunen zurückdrängen. Ich habe seitdem das Amphitheater von Verona gesehen, das ungleich kleiner und weniger schön als das von Nimes ist, aber mit pietätsvollstem Kunstsinn und größter Sauberkeit im Stande erhalten wird, wodurch es auf mich einen weit stärkeren und angenehmeren Eindruck ausübte. Die Franzosen sorgen für nichts und haben vor keinem Monument Achtung. Während sie beim Beginnen ganz Feuer sind, wissen sie nichts zu Ende zu führen, noch zu unterhalten.

Ich hatte mich in so hohem Grade verändert und meine in Thätigkeit versetzte Sinnlichkeit war dergestalt erregt, daß ich einen Tag in Pont de Lunel verweilte, um mit der Gesellschaft, die sich dort aufhielt, eine gute Tafel zu führen. Dieses Wirthshaus, das bekannteste in Europa, verdiente damals seinen Ruf. Die Besitzer hatten seine günstige Lage benutzt, um es mit reichlichen und auserlesenen Lebensmitteln zu versehen. Es war wirklich merkwürdig, in einem völlig einsam gelegenen Hause auf dem Lande einen mit See- und Süßwasserfischen, vortrefflichem Wild und feinen Weinen besetzten Tisch zu finden, an dem man mit einer Aufmerksamkeit und Höflichkeit bedient wurde, wie sie sonst nur bei den Vornehmen und Reichen vorkommt, und alles dies für eure fünfunddreißig Sous. Aber Pont de Lunel blieb nicht lange auf diesem Fuße, und als es erst anfing, seinem Rufe nicht mehr ganz zu entsprechen, verlor es ihn endlich ganz.

Während meiner Reise hatte ich ganz vergessen, daß ich krank war; bei meiner Ankunft in Montpellier dachte ich erst wieder daran. Meine Hypochondrie war zwar geheilt, aber alle meine andren Leiden waren nicht gewichen, und wenn sie mir die Gewohnheit auch weniger fühlbar machte, waren sie doch für jeden, der auf einmal von ihnen befallen wäre, groß genug, um sich für einen Todescandidaten zu halten. In Wahrheit waren sie weniger schmerzlich als beunruhigend, so daß mehr der Geist als der Körper, dessen Auflösung sie anzukündigen schienen, unter ihnen litt. Von heftigen Leidenschaften erregt, dachte ich deshalb nicht mehr an meinen Zustand; da er aber keineswegs auf Einbildung beruhte, machte er sich mir in ruhigen Augenblicken bald wieder bemerkbar. Ich dachte deshalb ernstlich an die Rathschläge der Frau von Larnage und an den Zweck meiner Reise. Ich befragte die erfahrensten und berühmtesten Aerzte, namentlich Herrn Fizes, und aus übertriebener Vorsicht gab ich mich bei einem Arzte in Kost. Es war ein Irländer, Namens Fitz Moris, der einen ziemlich zahlreich besuchten Tisch für Studenten der Medicin hielt. Ein Kranker, der sich dieser Tischgesellschaft anschloß, hatte noch den Vortheil, daß sich Herr Fitz Moris mit einem anständigen Kostgelde begnügte und von seinen Kostgängern für seine ärztlichen Bemühungen nichts nahm. Er sorgte für die Ausführung der Verordnungen des Herrn Fizes und wachte über meine Gesundheit. Er erfüllte diese Pflicht, was die Diät anlangt, sehr gut; man zog sich bei dieser Beköstigung keine Magenbeschwerden zu, und obgleich ich für dergleichen Entbehrungen nicht sehr empfindlich bin, boten sich mir doch so nahe liegende Vergleichungspunkte dar, daß ich mich nicht erwehren konnte, zuweilen gebührend anzuerkennen, daß Herr von Torignan ein weit größeres Verständnis für die Küchengeheimnisse besessen hätte als Herr Fitz Moris. Da man jedoch auch nicht gerade verhungerte, und diese ganze Jugend sehr lebenslustig war, so that mir diese Lebensweise wirklich gut und verhütete einen Rückfall in meine Schlaffheit. Ich verwandte den Morgen zum Einnehmen, namentlich zum Brunnentrinken, ich glaube des Balserwassers, und zum Briefschreiben an Frau von Larnage; denn der Briefwechsel blieb im Gange, und Rousseau übernahm es, die Briefe seines Freundes Dudding in Empfang zu nehmen. Gegen Mittag machte ich mit einigen unserer jungen Tischgenossen, die alle sehr gute Jungen waren, einen Spaziergang nach Canourgue; darauf allgemeine Zusammenkunft zum Essen. Nach Tische beschäftigte eine wichtige Angelegenheit den größten Theil von uns bis zum Abend, nämlich ein Ausflug vor die Stadt, wo zwei oder drei Maillepartien um das Abendbrot gespielt wurden. Da es mir an Kraft und Geschicklichkeit dazu fehlte, spielte ich nicht mit, aber ich wettete, und da ich unsern Spielern und ihren Kugeln mit dem Eifer eines Wettenden durch die unebenen und steinigen Wege folgte, machte ich mir eine angenehme und heilsame Bewegung, die mir sehr zusagte. Man nahm das Abendessen in einem Wirthshause außerhalb der Stadt ein. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß es bei diesen Essen heiter zuging, aber ich muß hinzufügen, daß bei ihnen ein ziemlicher Anstand beobachtet wurde, obgleich die aufwartenden Mädchen hübsch waren. Herr Fitz Moris, ein großer Maillespieler, war unser Vorsitzender, und ich kann sagen, daß ich trotz des schlechten Rufes der Studenten unter dieser ganzen Jugend mehr Sittlichkeit und Anstand gefunden habe, als man vielleicht unter einer gleichen Anzahl erwachsener Männer hätte finden können. Sie waren mehr lärmend als wüst, mehr lustig als locker; und ich finde mich so leicht in eine Lebensweise, wenn sie nicht aufgezwungen wird, daß ich nichts Besseres verlangt hätte, als diese hier von steter Dauer zu sehen. Unter den Studenten befanden sich mehrere Irländer, von welchen ich aus Vorsicht einige Worte englisch für Saint-Andiol zu lernen suchte, denn die Zeit, mich dorthin zu begeben, rückte heran. An jedem Posttage drängte mich Frau von Larnage dazu, und ich bereitete mich vor, ihr zu gehorchen. Es lag auf der Hand, daß mich meine Aerzte, die mein Leiden nicht erkannt hatten, als einen eingebildeten Kranken betrachteten und mich, sich darauf stützend, mit ihrer Chinawurzel, ihren Brunnen und ihren Molken behandelten. Ganz im Gegensatze mit den Theologen nehmen die Aerzte und die Philosophen nichts für wahr an, als was sie erklären können und machen ihren Verstand zum Maßstab für das Mögliche. Diese Herren konnten mein Leiden nicht erkennen, folglich war ich nicht krank; denn wie läßt sich annehmen, daß Doctoren nicht alles wüßten? Ich sah, daß sie mich nur hinzuhalten suchten und mein Geld verzehren ließen, und überzeugt, daß ihr Stellvertreter in Saint-Andiol dies alles eben so gut wie sie, aber auf angenehmere Weise thun würde, beschloß ich, ihm den Vorzug zu geben, und verließ Montpellier in dieser klugen Absicht.

Ich reiste gegen Ende November ab nach einem sechswöchentlichen oder zweimonatlichen Aufenthalte in dieser Stadt, in der ich ein Dutzend Louisd'or ließ ohne irgend einen Vortheil für meine Gesundheit oder meine Belehrung, wenn ich nicht einen Cursus in der Anatomie als einen solchen betrachten soll, den ich bei Herrn Fitz Moris belegt hatte, aber wegen des entsetzlichen Gestankes der Leichname, welche man secirte, wieder aufzugeben gezwungen war.

Mit meinem gefaßten Entschluß nicht ganz zufrieden, überlegte ich ihn noch einmal, während ich mich Pont-Saint-Esprit, wo sich die Straßen nach Saint-Andiol und nach Chambéry theilen, immer mehr näherte. Die Erinnerungen an Mama und ihre Briefe riefen, wenn sie auch seltener schrieb als Frau von Larnage, in meinem Herzen wieder die Gewissensbisse wach, welche ich auf der Hinreise zurückgedrängt hatte. Jetzt auf der Rückreise wurden sie so lebhaft, daß sie, indem sie der äußeren Sinnenlust die Wage hielten, mich in den Stand setzten, der Vernunft allein Gehör zu geben. Zunächst konnte ich in der Rolle eines Abenteurers, die ich von neuem zu spielen gedachte, weniger glücklich als das erste Mal sein; in ganz Saint-Andiol brauchte sich nur eine einzige Person zu finden, welche in England gewesen war und die Engländer kannte oder ihre Sprache verstand, um mich zu entlarven. Die Familie der Frau von Larnage konnte Mißtrauen gegen mich fassen und mich weniger rücksichtsvoll behandeln. Noch mehr beunruhigte mich ihre Tochter, an welche ich wider meinen Willen häufiger dachte, als nöthig gewesen wäre. Ich zitterte vor dem Gedanken, daß ich mich in sie verlieben könnte, und diese Angst that die Hälfte der Arbeit. Sollte ich zum Lohn für die Gunst der Mutter darauf ausgehen, ihre Tochter zu verführen, das verabscheuungswürdigste Verhältnis anzuknüpfen, ihr Haus in Hader, Schande und Aergernis zu stürzen und in eine Hölle zu verwandeln? Dieser Gedanke erfüllte mich mit Schauder; ich faßte allerdings den festen Entschluß, mich zu bekämpfen und zu überwinden, wenn eine so unglückselige Neigung bei mir zum Durchbruch kommen sollte, aber weshalb mich einem solchen Kampfe erst aussetzen? Welch schmachvoller Zustand, mit der Mutter, deren ich überdrüssig geworden, zu leben und dabei für die Tochter zu glühen, ohne den Muth zu besitzen, ihr mein Herz zu enthüllen! Was zwang mich dazu, einen solchen Zustand herbeizuführen, mich dem Elend, der Schande, den Gewissensbissen einer Freude zu Liebe auszusetzen, deren Hauptwürze ich bereits ausgekostet hatte? Unläugbar hatte meine Neigung ja ihre erste Lebhaftigkeit verloren. Freude an der Sinnenlust empfand ich noch, aber die Leidenschaft war verschwunden. In diese Erwägungen mischten sich Betrachtungen über meine Lage und meine Pflichten sowie die Erinnerung an die so gute und edelmüthige Mama, die, schon von Schulden gedrückt, es durch meine thörichten Ausgaben noch mehr wurde und sich um meinetwillen erschöpfte, während ich sie so unwürdig betrog. Dieser Selbstvorwurf wurde so lebhaft, daß er endlich die Entscheidung herbeiführte. Als ich mich Saint-Esprit näherte, faßte ich den Entschluß, an Saint-Andiol ohne anzuhalten vorüberzufahren. Ich führte ihn, wenn auch, wie ich zugebe, mit einigen Seufzern, muthig aus; aber ich fühlte dabei auch zum ersten Male in meinem Leben jene innere Befriedigung, mir sagen zu können: ich bin jetzt meiner Selbstachtung werth, ich weiß meine Pflicht über mein Vergnügen zu stellen. Dies war der erste wirkliche Erfolg meines Studiums, welches mich gelehrt hatte nachzudenken und zu vergleichen. Nach den reinen Grundsätzen, die ich mir vor kurzem zu eigen gemacht; nach den Regeln der Mäßigung und der Tugend, die ich mir selbst gebildet und mit so großem Stolze befolgt hatte, siegte die Scham, mir selbst so wenig treu zu sein und meine eigenen Grundsätze so bald und so offen zu verläugnen, über die Sinnenlust. Der Stolz hatte vielleicht eben so viel Antheil an meinem Entschlusse als die Tugend; aber wenn dieser Stolz nicht die Tugend selbst ist, so bringt er doch so ähnliche Wirkungen hervor, daß ein Irrthum hierin verzeihlich ist.

Gute Handlungen bringen noch den Vortheil, daß sie die Seele erheben und ihr die Fähigkeit zu noch besseren einflößen, denn die menschliche Schwäche ist leider so groß, daß man schon die Unterlassung des Bösen, welches man zu begehen versucht ist, zu den guten Handlungen rechnen muß. Sobald ich meinen Entschluß einmal gefaßt hatte, wurde ich ein anderer Mensch, oder ich wurde vielmehr wieder derselbe, der ich früher gewesen und der im Augenblicke der Trunkenheit verschwunden war. Voll guter Gesinnungen und guter Entschlüsse setzte ich meine Reise in der guten Absicht fort, meinen Fehler zu sühnen, indem ich nur daran dachte, von nun an mein Betragen nach den Regeln der Tugend zu richten, mich rückhaltslos dem Dienste der besten der Mütter zu weihen, mich ihr mit eben so großer Treue hinzugeben, wie ich Zuneigung zu ihr hatte, und mich von keiner andern Liebe mehr beherrschen zu lassen, als von der zu meinen Pflichten. Ach, die Aufrichtigkeit meiner Umkehr zum Guten schien mir ein anderes Schicksal zu versprechen; aber das meinige war bereits entschieden und begann schon an mich heranzutreten, und als mein Herz, voll Liebe für das Gute und Ehrenhafte, nur noch Unschuld und Glück im Leben sah, stand schon der verhängnisvolle Augenblick vor der Thür, der die lange Kette meiner Leiden nach sich ziehen sollte.

Im Eifer, nach Hause zu kommen, reiste ich schneller, als ich berechnet hatte. Von Valence aus hatte ich ihr Tag und Stunde meiner Ankunft angezeigt. Da ich einen Vorsprung von einem halben Tage gewonnen hatte, verweilte ich eben so lange Zeit in Chaparillon, um genau in dem angegebenen Augenblicke einzutreffen. Ich wollte die Freude des Wiedersehens in ihrem ganzen Reize genießen. Ich schob sie lieber ein wenig hinaus, um das Vergnügen, erwartet zu werden, damit zu verbinden. Diese Vorsicht war für mich stets von gutem Erfolge gewesen. Ich hatte meine Ankunft stets durch eine Art kleinen Festes feiern sehen; diesmal rechnete ich darauf eben so sehr, und es lohnte sich wohl der Mühe, Veranlassung zu solchen Aufmerksamkeiten zu geben, für welche ich so erkenntlich war.

Ich langte also genau zu der festgesetzten Stunde an. Schon von weitem blickte ich mich um, ob ich sie nicht auf dem Wege entdecken würde; je näher ich ihrem Hause kam, desto heftiger klopfte mir das Herz. Athemlos komme ich an, denn ich hatte meinen Wagen in der Stadt verlassen; ich gewahre niemanden im Hofe, an der Thür, am Fenster; ich fange an, unruhig zu werden, ich befürchte irgend ein Unglück. Ich trete ein; alles ist ruhig; Tagelöhner vesperten in der Küche; übrigens nirgends ein Willkommenszeichen. Die Magd schien bei meinem Anblick überrascht; sie wußte nicht, daß ich ankommen sollte. Ich gehe die Treppe hinauf; endlich sehe ich sie, diese theure, so zärtlich, so heiß, so rein geliebte Mama; ich fliege auf sie zu, ich stürze mich ihr zu Füßen. »Ei, da bist du ja, Kleiner,« sagt sie, mich umarmend, »ist deine Reise glücklich abgelaufen? Wie befindest du dich?« Dieser Empfang bringt mich ein wenig aus der Fassung. Ich fragte sie, ob sie meinen Brief nicht erhalten hätte. Sie bejahte es. »Ich hätte es nicht gedacht,« entgegnete ich, und damit hatte unsere gegenseitige Erklärung ein Ende. Ein junger Mann war bei ihr. Ich kannte ihn, da ich ihn schon vor meiner Abreise im Hause gesehen hatte; aber diesmal schien er darin eine feste Stellung einzunehmen, und so war es wirklich. Kurz, ich fand meine Stelle besetzt.

Dieser junge Mann war aus dem Waadtlande; sein Vater, ein gewisser Vintzenried, war Burgvogt oder sogenannter Kapitän des Schlosses Chillon. Der Sohn des Herrn Kapitäns war Barbiergehilfe und befand sich, als er sich Frau von Warens vorstellte, in dieser Eigenschaft auf der Wanderschaft. Sie nahm ihn wie alle Reisende und namentlich die aus ihrer Heimat freundlich auf. Es war ein großer, fader Flachskopf, ziemlich wohlgestaltet, von eben so gewöhnlichem Gesichte wie Geist. Er konnte sprechen wie der schöne Liandre und gab bei der langen Aufzählung seiner Liebschaften den ganzen Ton und alle Neigungen seines Standes zu erkennen. Trotzdem nannte er nur die Hälfte der Marquisen, bei denen er geschlafen hatte, behauptete aber, keine hübschen Frauen frisirt zu haben, deren Männern er nicht Hörner aufgesetzt hätte. Eitel, dumm, unwissend, unverschämt, sonst aber der beste Junge von der Welt. So war der Stellvertreter, der mir während meiner Abwesenheit gegeben war, und der Gefährte, der mir nach meiner Rückkunft beigesellt wurde.

Ach, wenn die von ihren irdischen Fesseln befreiten Seelen noch aus dem Schooße des ewigen Lichtes auf das, was bei den Sterblichen geschieht, herniederschauen, dann verzeihe, theurer und hochverehrter Schatten, wenn ich gegen deine Fehler eben so wenig Nachsicht habe, wie gegen die meinigen, wenn ich die einen wie die andern vor den Augen der Leser in gleicher Weise enthülle. Ich muß und will für dich wie für mich wahr sein; du wirst dabei immer weniger verlieren als ich. Wie sollte nicht dein liebenswürdiger und sanfter Charakter, deine unerschöpfliche Herzensgüte, deine Offenherzigkeit und alle deine ausgezeichneten Tugenden solche Schwachheiten ausgleichen, wenn man die blosen Irrthümer deiner Vernunft so nennen darf! Du ließest dir Verirrungen zu Schulden kommen, aber keine Fehler; deine Aufführung war tadelnswerth, aber dein Herz war immer rein.Var. . . . immer rein. Man lege das Gute und das Schlechte auf die Wage, und möge billig sein; welche andere Frau würde je wagen, sich mit dir zu vergleichen, wenn ihr geheimes Leben so offenkundig vor aller Welt da läge wie das deinige.

Der neue Ankömmling hatte sich bei all ihren kleinen Aufträgen, die sie stets in großer Zahl hatte, eifrig, fleißig und pünktlich gezeigt; er hatte sich zum Aufseher ihrer Arbeiter aufgeworfen. Eben so lärmend, wie ich ruhig war, ließ er sich am Pfluge, auf der Wiese, im Gehölz, im Stalle und im Hühnerhofe zu gleicher Zeit sehen und besonders hören. Nur den Garten vernachlässigte er, weil die Arbeit in ihm zu still war und ohne alles Gelärme abging. Sein Hauptvergnügen war aufzuladen und zu fahren, Holz zu sägen oder zu spalten; man sah ihn stets die Axt oder die Hacke in der Hand; man hörte ihn laufen, klopfen oder laut schreien. Für wie viel Menschen er arbeitete, weiß ich nicht, aber Lärm machte er beständig für zehn oder zwölf. All dieses geräuschvolle Treiben erregte meiner armen Mama Bewunderung; dieser junge Mann kam ihr wie ein Schatz für ihre Angelegenheiten vor. In dem Wunsche ihn an sich zu fesseln, wandte sie alle Mittel an, welche sie für geeignet hielt, und vergaß das nicht, auf welches sie sich am meisten verließ.

Man hat mein Herz erkennen müssen, seine beständigsten und wahrsten Gefühle, namentlich diejenigen, welche mich in diesem Augenblicke an ihre Seite zurückriefen. Welch schneller und plötzlicher Umschwung meines ganzen Seins! Man stelle sich an meinen Platz, um sich ein Urtheil darüber zu bilden. In einem Augenblicke sah ich die ganze glückliche Zukunft, die ich mir ausgemalt hatte, für immer verschwinden. Alle die seligen Hoffnungen, die ich gehegt hatte, lösten sich auf; und ich, der ich seit meiner Jugend mein Dasein mit dem ihrigen unzertrennbar verbunden sah, erblickte mich jetzt zum ersten Male allein. Dieser Augenblick war schrecklich, und alle, die ihm folgten, waren düster. Ich war noch jung, aber das beseligende Gefühl von Genuß und Hoffnung, das die Jugend belebt, verließ mich auf immer. Damals erstarb das fühlende Wesen zur Hälfte in mir. Ich sah nur noch die traurigen Reste eines faden Lebens vor mir; und wenn sich meinem Verlangen doch mitunter ein Bild des Glückes in flüchtigen Umrissen zeigte, so war dieses Glück doch im Grunde nicht das, welches sich für mich eignete; ich fühlte, daß, wenn ich es erlangte, ich doch nicht wahrhaft glücklich sein würde.

Ich war so dumm, und mein Vertrauen war so groß, daß es mir trotz des vertraulichen Benehmens des Neuangekommenen, welches ich der alle Standesunterschiede ausgleichenden Umgänglichkeit Mamas zuschrieb, nicht eingefallen wäre, den wahren Grund zu ahnen, wenn sie ihn mir nicht selbst gesagt hätte; aber sie beeilte sich, mir dieses Geständnis mit einer Offenheit abzulegen, die ganz darnach angethan war, meine Wuth noch zu steigern, wenn mein Herz dazu fähig gewesen wäre. Sie fand von ihrem Standpunkte aus die Sache ganz einfach, warf mir meine Nachlässigkeit im Hause vor und berief sich auf meine häufige Abwesenheit, als hätte sie eine so sinnliche Natur gehabt, daß sie einen schnellen Ersatz für das Versäumte verlangt hätte. »Ach, Mama,« sagte ich zu ihr mit schmerzlich bewegtem Herzen, »was erlaubst du dir, mir mitzutheilen! Was für ein Lohn für eine Liebe wie die meine! Hast du mir nur deshalb das Leben so oft gerettet, um mir alles zu rauben, was mir dasselbe theuer machte? Ich werde sterben, aber du wirst mich zurückwünschen.« Sie erwiderte mir in einem so ruhigen Tone, daß ich hätte närrisch werden können, ich wäre ein Kind, und man stürbe nicht an dergleichen Dingen; ich würde nichts verlieren, wir würden nicht weniger gute Freunde, nicht weniger vertraut in jeder Hinsicht sein; ihre zärtliche Zuneigung könnte nicht abnehmen und würde nur mit ihrem Leben enden. Mit einem Worte, sie gab mir zu verstehen, daß alle meine Rechte noch die nämlichen wären, und daß ich, wenn ich sie auch mit einem andern theilte, ihrer deshalb nicht verlustig ginge.

Nie machte sich mir die Reinheit, die Wahrheit, die Stärke meiner Gefühle für sie, nie die Aufrichtigkeit und Redlichkeit meiner Seele fühlbarer als in diesem Augenblicke. Ich stürzte mich ihr zu Füßen, ich umarmte, Ströme von Thränen vergießend, ihre Knie. »Nein, Mama,« erwiderte ich leidenschaftlich, »ich liebe dich zu sehr, um dich herabzuwürdigen; dein Besitz ist mir zu theuer, um ihn zu theilen; die innere Unruhe, die sich meiner bemächtigte, als ich ihn erlangte, hat sich mit meiner Liebe gesteigert; nein, um denselben Preis kann ich ihn mir nicht bewahren. Ich werde dich immer anbeten, mache dich dessen beständig würdig; deine Verehrung ist mir ein noch größeres Bedürfnis als dein Besitz. Ich überlasse dich dir selber, Mama; der Vereinigung unserer Herzen opfere ich meine Sinnenlust. Ich würde tausendmal lieber sterben, als mich einem Genusse hingeben, der das erniedrigt, was ich liebe!«

Ich blieb bei diesem Entschlusse mit einer, wie ich wohl sagen darf, des Gefühls, aus dem er entsprang, würdigen Beharrlichkeit. Von diesem Augenblicke an sah ich diese so heiß geliebte Mama nur noch mit den Augen eines wirklichen Sohnes an; und ich muß bemerken, daß sie, obwohl sie, wie ich nur zu gut bemerkte, meinen Entschluß keineswegs im Geheimen billigte, nie versuchte, mich von demselben abtrünnig zu machen, weder durch einschmeichelnde Reden, noch durch Liebkosungen, noch durch irgend eine jener verlockenden Buhlerkünste, welche die Frauen zu benutzen verstehen, ohne sich etwas zu vergeben, und die selten erfolglos sind. Gezwungen, mir ein von ihr unabhängiges Loos zu suchen und unfähig, ein solches aufzufinden, ging ich bald in das andere Extrem über und verknüpfte mein Schicksal ganz mit dem ihrigen. Ich suchte es darin so vollkommen, daß ich dahin gelangte, mich fast selbst zu vergessen. Der glühende Wunsch, sie um jeden Preis glücklich zu sehen, nahm alle meine Gefühle in Anspruch. Umsonst hätte sie sich bemüht, ihr Glück von dem meinigen zu trennen; ich betrachtete es, mochte sie wollen oder nicht, als das meinige.

So begannen im Verein mit meinem Unglück die Tugenden zu keimen, deren Same auf dem Grunde meiner durch das Studium befruchteten Seele lag, und die, um zu ihrer höchsten Entwickelung zu gelangen, nur die Triebkraft der Trübsal erwarteten. Die erste Frucht dieser selbstlosen Gesinnung war das Schwinden allen Hasses und Neides wider den, der meine Stellung untergraben hatte. Ich wollte mich vielmehr, und zwar ganz aufrichtig, an den jungen Mann anschließen, ihn bilden, an seiner Erziehung arbeiten, ihm sein Glück zum Bewußtsein bringen, ihn desselben womöglich würdig machen und mit einem Worte für ihn alles thun, was Anet bei einer ähnlichen Gelegenheit für mich gethan hatte. Aber hier war die Verschiedenheit der Persönlichkeiten zu groß. Bei größerer Sanftmuth und Bildung fehlte mir doch Anets Kaltblütigkeit und Festigkeit, wie jene Charakterstärke, die Achtung abnöthigte und deren ich zur Ausführung meiner Absicht bedurft hätte. Noch weniger fand ich in dem jungen Manne die Eigenschaften, die Anet in mir gefunden hatte: die Gelehrigkeit, die Liebe, die Erkenntlichkeit, namentlich nicht das Gefühl, daß ich seiner Hilfe bedurfte, und das brennende Verlangen, sie zu benutzen. Dies alles mangelte hier. Der, welchen ich bilden wollte, betrachtete mich nur als einen lästigen Pedanten, der sich lediglich in leeren Redensarten erging. Sich selbst dagegen bewunderte er als eine im Hause wichtige Person, und da er die Dienste, welche er darin zu leisten glaubte, nach dem dabei erhobenen Lärm abmaß, so galten in seinen Augen seine Hacken und Beile für unendlich nützlicher als alle meine Bücher. In gewisser Hinsicht hatte er nicht Unrecht, aber er fand darin einen hinreichenden Grund, eine Miene anzunehmen, über die man sich hätte todtlachen können. Bei den Bauern spielte er den Landjunker, bald auch mir und endlich sogar Mama gegenüber. Sein Name Vintzenried schien ihm nicht edel genug, er vertauschte ihn mit dem eines Herrn von Courtilles, und unter letzterem Namen ist er seitdem in Chambéry und in Maurienne, wo er sich verheirathet hat, bekannt geworden.

Kurz, der erlauchte Herr bemächtigte sich so vollkommen der Zügel, daß er im Hause alles war und ich nichts. Da er, sobald ich das Unglück hatte, sein Mißfallen zu erregen, Mama und nicht mich ausschalt, so machte mich die Besorgnis, sie seinen Grobheiten auszusetzen, gegen seine Wünsche nachgiebig; und so oft er Holz spaltete, ein Geschäft, dem er mit einem Stolze ohne Gleichen oblag, mußte ich den müßigen Zuschauer und stillen Bewunderer seiner Heldenthat abgeben. Trotzdem hatte dieser Bursche durchaus keinen schlechten Charakter; er liebte Mama, weil es unmöglich war, sie nicht zu lieben, sogar gegen mich hatte er keine Abneigung; und wenn die lichten Augenblicke, die er hin und wieder hatte, mit ihm zu reden gestatteten, hörte er uns bisweilen ziemlich aufmerksam an, wobei er offen zugab, daß er nichts als ein Dummkopf wäre; hinterher machte er aber nichtsdestoweniger neue Dummheiten. Er hatte übrigens eine so beschränkte Fassungskraft und so gemeine Neigungen, daß es schwierig war, ihn zur Vernunft zu bringen, und fast unmöglich, mit ihm zusammen zu sein. Neben dem Besitze einer Frau voller Reize suchte er noch die Befriedigung seiner Gelüste bei einer alten rothköpfigen und zahnlosen Kammerfrau, deren widerwärtige Dienste Mama geduldig ertrug, so übel ihr bei denselben auch war. Ich bemerkte diese neue Schlechtigkeit und ward von Unwillen ergriffen, aber ich bemerkte noch etwas Anderes, was mich weit mehr bekümmerte und in eine tiefere Muthlosigkeit versenkte als alles, was sich bis dahin ereignet hatte, das war Mamas Erkaltung gegen mich.

Die Entsagung, die ich mir auferlegt, und die sie dem Anscheine nach gebilligt hatte, gehört zu jenen Dingen, welche die Frauen nie verzeihen, welche Miene sie auch dazu machen, weniger wegen der Entbehrung, die sie dadurch persönlich leiden, als wegen der Gleichgiltigkeit gegen ihren Besitz, die sie darin erblicken. Nehmet die verständigste, gebildetste, am wenigsten sinnliche Frau: das unverzeihlichste Verbrechen, welches der Mann, um den sie sich sonst am wenigsten kümmert, gegen sie begehen kann, ist, ihren Besitz erlangen zu können und keinen Gebrauch davon zu machen. Das muß wohl ausnahmslos der Fall sein, weil eine so natürliche und innige Zuneigung in ihr in Folge einer Enthaltung erkaltete, die nur auf Gründen der Tugend, der Anhänglichkeit und Achtung beruhte. Von da an fand ich bei ihr nicht mehr jene Vertraulichkeit der Herzen, die stets den süßesten Genuß des meinigen ausmachte. Sie schüttete mir ihr Herz nur noch aus, wenn sie sich über den neuen Ankömmling zu beklagen hatte; lebten sie in Frieden mit einander, zog sie mich wenig in ihr Vertrauen. Endlich zeigte sich immer mehr und mehr, daß ich in ihrem Herzen keine Stelle mehr hatte. Meine Gegenwart war ihr zwar noch angenehm, aber kein Bedürfnis mehr; und hätte ich sie ganze Tage lang nicht aufgesucht, würde sie es gar nicht bemerkt haben.

Unmerklich fühlte ich mich alleinstehend und einsam in diesem nämlichen Hause, dessen Seele ich vorher war und in dem ich gleichsam ein Doppelleben führte. Ich gewöhnte mich allmählich daran, mich von allem, was darin vorfiel, und sogar von seinen Bewohnern fern zu halten; und um mir eine unaufhörliche Marter zu ersparen, schloß ich mich mit meinen Büchern ein oder ging tief in die Wälder hinein, um nach Herzenslust zu seufzen und zu weinen. Solches Leben wurde mir bald völlig unerträglich. Ich fühlte, daß bei der eingetretenen Entfremdung die persönliche Gegenwart einer Frau, die mir so theuer war, meinen Schmerz steigerte, und daß, sobald ich sie nicht mehr sähe, ich mich weniger schmerzlich von ihr getrennt fühlen würde. Ich faßte den Entschluß, ihr Haus zu verlassen, und sagte es ihr, und weit davon entfernt, sich ihm zu widersetzen, nahm sie ihn günstig auf. Sie hatte in Grenoble eine Freundin, Namens Deybens, deren Gatte der Freund des Herrn von Mably, des Oberhofrichters zu Lyon, war. Herr Deybens schlug mir vor, die Erziehung der Kinder des Herrn von Mably zu übernehmen; ich ging darauf ein und reiste nach Lyon, ohne die geringste Trauer über eine Trennung, deren blose Vorstellung uns früher mit Todesqual erfüllt hätte, zu hinterlassen, ja fast zu fühlen.

Ich besaß ungefähr die für einen Erzieher nothdürftigen Kenntnisse und, wie ich glaubte, auch die Fähigkeit dazu. Während des einen Jahres, welches ich bei Herrn von Mably zubrachte, hatte ich Zeit, aus diesem Wahne zu kommen. Mein sanftmüthiger Charakter hätte mich zu diesem Berufe sehr geeignet gemacht, wenn ihn mir nicht meine stürmische Hitze erschwert hätte. So lange alles gut ging, so lange ich sah, daß mein Fleiß und meine Mühe, an denen ich es damals wahrlich nicht fehlen ließ, einen günstigen Erfolg hatte, war ich ein Engel; aber ein Teufel, wenn es nicht nach meinen Gedanken ging. Verstanden mich meine Zöglinge nicht, gerieth ich außer mir, und zeigten sie sich böswillig, hätte ich sie tödten mögen; das war freilich nicht das Mittel, sie klug und artig zu machen. Ich hatte ihrer zwei; sie hatten sehr verschiedenen Charakter. Der eine, acht- oder neunjährig, Namens Sainte-Marie, hatte ein hübsches Aeußere, war ziemlich geweckt, ziemlich lebhaft, ausgelassen, muthwillig, boshaft, aber von einer heiteren Bosheit. Der jüngere, der den Namen Condillac trug,Var. . . . Condillac trug nach seinem inzwischen so berühmt gewordenen Oheim. schien fast dumm, tölpelhaft, störrisch wie ein Maulthier und vermochte fast nichts zu fassen. Man kann sich denken, daß ich an diesen beiden Kindern keine leichte Arbeit hatte. Mit Geduld und Kaltblütigkeit hätte ich vielleicht Erfolge erzielt, aber in Ermangelung beider erreichte ich nichts Nennenswerthes, und meine Zöglinge mißriethen so ziemlich. Es fehlte mir nicht an beharrlichem Fleiße, allein es fehlte mir an Gleichmäßigkeit und namentlich an Klugheit. Ich wußte bei ihnen nur drei, bei Kindern stets fruchtlose und oft gefährliche Hilfsmittel in Anwendung zu bringen: das Gefühl, vernünftige Ueberlegungen und den Zorn. Bald vergoß ich bei Sainte-Marie Thränen der Rührung; ich wollte ihn selbst rühren, als ob das Kind für eine wahre Herzensregung empfänglich gewesen wäre; bald erschöpfte ich mich, ihm vernünftige Vorhaltungen zu machen, als ob er im Stande gewesen wäre, mich zu verstehen, und da er mir mitunter sehr spitzfindig antwortete, hielt ich ihn in vollem Ernste für vernünftig, weil er einmal einen vernünftigen Gedanken geäußert hatte. Der kleine Condillac bereitete mir noch mehr Sorgen, weil er nichts auffaßte, nichts antwortete, über nichts in Aufregung gerieth und mit seinem unerschütterlichen Leichtsinn nie mehr über mich triumphirte, als wenn er mich wüthend gemacht hatte; dann war er der Verständige und ich das Kind. Ich sah alle meine Fehler ein und fühlte sie; ich studirte den Charakter meiner Zöglinge; ich durchschaute sie sehr gut und glaube nicht, daß ich mich auch nur ein einziges Mal von ihnen habe hintergehen lassen. Aber was nützte mir die Erkenntnis des Uebels, wenn ich nicht das Heilmittel dagegen anzuwenden verstand? Obgleich ich alles erkannte, ließ ich alles beim Alten, und alles, was ich that, war gerade das, was ich nicht hätte thun sollen.

Auch ich für meine Person hatte keinen größeren Vortheil als meine Zöglinge. Ich war von Frau Deybens der Frau von Mably empfohlen worden. Sie hatte dieselbe gebeten, mein Benehmen zu bilden und mir Weltton beizubringen. Frau von Mably gab sich wirklich Mühe und verlangte, ich sollte lernen, die Gäste zu empfangen und zu unterhalten; aber ich benahm mich so linkisch, ich war so schüchtern, so albern, daß sie den Muth verlor und sich nicht mehr um mich kümmerte. Dies hinderte mich nicht, mich nach meiner Gewohnheit in sie zu verlieben. Aus meinem Benehmen merkte sie es, aber ich wagte mich nie zu erklären; sie hatte nicht Lust, mir entgegen zu kommen, und vergeblich liebäugelte und seufzte ich, so daß ich selbst dessen bald überdrüssig wurde, da ich sah, daß ich nicht zum Ziele gelangte.

Bei Mama hatte ich den Hang zu kleinen Diebereien völlig verloren, da ja alles mir gehörte und ich folglich nichts zu stehlen hatte. Ueberdies mußten die edeln Grundsätze, die ich mir gebildet hatte, mich fortan hoch über dergleichen Gemeinheiten erheben, und es ist gewiß, daß ich seitdem gewöhnlich darüber erhaben gewesen bin, aber weniger deshalb, weil ich meine Versuchungen zu überwinden gelernt, als weil ich ihnen die Wurzel abgeschnitten hatte; und ich fürchte sehr, daß ich noch wie in meiner Kindheit stehlen würde, wäre ich noch denselben Begierden ergeben. Den Beweis davon hatte ich bei Herrn von Mably. Von leicht stehlbaren Kleinigkeiten umgeben, denen ich nicht einmal Beachtung schenkte, kam es mir in den Sinn, nach einem sehr angenehm schmeckenden weißen Arboiswein lüstern zu werden, nachdem mir einige Gläser desselben, die ich dann und wann bei der Tafel getrunken, ein großes Verlangen eingeflößt hatten. Er war ein wenig trüb; ich bildete mir ein, die Kunst zu verstehen, den Wein zu klären, und rühmte mich dessen. Man vertraute mir deshalb den Arboiswein an; ich klärte und klärte, verdarb ihn aber noch mehr, wenn auch nur für das Auge; er blieb immer angenehm zu trinken, und die Gelegenheit machte, daß ich mir von Zeit zu Zeit einige Flaschen davon aneignete, um sie auf meinem kleinen Zimmer in aller Gemüthlichkeit zu trinken. Leider habe ich nie trinken können, ohne dabei zu essen. Wie es anstellen, um Brot zu bekommen? Es war unmöglich, mir etwas aufzuheben. Es durch die Dienerschaft kaufen zu lassen, hieß mich verrathen; auch hätte darin fast eine Beleidigung des Hausherrn gelegen. Es selbst zu kaufen, wagte ich nicht. Konnte wohl ein vornehmer Herr mit dem Degen an der Seite zu einem Bäcker gehen, um sich ein Stück Brot zu kaufen? War das möglich? Endlich erinnerte ich mich des Auskunftsmittels einer großen Prinzessin, der man sagte, die Bauern hätten kein Brot, und die antwortete: »Sie können ja Kuchen essen.« Abermals was für Schwierigkeiten, um dazu zu kommen! Lediglich in dieser Absicht ausgegangen, durchlief ich mitunter die ganze Stadt und ging an dreißig Pastetenbäckerläden vorüber, ehe ich bei einem eintrat. Es durfte sich nur eine einzige Person im Laden befinden und auch deren Gesichtszüge mußten mich noch anziehen, wenn ich das Wagestück unternehmen sollte. Aber wenn ich erst einmal meinen lieben kleinen Kuchen hatte und nun, in mein Zimmer fest eingeschlossen, meine Flasche aus dem Schranke hervorlangte, welch ein köstliches Gelage feierte ich dann für mich ganz allein, während ich einige Seiten eines Romans dazu las. Denn beim Essen lesen war, wenn mir ein Tischgenosse fehlte, immer meine Lust. Es bildet für mich einen Ersatz der fehlenden Gesellschaft. Ich verschlinge abwechselnd eine Seite und einen Bissen; es ist, als ob mein Buch mit mir schmauste.

Ich bin nie ausschweifend oder wüst gewesen und habe mich nie in meinem Leben betrunken. So waren denn meine kleinen Diebereien nicht sehr bedeutend; sie wurden jedoch entdeckt, da die Flaschen mich verriethen. Man gab es mir nicht zu verstehen, aber ich hatte nicht mehr die Oberaufsicht über den Keller. Bei dem allen benahm sich Herr von Mably anständig und klug. Er war ein Ehrenmann, der bei einer Miene, so hart wie sein Amt, doch einen wirklich sanften Charakter und eine seltene Herzensgüte besaß. Er war einsichtsvoll, billig denkend und, was man von einem höheren Polizeibeamten nicht erwarten sollte, sogar sehr freundlich. Da ich seine Nachsicht sehr wohl einsah, wurde ich ihm nur um so ergebener, und dies war die Ursache, daß ich in seinem Hause länger verblieb, als es sonst der Fall gewesen wäre. Allein endlich eines Berufes, für den ich mich nicht eignete, und einer sehr lästigen Lage überdrüssig, die nichts Angenehmes für mich hatte, entschloß ich mich nach einem Probejahre, während dessen ich es nicht an Fleiß hatte fehlen lassen, meine Schüler zu verlassen, fest überzeugt, daß ich es nie dahin bringen würde, sie gut zu erziehen. Herr von Mably sah dies selbst eben so gut wie ich ein. Indessen glaube ich, daß er es nie hätte über das Herz bringen können, mich fortzuschicken, wenn ich ihm die Mühe nicht erspart hätte, und es liegt mir sicherlich fern, dieses Uebermaß von Güte in einem solchen Falle zu billigen.

Was mir meine Lage noch unerträglicher machte, war ihre beständige Vergleichung mit derjenigen, aus der ich in sie versetzt worden, war die Erinnerung an mein liebes Charmettes, an meine Blumen, an meine Bäume, meine Quelle, meinen Obstgarten und vor allem an sie, für die ich geboren war, die dem allen erst Leben verlieh. Wenn ich an sie, an unsere Vergnügungen und an unser unschuldiges Leben zurückdachte, fühlte ich Herzspannen und Beklemmungen, die mir den Muth raubten, irgend etwas zu thun. Hundertmal bin ich versucht gewesen, sofort abzureisen und zu Fuß zu ihr zurückzukehren; hätte ich sie nur noch einmal wiedergesehen, wäre ich gern auf der Stelle gestorben. Schließlich konnte ich diesen zärtlichen Erinnerungen, die mich um jeden Preis zu ihr zurückriefen, nicht länger widerstehen. Ich sagte mir, daß ich nicht geduldig, nicht gefällig, nicht zärtlich genug gewesen wäre; daß ich noch immer in süßester Freundschaft glücklich leben könnte, wenn ich mir mehr Mühe gegeben hatte. Ich entwerfe die schönsten Pläne von der Welt, ich glühe vor Eifer, sie auszuführen. Ich verlasse alles, entsage allem, ich reise ab, fliege, komme in meinem Entzücken wie in meiner ersten Jugend an und finde mich zu ihren Füßen wieder. Ach, ich wäre vor Freude gestorben, hätte ich in ihrem Empfang, in ihren Augen, in ihren Liebkosungen und vor allem in ihrem Herzen nur den vierten Theil dessen wiedergefunden, was ich ehemals darin wieder fand, und was ich ihr ja selbst entgegenbrachte.

Entsetzliche Täuschung in dieser Zeitlichkeit! Sie empfing mich ja freilich mit diesem vortrefflichen Herzen, welches nur mit ihr sterben konnte; aber ich verlangte nach der Vergangenheit, die nicht mehr war und nicht wiederkehren konnte. Kaum war ich eine halbe Stunde bei ihr gewesen, als ich mein altes Glück auf ewig erstorben fühlte. Ich fand mich in der nämlichen trostlosen Lage wieder, der ich nothgedrungen entflohen war, und zwar ohne daß ich sagen könnte, die Schuld hätte an irgend jemandem gelegen; denn im Grunde war Courtilles nicht schlecht und schien mich eher mit Freude als mit Verdruß wiederzusehen. Aber wie konnte ich es bei ihr, der ich alles gewesen und die nicht aufhören konnte, mir alles zu sein, als ein Ueberzähliger aushalten? wie als ein Fremdling in dem Hause leben, dessen Kind ich war? Der Anblick der Gegenstände, die Zeugen meines vergangenen Glückes gewesen waren, machte mir den Vergleich noch grausamer. In einer andern Wohnung würde ich weniger gelitten haben. Aber indem sich mir unaufhörlich so viele süße Erinnerungen aufdrängten, steigerten sie nur das schmerzliche Gefühl meines Verlustes. Von fruchtloser Trauer verzehrt, in düsterste Schwermuth versenkt, blieb ich wieder wie früher außer den Eßstunden für mich allein. Mit meinen Büchern eingeschlossen, suchte ich in ihnen nützliche Zerstreuungen, und einsehend, daß die Gefahr, welche ich früher so sehr gefürchttet hatte, binnen kurzem hereinbrechen mußte, quälte ich mich von neuem ab, in mir selbst die Mittel zu finden, mit denen ich Mama beispringen könnte, wenn sie hilflos dastände. Wie ich ihre Verhältnisse geregelt hatte, konnten sie wenigstens nicht schlimmer werden; aber nach mir hatte sich alles geändert. Ihr Haushalter war ein Verschwender. Er wollte glänzen mit gutem Pferd und gutem Wagen; er liebte es, vor den Nachbaren einen großen Prunk zu entfalten; er machte in Dingen, von denen er nichts verstand, unaufhörlich Unternehmungen. Die Pension wurde im voraus verzehrt; ihre vierteljährlichen Raten waren verpfändet, die Pachtgelder waren rückständig, und das Schuldenmachen ging seinen Gang. Ich sah vorher, daß man nicht säumen würde, diese Pension mit Beschlag zu belegen, ja, daß sie ihr vielleicht entzogen werden würde. Kurz, ich hatte nur Untergang und Elend vor Augen, und der Augenblick ihres Hereinbrechens schien mir schon so nahe, daß ich alle ihre Schrecken im voraus empfand.

Mein liebes Arbeitszimmer war meine einzige Zerstreuung. Nachdem ich Mittel gegen meine Seelenunruhe gesucht hatte, dachte ich daran, einige gegen das Unglück, das ich voraussah, ausfindig zu machen; und auf meine alten Gedanken zurückkommend, baute ich lustig wieder neue Luftschlösser, um die arme Mama vor der bittren Noth zu bewahren, in die ich sie im Begriff sah zu versinken. Ich fühlte mich nicht gelehrt genug und glaubte auch nicht Geist genug zu besitzen, um in der Gelehrtenrepnblik zu glänzen und auf diesem Wege mein Glück zu machen. Ein neuer Gedanke, der in mir aufstieg, erfüllte mich mit dem Vertrauen, welches mir die Mittelmäßigkeit meiner Talente nicht geben konnte. Ich hatte die Musik nicht aufgegeben, als ich sie nicht mehr lehrte; ich hatte im Gegentheil ihre Theorie hinreichend studirt, um mich wenigstens in ihr als Fachgelehrten betrachten zu können. Als ich an die Mühe dachte, die mir die Erlernung des Notenlesens gemacht, und an die, welche ich noch immer hatte, sofort vom Blatte zu singen, gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß die Ursache dieser Schwierigkeit in eben so hohem Grade in der Sache selbst als in mir liegen könnte, zumal ich wußte, daß im allgemeinen niemand die Musik leicht erlernt. Bei der Prüfung der Notenzeichen erkannte ich, daß sie oft schlecht ersonnen wären. Ich hatte schon längst daran gedacht, die Tonleiter mit Zahlen zu bezeichnen, um das ewige Ziehen der Notenlinien ersparen zu können, die man sonst zum Aufschreiben der kleinsten Melodie nöthig hat. Ich war durch die Schwierigkeiten abgehalten worden, welche die Oktaven und der Takt so wie die Geltung der Noten bereiteten. Diese alte Idee stieg von neuem in mir auf und ich sah, als ich sie abermals durchdachte, daß diese Schwierigkeiten nicht unüberwindlich wären. Ich grübelte mit Erfolg darüber nach, und es gelang mir, jegliche Musik mit meinen Zahlen mit der größten Genauigkeit und, wie ich behaupten darf, auch mit der größten Einfachheit niederzuschreiben. Von diesem Augenblicke an hielt ich mein Glück für gemacht, und in dem Eifer, es mit der, welcher ich alles verdankte, zu theilen, dachte ich nur noch daran, nach Paris zu reisen, da ich nicht zweifelte, daß die Einreichung meiner Arbeit bei der Akademie eine vollständige Umwälzung herbeiführen würde. Ich hatte von Lyon einiges Geld zurückgebracht; ich verkaufte meine Bücher. In vierzehn Tagen war mein Entschluß gefaßt und ausgeführt. Voll von den glänzenden Einbildungen, die ihn mir eingeflößt hatten, und immerdar derselbe, reiste ich endlich mit meinem Musikplane aus Savoyen ab, wie ich einst Turin mit meinem Heronsbrunnen verlassen hatte.

Derartig waren die Irrthümer und Fehler meiner Jugend. Ich habe ihre Geschichte mit einer Treue erzählt, mit welcher mein Herz zufrieden ist. Wenn ich in der Folge meinem reiferen Alter durch einige Tugenden Ehre machte, würde ich sie mit demselben Freimuth mitgetheilt haben, und dies war meine Absicht. Aber ich muß hier stehen bleiben. Die Zeit kann vielleicht den Schleier lüften. Wenn mein Gedächtnis auf die Nachwelt kommt, wird sie möglicherweise eines Tages erfahren, was ich zu sagen hatte. Dann wird man verstehen, weshalb ich schwieg.

 

Ende des ersten Theils.

 


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